WDR 5 Tiefenblick WDR 5, Sonntag, 10.09.2017, 08:05 – 08:35 Uhr Wiederholung Sonntag, 10.09.2017, 22:30 – 23:00 auf WDR 3 Die spinnen, die Europäer … Polens Justiz vor Gericht Ein Feature von Łukasz Tomaszewski Erzähler 19. Juli 2017: Tausende Polen demonstrieren vor dem Präsidentenpalast in Warschau. Die Demonstranten und die Opposition fürchten um die Unabhängigkeit der Justiz. Die Europäische Kommission droht mit Sanktionen und leitet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein. Was war geschehen? Jarosław Kaczyński (polnisch) Wir strecken unsere Hand aus zu all denen die einen guten Wandel wollen. Die Polen verändern wollen. Wir sollten so viele wie möglich sein. (Klatschen). Sicherlich wird auch gegen uns gearbeitet werden, aber ich möchte stark unterstreichen: Das Recht wird ausgeführt werden, wir werden die Wahrheit anstreben. Erzähler 26. Oktober 2015. Parteichef Jarosław Kaczyński hält eine Rede vor Anhängern seiner rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS, die an diesem Tag bei den Parlamentswahlen mit 39% die absolute Mehrheit geholt hat. Fünf Monate zuvor hatte sich völlig überraschend bereits der PiS-Kandidat Andrzej Duda in den Präsidentschaftswahlen durchgesetzt. Damit enden acht Regierungsjahre der liberalkonservativen Koalition der Parteien Bürgerplattform PO und Bauernpartei PSL. Und erstmals seit 1989 gelingt es einer Partei, gleichzeitig den Präsidenten zu stellen und eine Mehrheit in Parlament und dem Senat zu haben. Ein Erdrutschsieg mit © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Konsequenzen: Denn das, was Jaroslaw Kaczynski in seiner Siegesrede als Arbeit am „Guten Wandel“ bezeichnet, entwickelt sich innerhalb weniger Wochen laut Europäischer Union zu einer „Gefahr für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte“. Polens neue Regierung bricht eine Verfassungskrise vom Zaun. Marta Bucholc (polnisch) Die Verfassungskrise in Polen bestand darin, dass große Unterschiede in der Interpretation der Funktion des Verfassungsgerichts auftauchten. Sprecherin Marta Bucholc, promovierte Juristin und Professorin der Soziologie an der Universität Warschau. Sie forscht zum Thema „Recht als Kultur“ und hat die polnische Verfassungskrise untersucht. Marta Bucholc (polnisch) Warum kann man von einer Krise sprechen? Weil die PiS-Regierung von Anfang an unterstrich, dass das Verfassungsgericht aus ihrer Sicht in der damaligen personellen Besetzung, unter der damaligen Führung, ein Organ ist, welches dem Staat schadet. Es sollte nicht ernst genommen werden als Diskussionspartner über den Zustand der Demokratie. Und es sollte auch nicht als Institution des Staates ernstgenommen werden. Musik: Massive 1028 Cumulonimbus Erzähler 2/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Doch woher rührt die heftige Aversion der PiS-Partei gegen ein elementares Verfassungsorgan? Ende Juni hatte die noch alte konservativ-liberale Regierung aus PO und PSL ein neues Verfassungsgerichtsgesetz beschlossen. Es ermöglichte dem damaligen Parlament, Nachfolger für alle Verfassungsrichter zu wählen, deren Amtszeit in der zweiten Jahreshälfte 2015 auslief. Dies betraf zwei von fünf Richtern, die von der Vorgängerregierung vor dem Ende ihrer Regierungszeit auf der Grundlage der neuen Gesetzgebung gewählt wurden. Als das neue Parlament seine Arbeit startete, nahmen die Ereignisse allerdings eine unerwartete Wendung. Obwohl die Amtszeit von drei Verfassungsrichtern abgelaufen war, verweigerte Präsident Andrzej Duda ihren gewählten Nachfolgern die Vereidigung. Marta Bucholc (polnisch) Man kann feststellen, dass es bei den zwei Verfassungsrichtern, die noch von der vorherigen Parlamentsmehrheit gewählt wurden, obwohl ihre Amtszeit erst Ende 2015 auslief, Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Wahl gab. Als Reaktion auf diese Zweifel hat die Mehrheit der PiS zusammen mit Präsident Duda entschieden, die gesamte vorher getroffene Auswahl zu annullieren und ihre eigenen Richter auszuwählen. Aber das war nur der erste Schritt. Erzähler Die Verfassungskrise hat eine ganze Reihe von Neuerungen für das politische System Polens mit sich gebracht. Der erste Einschnitt war der Umgang des Präsidenten Andrzej Duda mit dem Akt der Vereidigung der neugewählten Verfassungsrichter. Bisher ein rein symbolischer Akt und Abschluss eines vielstufigen Ernennungsverfahrens. Andrzej Duda machte aber erstmals aus der Vereidigung einen Blockademechanismus und ein Werkzeug zur Kontrolle der Richterwahl. Am 3. Dezember 2015 vereidigte der Präsident die fünf von der PiS neu gewählten Verfassungsrichter und trat noch am selben Abend vor die Kameras des Staatlichen Fernsehens TVP: 3/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Andrzej Duda (polnisch) Um die unnötigen Zwistigkeiten zu beenden, welche die Autorität der wichtigsten Institutionen des polnischen Staates untergraben, habe ich mich als Wächter der Verfassung und der Kontinuität der Staatsgewalt dazu entschlossen, die gestern gewählten Richter zu vereidigen. Ich habe mich dabei vom Willen des neu gewählten Sejm leiten lassen, in den die Polen eine so gewaltige Hoffnung auf die Erneuerung der Republik setzen. Erzähler Mit diesem Statement hat Duda das Verständnis der Gewaltenteilung und den Begriff des Souveräns in der polnischen Demokratie neu definiert. Der Präsident berief sich zu Recht auf seinen Status als Wächter der Verfassung. Er begründete als Leitlinie seiner Entscheidung aber nicht etwa die Verfassung, sondern den Willen des neu gewählten Sejm. Damit stellte er sich auf die Seite der Legislative und fügte sich ihrem Willen. Als Staatsorgan sollte er aber eigentlich das Gesetz zur Grundlage seiner Entscheidungen machen und nicht einen Teil seiner legitimen präsidialen Macht abgeben. Marta Bucholc (polnisch) Nach Definition der PiS gibt es keinen Platz, um sich die Macht zu teilen. Denn wenn es einen Souverän gibt, dann sollte dieser eine Souverän auch mit nur einer Stimme sprechen. Und alle Staatsorgane sollten eine Bündelung des gemeinsamen Willens vornehmen und auf das Ziel des Souveräns hinarbeiten. Darum ist es unwichtig, dass der Präsident eine eigene Position vertritt und seine Besonderheit betont. Der Präsident und das Parlament sind bereits eine Einheit. In einer Weile stoßen die Gerichte zu ihnen und dann erlangen wir den glückseligen Zustand des nationalen Konsenses. 4/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Erzähler In anderen Worten: Die Aufhebung des Systems demokratischer Kontrollmechanismen: der Gewaltenteilung. Anfang 2016 leitet die EU-Kommission ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen ein – das erste Mal in der Geschichte der Europäischen Union. Alexander Hall (polnisch) Meiner Meinung nach ist die Demokratie in Gefahr. Sprecherin Alexander Hall ist Professor für Geschichte in Danzig. Der ehemalige Minister und Parlamentarier hat Lech Walesa beraten und war enger Vertrauter des ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Alexander Hall (polnisch) Denn die Regierungstruppe und der Präsident, der dieser Gruppierung angehört, haben schon mehrmals die Verfassung gebrochen und missachtet. Das gab es noch nicht seit Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 1997. Zweitens: Die von der Regierung geplanten Veränderungen führen zweifellos zu einem Übergewicht der politischen Gewalt über die anderen Gewalten. Sie führen zu einer Unterordnung der Justiz unter die politische Herrschaft. Das ist unheimlich gefährlich. Ein unabhängiges Gericht ist doch die einzige Instanz, welche die Standards der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit garantieren kann. Erzähler Das Verfassungsgericht in seiner heutigen Besetzung, knapp anderthalb Jahre nach der Verfassungskrise, ist für Alexander Hall keine unabhängige Kontrollinstanz mehr. 5/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Alexander Hall (polnisch) Heute ist ungefähr die Hälfte der Richter durch die PiS eingesetzt. Leider müssen wir auch über ihr Niveau sprechen: Das sind keine Menschen die Unabhängigkeit und eine hohe professionelle Ebene garantieren. Stattdessen sind es Leute, die sich komplett mit der Regierung identifizieren und sogar offen darüber reden. Sie verteidigen dabei die Politik und machen haltlose Behauptungen z.B. über angebliche Korruption im vorherigen Verfassungsgericht oder dem Obersten Gericht. Das sind Funktionäre der Regierungstruppe. Erzähler Alexander Hall hat über die Praktiken der PiS-Regierung und die Verfassungskrise ein Buch geschrieben. Der Titel „Schlechter Wechsel“. Alexander Hall (polnisch) Die PiS weiß ganz genau, wovor sie Angst hat: Viele der Veränderungen, die derzeit stattfinden, sind verfassungswidrig. Sie wollen sich dieser Hürde entledigen: des Organs das dazu berufen ist, die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung zu untersuchen. Darum zielte diese Attacke in erster Linie auf das Verfassungsgericht. Aber hier hört sie nicht auf. Das Verfassungsgericht hat in Polen keine Bedeutung mehr. Jetzt richtet sich die Attacke gegen das Oberste Gericht und die gewöhnlichen Gerichte. Und sie wird konsequent durchgeführt. Sprecherin Der Warschauer Publizist Adam Krzeminski schreibt für das auflagenstärkste liberale Wochenmagazin Polityka. Er beobachtet bei der PiS ein eigenes Weltbild inklusive des dazugehörigen Vokabulars einer „nationalkonservativen Revolution“. Dabei kämen 6/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. aggressive Klischees und die Stigmatisierung politischer Gegner als „Volksverräter“ oder „Polen minderer Sorte“ zum Einsatz. Adam Krzeminski (deutsch) Es ist eindeutig die Sprache des kalten Bürgerkrieges. Eingerichtet auf die Polarisierung der Gesellschaft, auf das von Karl Schmitt – dem Kronjuristen des Dritten Reiches – entliehenen Ideologie oder Philosophie des Freund-Feind-Denkens. Des Dezisionismus. Also des Vorrangs der Exekutive. Und einer Auffassung der Souveränität, die nicht geteilt wird mit den Nachbarn oder Supranationalen Institutionen wie die Europäische Union, sondern mit der Fähigkeit des Regierenden mit schnellen Entscheidungen die vollzogenen Tatsachen zu Stande zu bringen. Also: Vorrang der Exekutive, und wenn man böswillig das formulieren will: Die Souveränität des Ausnahmezustandes. Erzähler Als sich im Zuge der Verfassungskrise oppositionelle Politiker an EU-Behörden wenden, kommentiert Jarosław Kaczyński ihr Vorgehen am 11. Dezember 2015 im nationalistischen Fernsehsender TV Republika: Jarosław Kaczyński (polnisch) In Polen gibt es eine fatale Tradition des Volksverrates. Das ist in den Genen mancher Menschen, dieser schlechtesten Sorte Polen, und diese schlechteste Sorte ist momentan unheimlich aktiv, weil sie sich bedroht fühlt. Den Krieg, später der Kommunismus, die Transformation wie sie durchgeführt wurde, hat genau dieser Typ Mensch unterstützt. Erzähler 7/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Einen Tag später, am 12. Dezember 2015 gehen in Warschau tausende Menschen gegen die Aushebelung des Verfassungsgerichts auf die Straßen. Viele von ihnen tragen T-Shirts und Transparente mit der Aufschrift „Wir sind die Polen schlechtester Sorte“. Die Demonstranten sind Teil der wenige Tage zuvor entstandenen Bürgerbewegung KOD: Dem Komitee zur Verteidigung der Demokratie. Inspiration für die Bildung des KOD ist ein Artikel des Publizisten und Bürgerrechtlers Krzysztof Łoziński. Darin ruft er zur Gründung einer zivilgesellschaftlichen Plattform nach dem Vorbild der KOR auf, einer oppositionellen Bewegung im sozialistischen Polen. Bürgerrechtsaktivisten greifen die Idee auf und präsentieren sie auf Facebook. Einer von ihnen ist Jarosław Marciniak, heute im Vorstand des KOD: Jarosław Marciniak (polnisch) Das hat ein unglaubliches Interesse geweckt. Die Leute meldeten sich bei der Facebook-Gruppe an und nach einem Wochenende waren wir 22 000 Menschen. Erzähler Nach nur wenigen Monaten wird die KOD-Bewegung landesweit von mehreren tausend Aktivisten organisiert. In den meisten größeren Kreisstädten betreibt die KOD heute eigene Büros. Es wird großer Wert auf Basisdemokratie gelegt, um eventuelle Führungsansprüche Einzelner zu vermeiden. Jarosław Marciniak (polnisch) Es tauchten Leute auf, die um das Land besorgt waren. Die sich bisher weder in einer Partei oder einer Bürgerbewegung engagiert haben. Viele sagten: Hört mal, bisher hat mich nichts schockiert, aber wenn ich sehe was da passiert. Wenn die Gesetze geändert werden, die die Staatsanwaltschaft betreffen, die Polizei, das Abhörgesetz. Das ist etwas, was uns bestürzt, und wir wollen mit euch rausgehen und unseren Protest zeigen. Die folgenden Demonstrationen wurden immer größer. Anfang Mai 8/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 2016 kamen fast 250 000 Menschen. Sie haben gezeigt, dass sie es schätzen, dass Polen sich zu einem freien demokratischen Land entwickelt hat. Erzähler Heute hat die KOD Hunderttausende Anhänger. Jarosław Kaczyński meint die Demonstranten seien „keine Menschen, die intakte Köpfe haben“ und stempelt sie als „Kommunisten und Diebe“ ab. Publizist Adam Krzeminski nennt diese Wortwahl den „PiS-Neusprech“: Adam Krzeminski (deutsch) Es ist eine völlig neue Qualität in der polnischen Innenpolitik seit 1989. Denn sie bricht auch mit der Philosophie des Runden Tisches. Erzähler Also dem System des politischen Kompromisses. 1989 hatten sich die Katholische Kirche, Reformwillige Vertreter der Sozialistischen Regierung und die Gewerkschaft Solidarność an einen Tisch gesetzt und die politische Zukunft des Landes ausgehandelt. Gemeinsam wurden die Modalitäten eines moderaten Systemwechsels beschlossen. Diese Logik wird laut Krzeminski durch die heutige Regierungspraxis der PiS abgeschafft. Mehr noch, die PiS-Partei versucht auch die Geschichte des Landes umzuschreiben: Adam Krzeminski (deutsch) Es ist nicht mehr das Jahr 89 der Gründungsakt des Freien Polens, sondern die gewonnenen Wahlen durch die PiS. Und das wäre in ihrer Lesart die neue Zeitrechnung. Es beginnt jetzt. Das ist die Quintessenz der sogenannten Guten Wende. Der polnische Staat wird neu gebaut. Endlich kommen die neuen „Homini 9/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Novi“ an die Macht, die unbeleckt sind durch die kommunistische Vergangenheit. Das andere: Die Souveränität gegenüber der Außenwelt: Polen erhebt sich von den Knien und setzt das eigene Gewicht auf die europäische Waagschale. Wie das in der Praxis aussieht, haben wir bei der Wiederwahl von Ratspräsident Donald Tusk gesehen. 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union stimmten für Donald Tusk und nur Polen stimmte dagegen. Das heißt Polen hat sich durch diese Politik eher isoliert. Erzähler Geschichtsprofessor und Ex-Minister Alexander Hall stellt in seinem Buch von 2016 „Schlechter Wechsel“ eine Analogie zwischen der Regierungsweise des autoritären Marschall Józef Piłsudski und Jarosław Kaczyński her. Alexander Hall (polnisch) Jarosław Kaczyński kennt sich schlecht im heutigen Europa und mit den heutigen politischen Führern der westlichen Welt aus. Aber er kennt die Geschichte Polens wirklich gut. Ich sehe klare Inspirationen es gibt da parallelen in der Art des Kampfes mit der Opposition oder der Erlangung der Macht mit dem was jetzt geschieht und dem, was die Mannschaft gemacht hat, die den Staatsstreich 1926 verübt hat. Der MaiPutsch an dessen Spitze Józef Piłsudski stand. Er hat das Parlament beibehalten, aber de facto wurde das Parlament immer stärker in seinen Rechten beschränkt bis schließlich eine neue Verfassung eingeführt wurde. Diese hat die ganze Macht in den Händen des Präsidenten gebündelt. Er wurde damit zu einer übergeordneten Macht über das Parlament, den Senat, der Regierung und dem Gerichtswesen. Erzähler Jarosław Kaczyński als Neuauflage des Nationalhelden Józef Piłsudski? Wohl kaum. Juristin und Soziologin Marta Bucholc vermutet das ideologische Erbe eher in der jüngeren Vergangenheit. Und zwar paradoxerweise im Sozialismus. 10/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Marta Bucholc (polnisch) Es ist die Erfahrung des Lebens im Sozialismus. Mit der sozialistischen Propaganda, mit dem sozialistischen Repertoire der symbolischen Sprache. Mit dem spezifischen sozialistischen Neusprech. Mit der Gewohnheit Feinde zu suchen und sie zu brandmarken. Mit der für Polen spezifischen Mischung aus Modernitätskult und dem Kult des Lokalen und Nationalen. Ein Volk, das unter sich bleibt und seine Identität bewahrt. In einem Land, das polnisch ist und von Polen bewohnt wird: Genau diese Mischung hat die PiS auch von polnischen kommunistischen Regierungen geerbt. Erzähler Bei einer schwachen parlamentarischen Opposition und einem auf Linie gebrachten Gerichtswesen, wächst in Polen der Druck auf die regionalen und kommunalen Verwaltungen, um gegen die rechtspopulistische Wende vorzugehen. In den zwei Regierungsjahren musste die PiS-Regierung schon mehrmals ihren Kurs korrigieren: Als die Wahlkreise in der Region Warschau zugunsten der PiS geändert werden sollten, protestierten die betroffenen Gemeinden, bestanden auf ihrer kommunalen Selbstverwaltung und bekamen Recht. Das bekannteste Beispiel von erfolgreichem Straßenprotest ist der Rückzug aus der Gesetzesinitiative für ein komplettes Abtreibungsverbot nach dem sogenannten „Schwarzen Protest“, der im Oktober 2016 hunderttausende Polinnen auf die Straße trieb. Die Massenproteste des Komitees zur Verteidigung der Demokratie gelten heute als die größte Bürgerbewegung in Polen seit 1989. Doch Juristin Marta Bucholc zweifelt an ihrer Nachhaltigkeit. Marta Bucholc (polnisch) Kurzfristig haben sich die Verhältnisse verändert, weil sich die Menschen mit Fragen wie dem Rechtsstaat und der Verfassung beschäftigt haben. Aber ob sich dieselben Menschen auch in zwei Jahren zur nächsten Parlamentswahl immer noch so lebhaft damit beschäftigen: da Ich bin skeptisch. Dieses Potential kann schnell verpuffen. Vor 11/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. allem wenn diese Frage von der PiS weiterhin so konsequent politisch verhandelt wird. Die PiS ist unheimlich effizient darin Tatsachen zu schaffen. Erzähler Und die Regierung bohrt geduldig und konsequent dicke Bretter und arbeitet auch im Sommer 2017 weiter an der Aushöhlung der Justiz. Nach dem Verfassungsgericht gerät das Oberste Gericht und die ordentliche Gerichtsbarkeit ins Fadenkreuz: Am 12. Juli verabschiedete die PiS-Mehrheit im Parlament drei Reformgesetze: Das erste betrifft den Nationalen Gerichtsrat - KRS. Aufgabe des Gremiums ist es, dem Präsidenten Kandidaten für die höchsten Richterämter vorzuschlagen. Die Mitglieder des KRS werden größtenteils von Richtern selbst gewählt. Die Reform sieht vor, dass künftig auch Abgeordnete Einfluss auf die Vorschläge haben sollen. Außerdem sollen alle bisherigen Mitglieder des KRS binnen 30 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes entlassen werden können. Die neuen Mitglieder würden vom Sejm gewählt werden, in dem die Regierungspartei die absolute Mehrheit stellt. Mit dem zweiten Gesetz soll das Oberste Gericht umstrukturiert werden. Justizminister Ziobro, der in Personalunion auch Generalstaatsanwalt ist, soll alle Richter des höchsten Gerichts in Pension schicken können – und in Abstimmung mit dem ebenfalls umgebauten KRS neue Richter ernennen dürfen. Das dritte Gesetz sieht die Reform der ordentlichen Gerichtsbarkeit vor. Justizminister Ziobro kann die Präsidenten der Bezirks-, der Landes- und der Berufungsgerichte austauschen. Diese Präsidenten haben wiederum das Recht, einen Großteil der lokalen Juristen auszutauschen. Justizminister Ziobro legt die neuen Gesetze kurz vor ihrer Verabschiedung im polnischen Parlament am 12.Juli 2017 so aus: Zbigniew Ziobro (polnisch) Hier ist oft von Freiheit die Rede. Aber es gibt keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Und es gibt diese Freiheit nicht, wenn die Polen in ihren Gerichten Gerechtigkeit suchen und auf Arroganz und Hochmut treffen. Sie hören wie Richter sich über das Recht 12/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. stellen und über die Bürger, anstatt Geschädigten und Schwachen zu dienen. Wir wollen das ändern. Wir werden die Gerichte der polnischen Gesellschaft zurückgeben. Erzähler Juli 2017. Die geplante Justizreform löst in der polnischen Zivilgesellschaft einen bisher ungekannten Sturm der Entrüstung aus. Zehntausende Demonstranten gehen täglich in Warschau und anderen Großstädten des Landes auf die Straße. Auch nachts harren sie vor dem Parlament und dem Präsidentenpalast aus. Die Opposition und führende Rechtsexperten sprechen von einem Ende der Gewaltenteilung. Die Parlamentarierin Kamila Gasiuk-Pichowicz, von der liberalen Partei Nowoczesna, wendet sich in der Parlamentsdebatte direkt an Jarosław Kaczyński. Kamila Gasiuk-Pichowicz (polnisch) Ich würde gerne die Frage stellen wie die PiS uns überzeugen möchte, dass im Jahr 89´die stalinistische Theorie über das Funktionieren des Staates schlecht war, aber im Jahr 2017 gut ist. Herr Kaczyński: 1989 haben sie am runden Tisch über die Unterordnung des Gerichtswesens unter die Regierung und die Partei Folgendes gesagt: Das war eine Regel der hoffentlich zu Ende gehenden Epoche. Das war eine Regel, die im System der letzten vierzig Jahre existierte. Das war ein Teil der stalinistischen Theorie des Staatswesens, von der wir uns auf allen Ebenen distanzieren sollten. Herr Vorsitzender: Wenn wir jetzt die Gerichte durch die neuen Gesetze wieder parteiisch werden lassen. Will die PiS uns damit etwa sagen: Die Demokratie hat sich nicht bewährt? Warum haben sie als 39-Jähriger vor diktatorischen Spielregeln gewarnt und heute, mit knapp 70 Jahren, steuern sie direkt auf eine Diktatur hin? Erzähler 13/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Präsident Andrzej Duda, bisher als loyaler Füllfederhalter Jarosław Kaczyńskis bekannt, beugt sich schließlich dem Druck der Straße und legt sein Veto gegen zwei der drei neuen Gesetze ein. Duda verpflichtet sich mit seinem Veto dazu, konkrete Alternativen zu den Reformgesetzen am Obersten Gericht und am Nationalen Gerichtsrat - KRS auszuarbeiten. Dafür will er sich zwei Monate Zeit nehmen. Das dritte von ihm gezeichnete Gesetz zur Rekrutierung der Richter an einfachen Gerichten ist Anfang August 2017 in Kraft getreten. Nach der Veröffentlichung im polnischen Gesetzesblatt reagiert der EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans und verkündet die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Frans Timmermanns (englisch) The commission today empowered me in agreement with President Juncker to send a letter a formal notice once the law on the ordinary courts organization has been published. And we will give the Polish authorities one month to reply from the date this letter was sent. The colleagues discussed last week the option of using Article 7 if the situation did not improve. And our recommendation gives a clear indication of what actions by the Polish authorities would bring us to that point. The recommendation does not prevent Article 7 being activated directly in case a sudden deterioration requires immediate and strong reaction. The commission's recommendations asks the Polish authorities not to take any measure to dismiss or force the retirement of Supreme Court judges. If such a measure is taken the commission is ready to immediately trigger the article 7 procedure. Timmermanns Die Komission hat mich heute, in Absprache mit Präsident Juncker, dazu ermächtigt, eine amtliche Mitteilung abzuschicken, sobald das Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit veröffentlicht wird. Die polnische Regierung hat dann einen Monat Zeit, um darauf zu antworten. Das Kommissionskollegium hat vergangene 14/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Woche über die Option beraten, Artikel 7 anzuwenden, falls sich die Situation nicht verbessert. Unsere Empfehlung macht deutlich, welche Maßnahmen der polnischen Regierung uns an diesen Punkt bringen würden. Die Empfehlung verhindert aber nicht eine direkte Anwendung des Artikels 7, im Fall einer plötzlichen Verschlechterung der Lage. Die Empfehlung der Kommission verlangt von der polnischen Regierung, keine Maßnahmen zu treffen, um Richter am Obersten Gericht zu entlassen oder in den Ruhestand zu schicken. Falls solch eine Maßnahme getroffen wird, ist die Kommission bereit, sofort die Prozedur nach Artikel 7. zu veranlassen. Erzähler Ein Vertragsverletzungsverfahren kann zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und zu hohen Geldstrafen führen. Diesen Schritt kann die EU-Kommission selbst einleiten. Die Kommission streitet allerdings schon seit Anfang 2016 mit der PiSRegierung um das polnische Justizwesen und die Veränderungen am Verfassungsgericht. Alle Versuche im laufenden Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit im Dialog zu einer Lösung zu kommen, scheiterten. Das von Frans Timmermanns angedrohte Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrag könnte jetzt zum Stimmrechtsentzug auf europäischer Ebene führen. Allerdings wäre hierfür ein einstimmiger Beschluss aller Mitgliedsstaaten nötig. Ungarn hat aber schon klar gemacht, dass es ein solches Vorgehen gegen Polen nicht mittragen würde. Am 28. August 2017 antwortet das Polnische Außenministerium auf die Vorwürfe der EU Kommission: Die geplante Justizreform sei mit europäischen Standards vereinbar, die Sorge der EU unbegründet. Damit geht Wahrschau auf erneuten Konfrontationskurs mit Brüssel. Juristin Marta Bucholc warnt, dass die bereits vorgenommen Veränderungen in der Zukunft nur sehr schwer wieder rückgängig zu machen seien. Marta Bucholc (polnisch) 15/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Die Drohungen von Seiten der EU haben auf die Regierung keinen Eindruck gemacht. Finanzminister Morawiecki hat gesagt, dass die Neubesetzung der Gerichte zu keinem Vertrauensverlust bei ausländischen Investoren führen wird. Nach dieser Aussage ist die EU eine rein wirtschaftliche Gemeinschaft, und keine Wertegemeinschaft mit einem Rechtsstaat als Grundsatz. Man kann den Rechtsstaat zwar unterschiedlich strukturieren. Aber der Rechtsstaat braucht Vertrauen in Prozeduren, er benötigt Grundregeln von denen wir uns nicht ohne guten Grund entfernen. Und diese Grundregeln werden in Polen momentan verletzt. Darum geht es. Es geht nicht darum, dass man ein Land nicht reformieren kann, aber man kann es nicht auf diese Weise tun. Die Spinnen die Europäer ... Polens Justiz vor Gericht Von Łukasz Tomaszewski Es sprachen: Łukasz Tomaszewski Gregor Höppner Lara Pietjou David Vormweg Nicole Boguth Ralf Drexler Thomas Lang Technische Realisation: Gerd Nesgen Regieassistenz: Leyla Margareta Jafarian Regie: Thomas Leutzbach Redaktion: Leslie Rosin 16/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2017 Download und Manuskript der Sendung finden Sie unter wdr5.de und im FeatureDepot. Am kommenden Sonntag hören Sie in der Reihe „Die spinnen die Europäer“ Folge 3 „Katalonien- raus aus Spanien?“. 17/17 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.