A. Wir sollen vergeben!

Werbung
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
A.
Seite |1
Wir sollen vergeben!
Bibeltext
Mt 18,21-35: „21 Dann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der
gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? 22 Jesus spricht zu ihm: Ich sage dir: Nicht bis
siebenmal, sondern bis siebzigmal sieben<mal>! 23 Deswegen ist es mit dem Reich der Himmel
wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. 24 Als er aber anfing, abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete. 25 Da er aber nicht
zahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu
verkaufen und <damit> zu bezahlen. 26 Der Knecht nun fiel nieder, bat ihn kniefällig und sprach:
Herr, habe Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. 27 Der Herr jenes Knechtes aber wurde innerlich bewegt, gab ihn los und erließ ihm das Darlehen. 28 Jener Knecht aber ging hinaus
und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Und er ergriff und
würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! 29 Sein Mitknecht nun fiel nieder
und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. 30 Er aber wollte nicht,
sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe. 31 Als aber seine
Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen und berichteten
ihrem Herrn alles, was geschehen war. 32 Da rief ihn sein Herr herbei und spricht zu ihm: Böser
Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest. 33 Solltest nicht auch du
dich deines Mitknechtes erbarmt haben, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? 34 Und sein
Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt habe, was er
ihm schuldig war. 35 So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder
seinem Bruder von Herzen vergebt.“
I.
70mal 7mal
Um die Frage des Petrus besser zu verstehen, müssen wir den Kontext, den Textzusammenhang etwas näher betrachten. Denn ein paar Verse vorher, in Vers 15, hatte der Herr Jesus zu
den Jüngern gesagt: „Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir
und ihm allein!“ In diesem Zusammenhang fragt Petrus nun: „Ja, wie oft soll ich dahin gehen?
Bis zu 7mal?“ Petrus fragt also nach der Häufigkeit. „Wie oft soll ich vergeben? Wie oft soll ich
dieses mit dem Hingehen wiederholen? Wo ist die Grenze, wo ist das Limit erreicht?“
Die rabbinische Lehre forderte vom Juden, dreimal zu vergeben.1 Somit zeigt Petrus mit seiner
7maliger Vergebung Großzügigkeit. Er bietet mehr als das Doppelte, als was die Rabbiner verlangten. Nicht 3mal, sondern 7mal.
II.
Aber wie kommt Petrus auf die 7? Weshalb nicht 4 oder 8, oder 10mal? Ich halte es für wahrscheinlich, dass Petrus hier an 1.Mose 4 gedacht hat. In 1.Mose 4 wird uns nämlich berichtet,
wie Kain seinen Bruder Abel ermordet. Wir lesen dann weiter, wie Gott zu Kain kommt und
nach seinem Bruder fragt. Kain antwortet so abstoßend: „Bin ich etwa der Hüter meines Bruders?“ Gott in seiner Allwissenheit wusste, was Kain getan hatte. Kain hatte seinen Bruder aus
1
Unter Bezug auf mehrere Verse aus Amos (1,3.6.9.11.13) lehrten die Rabbinen, es sei anmaßend und unnötig, jemandem mehr als dreimal zu
vergeben, da Gott Israels Feinden nur dreimal vergeben hat.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |2
Neid umgebracht, weshalb Gott den Kain verflucht. Kain aber erwidert Gott und sagt: „Gott,
diese Strafe, ist zu hart für mich. Jeder, der mich sieht, wird mich erschlagen wollen.“ Daraufhin antwortet Gott dem Kain: „Der, der dich erschlägt – siebenfach soll er gerächt werden.“
(vgl. 1.Mose 4,15) Kain hatte gesündigt. Er hatte seinen Bruder Abel umgebracht. Doch diese
Sünde Kains gab niemandem das Recht, deshalb auch Kain umzubringen. Wer das tun würde,
den würde Gott 7fach heimzahlen.
Was Petrus also möglicherweise fragen wollte: „Müsste ich selbst den Mörder Kains vergeben?“ Und wir merken: Es geht bei der Frage von Petrus nicht nur um die Wiederholung einer
Sünde, also um die Quantität, sondern auch um die „Schwerwiegigkeit“, um die Qualität einer
Schuld.
Jesus antwortet dem Petrus in Vers 22: „Ich sage dir: nicht 7mal, sondern 70mal 7mal sollst du
vergeben.“ Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Zahl zu verstehen: einmal als 490 oder aber als
77.2
1) Damit nimmt der Herr Jesus die Zahl des Petrus und verzehnfacht sie. Dabei ist klar, dass
die 77 [oder 490] für „unbegrenzt oft“ steht. Jesus will die Vergebungsbereitschaft nicht
auf eine Anzahl von Fällen beschränken. Christen sollen keine Vergebungs-Strichliste führen, sondern immer und überall vergebungsbereit sein.
2) Aber auch hier denke ich kann man im Hintergrund die Geschichte aus 1.Mose 4 sehen.
Denn in 1.Mose 4, wo uns schon der Mord Kains berichtet wird, erscheint auch die Geschichte Lamechs. Lamech ist ein Nachkomme Kains. Und auch Lamech hat einen Mann
umgebracht. Doch Lamech behauptet von sich, es als Selbstverteidigung getan zu haben.
Er ist sich deshalb keiner Schuld bewusst. Doch seine Familie hatte Angst und befürchtete,
dass sich jemand bei Lamech rächen würde. Aus diesem Grund ruft Lamech seine Familie
zusammen und so sagt zu seinen Frauen: „Wenn der Mörder Kains siebenfach gerächt
werden soll, so soll der, der versucht mich umzubringen, 77fach gerächt, das heißt 77fach
heimgezahlt werden.“ (vgl. 1.Mose 4,24). Was Lamech damit sagen will: „Kain hat seinen
Mord mit Absicht getan. Wer den Kain umbringt, der bringt einen Schuldigen um. Ich aber,
ich habe jemanden unabsichtlich umgebracht. Wer also mich umbringt, der bringt einen
Unschuldigen um.“3
Was ich damit andeuten will: Petrus sagt: „Dem Mörder von Kain, den hätte ich noch vergeben. Denn der hatte schließlich ein Motiv, den Kain umzubringen. Aber den Mörder von
Lamech, den hätte ich schon nicht vergeben. Denn Lamech war schließlich unschuldig. Wer
Lamech getötet hätte, der hätte eine unschuldige Person umgebracht.“ An dieser Stelle erwidert Jesus ihm: „Petrus, auch dem Mörder Lamechs hättest du vergeben müssen.“
2
Das Interessante ist, dass die Septuaginta (die erste Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische, verfasst ca. 250 bis 100 v. Chr.), die
Stelle aus 1.Mose 4,24 diese Zahlenangabe genauso formuliert wie in Matthäus 18,22: „siebenmal... siebzigmal sieben“. Es ist nichts ungewöhnliches, wenn das griechische Wort καί „und“ zwischen zwei Zahlenwörtern fehlt. Wie zum Beispiel auch auf Deutsch bei der Zahl „dreizehn",
was eigentlich wörtlich „3 und 10“ heißt.
3
Die Zahlen, weder die 7 bei Kain noch die 77 bei Lamech, sind nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen. Gott garantiert Kain, dass
er für Gerechtigkeit sorgen wird, falls jemand ihn (also Kain) umbringen wird. Da Lamech seinerseits an seiner Unschuld festhält, verzehnfach (plus 7) er einfach die Zahl Kains.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |3
Es geht nicht nur um die Wiederholung einer Sünde, um die Quantität, sondern auch um die
Qualität. Petrus wollte wissen: Wie groß darf eine Schuld sein, bis ich sie nicht mehr vergeben
brauch? Wo ist die Grenze? Und Jesus antwortet: Dem Vergeben sind keine Grenzen gestellt,
weder hinsichtlich der Häufigkeit, noch wegen der „Schwerwiegigkeit“.4 Keine Sünde ist so
groß, dass sie nicht vergeben werden kann. Um das zu veranschaulichen, erzählt der Herr Jesus hier ein Gleichnis.
Vergib uns unsere Schuld
In diesem Gleichnis geht es um einen Knecht, der eine riesige Schuld bei seinem König hat.
10.000 Talente ist der Knecht seinem König schuldig.5 Ein Talent war gleichwertig mit 6.000
Denaren.6 Von 1 Denar wissen wir, dass es ein sehr guter Tageslohn was. Im Gleichnis von den
Arbeitern im Weinberg zum Beispiel bekommen die Arbeiter am Ende des Tages jeweils 1 Denar (vgl. Mt 20,1-16). 1 Denar war also ein Tageslohn. 1 Talent waren 6.000 Denare, also 6.000
Arbeitstage. 6.000 Arbeitstage für jedes Talent mal 10.000 Talente, die der Knecht dem König
schuldig war: das ergibt eine Schuld von 60.000.000 Arbeitstage. Das sind ca. 200.000 Arbeitsjahre.
Eine unglaublich hohe Zahl, die aber sehr zielbewusst vom Herrn Jesus gewählt wurde. Denn
Jesus kombiniert hier das höchste griechische Zahlenwort, also 10.000, mit der damals größten Geldeinheit, nämlich Talent, und sagt damit: es ist die großmöglichste Schuld, die einer
überhaupt haben konnte. Der Knecht hatte nicht die minimalste Chance, dem König irgendwie
das zurückzugeben, was er ihm schuldig war. Liebe Leser: dieser Knecht sind wir!
„Aber Moment mal. Das kann doch nicht möglich sein“, mag jetzt vielleicht jemand einwenden. „Ja, ich weiß: ich bin nicht perfekt. Aber ich gebe mein bestes, ein ordentliches Leben zu
führen. Meine Schuld vor Gott kann nie im Leben so hoch sein. Höchst halb so groß.“
Nun, um die Aussage Jesu zu überprüfen, machen wir einen Test. Früher in der Schule mussten
wir andauernd verschiedene Tests machen: um herauszufinden, welcher Beruf zu uns passt,
welchen Charakter oder welche Gaben wir haben. Mit dem heutigen Test wollen wir unsere
Schuld vor Gott ausfindig machen. Die Testfrage lautet: Haben sie schon einmal in ihrem Leben
gelogen? Haben sich schon mal mit jemanden gestritten? Sind schon mal undankbar oder eifersüchtig gewesen? Wenn sie schon nur eine Frage der Testfragen mit „Ja“ beantwortet haben, weil sie irgendwann im Leben einmal getan haben, dann gilt für sie was in Jakobus 2,10
geschrieben steht: „Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller <Gebote> schuldig geworden.“ Das heißt mit anderen Worten: wir haben alle gesündigt. Und nach
Röm 6,23 ist der Lohn der Sünde der ewige Tod. Unsere Schuld vor Gott beträgt 10.000 Talente. Wir haben keine Hoffnung, jemals unsere Schulden bezahlen zu können. Martin Luther soll
einmal gesagt haben, dass wir Menschen nichts anderes als Bettler vor Gott sind. Diese Aussage stimmt in dieser Hinsicht auch. Unsere Schuld vor Gott ist für uns unbezahlbar, denn sie ist
unendlich groß. Da helfen mir all die guten Taten auch nichts! Wie der Knecht stehen wir mit
leeren Händen vor unserem König, unfähig, überhaupt einen Cent zu zahlen. Wie der Knecht
III.
4
Wenn 1.Mose 4 tatsächlich der Hintergrund der Frage ist, dann ist es interessant festzustellen, dass die Vergebungsfrage am Thema „Mord”
behandelt wird, wohl eines der schwierigsten Bereichen, zu vergeben. Unsere Schuld aber hat den Sohn Gottes ans Kreuz gebracht.
5
Luther übersetzt mit „Zentner Silber“.
6
Bei Luther steht statt Denar „Silbergroschen“.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |4
fallen wir auf unsere Knie und bekennen: „Herr, ich bin zahlungsunfähig. Es tut mir leid.“ Dann
wird der König zu uns sagen: „Geh in Frieden mein Kind, denn deine Schuld ist bezahlt worden!“ Nicht wir haben die Schuld bezahlt, sondern sie ist bezahlt worden. Sie ist bezahlt worden von einem anderen, nämlich von Jesus Christus. Gott hat seinen Sohn Jesus Christus auf
diese Erde gesandt, damit er für unsere Sünden, damit er für unsere 10.000 Talente Schuld
sterbe. Weil Jesus nicht bei den Toten geblieben ist, sondern am dritten Tage auferstanden ist,
kann er diese unsere Schuld bezahlen.
Joh 3,16: „Denn so hat Gott die Welt geliebt [also nicht nur die Gläubigen, nicht nur die Gemeinde], dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren
geht, sondern ewiges Leben hat.“ Dieser Vers zeigt uns eindeutig, dass Gott jeden Menschen
liebt. Auch den Muslim. Auch den Atheist. Frage: Ist also die Schuld der ganzen Menschheit
bezahlt worden? Ist die Schuld eines jeden Einzelnen durch Christus beglichen worden? Denn
Jesus ist ja schließlich für die Sünden aller Menschen für alle Zeiten gestorben. Die Antwortet
lautet: Nein, nicht alle Menschen haben Vergebung erfahren. Nicht jeder Mensch erlangt das
ewige Leben. Wieso nicht, wenn Jesus doch für alle gestorben ist? „Denn so hat Gott die Welt
geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren
geht, sondern ewiges Leben hat.“ Das ist das Problem. Nicht jeder glaubt an Christus. Nicht
jeder nimmt diese Vergebung Gottes an. Eines Tages werden diese Leute vor dem Thron Gottes stehen und Gott wird ihnen ihre Rechnung hinhalten: 10.000 Talente. Da wird Jesus, der
zur Rechten des Vaters sitzt, zu ihnen sagen: „Weil du meine Vergebung nicht angenommen
hast, übernehme ich diese Schuld nicht.“
Was muss ich aber tun, damit Jesus auch meine Schuld bezahlt? Was muss ich tun, damit diese
Last nicht an mir hängen bleibt? Der Apostel Johannes gibt uns die Antwort in 1.Joh 1,9:
„Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt
und uns reinigt von jeder Ungerechtigkeit.“ Wenn wir das tun, dann nimmt Jesus unseren
Schulbrief und zerreißt ihn. Unsere Schuld vor Gott ist beglichen worden durch Christus. Wir
haben Vergebung erfahren. Vergebung ist aber keine billige Gnade. Gott drückt nicht nur einfach beide Augen zu und übersieht unsere Schuld. Gnade führt immer zum Kreuz.
Aber damit Vergebung in Kraft tritt, muss Buße geschehen. Ein ganzes zentrales Thema der
Bibel. Es sind die ersten Worte des Johannes des Täufers (Mt 3,2). Es sind die ersten Worte
Jesu bei seiner Verkündigung (Mt 4,17) Nach der Pfingstpredigt des Petrus werden die Leute
innerlich bewegt und fragen: „Was müssen wir tun, damit wir diesen Christus haben?“ Und
Petrus antwortet: „Tut Buße!“ (Apg 2,38) Buße bedeutet nicht eine Geldstrafe, weil ich vielleicht zu schnell gefahren bin. Buße tun bedeutet Umkehr. Es ist die Rückkehr vom gottlosen
Weg hin zu Gott. Wie beim Gleichnis des verlorenen Sohnes. Der verlorene Sohn wandte sich
ab von seinem Vater. Als er aber später seine jämmerliche Situation erkannte, tat er Buße, das
heißt, er ließ sein sündvolles Leben hinter sich, und kehrte zurück nach Hause (vgl. Lk 15,1132). Das ist Buße tun. Umkehren, sich zurück an Gott wenden. Ich anerkenne, dass Gott heilig
ist. Ich anerkenne, dass Gott Gerechtigkeit verlangt und dass meine Schuld bezahlt werden
muss. Ich bekenne, wie es in 1.Joh 1,9 steht, meine Sünden.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |5
Das Wort, das im Neue Testament für „bekennen“ verwendet wird, bedeutet wörtlich: „das
gleiche sagen“. Zwei oder mehrere Personen kommen zu einer Übereinstimmung. Wir kommen zu einer Übereinstimmung mit Gott, nämlich dass wir schuldig sind vor ihm. Gott sagt zu
uns, wie der König im Gleichnis: „Du bist mir 10.000 Talente schuldig.“ Und ich antworte Gott:
„Ja, Herr, ich bin dir 10.000 Talente schuldig. Ich weiß aber nicht, wie ich die bezahlen soll.
Bitte vergib mir meine Schuld.“ Und Gott wird sie uns vergeben in Christus. Nur wenn der
Mensch seine Schuld bekennt und um Vergebung bittet, erfährt er Vergebung.7
Es gibt im Griechischen zwei Wörter, die für „vergeben“ stehen:
1) Einmal χαρίζομαι (charizomai), das abgeleitet ist von χάρις (charis). Χάρις (charis) bedeutet
„Gnade“. χαρίζομαι (charizomai) bedeutet dementsprechend „Gnade erweisen, begnadigen.“
2) Das zweite Wort für „vergeben“ ist ἀφίημι (afi‘emi). ἀφίημι (afi‘emi) bedeutet so viel wie:
„wegschicken, entlassen, gehen lassen.“ Gott will uns begnadigen, er will unsere Schuld
loslassen, er schickt sie fort (vgl. Jes 43,25; 44,22; Jer 31,34). Er will sie in die Tiefen des
Meeres werfen (Mi 7,19; vgl. Ps 103,12).
Wenn Gott uns etwas vergeben hat, dann wird er diese Schuld in Zukunft weder vor dir noch
vor anderen zur Sprache bringen. Er wird sie nie mehr gegen dich verwenden. Gott wird nie
eine Sünde ausgraben, die er dir einmal vergeben hat.8
So groß ist die Liebe Gottes. Aber damit ist das Gleichnis nicht beendet.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Jetzt geht dieser Knecht, dem eben 10.000 Talente erlassen wurden, und begegnet einen
Mitknechten, der ihm 100 Denare schuldet; das heißt, der Mitknecht schuldete ihm 100 Arbeitstage. Aber auch der Mitknecht ist, wie schon der Knecht zuvor, zahlungsunfähig. So fällt
auch der Mitknecht auf die Knie und bittet mit denselben Worten wie zuvor der Knecht vor
dem König: „Habe Geduld mit mir und ich will dir bezahlen.“ Hier nimmt die Geschichte eine
Wende, die für uns unbegreiflich ist. Es heißt in Vers 30: „Er aber wollte nicht!“ Der Knecht
wollte seinem Mitknecht nicht vergeben. Er packte ihn und warf ihn ins Gefängnis „bis er die
Schuld bezahlt habe“. Indem er im Gefängnis saß, hatte der Mitknecht keine Möglichkeit, irgendwie auf Geld zu verdienen. Wie sollte er dann aber seine Schuld von 100 Denaren bezahlen?
Wie oft sind wir wie dieser Knecht? Wir wollen nicht vergeben und werfen den, der an uns
schuldig geworden ist, ins Gefängnis. Nicht in ein Gefängnis, wie wir es zum Beispiel aus einer
Polizeistation kennen, sondern in ein Gefängnis der Vorurteile. Wir geben der Person keine
Gelegenheit sich zu entschuldigen. „Die Person hat mich verletzt. Jetzt soll sie sehen wie sie
mit der Schuld fertigkommt!“ Wir wollen Entschädigung, wir wollen, dass Gerechtigkeit herrsche. Doch wie würde unser Leben aussehen, wenn Gott uns nach unserem Gerechtigkeitsmaßstab richten würde? Ja, wenn es um uns geht, dann sind wir großzügig. Aber bei dem
IV.
7
Vergebung ist nie etwas Verdientes. Es ist immer Gnade.
Wenn wir jemanden vergeben, so ist dies ein Versprechen: Ich verpflichte mich, nicht mehr an seine Sünde zu denken und sie weder ihm noch
anderen, noch mir selbst gegenüber jemals wieder zu erwähnen. Die Sünde ist begraben, sowie Gott unsere Sünden begraben hat. Wenn ich es
ihm doch wieder unterstelle, so mache ich mich schuldig, weil ich mein Versprechen gebrochen habe.
8
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |6
Nächsten zeigen wir gerne mit dem Finger auf die Schuld. Wenn ich mich ungerecht behandelt
fühle, finde ich mindestens hundert Gründe, die gegen eine Versöhnung sprechen. Ich möchte
dem Nächsten nicht vergeben. Ich will die Last nicht von ihm nehmen, sondern ihm möglichst
noch einen Schaden zufügen. Ich will Rache!9
Das alles tun wir, weil unser Stolz befleckt worden ist. Unser Stolz hat einen tiefen Kratzer gekriegt. Es ist so, als wenn ich um ein neues Auto gehe und einen spitzen Gegenstand an der
Karosserie entlang kratzen lass. Es gibt wahrscheinlich keine Leidenschaft, die so schwer zu
bezwingen ist, wie unser Stolz.10
Wenn wir jemanden nicht vergeben wollen, dann sagen wir damit: „Ich bin besser als du.“
Aber wenn wir so denken, dann haben wir ein riesiges Problem: wir übersehen die 10.000 Talente, die wir vor Gott schuldig waren und uns vergeben worden sind. Wir meinen, die paar
Denare, die der Nächste uns schuldig ist, hätten einen größeren Wert (vgl. auch 1.Kor 10,12).
Aber so sehr sich jemand an mir versündigt hat – meine Sünde gegen Gott ist unendlich viel
größer. Und wir werden uns bewusst: „Ich bin nicht besser als derjenige, der mir Unrecht getan hat.“ Vielleicht hat jemand Übles über mich geredet. Habe ich nicht auch schon oft den
Namen Gottes missbraucht? Vielleicht war jemand undankbar gegen mich. Wie oft bin ich
nicht schon undankbar gegen Gott gewesen?
Zwei Dinge sollten wir uns immer merken:
 Einmal: Gott liebt den Nächsten genauso gut wie mich.
 Zweites: Ich habe die Vergebung ebenso wenig verdient wie jener. Ich selbst bin auf Barmherzigkeit angewiesen. Auf die Barmherzigkeit Gottes, aber auch auf die Barmherzigkeit
anderer. Denn auch ich verletze immer wieder meinen Nächsten.
Mit Gleichnis will der Herr Jesus eine Sache deutlich machen: die Vergebung ist nicht eine
Möglichkeit, sondern sie ist eine Pflicht.11 Unsere Vergebung soll barmherzig sein, wie Gott
barmherzig ist. So schreibt Paulus in Eph 4,32: „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ (vgl. Kol
3,12-14). Nicht 7mal, sondern 70mal 7mal.
Unsere Barmherzigkeit ist ein Spiegelbild der Barmherzigkeit Gottes. Daher müssen wir uns
fragen: wie vergibt Gott? Wir haben gesehen, dass Jesus für die Sünden der ganzen Welt gestorben ist. Aber nicht jedem wird vergeben, weil nicht jeder diese Vergebung beansprucht.
Nicht jeder möchte seinen Schuldbrief loswerden.
Wenn jemand gegen mich sündigt, liegt die Schuld nicht bei mir, sondern bei dem, der mir Leid
angetan hat. Bei der Vergebung geht es also immer um den, der schuldig geworden ist.12 Es
9
Wir vergessen, (1) dass Jesus das Racheprinzip aus 1.Mose 4 zu einem Vergebungs-Prinzip macht und (2) was Paulus in Röm 12,19 schreibt:
„Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn! Denn es steht geschrieben: »Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der
Herr.‘“ Gott wird letztendlich für die Gerechtigkeit sorgen.
10
Philip Yancey, Gnade ist nicht nur ein Wort. Wie Gottes Güte unser Leben auf den Kopf stellt, R.Brockhaus Verlag, 2. Aufl. 2002, S. 28
11
Jemand sagt jetzt vielleicht: „Ja, ich weiß, ich muss vergeben, aber ich kann nicht. Ich will, ich kann dieser Person nicht geben. Sie hat es sich
nicht verdient. Ich würde diese Person am liebsten zum Mond schicken. Und jetzt muss ich dieser Person vergeben? Das geht nicht! Das wäre
Heuchelei.“ Es ist keine Heuchelei, sondern es ist gehorsam. Man wird sich kaum jemals danach fühlen, jemanden zu vergeben. Aber wir tun es,
weil es uns geboten ist, weil es unsere Pflicht ist. Vergebung ist ein Versprechen, ein Entschluss, und nicht in erster Linie eine Gefühlssache.
Meine Gefühle werden nicht gleich verschwinden. Vielleicht kommen meine Gefühle erst Wochen oder erst Jahre später dazu.
12
Eine Frage stellt sich immer wieder: um wen geht es bei der Vergebung? Um den, der vergibt, oder um den, dem vergeben wird? Es heute
üblich, die befreiende Wirkung des Vergebenden zu betonen. Wenn du vergibst, ist es eine Befreiung für dich. Geht es bei der Vergebung aber
tatsächlich um uns? Denn wenn wir keinen Nutzen für uns sehen, werden wir uns schwer tun, zu vergeben.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |7
geht um eine Schuld vor Gott.13 Und solange die schuldige Person seine Schuld festhält und
nicht loslassen will, kann ich ihm diese Schuld nicht vergeben. Ich kann den Schuldbrief von
100 Denaren erst zerreißen, wenn er mir den Brief gibt. In Lk 17,3.4 heißt es: „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm! 4 Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so
sollst du ihm vergeben.“
V.
Und meine Wunden?
Wir könnten uns jetzt aber fragen: „Ja, aber was ist denn mit meinen Wunden? Muss ich nicht
bedingungslos vergeben, damit meine Wunden geheilt werden und ich nicht Groll in mir aufbaue? An dieser Stelle sollte man etwas sorgfältiger unterscheiden. Vergebung soll uneingeschränkt sein, aber sie ist nicht „bedingungslos“! Die Vergebung tritt erst in Kraft, wenn Reue
gezeigt wird. Solange der Täter aber uneinsichtig ist, solange er sich an seiner Schuld klammert, kann ihm seine Schuld nicht vergeben werden.
Aber wir sind verpflichtet, alles zu tun, um die Person zur Umkehr zu bewegen (vgl. Mt 18,1517).14 Wir sollen immer, zu jeder Zeit und an jedem Ort, unsere Vergebungsbereitschaft zeigen. Soweit es an mir liegt, will ich dieser Person vergeben! Soweit es an mir liegt, soll Friede
zwischen uns herrschen (Röm 12,18; Hebr 12,14). Ich bin bereit, dem Täter uneingeschränkt zu
vergeben!
Wenn wir zu diesem Punkt gelangt sind, dass wir dem Täter uneingeschränkte Vergebungsbereitschaft zeigen, dann haben wir unsere Wunden bei Jesus abgelegt. Denn meine Vergebungsbereitschaft zeigt sich nämlich darin, dass ich meine Wunden loslasse.15 Meine Vergebungsbereitschaft zeigt sich darin, dass ich dem anderen nichts nachtrage, dass ich keinen
Groll gegen ihn habe. Meine Vergebungsbereitschaft zeigt sich darin, dass ich den anderen
wieder in die rechte Beziehung mit Gott bringen möchte. Meine Vergebungsbereitschaft
zeigt sich darin, dass ich den anderen trotz allem liebe. So sagt der Herr Jesus: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44 Ich aber
sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.“ Liebe ist immer uneingeschränkt. Liebe ist immer bedingungslos. Liebe sollen wir immer zeigen, auch wenn der Täter
uneinsichtig ist.16
13
Vgl. das zweite Ziel der Vergebung.
So wurde Jesus auch Mensch, als wir noch Sünder waren; als wir noch nichts von ihm wissen wollten (vgl. Röm 5,8).
15
So hat meine Vergebungsbereitschaft sicherlich etwas Heilendes für mich.
16
Liebe zeigt sich nicht darin, dass wir diesen Menschen meiden, sondern die Liebe sucht auf. Vielleicht kommt es sogar zu dem Punkt, dass
der Mensch durch unsere liebvollen Begegnungen zur Buße kommt.
14
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
B.
Seite |8
Das Ziel der Vergebung
I.
Bibeltext
„ Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein!
Wenn er auf dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Wenn er aber nicht hört, so
nimm noch einen oder zwei mit dir, damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund jede Sache
bestätigt werde! 17 Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Gemeinde; wenn er
aber auch auf die Gemeinde nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner! 18
Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr etwas auf der Erde bindet, wird es im Himmel gebunden
sein, und wenn ihr etwas auf der Erde löst, wird es im Himmel gelöst sein. 19 Wiederum sage
ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen, irgendeine Sache zu erbitten, so
wird sie ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist. 20 Denn wo zwei oder drei
versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“
15
II.
Texthintergrund: Gemeindezucht (und persönliche Vergebung)
Meistens wird dieser Text im Zusammenhang der Gemeindeausschließung, der Gemeindezucht verwendet. Zum Beispiel: Ein Gemeindeglied lebt andauernd in Sünde. Nehmen wir mal
an, jemand ist seiner Ehefrau untreu. Es ist das verlorene Schaf (vgl. Mt 18,6-19). Der Text fordert uns nun auf, dass wir hingehen sollen, um mit diesem Mann zu reden. Aufgepasst: nicht
nur die Ältesten. Wir als „normales“ Gemeindeglied sind aufgefordert. Wir sollen den Mann
seiner Sünde überführen. Das heißt, der Mann soll einsehen, dass er falsch handelt.
Will jetzt in unserem Fall der Mann, der seiner Frau untreu ist, nicht auf uns hören, so sollen
wir zusammen mit zwei weiteren Geschwistern mit ihm reden. Will er immer noch nicht hören, dann soll der Fall der Gemeinde präsentiert werden. So soll die Gemeinde als Ganzes den
untreuen Mann seiner Schuld bewusst machen. Der Mann soll sich von seiner Sünde abwenden. Er soll seiner Frau wieder treu werden. Hört der Mann aber selbst auf die Gemeinde
nicht, so soll er aus der Gemeinde gewiesen werden, wie in Vers 18 geschrieben steht: „Wenn
er [also der, der in Sünde lebt] aber auch auf die Gemeinde nicht hören wird, so sei er dir wie
der Heide und der Zöllner!“
Soweit ganz kurz, wie dieser Text im Zusammenhang der Gemeindezucht verstanden wird.17
Ich möchte diesem Verständnis nichts abreden. Aber ich möchte diesen Text aus einem anderen Blickwinkel betrachten; nämlich im Zusammenhang der persönlichen Vergebung. Denn in
Mt 18,21, also nur ein paar Verse weiter, fragt Petrus: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder,
der gegen mich sündigt, vergeben?“ Wenn man nun diese Frage des Petrus beachtet, dann
17
Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber das Problem ist nicht die Sünde. Das Problem ist die Uneinsichtigkeit. Niemand wird aus der Gemeinschaft der Gemeinde ausgeschlossen, weil er gesündigt hat. Das passiert uns allen! Wir sind nicht die Gemeinde der Sündlosen oder der Perfekten! Aber der muss ausgeschlossen werden, der trotz intensiver Ermahnung in seiner Sünde beharrt! Das Problem ist nicht ein Fehltritt, sondern das willentliche Beharren in der Sünde; das Festhalten an der Sünde. Zu der Frage der Gemeindezucht vgl. weiter 1.Kor 5,1-13; Gal 6,1-5;
2.Thess 3,6-15; 1.Tim 5,19.20.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
Seite |9
spricht Mt 18,15 nicht nur über irgendeine Sünde, sondern auch über etwas, was jemand gegen mich getan hat.18
III. Gehe hin!
So wollen wir zumindest die ersten zwei Anweisungen, also Verse 15 und 16, im Hinblick auf
die persönliche Versöhnung betrachten. Dieses macht die Umsetzung dieses Textes noch viel
schwerer. Denn wenn ich als dritter, als unbeteiligte Person, sehe wie ein Bruder sündigt, fällt
es uns schon nicht leicht, hinzugehen und diese Person zu überführen. Aber jetzt sollen wir
nicht nur als eine außenstehende Person zu dem Bruder, zu der Schwester gehen, sondern als
betroffene Person. Wir gehen als Opfer, wir gehen als Verletzte zu dieser Person. Und das
macht den Schritt noch schwieriger. Denn wir wollen diese Person, die uns verletzt hat, nicht
sehen und schon 1000mal nicht mit ihr reden. Anstatt zu dem zu gehen, der uns etwas angetan hat, gehen wir viel lieber und erzählen es allen anderen.
Wenn Jacob zum Beispiel mir etwas angetan hat, dann gehe ich zum Peter, zum Samuel, zu der
Sarah. Aber ja nicht zum Jacob. Dabei lasse ich möglichst viele Einzelheiten einfließen. Ich
dramatisiere die Situation möglichst noch ein wenig, damit die Schuld des Jacob noch größer
erscheint als sie tatsächlich ist. Unser Ziel dabei ist: alle sollen erfahren, dass der Jacob ein böser Mensch ist.
Was sagt uns aber Mt 18,15? „So geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein!“ Er und
ich allein! Wissen sie, weshalb es so viel Verbitterung in der Gemeinde gibt? Weil wir überhaupt nicht auf diesen Text hören. Anstatt erst mit der Person zu reden, die uns etwas angetan
hat, haben wir schon längst üble Rede über sie verbreitet. Aber indem wir das tun, steigen wir
in einen Teufelskreis ein. Denn dadurch machen wir uns selbst schuldig. Wir bleiben nicht Opfer, sondern wir selbst werden zum Täter.
Eines der größten Probleme, weshalb Vergebung nie stattfindet, ist weil wir so hartnäckig sind:
„Ist es denn nicht eher seine Pflicht, zu mir zu kommen? Er hat damit angefangen! Es ist seine
Schuld. Soll er doch zu mir kommen!“ Das Problem ist: Manchmal weiß diese Person nicht,
dass sie mir auf die Füße getreten hat. Aber selbst wenn sie es weißt, sollten wir gehen. Denn
wir sind von der Bibel her immer aufgerufen, den ersten Schritt zu machen; egal ob ich die
betroffene Person bin (das Opfer), oder ob bin derjenige bin, der sich versündigt hat (der Täter). In Mt 18,15 liegt die Schuld beim anderen. Ich bin das Opfer! Wer soll in diesem Fall gehen? Ich soll gehen!
In Mt 5,23-24 treffen wir aber eine ganz andere Situation an. Es heißt: „Wenn du nun deine
Gabe darbringst zu dem Altar und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh vorher hin, versöhne dich mit deinem Bruder;
und dann komm und bring deine Gabe dar!“ Die Situation ist hier also genau umgekehrt: Nicht
mein Nächster hat an mir gesündigt, sondern ich an ihm. Es heißt: „Und du erinnerst dich, dass
dein Bruder etwas gegen dich hat.“ Die Schuld liegt bei mir! Und wer soll in diesem Fall gehen? Ich soll gehen! Wir sind immer aufgefordert, den ersten Schritt zu tun. So schreibt der
18
Luther übersetzt Vers 15: „Sündigt aber ein Bruder an dir.“ Dieses „an dir“ (oder: „gegen dich“, wie in Vers 21) fehlt in der
Elberfelderübersetzung. Der Grund für die unterschiedlich Übersetzung ist, dass man sich nicht 100% sicher ist, ob dieses „an dir“ ursprünglich
im Bibeltext gestanden hat oder nicht.
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
S e i t e | 10
Apostel Paulus in Röm 12,18: „Wenn möglich, soviel an euch ist, lebt mit allen Menschen in
Frieden!“ (vgl. Hebr 12,14) Wenn ich den Kreislauf der Gnaden-Losigkeit durchbrechen will,
muss ich die Initiative ergreifen.19
IV. Zeugen
„Was ist aber, wenn wir hingegangen sind und das Gespräch nichts gebracht hat?“ Wenn das
der Fall ist, dann heißt es in unserem Text: „Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder
zwei zu dir.“ Bei der Auswahl dieser Personen, die uns im Gespräch begleiten, sollten wir darauf achten, dass sie nicht selbst im Fall verwickelt sind. Es geht nicht darum, zu zweit oder zu
dritt den anderen in die Knie zu zwingen. Wir sollten nicht solche Personen auswählen, die
schon von vorne herein auf unserer Seite stehen, sondern Personen, die zuhören. Diese Personen haben die Aufgabe, alles, was im Gespräch gesagt wird, zu beurteilen. Denn es ist selten
so, dass wir nur das Opfer sind. Meistens sind wir auch Täter. Meistens haben wir unseren
Teil dazu beigetragen, dass ein Problem eskaliert. Deshalb ist es wichtig, dass noch eine oder
sogar zwei Personen das Gespräch mithören. Denn Leute von außen können das Problem oft
viel besser einschätzen, als einer, der selbst davon betroffen ist.
Im Sport macht es unglaublich viel aus, wenn man einen guten Trainer hat. Der Trainer steht
neben dem Spielfeld und beobachtet alles von draußen. Der kann einem auf Sachen hinweisen, auf die man von selbst nie gekommen wäre. Denn einer selbst ist so im Spielgeschehen
verwickelt, dass man für viele Sachen blind ist. Aber der Trainer sieht diese Schwachstellen.
Diese Aufgabe haben die Personen im Gespräch auch. Weil sie nicht im Problem verwickelt
sind, können sie beiden auf Dinge hinweisen, für die man als Opfer und als Täter „blind“ ist.
Das Ziel ist die Versöhnung und die Bereinigung der Sünde vor Gott.
V.
Das erste Ziel der Vergebung: Versöhnung
In Mt 5,23-24 ist der Aufruf zur Versöhnung dringlich. Es wird aus dem Text deutlich, dass Gott
vielmehr darauf besteht, dass ich mit meinen Mitchristen Frieden habe, als auf Opfer. Wie oft
handeln wir aber genau im Gegenteil? Wir wollen opfern, statt hinzugehen. Wir versuchen
durch die Kollekte, oder durch einen anderen Dienst unsere Unversöhnlichkeit zu überspielen.
Unsere Frömmigkeit soll die Schuld bedecken. Beachten wir aber die Reihenfolge: „Zuerst“,
also bevor ich Gott „ein Opfer bringe“, soll ich die Angelegenheit mit meinem Bruder, mit meiner Schwester, bereinigen. Dieses zeigt uns: Das „Opfer“, das Gott wirklich will, ist die Versöhnung.
Wir erinnern uns daran, dass wir eine unendliche große Schuld bei Gott hatten. Unsere Beziehung zu Gott war durch die Sünde unmöglich. Aber indem wir das Erlösungswerk Christi angenommen haben, indem wir die Vergebung Christi in Anspruch genommen haben, ist diese
Schuld vor Gott bezahlt worden. Die Schuld ist bezahlt worden, damit wir wieder Gemeinschaft mit Gott haben, damit wir wieder eine Beziehung zu Gott haben.
Und darum geht es auch in der zwischenmenschlichen Vergebung. Wenn die Beziehung zu
meinem Nächsten durch eine Auseinandersetzung gestört worden ist, so soll durch die Vergebung eine neue Beziehung hergestellt werden. Die Vergebung räumt die Hindernisse der Ver19
Philip Yancey, Gnade ist nicht nur ein Wort. Wie Gottes Güte unser Leben auf den Kopf stellt, R.Brockhaus Verlag, 2. Aufl. 2002, S. 83
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Vergebung (Matthäus 18,15 -35)
S e i t e | 11
gangenheit aus dem Weg. Und wir merken: Vergebung ist kein Selbstzweck. Vergebung hat
ein Ziel! Dieses Ziel ist, dass die Gemeinschaft zu meinem Nächsten wiederhergestellt wird.
Vergebung hat immer das Ziel der Versöhnung; dass wieder Friede herrsche in der Beziehung.
VI. Das zweite Ziel der Vergebung: Buße vor Gott
Aber die Vergebung hat noch ein Ziel. Wenn es in Mt 18,15 heißt: „Wenn aber dein Bruder
sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein“ dann geht es nicht um Rechthaberei. Wir kommen nicht mit Vorwürfen zu dieser Person. Es geht um die Zurückgewinnung
eines Bruders, einer Schwester. Es geht um Buße. Denn jede Sünde ist letztendlich eine Sünde
gegen Gott.20
Der König David war ein Mann nach dem Herzen Gottes. Aber auch David hat viele Fehler begangen. So zum Beispiel hat er den Uria umbringen lassen, damit er dessen Frau Bathseba zu
sich nehmen konnte. David hatte Ehebruch begangen. Er hatte einen Menschen umbringen
lassen (vgl. 2.Sam 11). In Psalm 51 bekennt David diese Schuld und betet in Vers 6: „An dir
[Gott] allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan.“ Nochmals: David hatte Ehebruch begangen. Er hat dazu einen Mann umbringen lassen. Und wie betet er? „An dir [Gott] allein habe ich gesündigt!“ Jede Schuld (Sünde) ist eine Schuld (Sünde)vor Gott. Weil dies so ist, kann
letztendlich nur Gott die wahre Vergebung zusprechen.21 Wir erinnern uns aber daran, dass
„vergeben“ das Fortschicken der Schuld ist. Daher ist der Vergebungsakt, der Versöhnungsakt
erst dann abgeschlossen, wenn der Täter seine Sünde bereut und sie fortschicken lässt. Mit
anderen Worten: Es geht darum, dass diese Schuld vor Gott bekannt wird. Wenn er aber seine
Schuld vor Gott bekennt, dann wird er sie auch vor dem Menschen bekennen, dem er Leid
angetan hat. „Was ist aber, wenn dies nicht der Fall ist? Was ist, wenn der Täter seine Schuld
nicht einsieht?“ Wenn die Person die Schuld nicht bereut, beschränkt das unsere Liebe zu
dieser Person keineswegs ein. Wir sind vielmehr dazu aufgefordert, unsere Verantwortung für
diesen Menschen ernst zu nehmen, nämlich dass sie die Sache vor Gott (und dadurch vor mir)
bereinige. Das alles aber aus und in Liebe, nicht aus Rechthaberei.
VII. Zusammenfassung
Da wir gesündigt haben, haben wir eine unendliche große Schuld bei Gott. Aber Christus ist
für unsere Schuld auf Golgatha gestorben, und bietet uns Vergebung an. Indem wir an Jesus
glauben, hat er die Schuld für uns bezahlt. Und dies ist die Grundlage für die zwischenmenschliche Vergebung.
Wenn uns jemand verletzt hat, so sollten wir doch hingehen, um mit dieser Person zu reden.
Dabei ist oft hilfreich, wenn noch eine weitere Person oder sogar zwei uns begleiten. Diese
Personen sollen nicht für uns Partei ergreifen, sondern beide Seiten zuhören, und helfen, eine
Lösung zu finden, sodass eine Versöhnung stattfinden kann.
20
Deshalb kann es schließlich zu der Ausschließung aus der Gemeinde Gottes kommen. Weil die Schuld vor Gott besteht.
Dies ist wichtig zu verstehen. Angenommen wir haben uns gegen eine Person versündigt. Es tut uns leid und wir bitten der Person um Vergebung. Doch diese Person hat so einen großen Groll auf uns, dass sie uns nicht vergeben will. In dieser Situation haben wir uns zu fragen: „Muss
ich dann immer ein schlechtes Gewissen haben? Muss ich immer mit dieser Schuld leben?“ Die Antwortet lautet: „Nein“. Wenn wir das unsrige
getan haben, um die Beziehung mit dem anderen wiederherzustellen, doch die Person weist jeden Annäherungsversuch von sich, so dürfen wir
getrost von der Vergebung Gottes leben. Denn die wahre Vergebung kann letztlich nur Gott zusprechen.
21
© Michél Carsten Wiebe
Version: 26. November 2012
Herunterladen