1. Einleitung 1.1. Problemstellung Die öffentliche Diskussion über das Verhalten von Kindern in den Schulen Deutschlands legt einerseits nahe, dass aggressives Verhalten unter Kindern angestiegen sei. Dafür sprechen nicht nur Darstellungen in den Medien sowie Kriminalstatistiken, sondern auch der Tatbestand, dass Kinder mit Störungen im Bereich des Sozialverhaltens neben denen mit hyperkinetischem Syndrom die stärkste Patientengruppe in kinderpsychiatrischen Einrichtungen bildet. Andererseits gibt es empirische Befunde, die eine generelle Zunahme aggressiven Verhaltens nicht stützen. Diese sprechen eher für die Notwendigkeit einer differenzierten Sicht auf das Problem und dafür, dass hinsichtlich der Wahrnehmung des Sozialverhaltens von Kindern eine Sensibilisierung erfolgt ist. Sei es wie es sei, auch wenn die Ergebnisse zum Ausmaß von Aggression an Schulen widersprüchlich sind, steht es außerhalb jeden Zweifels, dass der Handlungsbedarf zur Gewaltprävention sowie zur Reduktion aggressiven Verhaltens im Schulbereich hoch ist. Dies geht auch aus vielen nationalen und internationalen Studien der letzten Jahre hervor. Die Frage nach dem „Was tun?“ bei aggressivem Verhalten von Kindern lässt sich nur aus der jeweiligen Sichtweise des Phänomens und seiner Verursachung heraus beantworten. Diese Sichtweise muss keiner klassischen Aggressionstheorie entsprechen; jeder Mensch - und damit auch jeder Lehrer1 - hat seine eigenen („impliziten“, „naiven“) Auffassungen. Aus ihnen heraus resultiert die Präferenz einzelner Maßnahmen, um die Häufigkeit aggressiven Verhaltens zu verringern. Im Ergebnis einer Analyse2 der in der Literatur vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewältigung von Aggression und Gewalt an Schulen wurden mehr oder weniger spezifische Typen unterschieden: schulbezogene, allgemein schülerbezogene, täterbezogene, opferbezogene und MehrEbenen-Konzepte. Es ist keineswegs klar, welche Effekte sich hinsichtlich einer Aggressionsminderung durch den Einsatz einzelner Vorschläge der unterschiedlichen Maßnahmetypen erzielen lassen. Deshalb sind wir im Rahmen eines breit angelegten Forschungsprojektes unter anderem auch der Frage nachgegangen, ob Maßnahmen des Typs ‚Förderung sozialer Kompetenz/prosozialen Verhaltens, Ausbildung von Prosozialität’ zur Prävention/Intervention bei Aggression und Gewalt beitragen. 1 2 Aus Gründen der Lesbarkeit und einfacheren Formulierung wird im Folgenden immer die „männliche“ Schreibweise verwendet, die aber inhaltlich geschlechtsneutral zu werten ist. Nolting & Knopf 1998. 9 1. Einleitung 1.2. Anliegen und Aufbau des Buches Das Buch soll einen Beitrag zur Förderung prosozialen Verhaltens und sozialer Kompetenz und zugleich auch zur Prävention und Intervention hinsichtlich aggressiven Verhaltens von Kindern leisten. Einerseits wird eine theoretische Einordnung und Erklärung von Phänomenen der Interaktionsund Kommunikationskultur (insbesondere, aber nicht nur an Schulen) vorgenommen. Dabei wird neben entwicklungspsychologischen Betrachtungen vor allem eine sozialpsychologische Sicht auf verschiedene Formen des Sozialverhaltens von Kindern eingenommen. Andererseits werden, eingeordnet in eine Metaanalyse zur Reduzierung aggressiven Verhaltens an Schulen, Handlungsstrategien, methodische Hinweise und praktisch einsetzbare Arbeitsmaterialien diskutiert und zu einem Präventionsprogramm3 zusammen gestellt. Das auf diesem Weg entstandene theoretisch begründete Programm zur Förderung prosozialen Verhaltens wird im siebenten Kapitel ausführlich erläutert. Die bei der Erprobung des Förderprogramms im Rahmen von schulischen Arbeitsgemeinschaften gewonnenen Ergebnisse beziehen sich nicht nur auf Veränderungen im prosozialen Verhalten der Kinder, sondern zeigen auch, unter welchen Bedingungen sich mit Hilfe der praktizierten Vorgehensweisen zugleich Möglichkeiten einer Aggressionsprävention und -intervention ergeben können. Insofern werden im Buch Möglichkeiten der Vermeidung und der Reduktion aggressiven Verhaltens von Kindern über den Aufbau moralischen Urteilens und über die Entwicklung sozialer Kompetenz diskutiert. Abschließend werden abgeleitete Anforderungen an Förderprogramme zusammengefasst sowie schulpraktische Hinweise bezüglich der Umsetzung der enthaltenen pädagogischen Maßnahmen unter anderem auch im Schulunterricht gegeben. Insofern richtet sich das vorliegende Buch insbesondere an Lehrer, Pädagogen, Psychologen und Eltern, zugleich aber auch an alle diejenigen Leser, denen an einer Hilfe bei der Aggressionsprävention von Kindern in besonderem Maße gelegen ist. 3 10 Das Programm ist zugleich ein Ergebnis eines Forschungsprojektes des Arbeitsbereiches Pädagogische Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das vom Kultusministerium des Landes SachsenAnhalt in Auftrag gegeben wurde. An dem Projekt zur Minderung aggressiven Verhaltens waren beteiligt: Prof. Dr. Hartmut Knopf (Projektleiter), PD Dr. Christhoph Gallschütz, Dr. Wolfgang Grützemann, Dr. Helga Horn und Studierende der Fachrichtungen Erziehungswissenschaften und Psychologie. Erste Ergebnisse wurden in einer Broschüre der Reihe Grundsätze und Anregungen für die Schulpraxis vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt herausgegeben - s. Knopf, Gallschütz, Grützemann & Horn 1999. 2. Prosoziales Verhalten 2.1. Die Sicht der Sozialpsychologie Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Auf einer Wiese mit Büschen und Bäumen tummelt sich eine Gruppe von Rotkehlchen. Sie hüpfen über den Rasen und suchen nach Nahrung. Über ihnen kreist ein Habicht. Eines der Rotkehlchen bemerkt ihn, versucht sich zu verbergen und stößt einen grellen Pfiff aus. Die anderen Rotkehlchen flattern auf und bringen sich in Büschen und Bäumen in Sicherheit. Der Habicht ist aber schon im Sturzflug. Gleich darauf gewinnt er wieder an Höhe und gleitet in den Sommerhimmel - in seinen Fängen ein Rotkehlchen. Es ist das, das die anderen durch sein Signal gewarnt und sich gleichzeitig damit aber selbst dem Feind verraten hat. Was kann als Beobachter dieser Szenerie festgehalten werden? Ein Individuum rettet durch sein Verhalten anderen Artgenossen das Leben. Die „Kosten“, die diesem Individuum durch dieses Verhalten entstehen, sind hier sehr hoch. In diesem Fall ist es das eigene Leben, das für das der anderen geopfert wird. Die Soziobiologie kennt ähnliches Verhalten auch bei anderen Tierarten. Es muss von Tieren nicht gelernt werden, sondern gehört zum angeborenem Verhaltensprogramm und steht im Dienste der Arterhaltung. Ähnliches Verhalten gibt es natürlich auch im menschlichen Bereich und ist seit jeher faszinierender Forschungsgegenstand in vielen Wissenschaften. Angeregt wurden viele Forschungsarbeiten vor allem auch durch spektakuläre Fälle unterlassener Hilfeleistungen (Beispiel in Abb.1) infolge von pluralistischer und kollektiver Ignoranz.4 Das „tierische“ Eingangsbeispiel liefert auch für eine Begriffsbestimmung bezüglich des prosozialen Verhaltens, wie sie gegenwärtig vor allem in der Sozialpsychologie üblich ist, wesentliche Erkenntnisse. Wird das Verhalten des Rotkehlchens aus menschlicher Sicht und unter Verwendung sprachlicher Kategorien für typisch menschliches Verhalten betrachtet, ist zu notieren, dass das Verhalten sowohl hilfreich (wohltuend) als auch uneigennützig (selbstlos, edelmütig) war. Mit beiden Kategorien wird im Prinzip eine soziale Beziehung (von mindestens 2 Individuen) cha4 Abb. 1: Meldung in der Mitteldeutschen Zeitung vom 04.11.2000 vgl. z.B. Slater 2005, S.124ff. 11 2. Prosoziales Verhalten rakterisiert. Die Kategorie „hilfreich“ zielt auf den Empfänger (Rezipienten) eines Verhaltens. Es wird implizit festgestellt, dass sich dieser in einer Situation befunden haben muss, in der er Hilfe benötigt und diese auch bekommen hat. Mit dem Begriff „uneigennützig“ wird die Situation des Verhaltensakteurs gekennzeichnet. Er hat aus seinem Verhalten keinen individuellen Nutzen gezogen (ziehen wollen, ziehen können). Im Falle des Rotkehlchens wird das Verhalten sogar mit dem eigenen Leben bezahlt. Hilfreiches Verhalten als Grundkategorie der Sozialpsychologie wird als spezielle Form der Interaktion zwischen (mindestens) zwei Personen bestimmt, die als Helfer und Hilfeempfänger bezeichnet werden. Während der Helfer Kosten hat, erreicht der Hilfeempfänger Belohnungen, die im Allgemeinen größer sind als die Kosten.5 „Von helfendem Verhalten wird also dann gesprochen, wenn die Absicht besteht, einer konkreten Person eine Wohltat zu erweisen.“6 Mit der Intention, etwas Gutes tun zu wollen, ist ein wesentliches und auch notwendiges Definitionsmerkmal für hilfreiches Verhalten bestimmt. Jedoch wird damit vorwiegend die Lage des Helfenden in den Blick genommen. Die Beurteilung eines Verhaltens von außen kann allerdings nur über die Effekte erfolgen. Damit sind die Lage des Rezipienten und die Frage, ob die Intention durch entsprechendes Verhalten auch tatsächlich eine ‚Wohltat’ bewirkt hat, in die Definition mit einzubeziehen. Das Wesen hilfreichen Verhaltens ist mit dem bewussten Ziel einer Person verbunden, „den Rezipienten in eine Lage zu versetzen, die dieser - verglichen mit seinem vorigen Zustand als Verbesserung empfindet.“7 Hilfreiches Verhalten kann von Personen im Rahmen beruflicher Verpflichtungen und Rollenvorschriften - z.B. von Angehörigen helfender Berufe - erfolgen. Es kann aber auch freiwillig ausgeführt werden. Unter dieser Bedingung wird gewöhnlich von prosozialem Verhalten gesprochen und es ist eine Teilmenge hilfreichen Verhaltens gemeint, das sich in solchen konkreten Verhaltensweisen wie Schenken, Spenden, Teilen und Helfen im engeren Sinne zeigt. Liegt hingegen dem Verhalten eine Schädigungsabsicht zu Grunde und wird der Rezipient tatsächlich geschädigt, handelt es sich um antisoziales und aggressives Verhalten. Hilfreiches und damit prosoziales Verhalten ist so gesehen das Gegenstück zum aggressiven (schädigenden und antisozialen) Verhalten. „Das sollte die Sozialpsychologie zu einer integrativen Betrachtung der Phänomene veranlassen. Nicht separate Konzepte wie Aggression und Hilfeleistung, sondern solche über soziales Handeln mit anti- und prosozialen sowie hilfreichen und schädigenden Haltungen sollten in Zukunft die Untersuchungseinheiten sein.“8 Prosoziales Verhalten kann mit Bezug auf die Motivation des Verhaltensakteurs weiter ausdifferenziert werden. Altruistisches Verhalten liegt dann vor, wenn es durch Perspektivenübernahme und Empathie motiviert ist und nicht der Optimierung eigener Bekräftigungsbilanz dient, sondern 5 6 7 8 12 Bierhoff & Herner 2002, S. 100. Bierhoff 2002, S. 178. Witte 1994, S. 94. Witte 1994, S. 101. 2. Prosoziales Verhalten nur dazu, die Situation anderer Personen zu verbessern. Es kann aber auch egoistisch motiviert sein, wenn z.B. der Helfer die Hilfesituation als so unangenehm empfindet und sich durch die Hilfeleistung aus ihr befreit und das als belohnend empfindet. Zur Erklärung des Hilfeverhaltens existiert eine Vielzahl mehr oder weniger elaborierter Konzepte und Modelle sehr unterschiedlicher Provenienz. Witte9 vermerkt neben anderen folgende acht Modelle und sozialpsychologische Varianten der Erklärung des Hilfephänomens: attributionstheoretische Erklärungen, durch die erklärt werden soll, warum und in welcher Weise Personen geholfen oder nicht geholfen wird in Abhängigkeit davon, wie der potenzielle Helfer die Ursachen für Notsituationen wahrnimmt und sich erklärt, entscheidungstheoretische Erklärungen versuchen Hilfehandeln auf das reflektierte und kalkulierte Spannungsfeld von Kosten-Nutzen zurückzuführen, feldtheoretische Vorstellungen führen die Tatsache, dass geholfen wird, darauf zurück, dass damit eine Möglichkeit gegeben ist, affektive Spannungen (promotive tension) abzubauen, psychonalytische Annahmen benennen Entstehungsbedingungen für die Entwicklung von Empathie und des Über-Ichs, welche wiederum Voraussetzungen sind für spätere moralische Haltungen und Handlungen, lerntheoretische Zugänge sehen sowohl die Entwicklung des Hilfeverhaltens als auch das Verhalten selbst als unter Kontrolle von Verstärkungen stehend an, die Reaktanztheorie liefert eine Erklärung dafür, ”warum nicht geholfen wird, indem sie davon ausgeht, dass jede Person nach Handlungsfreiheit strebt. Ist diese durch eine allzu starke Forderung nach Hilfe eingeschränkt, wird der potenzielle Helfer mit einer Reduktion seiner Hilfeleistungen antworten, um seine Freiheit wieder herzustellen”10, die Normentheorie sieht prosoziales Handeln als in der konkreten Situation von der Norm des Gebens und von der Norm der sozialen Verantwortung determiniert an, das Konzept von der persönlichen Norm als mehrere Perspektiven einbeziehendes Modell beschreibt Hilfehandeln als einen vierstufigen Prozess (Aktivierung, Verpflichtung, Abwehr und Reaktion). Eine differenzierte und pluralistische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hilfeverhalten ist also festzustellen und es ist anzunehmen, dass mehrere Faktoren als Determinanten in Frage kommen. Bierhoff11 will die Analyse hilfreichen Verhaltens mindestens auf folgenden Ebenen diskutiert wissen: Interpersonelle Ebene (Empathie-Altruismus Hypothese), Normative Ebene (Theorie der sozialen Verantwortung), Persönlichkeitsebene (Theorie der dispositionalen Empathie). 9 Witte 1994, S. 96ff. 10 ebenda, S. 97. 11 Bierhoff 2002, S. 178ff. 13 2. Prosoziales Verhalten Bereits Darley und Latané haben im Jahr 1964 als Begründer der Forschungstradition zum hilfreichen Verhalten die folgenden fünf Schritte beschrieben, die notwendig sind, damit Hilfe erfolgen kann12: 1. 2. 3. 4. 5. Sie, der potenzielle Helfer, müssen erkennen, dass etwas passiert. Sie müssen das Ereignis so interpretieren, dass Hilfe gebraucht wird. Sie müssen persönliche Verantwortung übernehmen. Sie müssen entscheiden, was zu tun ist. Dann müssen sie handeln. Es wird deutlich, dass hilfreiches Verhalten natürlich von einer Situation ausgeht, die als Hilfesituation zunächst wahrgenommen werden muss und dass Persönlichkeitsfaktoren eines potenziellen Helfers (z.B. moralische Haltung, soziale Verantwortung) mit darüber bestimmen, ob und in welcher Art Hilfe geleistet wird. Das veranlasste Witte13 zur Entwicklung folgender Matrix, in der Eigenschaften des Helfers, unterschiedliche Hilfesituationen und Arten des Hilfeverhaltens miteinander korreliert sind. Die Einteilung der Hilfesituationen erfolgt auf der Grundlage von vier Dimensionen: geplante, formale Hilfe vs. spontane, informelle Hilfe, Hilfe in Notfallsituationen vs. Hilfe in Alltagssituationen, indirekte Hilfe vs. direkte Hilfe, persönliche Hilfe vs. anonyme Hilfe. Hilfesituation geplante, formale Hilfe spontane, informelle Hilfe Hilfe im Notfall Hilfe im Alltag indirekte Hilfe direkte Hilfe persönliche anonyme Hilfe Hilfe Moralische Haltung prinzipiengesteuerte Moral Empathie sozialer Humanismus Empathie prinzipiengesteuerte Moral sozialer Humanismus Empathie Eigenschaften des Helfers Erkennen Toleranz von Notsi- gegen tuationen Abweichler, Mitleid, soziale Verantwortung Erkennen von Notsituationen, soziale Verantwortung Fähigkeit Mitleid zur Hilfe im Beisein anderer, Mitleid Fähigkeit soziale zur Hilfe Verantim Beisein wortung anderer, Erkennen von Notsituationen prinzipiengesteuerte Moral Erkennen von Notsituationen, soziale Ver antwortung Tab. 1: Zusammenhang zwischen Hilfesituationen, moralischen Haltungen und Helfereigenschaften14 Die bisherigen Überlegungen sind eine wesentliche Grundlage für die später erfolgende Darstellung psychischer Determinanten prosozialen Verhaltens. Zu berücksichtigen sind zum Beispiel die Art und Weise der Situationswahrnehmung und -interpretation (soziale Informationsver12 in Slater 2005, S. 145. 13 Witte 1994, S. 90. 14 nach Witte 1994, S. 90. 14 2. Prosoziales Verhalten arbeitung), die Perspektivenübernahmefähigkeit, die Empathiefähigkeit sowie die Hilfsbereitschaft. 2.2. Prosoziales Verhalten aus pädagogisch-psychologischer Sicht Die Spezifikation auf die Schule ist leicht vollzogen und ist dann gegeben, "wenn ein Lehrer oder Schüler einem Lehrer oder Schüler eine Wohltat erweist und wenn er freiwillig handelt"15. Mit dem Bestimmungsstück der Freiwilligkeit sind wiederum neben der positiven gesellschaftlichen Bewertung und dem Verhalten zugunsten anderer die wesentlichen Charakteristika prosozialen Verhaltens aufgezählt. Spezifische Verhaltensweisen als Ausdruck prosozialen Verhaltens mit Relevanz für die Schule sind: Abb. 2: Prosoziale Verhaltensweisen im schulischen Kontext Die einzelnen Verhaltensweisen sollen nun näher beschrieben werden, da sie im schulischen Kontext eine wesentliche Rolle spielen und für ein von uns erstelltes Förderprogramm ausgewählt worden sind. 15 Bierhoff 1998, S. 410. 15 2. Prosoziales Verhalten 2.2.1. Hilfeverhalten Schüler helfen Schülern, Schüler helfen Lehrern, Lehrer helfen Schülern und Lehrer helfen Lehrern. Selbstverständlichkeiten sollte man meinen. Der Blick in die Wirklichkeit, wie Lehrer sicherlich bestätigen können, sieht allerdings häufig etwas anders aus. Hilfeverhalten kann als Kernbereich prosozialen Verhaltens gekennzeichnet werden und wird definiert als Verhalten, dem die Intention, andere aus einer Notlage zu befreien, ihre wahrgenommene Not zu lindern, zugrunde liegt. Durch Hilfe wird jemand anderem etwas Gutes erwiesen16. (Echtes) Hilfeverhalten, obwohl stark von kulturellen Verhaltensmustern und normativen Setzungen beeinflusst, ist freiwilliges Handeln. Dadurch wird solches Verhalten ausgeschlossen, welches aufgrund von Rollenvorschriften und professionalen Zwängen erfolgt. Durch Hilfeverhalten wird anderen Personen etwas Gutes erwiesen. Sie werden beispielsweise aus einer Notlage befreit. Ausgangspunkt einer Hilfehandlung ist, dass die andere Person (Hilfeempfänger) durch den Akteur (Helfer) in einer Notlage "wahrgenommen" wird. Für das Wahrnehmen einer Situation als Notlage ist vor allem die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme erforderlich. Diese umfasst: - - die Fähigkeit, affektive Zustände anderer zu unterscheiden und zu benennen, die Fähigkeit, den Standpunkt und die Rolle eines anderen Menschen einzunehmen, sowie die emotionale Empfänglichkeit, die Gefühle des anderen in der beobachteten Situation zu teilen.17 Hilfeinteraktionen sind in der Mehrzahl der Fälle durch Asymmetrie gekennzeichnet. Asymmetrie wird mitunter trotz eigener Notlage auch als unangenehm erlebt, was dazu führen kann, dass Gegenstrategien angewendet werden. Eine solche Gegenstrategie ist z.B. die Leugnung von Hilfebedürftigkeit und das Ablehnen von angebotener Hilfe. Hilfe kann unterschiedlich motiviert sein. Als Pole werden im wesentlichen in diesem Zusammenhang egoistisch und altruistisch beschrieben. Motive für unterlassene Hilfeleistungen sind: - sich nicht verantwortlich gefühlt haben, nicht wissen, wie man hätte helfen können, sich nicht einmischen wollen, die Situation als gefährlich oder angsterregend empfinden.18 16 nach Bierhoff 1988. 17 Feshbach, in: Schmidt-Denter 1994a, S. 241. 18 ebenda S. 236. 16 2. Prosoziales Verhalten Eine Grundlage helfenden Verhaltens kann das Prinzip der Gegenseitigkeit sein. Ein Kind hilft einem anderen Kind in der Hoffnung, auch von ihm in einer Notlage Hilfe zu erhalten beziehungsweise weil es von ihm auch schon einmal Hilfe bekommen hat. Neben dieser positiven Reziprozität existiert auch eine negative Reziprozität im Sinne von Nicht-Hilfe mit Nicht-Hilfe beantworten19. Hilfe im Sinne von Geben und Nehmen kommt nach vorliegenden Untersuchungsergebnissen20 zum Beispiel unter Grundschulkindern nur zu etwa 24% vor. Ansonsten ist Hilfe Inhalt von anderen Interaktionskategorien beziehungsweise mit diesen vernetzt (Hilfe zum Beispiel im Rahmen der Kooperation, des Spielens, des Sanktionierens). Helfendes Verhalten wird gelernt. Es unterliegt den Lern- und Sozialisationsprozessen wie sie für die Entwicklung prosozialen Verhaltens allgemein beschrieben werden. Entwicklungspsychologische Befunde zum Hilfeverhalten sind wenig konsistent und zum Teil widersprüchlich. „Im Grunde lässt sich ... keine allgemeingültige Aussage über die quantitative Zu- oder Abnahme prosozialen Verhaltens machen.”21 Helfendes Verhalten wird entgegen landläufiger und auch manch wissenschaftlicher Meinung eher von Peers und weniger von Erwachsenen gelernt. Diese These gründet sich auf gut gestützte Annahmen von Piaget, Sullivan und Youniss22. Sie besagt, „dass sich nicht vornehmlich Individuen, sondern vielmehr Partner entwickeln, indem sie ihre Beziehungswirklichkeit durch eigene Initiative ko-konstruieren”23 Helfen ist nicht gleich Helfen. Für eine Deskription und eine differenzierte Betrachtung von Hilfeverhalten können folgende Merkmale genutzt werden, wie sie gerade für den Bereich der Hilfe unter Grundschulkindern beschrieben worden sind:24 Hilfebereich (z.B. physisches Brauchen und psychisches Brauchen), Art der Hilfe bezüglich des Zustandekommens (z.B. aufgefordert zur Hilfe, Hilfe angeboten), Art der Hilfe bezüglich des Nichtzustandekommens (z.B. verweigert, ignoriert, geht objektiv nicht), Anzahl und Art der Beteiligten (z.B. Dyade, Triade, mehr als drei, Junge hilft Jungen, Junge hilft Mädchen, Kinder helfen Erwachsenen), Hilfeintonation (z.B. widerwillig, sachlich, freundlich, zögerlich), 19 20 21 22 23 24 vgl. Bierhoff 1988, S. 77. Kauke & Auhagen 1996, S. 233. Schmidt-Denter 1994a, S. 248. vgl. dazu die Diskussion in Krappmann & Oswald 1995. Kauke 1993, S. 3. Krappmann & Oswald 1995 und Kauke & Auhagen 1996. 17 2. Prosoziales Verhalten Lokation (z.B. auf dem Schulhof, auf dem Schulweg, zu Hause, im Unterricht), Soziale Vernetzung (Interaktionsfeld, z.B. beim Spielen, beim Lernen, beim Kooperieren). Eine positive Ausprägung von prosozialem Verhalten im Sinne von Hilfeverhalten lässt sich daran beobachten, dass Kinder anderen Hilfe anbieten, Hilfe anfordern oder tatsächlich Hilfe gewähren. Auf eine negative Ausprägung weist zum Beispiel hin, wenn in Notsituationen nicht geholfen oder angeforderte Hilfe abgelehnt wird. 2.2.2. Kooperatives Verhalten Der Begriff Kooperation kennzeichnet gemeinsames Handeln in Partnerschaft oder in der Gruppe im Interesse maximalen gemeinsamen Gewinns. Für kooperatives Verhalten sind folgende Fähigkeiten des Partners/der Gruppenmitglieder bedeutsam: die Kenntnis des zu lösenden Problems (Problemsicht), die Notwendigkeit zu wissen, was der einzelne zur Lösung des Problems beitragen kann (Selbstüberzeugtheit), die Notwendigkeit, sich der möglichen Beiträge anderer zur Lösung bewusst zu werden (Fähigkeit zu Perspektivenwechsel bzw. Perspektivenübernahme). Unter Kooperieren ist also in Absetzung zum Helfen das gemeinsame Einbringen individueller Stärken zum gegenseitigen Nutzen zu verstehen, um so Gruppenziele zu erreichen. Sinnvolles Kooperieren ohne dass man sich gegenseitig hilft, ist schlecht denkbar. Ebenso beinhaltet Helfen häufig Kooperation. Hier wird gut deutlich, dass sich in der Realität wie zum Beispiel im Schulalltag zwei Verhaltensweisen überschneiden (können) und sich zum Teil gegenseitig voraussetzen. „Hilfeszenen bedingen (...) markant häufig Kooperation, seltener Kompetition oder Aushandlungen“25. Weiterhin ist festzuhalten, dass drei Viertel der mit Hilfe-Interaktionen verknüpften Zusammenhänge kooperativ geartet sind. Insofern sind Überlappungsbereiche nicht nur bezüglich des Helfens und des Kooperierens in der Abb. 2 dargestellt. Auf eine positive Ausprägung deutet solches Verhalten hin wie sich an Gruppenaktivitäten beteiligen, die Meinung anderer tolerieren und Vorschläge für die Gruppenarbeit machen. Negative Ausprägung äußert sich z.B. darin, wenn Zusammenarbeit verweigert wird, während der Gruppenarbeit gestört wird und man andere nicht mitarbeiten bzw. mitspielen lässt. 25 Kauke & Auhagen 1996, S. 240. 18 2. Prosoziales Verhalten 2.2.3. Konstruktives Konfliktverhalten Immer dann, wenn verschiedene, gegensätzliche, unvereinbare Verhaltensweisen oder Merkmale zusammentreffen, wird im Allgemeinem von Konflikten gesprochen, von solchen, die innerpsychisch oder auch zwischen verschiedenen Personen oder Gruppen (soziale Konflikte) entstehen. Derartige Gegensätzlichkeiten treten in allen Sphären des Lebens und damit auch im schulischen Kontext auf. Soziale Konflikte sind grundsätzlich die Folge von Wahrnehmungs- bzw. Zuschreibungsprozessen der Interaktionspartner und repräsentieren neben anderen (s. Tab. 2) eine besondere Qualität sozialer Beziehungen. Richtung der Beziehung Begriff für das Beziehungsverhältnis Art der Tätigkeit Miteinander Partnerschaft Zusammenarbeit Füreinander Solidarität Hilfe Gegeneinander Konflikt Auseinandersetzung Nebeneinander Konkurrenz Leistung Tab. 2: Qualitäten sozialer Beziehungen26 Schulische Konflikte gehören zum Alltag von Lehrern und Schülern, sie sind nicht vermeidbar. Worauf es ankommt, dass ist das Umgehen-Können mit den Konflikten. Einen konstruktiven Umgang mit ihnen vorausgesetzt, können Konflikte auch eine aktivierende, eine voranbringende Funktion haben. Für den konstruktiven Umgang mit Konflikten sind Kompetenzen notwendig, die zum Teil gelernt und gelehrt werden (können). Es sind unter anderem folgende: Konfliktresistenz - Konflikte, die man nicht lösen will oder kann, müssen ausgehalten und ertragen werden. Das können Schüler schrittweise lernen. Konflikttoleranz - Entstehung und Eskalation von Konflikten können zum Beispiel durch Umbewertungen (auch Entdramatisierungen) vermieden werden. Konfliktkompetenz - Lernen, Konfliktsituationen als solche zu erkennen, zu analysieren und zu bewältigen, schrittweise Erweiterung des Repertoires zur Konfliktbewältigung; betrifft eigene Konflikte aber auch solche, bei denen Schlichtung erforderlich ist. 26 s. Eberle & Kirchhoff 1981. 19 2. Prosoziales Verhalten Wenn Kinder aggressives Verhalten anderer Kinder versuchen zu unterbinden und Konflikte schlichten, ist das positiv zu werten. Negative Verhaltensweisen wären zum Beispiel, andere zu schlagen und zu treten, andere zu ärgern, sie zu beschimpfen, patzig zu reagieren und vulgäre Worte zu gebrauchen. 2.3. Psychische Determinanten für Prosozialität In dem Rahmenmodell27 in der Abb. 3 sind pädagogisch bedeutsame Sachverhalte des Sozialverhaltens dargestellt. Art und Intensität des Verhaltens in einer sozialen Situation sind zunächst von der Situation selbst und ihrer Wahrnehmung und Interpretation abhängig. „Jenseits dieser situativen Bedingungen sind vor allem die vorhandenen (oder fehlenden) sozialen Kompetenzen sowie die sozialen Einstellungen und Motive der Person ausschlaggebend dafür, wie soziale Interaktionen gestaltet und interpersonelle Probleme zu lösen versucht werden. Diese zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhandenen dispositionalen Faktoren des Sozialverhaltens sind Bestandteil der individuellen Persönlichkeitsstruktur und können in ontogenetischer Perspektive auf Entwicklungsbedingungen etwa im Elternhaus und in der Schule zurückgeführt werden.“28 Personale Bedingungen anti- und prosozialen Verhaltens Situative (lokale) Bedingungen Soziale Kompetenzen Frühere Entwicklungsbedingungen Perspektivenübernahme Mitgefühl/Empathie Temperament kommunikative und weitere interpersonelle Kompetenzen usw. Soziale Einstellungen/ Orientierungen Sozialverhalten Situative (globale) Bedingungen Abb. 3: Pädagogisch bedeutsame Determinanten des Sozialverhaltens 27 Wild et al. 2001, in: Krapp & Weidenmann 2001, S. 257. 28 ebenda. 20 Soziale Folgen des Interaktionsverhaltens Kognitive Folgen des Interaktionsverhaltens 2. Prosoziales Verhalten Nach diesen allgemeinen Überlegungen zum Sozialverhalten ergibt sich die Frage nach den individuellen Bedingungen, die das prosoziale Verhalten mitbestimmen. Gefragt sind Eigenschaften, die „hinter“ prosozialem Verhalten stehen und deren Gesamtheit als Prosozialität bezeichnet werden soll. Es handelt sich ähnlich wie im Fall „Aggressives Verhalten - Aggressivität“ um relativ verfestigte und mithin habituelle Determinanten. Das können dann auch die Zielgrößen sein, die systematisch zu fördern sind. Prosozialität Fähigkeit und Bereitschaft zur Perspektivenübernahme Empathiefähigkeit Hilfsbereitschaft Konfliktfähigkeit Abb. 4: Ausgewählte psychische Determinanten prosozialen Verhaltens 2.3.1. Perspektivenübernahme Perspektivenübernahme ist grundsätzlich die Folge eines kognitiven Prozesses und wird beschrieben als die Bereitschaft und Fähigkeit, sich gedanklich „in“ einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Sie ist eine Grundlage für differenzierte soziale Wahrnehmung, welche wiederum als eine wesentliche Steuerungsgrundlage des Interaktionsverhaltens anzusehen ist. Je nachdem worauf sich dieses gedankliche Hineinversetzen bezieht, können drei Arten von Perspektivenübernahme unterschieden werden (Abb. 5).29 Im von uns erstellten Förderprogramm werden vor allem die beiden letztgenannten Arten der Perspektivenübernahme angesprochen. Visuell-räumliche Perspektivenübernahme Konzeptuelle oder kognitive Perspektivenübernahme bezieht sich auf das Hineinversetzen in die Wahrnehmung räumlicher und visuell erfassbarer Merkmale einer Fremdperspektive bezieht sich auf das Verständnis der Gesamtsituation einer anderen Person Affektive Perspektivenübernahme bezieht sich auf das Erkennen der Gefühlslage einer anderen Person Abb. 5: Arten von Perspektivenübernahmen 29 nach Steins & Wicklund 1993. 21 2. Prosoziales Verhalten 2.3.2. Empathiefähigkeit Empathiefähigkeit ist die „Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage beziehungsweise Intention einer anderen Person teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz der Teilhabe bleibt das Gefühl aber auf den anderen bezogen“30. Das mitempfundene Gefühl hat den Charakter, eigentlich dem anderen zuzugehören. „Es bleibt qualitativ im Du verankert und daran erkennt man, dass es bei der Situation, die man mitempfindet, eigentlich um die des anderen geht“31. Der Gefühle einer anderen Person kann man teilhaftig werden durch den Ausdruck, den diese Gefühle beim anderen bewirken oder durch die Beachtung der Situation, in der er sich gerade befindet. Die Folgen von Empathie können in zwei Richtungen beschrieben werden, die jeweils Motivationslagen darstellen und somit Ausgangspunkte entsprechenden Verhaltens sein können (Abb. 6). Empathie Prosoziale Konsequenzen Entstehung von Mitgefühl (sympathy) als ein Motiv prosozialen Verhaltens (z.B. Hilfe); um das Mitleiden abzubauen Sozial-negative Konsequenzen Entstehung von z.B. Schadenfreude, Sensationslust, Neid und Aggression als Motive für dissoziales Verhalten Abb. 6: Mögliche Folgen von Empathie Die Erwähnung des folgenden Befunds erfolgt mit der Absicht, grundsätzliche Hinweise für die Gestaltung eines Trainings von Perspektivenübernahme zu erhalten. Förderliche Bedingungen von Perspektivenübernahme konnten gefunden und auch experimentell bestätigt werden.32 Das sind demnach folgende zwei Variablen, die alters- und geschlechtsunabhängig in Verbindung miteinander wirken: 30 Bischof-Köhler 1998, S. 349. 31 ebenda, S. 351. 32 Steins & Wicklund 1997. 22 2. Prosoziales Verhalten Nähe einer Person zu einer anderen Person: Nähe ergibt sich zum einen aus der Art der Beziehung zwischen Personen und ist bedingt beispielsweise durch die subjektive Wichtigkeit, die Interessantheit, die Vertrautheit und dem Bekanntheitsgrad zwischen diesen. Nähe fördert generell Perspektivenübernahme und steht zu ihr in einem direkt proportionalen Verhältnis. Mit anderen Worten heißt das, je ‚näher’ sich ein Kind einem anderen Kind gegenüber fühlt, desto eher sollte es bereit und in der Lage sein, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt des anderen Kindes hineinzuversetzen. Die schlichte Konsequenz für die Entwicklung eines Förderprogramms ist, dass alle Aktivitäten, die die Nähe zwischen Kindern zu befördern in der Lage sind, auch Perspektivenübernahme positiv beeinflussen und umgekehrt. Qualität der Beziehung: Die Beziehung zwischen der Nähe zu einem Interaktionspartner und der Perspektivenübernahme wird jedoch beeinflusst durch die Qualität der Beziehung zwischen den Partnern. Das Vorliegen eines Konflikts zwischen oder ‚in’ den Kindern beispielsweise führt nachweislich zur Reduzierung von Perspektivenübernahme. Es wird von einem Verfall der Perspektivenübernahme trotz großer Nähe gesprochen. Das hängt damit zusammen, dass bei konflikthaften Beziehungen die Wahrnehmung eher auf konfliktrelevante Aspekte gerichtet ist und weniger auf das Denken und Fühlen der anderen Person. „Nähe wirkt also nur begünstigend für Perspektivenübernahme, wenn die Beziehung zur Zielperson konfliktfrei ist“.33 Das Erproben und Einüben konfliktreduzierender und -lösender Verhaltensweisen sollte als Trainingsziel mit bedacht werden. Außerdem gilt der bekannte Satz von Ruth Cohn34 - auch wenn es im Förderprogramm so nicht vorgesehen sein sollte - „Störungen haben Vorrang!“ Das bedeutet, dass auftretende Störungen und Konflikte sofort und an Ort und Stelle zu bearbeiten und Lösungen anzustreben sind, um danach im eigentlichen Programm fortzufahren. Wie bei der Darstellung der Fördervorschläge noch zu sehen sein wird, stellen Konflikte auch eine Chance für das Initiieren von Lernprozessen dar, sind mitunter sogar pädagogisch gewollt. Sie sollten also nicht generell als eine Störung des Programmablaufs gesehen werden. 2.3.3. Hilfsbereitschaft Die motivationale Komponente von Prosozialität zeigt sich in der Bereitschaft zu prosozialem Verhalten. Als wesentlich ist hierbei die Hilfsbereitschaft anzusehen. „Sie meint die ständige Bereitschaft, dem Schwächeren, Benachteiligten, Belasteteren in seinen Bedrängnissen zu helfen; bereit zu sein, von den eigenen Ressourcen etwas abzugeben. Hat ein Mitschüler ein Problem, kann man versuchen, ihm zu helfen“35. Die „kleinen“ und „großen“ Hilfen, die Kinder bereit sind sich untereinander zu gewähren, sind leicht vorstellbar und auch vielfältig. Die Bereitschaft, Hilfe zu gewähren, zeigt sich in der Schu- 33 ebenda, S. 185. 34 Cohn 1975. 35 Bönsch 1994, S. 59. 23 2. Prosoziales Verhalten le beispielsweise darin, wenn ein Kind einem anderen Kind etwas borgt, was der andere gerade oder generell nicht hat. Sie zeigt sich aber auch darin, dass man einem anderen bereit ist, mit Rat und Tat beizustehen, wenn er von anderen Kindern attackiert wird. Kauke & Auhagen36 beobachteten Grundschulkinder wie sie sich in der Schule untereinander helfen und konnten feststellen, „dass Helfen unter gleichaltrigen Kindern im schulischen Kontext einer ihrer bedeutsamsten Interaktionsbereiche ist. Kinder helfen untereinander vornehmlich mit Wissen und Können, mittels Materialien, aber auch psychisch-emotional. Vier Fünftel aller Hilfen werden ohne Zögern gegeben, gleich ob sie angeboten und angenommen oder erbeten und gewährt werden.“ 2.3.4. Konfliktfähigkeit Konfliktfähigkeit ist eine entscheidende soziale Tugend. Sie setzt sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammen. „Während die (...) positive Einschätzung eines Konflikts eine entscheidende Voraussetzung (für eine ‘geregelte’ Konfliktaustragung) ist, kommen weitere hinzu, wie etwa ein Minimum an Kontakt und ‚Sichtbarkeit’, die Verhaltensweisen der Parteien sind nicht darauf gerichtet, die andere zu zerstören, zu bezwingen, zu unterwerfen. Sind diese Grundeinstellungen vorhanden, besteht das Handlungsrepertoire in verbalen Interaktionen (Argument, Gegenargument, Überzeugung und Überredung) und in einer geregelten Verfahrensweise (...), die in die Zeit hinein Verfahrensschritte vorsehen kann, die die Entscheidungsmodi festlegt (Abstimmung, Schiedsrichter, Kompromisse u.a.m.)“.37 Beispielsweise Interessenskonflikte unter Kindern sind unvermeidbar und natürlich. Die Fähigkeit, solche konstruktiv zu lösen, zeigt sich etwa darin, manchmal einfach verzichten zu können, möglicherweise aufgrund einer akzeptierten Mehrheitsentscheidung, oder darin, generelle oder zeitweilige Kompromisse zu finden und in der Fähigkeit, mit geeigneten Mitteln solche auszuhandeln. 36 Kauke & Auhagen 1996, S. 239. 37 ebenda S. 59. 24 3. Prosoziales und aggressives Verhalten im Vergleich 3. Prosoziales und aggressives Verhalten im Vergleich 3.1. Probleme in der begrifflichen Abgrenzung Sowohl in der theoretischen als auch in der empirischen Sozialforschung lassen sich viele Belege für gravierende Unterschiede im Begriffsgebrauch in Bezug auf soziale Verhaltensweisen finden. Beispielsweise sei hier von Befunden ausgegangen, die Claus & Herter bei der Untersuchung des Stellenwertes von Gewalt im Leben Magdeburger Jugendlicher ermittelten38: Rang ist Gewalt ist keine Gewalt 98,3 1,7 97,9 2,1 3 Jemanden mit einer Waffe oder einem waffenähnlichen Gegenstand zu töten oder zu verletzen Jemanden mit körpereigenen Mitteln Schmerzen zuzufügen Jemanden zu sexuellen Handlungen zwingen 97,4 2,6 4 Jemandem sein Eigentum wegnehmen 54,7 45,3 5 Jemandem die Existenzgrundlagen zu entziehen, z.B. den Arbeitsplatz wegnehmen Gefühle anderer Menschen zu verletzen oder zu missbrauchen Jemanden mit Worten, Gesten oder Gebären zu beschimpfen oder zu beleidigen Jemanden durch Lärmen, Gestikulieren o.ä. zu belästigen oder zu behindern Beziehungen zwischen Menschen, z.B. Freundschaften, Partnerschaften oder Gruppe, auseinander zu bringen 41,1 58,9 40,6 59,4 23,0 77,0 22,1 77,9 20,7 79,3 1 2 6 7 8 9 Gewaltformen Tab. 3: Was verstehst Du persönlich unter Gewalt? (Angaben in Prozent, nach Rangplätzen geordnet) Wie zu erkennen ist, gibt es einige Verhaltensweisen, die relativ einstimmig dem Gewaltbegriff subsumiert wurden, bei anderen, wie zum Beispiel bei Diebstahl und psychischer Verletzung sind die Zuordnungen sehr geteilt. Das Gewaltverständnis von Kindern und Jugendlichen ist im Vergleich zu dem von Erwachsenen oft nur auf Formen körperlicher Gewalt und dabei eingeengt auf solche bezogen, die zu sichtbaren Schädigungen des Opfers führen. Allerdings gibt es in den Auffassungen unter den Kindern und Jugendlichen, wie es auch eine Dresdener Studie39 zeigte, eine beachtliche Variabilität: 38 Claus & Herter 1994, S. 11. 39 s. Schubarth & Ackermann 2000. 25