Klinische Entscheidungsfindung im Zeitalter evidenzbasierter Medizin

Werbung
TAGUNGSBERICHT
news
1/2015
Klinische Entscheidungsfindung im Zeitalter evidenzbasierter
Medizin
Tagungsbericht zur DG PARO-Frühjahrstagung 2015
Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen fanden sich vom
27. bis zum 28. Februar im ehrwürdigen Casinogebäude des
Campus Westend der Johann-Wolfgang-Goethe Universität
Frankfurt zur diesjährigen DG PARO-Frühjahrstagung ein.
Ein Novum: Die Schirmherrschaft übernahmen zu gleichen
Teilen die Nachwuchs-Organisationen der DG PARO sowie
der DGI. In 4 Sessionen wurden vor dem Hintergrund der
interdisziplinären Zusammenarbeit alle Themen jeweils
von einem Experten aus dem Fachgebiet der Parodontologie und der Implantologie präsentiert. So ergaben sich
spannende Einblicke und lebhafte Diskussionen unter dem
Leitthema „Der Grenzbereich zwischen Zahnerhalt und
Implantation in der Parodontologie“.
In Session I verglichen die ersten beiden Referenten Zahnerhalt und Extraktion als Therapieansätze bei Risiko­patienten.
Schwere Parodontitis – bis wohin greift die
Parodontaltherapie?
Trotz enormer Fortschritte
in der anti-infektiösen
Therapie, so PD Dr. Moritz
­Kebschull (Bonn) sehe sich
der Parodontologe oft mit
dem Problem residualer
Taschen konfrontiert. Eine
Erklärung dafür sei eine
ungenügende Entfernung
von Konkrementen. Wo die
Kürette versagt können piezoelektrische Instrumente
und Pulver-WasserstrahlGeräte das Ergebnis verbessern. Gelinge die Reinigung
trotzdem nicht, sei ein mikrochirurgischer Access-Flap eine
Möglichkeit die Wurzeloberfläche unter Sicht zu optimieren. Bei flachen Defekten schaffe ein apikaler Verschiebe­
lappen mit resektiver Knochenchirurgie Abhilfe, bei
tiefen Defekten sei ein regeneratives Vorgehen möglich.
Ein Problem seien aber Molaren mit Furkationsbefall mit
bis zu 70% nach professioneller Reinigung verbliebenen
Restkonkrementen (Matia IJPRD 1986 ). PD Dr. Kebschull
sagte, eine Implantation zum Ersatz parodontal erkrankter
Zähne im Seitenzahnbereich sei eine gut und vorhersagbar
anwendbare Behandlungsmethode. Sie sollte aber nicht die
primäre Therapieüberlegung sein. Er sehe keinen Grund,
2
bei Molaren mit Furkationsbefall reflexartig zu extrahieren.
Vielmehr sei ein sequenzielles Vorgehen angezeigt, d. h.
zuerst ein Erhaltungsversuch in Form von resektiver Chirurgie. Wenn endodontisch vorbehandelt werde und eine
Parodontitistherapie mit gewissenhafter Nachsorge erfolge,
funktioniere diese Methode vorhersagbar. Eine Implantatversorgung könne, falls nötig, später in einem zweiten
Schritt erfolgen. Durch dieses Vorgehen würden sich keine
Nachteile ergeben. Weder erhöhe sich durch eine eventuell
spätere Extraktion die Notwendigkeit einer Sinusaugmentation, noch verschlechtere sich das Knochenangebot.
Schwere Parodontitis – können wir uns Zahnerhalt im
Grenzfall leisten?
Prof. Dr. Ralf Rössler
(­Ludwigshafen) gab
anhand von vier Patientenfällen einen Einblick in seine
langjährige klinische Erfahrung. Dabei legte er nicht
nur auf praktische Aspekte
Wert, sondern auch auf eine
Kosten-Nutzen-Analyse. In
eine parodontale Therapieplanung müsse auch die
Frage einfließen: Was kann
der Patient sich leisten? Die
Kosten für die Erhaltung
eines Zahnes seien gemessen an Alternativtherapien relativ günstig, deswegen hätten
auch parodontal kompromittierte Zähne eine hohe Erhaltungswürdigkeit. Als Parodontologe hätte man in der Regel
Zeit, eine therapeutische Entscheidung zu treffen und die
Wertigkeit von Zähnen zu beurteilen. Er betonte, dass die
eigentliche Therapie die Nachsorge sei. Ein regelmäßiger
Recall ermögliche es herauszufinden, welches Regenerationspotenzial ein Patient habe. Dazu sei ein Zeitfenster von
8 bis 12 Monaten nötig. In dieser Zeit seien auch persistierende Taschensondieungstiefen > 5 mm zu verantworten,
solange sicher gestellt sei, dass die Taschentiefe keiner
Progression unterliege.
Dieser Themenkomplex wurde in Session II auf den Implantatpatienten übertragen. Es wurde die Frage diskutiert,
wann der Erhalt eines Implantates die adäquate Therapieentscheidung sei.
TAGUNGSBERICHT
Was spricht für den Erhalt infizierter Implantate?
Es wird immer schnell
explantiert, sagte Prof.
Stefan Renvert (Kristianstad) in seinem Vortrag.
Dabei gebe es so viele
andere Möglichkeiten. Er sei
überzeugt, dass man eine
vorher infizierte Implantatoberfläche soweit reinigen
könne, dass eine Reosseointegration möglich sei.
Die aktuelle Therapie der
Periimplantitis sei aus der
Parodontologie adoptiert,
wichtig sei die Infektionskontrolle, das Vermeiden von Reinfektion und die Knochenregeneration. Dabei sollte immer zuerst nicht-chirurgisch
und dann, falls nötig, chirurgisch vorgegangen werden. Es
gäbe Fälle, in denen bereits eine erneute Motivation des
Patienten z.B. das Rauchen aufzuhören, die Behandlung
der Implantatoberfläche mit einem Er:YAG-Laser oder die
Reinigung mittels Airflow zielführend sei. In fortgeschrittenen Fällen sei ein offenes Vorgehen sinnvoll. Das Procedere
stellte Prof. Renvert in einem Video vor. Nach der chirurgischen Darstellung des Implantates folgte die mechanische
Reinigung mit Titanbürsten, anschließend die Entfernung
von Detritus und Smear Layer mit dreiprozentigem Wasserstoffperoxid. Eine große Rolle spiele eine gewissenhafte
Nachsorge. Dass sich der Implantaterhalt lohne, beweise
eine Studie von Frau Prof. Heitz-Mayfeld aus dem Jahre
2012: 12 Monate nach der Therapie periimplantärer Entzündungen wiesen 92 % der beobachteten Implantate stabile
Knochenverhältnisse auf.
Was spricht gegen den Versuch des Erhalts infizierter
Implantate?
In seinem Vortrag betrachtete Dr. Markus Schlee
(Forchheim) den Themenkomplex aus einem anderen
Blickwinkel und ging auf
Gründe ein, die eine Entfernung infizierter Implantate
nötig machen. Dr. Schlee
kritisierte, dass aktuelle Therapiekonzepte die Parodontitis oft als „Titanmangelerkrankung“ darstellen.
Er betonte zu Beginn, dass
die Explantation nicht in
news
1/2015
jedem Fall von Periimplantitis das Mittel der Wahl sein
dürfe.
In einer Konsenskonferenz im Jahr 2014 kam man zum
Schluss, dass es neben chronischen, bakteriell bedingten Infektionen als typischer Ursache für periimplantäre
Knochenverlust noch weitere Auslöser gebe. Hierzu
zählten mechanische, prothetische und chirurgische
Auslöser. Diese würden zu Knochenabbau, zur Exposition
der Implantatoberfläche, nachfolgend zu sekundärer
Infektion und damit letztendlich zu einem der klassischen
Periimplantitis ähnlichen klinischen Bild führen. In diesen
Fällen sei die alleinige Entfernung des Biofilmes ungenügend.
Bei der Behandlung der klassischen Periimplantitis sei das
Ziel die Reosseointegration. Diese sei aber oft nicht zu
erreichen, da keine nachhaltige Entfernung des Biofilmes
von der Implantatoberfläche möglich sei. Dr. Schlee stellte
ein galvano-elektrisches Verfahren vor, das sich gerade
im Stadium des Tierversuches befindet und in Zukunft
die Lösung sein könnte. Dabei werde das Implantat durch
Anlegen einer Spannung zur Kathode. Ionen aus einer
Spüllösung würden so den Biofilm durchdringen und über
weitere Schritte das Entstehen von Wasserstoff auf der
Implantaoberfläche anregen, welcher beim Abgasen den
Biofilm entfernt.
Mit Videos von In-vitro-Versuchen demonstrierte er beeindruckend die zu beobachtende Reinigungswirkung.
Dr. Schlee fasste zusammen, dass bei momentan gängigen
Therapieansätzen die Reduktion des Biofilmes trotz hohem
Behandlungsaufwand oft nicht ausreiche, um eine Reosseointegration zu erreichen. Deswegen sei für ihn relativ häufig
die Explantation die einzig sinnvolle Lösung.
Session III thematisierte eine weitere Patientengruppe: Den
Zahnersatzpatienten.
Prothetik auf parodontal kompromittierten Zähnen – geht
das?
Dr. Alberto Fonzar (Udine)
praktiziert seit 30 Jahren
und zeigte in seinem Vortrag anhand von spannenden Patientenfällen die prothetischen Möglichkeiten im
parodontal vorgeschädigten
Gebiss auf. Auch bei diesen
Patienten sei der natürliche Zahn in vielen Fällen
langfristig als prothetischer
Stützpfeiler geeignet. Diese
Aussage untermauerte Dr.
Fonzar mit einem klini-
3
TAGUNGSBERICHT
news
1/2015
schen Fall, in dem Zähne mit 70 % Knochenverlust eine
Brücke über 20 Jahre zuverlässig trugen. Dies sei möglich
durch konservierende und endodontische Maßnahmen,
sowie eine gewissenhafte Nachsorge. Voraussetzung
für den Zahnerhalt sei die parodontale Vorbehandlung
sowie die Elimination von Furkationen im Molarenbereich.
Das Vorgehen bei der Trisektion von Oberkiefermolaren
verdeutlichte Dr. Fonzar an einem weiteren Patientenfall.
Ein so behandelter Molar sei einem Implantat ebenbürtig.
Nachteile seien der hohe finanzielle und zeitliche Aufwand
durch konservierende und operative Verfahren, sowie
hohe biologische Kosten durch Devitalisierung des Zahnes
und Entfernung von Knochen. Vorteile seien die gute
Vorhersagbarkeit durch zuverlässige endodontische und
konservierende Therapiemöglichkeiten. Der Aufwand für
den Zahnerhalt lohne sich, da der Patient so eine Implantatlösung vermeiden oder zumindest längerfristig aufschieben könne.
Vermeidung von parodontal kompromittierten Zähnen –
lieber rein implantatgetragener Zahnersatz?
Dr. Karl-Ludwig
Ackermann (Filder­stadt)
stellte 20 Patienten­fälle vor
und gab so einen Einblick in
seine Behandlungsstrategie.
Die Implantologie müsse
als Querschnittsfach
mit Verbindung zu allen
anderen Fachbereichen
angesehen werden und
nicht erst in Betracht
gezogen werden, wenn
andere Therapieansätze
versagt hätten. Vor allem,
wenn die Gründe für
den Misserfolg vorangegangener Therapiemethoden
nicht geklärt werden konnte, sei nachfolgend eine
Implantatherapie risikoreich. Man müsse dem Implantat
die bestmögliche Chance geben. Zähne zu erhalten
mache nur dann Sinn, wenn konventionelle parodontale
und erhaltende Therapie Erfolgssicherheit böten. Es
dürfe keine Trial-and-Error-Strategie verfolgt werden. Die
Entscheidung für Zahnerhalt oder Implantation müsse sich
an der langfristigen Erfolgs­wahr­scheinlichkeit der einen
oder anderen Therapiemaßnahme orientieren. Parodontale
und implantologische Studien würden aufgrund der
heterogenen Definition eines Therapieerfolges diese
Entscheidungsfindung erschweren. Deswegen empfehle er
aus klinischer Sicht ein Verfahren, bei dem aus Kombination
verschiedener Parameter wie Attachment­level,
Furkationsbefall und Mobilität 5 Prognoseklassen enstehen.
4
In diese Klassen könnten Zähne eingeordnet und so die
Entscheidung zwischen Zahnerhalt oder Implantation
erleichtert werden.
In der vierten und letzten Session behandelten die Referenten den ästhetisch anspruchsvollen Patienten und stellten
auch hier die Frage:
Was spricht für den Zahn?
Dr. Rino Burkhardt (Zürich)
begann seinen Beitrag mit
der Frage ob man Zähne
aus ästhetischen Gründen
extrahieren dürfe. Wenn sich
die Auffassung von Ästhetik
des Patienten von der des
Behandlers unterscheide,
sei das keine medizinische
Fragestellung mehr, der Zahnarzt müsse am Ende eine
ethische Entscheidung treffen. Die evidenzbasierte Zahnmedizin solle bei der Entscheidungsfindung unterstützen,
die große Menge an verfügbaren Daten würden dies aber
erschweren. Dazu zitierte er Muir Gray: “Evidence is global,
but its application is local“ Es würden letztendlich nicht
Karies oder Parodontitis zur Extraktion führen, sondern
die Entscheidung des Zahnarztes. Die Hemmschwelle zur
Extraktion sei schon bei Zähnen mit 30% Attachementverlust oft sehr niedrig. Man wisse heute, dass auch ein
parodontal kompromittierter Zahn bei fachgerechter Erhaltungstherapie einen langen Zeitraum überleben könne. Für
den Zahn stünden Daten der letzten 50 Jahre zur Verfügung, beim Implantat seien es nur 10 Jahre. Könne man also
garantieren, dass man dem Patienten mit der Extraktion
nicht langfristig schade? Ethisch sei der Ansatz: „Each tooth
has its chance to survive“.
Was spricht gegen den Zahn?
Dr. Gerhard Iglhaut (Memmingen) zeigte die Grenzen
des Zahnerhaltes auf. Diese
würden z. B. bei Zähnen mit
Wurzelfrakturen erreicht und
ebenso wenn viel Zahnstruktur durch Karies oder Trauma
verloren gegangen sei. Eine
sichere Therapie sei nach wie
vor die Brückenversorgung
mit ovoider Ponticstruktur.
Untersuchungen zeigten: ein
leichter Druck des Pontics
auf das Weichgewebe halte
TAGUNGSBERICHT
news
1/2015
Knochenerhalt und solle dicker als 2 mm sein. Dies sei durch
bukkales Einbringen eines Bindegewebetransplantates
sicherzustellen. Außerdem müsse das Implantat möglichst
palatinal gesetzt werden. Sei die so entstehende JumpingDistance zwischen bukkaler Knochenwand und Implantatfläche größer als 1,5 mm, sollte ein Knochenersatzmaterial eingebracht werden. Dr. Iglhaut empfahl zudem das
Konzept „One Abutment - One Time“, also die Vermeidung
zu häufiger Abutmentwechsel, um Gewebeverluste zu minimieren. Mit zahlreichen Patientenfällen bewies Dr. Iglhaut,
dass unter Berücksichtigung dieser Faktoren Implantation
in der ästhetischen Zone zu guten Ergebnissen führt. Er
bemängelte jedoch den hohen therapeutischen Aufwand
und das Fehlen von Langzeituntersuchungen. Zusammenfassend habe der Zahnerhalt höchste Priorität, eine Brückenkonstruktion sei eine gute Alternativtherapie.
Tagungspräsident Dr. Otto Zuhr, München
den Kieferkamm zuverlässig stabil. Vorteilen wie geringen
Kosten, kurzer Behandlungszeit und hervorragender Ästhetik stünde die Gefahr der Devitalisierung von Pfeilerzähnen
durch funktionelle Überbelastung gegenüber. Implantate
seien eine Alternative wenn es gelänge, zwischen Zahn
und Implantat eine Proximität von mindestens 2 mm
einzuhalten. Denn das parodontale Ligament am Nachbarzahn entscheide über einen möglichen Erhalt der Papille,
nicht das Knochenangebot am Implantat. Auch die Dicke
des Weichgewebes um das Implantat sei essentiell für den
Die regen Diskussionen wurden auch während der Pausen,
in denen man sich an Ständen der Industrieausstellung
über Produktneuentwicklungen informieren konnte, sowie
am Freitagabend bei ausgezeichnetem Essen und lockerer
Atmosphäre in der Destino Tapas Bar Frankfurt fortgeführt.
Am Ende der Veranstaltung war klar, dass inhaltliche Überschneidungen in den Fachbereichen Parodontologie und
Implantologie einen regelmäßigen Dialog zwischen beiden
Fachdisziplinen nahelegen. Davon würden, so Tagungspräsident Dr. Otto Zuhr, Behandler und Patienten gleichermaßen profitieren.
Frederic Kaufmann, Mario Gratza, Würzburg
Tagungsteilnehmer im gut
besuchten Vortragssaal des
Campus Westend in Frankfurt
5
Herunterladen