1. Einleitung

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1.
Einleitung
1.1.
Problemstellung
Die öffentliche Diskussion über das Verhalten von Kindern in den Schulen Deutschlands legt
einerseits nahe, dass aggressives Verhalten unter Kindern angestiegen sei. Dafür sprechen nicht
nur Darstellungen in den Medien sowie Kriminalstatistiken, sondern auch der Tatbestand, dass
Kinder mit Störungen im Bereich des Sozialverhaltens neben denen mit hyperkinetischem Syndrom die stärkste Patientengruppe in kinderpsychiatrischen Einrichtungen bildet. Andererseits
gibt es empirische Befunde, die eine generelle Zunahme aggressiven Verhaltens nicht stützen.
Diese sprechen eher für die Notwendigkeit einer differenzierten Sicht auf das Problem und dafür,
dass hinsichtlich der Wahrnehmung des Sozialverhaltens von Kindern eine Sensibilisierung erfolgt ist.
Sei es wie es sei, auch wenn die Ergebnisse zum Ausmaß von Aggression an Schulen widersprüchlich sind, steht es außerhalb jeden Zweifels, dass der Handlungsbedarf zur Gewaltprävention sowie zur Reduktion aggressiven Verhaltens im Schulbereich hoch ist. Dies geht auch aus
vielen nationalen und internationalen Studien der letzten Jahre hervor.
Die Frage nach dem „Was tun?“ bei aggressivem Verhalten von Kindern lässt sich nur aus der
jeweiligen Sichtweise des Phänomens und seiner Verursachung heraus beantworten. Diese
Sichtweise muss keiner klassischen Aggressionstheorie entsprechen; jeder Mensch - und damit
auch jeder Lehrer1 - hat seine eigenen („impliziten“, „naiven“) Auffassungen. Aus ihnen heraus
resultiert die Präferenz einzelner Maßnahmen, um die Häufigkeit aggressiven Verhaltens zu verringern.
Im Ergebnis einer Analyse2 der in der Literatur vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewältigung
von Aggression und Gewalt an Schulen wurden mehr oder weniger spezifische Typen unterschieden: schulbezogene, allgemein schülerbezogene, täterbezogene, opferbezogene und MehrEbenen-Konzepte. Es ist keineswegs klar, welche Effekte sich hinsichtlich einer Aggressionsminderung durch den Einsatz einzelner Vorschläge der unterschiedlichen Maßnahmetypen erzielen lassen. Deshalb sind wir im Rahmen eines breit angelegten Forschungsprojektes unter anderem auch der Frage nachgegangen, ob Maßnahmen des Typs ‚Förderung sozialer Kompetenz/prosozialen Verhaltens, Ausbildung von Prosozialität’ zur Prävention/Intervention bei Aggression und Gewalt beitragen.
1
2
Aus Gründen der Lesbarkeit und einfacheren Formulierung wird im Folgenden immer die „männliche“ Schreibweise verwendet, die aber inhaltlich geschlechtsneutral zu werten ist.
Nolting & Knopf 1998.
9
1. Einleitung
1.2.
Anliegen und Aufbau des Buches
Das Buch soll einen Beitrag zur Förderung prosozialen Verhaltens und sozialer Kompetenz und
zugleich auch zur Prävention und Intervention hinsichtlich aggressiven Verhaltens von Kindern
leisten.
Einerseits wird eine theoretische Einordnung und Erklärung von Phänomenen der Interaktionsund Kommunikationskultur (insbesondere, aber nicht nur an Schulen) vorgenommen. Dabei wird
neben entwicklungspsychologischen Betrachtungen vor allem eine sozialpsychologische Sicht
auf verschiedene Formen des Sozialverhaltens von Kindern eingenommen.
Andererseits werden, eingeordnet in eine Metaanalyse zur Reduzierung aggressiven Verhaltens
an Schulen, Handlungsstrategien, methodische Hinweise und praktisch einsetzbare Arbeitsmaterialien diskutiert und zu einem Präventionsprogramm3 zusammen gestellt.
Das auf diesem Weg entstandene theoretisch begründete Programm zur Förderung prosozialen
Verhaltens wird im siebenten Kapitel ausführlich erläutert.
Die bei der Erprobung des Förderprogramms im Rahmen von schulischen Arbeitsgemeinschaften gewonnenen Ergebnisse beziehen sich nicht nur auf Veränderungen im prosozialen Verhalten
der Kinder, sondern zeigen auch, unter welchen Bedingungen sich mit Hilfe der praktizierten
Vorgehensweisen zugleich Möglichkeiten einer Aggressionsprävention und -intervention ergeben
können.
Insofern werden im Buch Möglichkeiten der Vermeidung und der Reduktion aggressiven Verhaltens von Kindern über den Aufbau moralischen Urteilens und über die Entwicklung sozialer
Kompetenz diskutiert.
Abschließend werden abgeleitete Anforderungen an Förderprogramme zusammengefasst sowie
schulpraktische Hinweise bezüglich der Umsetzung der enthaltenen pädagogischen Maßnahmen
unter anderem auch im Schulunterricht gegeben.
Insofern richtet sich das vorliegende Buch insbesondere an Lehrer, Pädagogen, Psychologen
und Eltern, zugleich aber auch an alle diejenigen Leser, denen an einer Hilfe bei der Aggressionsprävention von Kindern in besonderem Maße gelegen ist.
3
10
Das Programm ist zugleich ein Ergebnis eines Forschungsprojektes des Arbeitsbereiches Pädagogische Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das vom Kultusministerium des Landes SachsenAnhalt in Auftrag gegeben wurde. An dem Projekt zur Minderung aggressiven Verhaltens waren beteiligt: Prof.
Dr. Hartmut Knopf (Projektleiter), PD Dr. Christhoph Gallschütz, Dr. Wolfgang Grützemann, Dr. Helga Horn
und Studierende der Fachrichtungen Erziehungswissenschaften und Psychologie. Erste Ergebnisse wurden in einer Broschüre der Reihe Grundsätze und Anregungen für die Schulpraxis vom Kultusministerium des Landes
Sachsen-Anhalt herausgegeben - s. Knopf, Gallschütz, Grützemann & Horn 1999.
2.
Prosoziales Verhalten
2.1.
Die Sicht der Sozialpsychologie
Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Auf einer Wiese mit Büschen und Bäumen tummelt sich eine
Gruppe von Rotkehlchen. Sie hüpfen über den Rasen und suchen nach Nahrung. Über ihnen
kreist ein Habicht. Eines der Rotkehlchen bemerkt ihn, versucht sich zu verbergen und stößt einen grellen Pfiff aus. Die anderen Rotkehlchen flattern auf und bringen sich in Büschen und
Bäumen in Sicherheit. Der Habicht ist aber schon im Sturzflug. Gleich darauf gewinnt er wieder
an Höhe und gleitet in den Sommerhimmel - in seinen Fängen ein Rotkehlchen. Es ist das, das
die anderen durch sein Signal gewarnt und sich gleichzeitig damit aber selbst dem Feind verraten
hat.
Was kann als Beobachter dieser Szenerie festgehalten werden? Ein Individuum rettet durch sein
Verhalten anderen Artgenossen das Leben. Die „Kosten“, die diesem Individuum durch dieses
Verhalten entstehen, sind hier sehr hoch. In diesem Fall ist es das eigene Leben, das für das der
anderen geopfert wird. Die Soziobiologie kennt ähnliches Verhalten auch bei anderen Tierarten.
Es muss von Tieren nicht gelernt werden, sondern gehört zum
angeborenem Verhaltensprogramm und steht im Dienste der
Arterhaltung.
Ähnliches Verhalten gibt es natürlich auch im menschlichen
Bereich und ist seit jeher faszinierender Forschungsgegenstand
in vielen Wissenschaften. Angeregt wurden viele Forschungsarbeiten vor allem auch durch spektakuläre Fälle unterlassener
Hilfeleistungen (Beispiel in Abb.1) infolge von pluralistischer
und kollektiver Ignoranz.4
Das „tierische“ Eingangsbeispiel liefert auch für eine Begriffsbestimmung bezüglich des prosozialen Verhaltens, wie sie
gegenwärtig vor allem in der Sozialpsychologie üblich ist, wesentliche Erkenntnisse.
Wird das Verhalten des Rotkehlchens aus menschlicher Sicht
und unter Verwendung sprachlicher Kategorien für typisch
menschliches Verhalten betrachtet, ist zu notieren, dass das
Verhalten sowohl hilfreich (wohltuend) als auch uneigennützig
(selbstlos, edelmütig) war. Mit beiden Kategorien wird im Prinzip eine soziale Beziehung (von mindestens 2 Individuen) cha4
Abb. 1: Meldung in der Mitteldeutschen Zeitung vom
04.11.2000
vgl. z.B. Slater 2005, S.124ff.
11
2. Prosoziales Verhalten
rakterisiert. Die Kategorie „hilfreich“ zielt auf den Empfänger (Rezipienten) eines Verhaltens. Es
wird implizit festgestellt, dass sich dieser in einer Situation befunden haben muss, in der er Hilfe
benötigt und diese auch bekommen hat. Mit dem Begriff „uneigennützig“ wird die Situation des
Verhaltensakteurs gekennzeichnet. Er hat aus seinem Verhalten keinen individuellen Nutzen gezogen (ziehen wollen, ziehen können). Im Falle des Rotkehlchens wird das Verhalten sogar mit
dem eigenen Leben bezahlt.
Hilfreiches Verhalten als Grundkategorie der Sozialpsychologie wird als spezielle Form der Interaktion zwischen (mindestens) zwei Personen bestimmt, die als Helfer und Hilfeempfänger bezeichnet werden. Während der Helfer Kosten hat, erreicht der Hilfeempfänger Belohnungen, die
im Allgemeinen größer sind als die Kosten.5 „Von helfendem Verhalten wird also dann gesprochen, wenn die Absicht besteht, einer konkreten Person eine Wohltat zu erweisen.“6 Mit der Intention, etwas Gutes tun zu wollen, ist ein wesentliches und auch notwendiges Definitionsmerkmal für hilfreiches Verhalten bestimmt. Jedoch wird damit vorwiegend die Lage des Helfenden in
den Blick genommen. Die Beurteilung eines Verhaltens von außen kann allerdings nur über die
Effekte erfolgen. Damit sind die Lage des Rezipienten und die Frage, ob die Intention durch entsprechendes Verhalten auch tatsächlich eine ‚Wohltat’ bewirkt hat, in die Definition mit einzubeziehen. Das Wesen hilfreichen Verhaltens ist mit dem bewussten Ziel einer Person verbunden,
„den Rezipienten in eine Lage zu versetzen, die dieser - verglichen mit seinem vorigen Zustand als Verbesserung empfindet.“7
Hilfreiches Verhalten kann von Personen im Rahmen beruflicher Verpflichtungen und Rollenvorschriften - z.B. von Angehörigen helfender Berufe - erfolgen. Es kann aber auch freiwillig
ausgeführt werden. Unter dieser Bedingung wird gewöhnlich von prosozialem Verhalten gesprochen und es ist eine Teilmenge hilfreichen Verhaltens gemeint, das sich in solchen konkreten
Verhaltensweisen wie Schenken, Spenden, Teilen und Helfen im engeren Sinne zeigt. Liegt hingegen dem Verhalten eine Schädigungsabsicht zu Grunde und wird der Rezipient tatsächlich geschädigt, handelt es sich um antisoziales und aggressives Verhalten. Hilfreiches und damit prosoziales Verhalten ist so gesehen das Gegenstück zum aggressiven (schädigenden und antisozialen)
Verhalten. „Das sollte die Sozialpsychologie zu einer integrativen Betrachtung der Phänomene
veranlassen. Nicht separate Konzepte wie Aggression und Hilfeleistung, sondern solche über soziales Handeln mit anti- und prosozialen sowie hilfreichen und schädigenden Haltungen sollten in
Zukunft die Untersuchungseinheiten sein.“8
Prosoziales Verhalten kann mit Bezug auf die Motivation des Verhaltensakteurs weiter ausdifferenziert werden. Altruistisches Verhalten liegt dann vor, wenn es durch Perspektivenübernahme
und Empathie motiviert ist und nicht der Optimierung eigener Bekräftigungsbilanz dient, sondern
5
6
7
8
12
Bierhoff & Herner 2002, S. 100.
Bierhoff 2002, S. 178.
Witte 1994, S. 94.
Witte 1994, S. 101.
2. Prosoziales Verhalten
nur dazu, die Situation anderer Personen zu verbessern. Es kann aber auch egoistisch motiviert
sein, wenn z.B. der Helfer die Hilfesituation als so unangenehm empfindet und sich durch die
Hilfeleistung aus ihr befreit und das als belohnend empfindet.
Zur Erklärung des Hilfeverhaltens existiert eine Vielzahl mehr oder weniger elaborierter Konzepte und Modelle sehr unterschiedlicher Provenienz. Witte9 vermerkt neben anderen folgende
acht Modelle und sozialpsychologische Varianten der Erklärung des Hilfephänomens:
attributionstheoretische Erklärungen, durch die erklärt werden soll, warum und in welcher
Weise Personen geholfen oder nicht geholfen wird in Abhängigkeit davon, wie der potenzielle Helfer die Ursachen für Notsituationen wahrnimmt und sich erklärt,
entscheidungstheoretische Erklärungen versuchen Hilfehandeln auf das reflektierte und kalkulierte Spannungsfeld von Kosten-Nutzen zurückzuführen,
feldtheoretische Vorstellungen führen die Tatsache, dass geholfen wird, darauf zurück, dass
damit eine Möglichkeit gegeben ist, affektive Spannungen (promotive tension) abzubauen,
psychonalytische Annahmen benennen Entstehungsbedingungen für die Entwicklung von
Empathie und des Über-Ichs, welche wiederum Voraussetzungen sind für spätere moralische Haltungen und Handlungen,
lerntheoretische Zugänge sehen sowohl die Entwicklung des Hilfeverhaltens als auch das
Verhalten selbst als unter Kontrolle von Verstärkungen stehend an,
die Reaktanztheorie liefert eine Erklärung dafür, ”warum nicht geholfen wird, indem sie davon ausgeht, dass jede Person nach Handlungsfreiheit strebt. Ist diese durch eine allzu starke
Forderung nach Hilfe eingeschränkt, wird der potenzielle Helfer mit einer Reduktion seiner
Hilfeleistungen antworten, um seine Freiheit wieder herzustellen”10,
die Normentheorie sieht prosoziales Handeln als in der konkreten Situation von der Norm
des Gebens und von der Norm der sozialen Verantwortung determiniert an,
das Konzept von der persönlichen Norm als mehrere Perspektiven einbeziehendes Modell
beschreibt Hilfehandeln als einen vierstufigen Prozess (Aktivierung, Verpflichtung, Abwehr
und Reaktion).
Eine differenzierte und pluralistische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hilfeverhalten ist also festzustellen und es ist anzunehmen, dass mehrere Faktoren als Determinanten in
Frage kommen. Bierhoff11 will die Analyse hilfreichen Verhaltens mindestens auf folgenden
Ebenen diskutiert wissen:
Interpersonelle Ebene (Empathie-Altruismus Hypothese),
Normative Ebene (Theorie der sozialen Verantwortung),
Persönlichkeitsebene (Theorie der dispositionalen Empathie).
9 Witte 1994, S. 96ff.
10 ebenda, S. 97.
11 Bierhoff 2002, S. 178ff.
13
2. Prosoziales Verhalten
Bereits Darley und Latané haben im Jahr 1964 als Begründer der Forschungstradition zum hilfreichen Verhalten die folgenden fünf Schritte beschrieben, die notwendig sind, damit Hilfe erfolgen kann12:
1.
2.
3.
4.
5.
Sie, der potenzielle Helfer, müssen erkennen, dass etwas passiert.
Sie müssen das Ereignis so interpretieren, dass Hilfe gebraucht wird.
Sie müssen persönliche Verantwortung übernehmen.
Sie müssen entscheiden, was zu tun ist.
Dann müssen sie handeln.
Es wird deutlich, dass hilfreiches Verhalten natürlich von einer Situation ausgeht, die als Hilfesituation zunächst wahrgenommen werden muss und dass Persönlichkeitsfaktoren eines potenziellen Helfers (z.B. moralische Haltung, soziale Verantwortung) mit darüber bestimmen, ob und in
welcher Art Hilfe geleistet wird. Das veranlasste Witte13 zur Entwicklung folgender Matrix, in
der Eigenschaften des Helfers, unterschiedliche Hilfesituationen und Arten des Hilfeverhaltens
miteinander korreliert sind. Die Einteilung der Hilfesituationen erfolgt auf der Grundlage von
vier Dimensionen: geplante, formale Hilfe vs. spontane, informelle Hilfe, Hilfe in Notfallsituationen vs. Hilfe in Alltagssituationen, indirekte Hilfe vs. direkte Hilfe, persönliche Hilfe vs. anonyme Hilfe.
Hilfesituation
geplante,
formale
Hilfe
spontane,
informelle
Hilfe
Hilfe im
Notfall
Hilfe im
Alltag
indirekte
Hilfe
direkte
Hilfe
persönliche anonyme
Hilfe
Hilfe
Moralische
Haltung
prinzipiengesteuerte Moral
Empathie
sozialer
Humanismus
Empathie
prinzipiengesteuerte Moral
sozialer
Humanismus
Empathie
Eigenschaften
des
Helfers
Erkennen Toleranz
von Notsi- gegen
tuationen Abweichler, Mitleid, soziale Verantwortung
Erkennen
von Notsituationen,
soziale
Verantwortung
Fähigkeit Mitleid
zur Hilfe
im Beisein
anderer,
Mitleid
Fähigkeit soziale
zur Hilfe
Verantim Beisein wortung
anderer,
Erkennen
von Notsituationen
prinzipiengesteuerte
Moral
Erkennen
von Notsituationen, soziale Ver
antwortung
Tab. 1: Zusammenhang zwischen Hilfesituationen, moralischen Haltungen und Helfereigenschaften14
Die bisherigen Überlegungen sind eine wesentliche Grundlage für die später erfolgende Darstellung psychischer Determinanten prosozialen Verhaltens. Zu berücksichtigen sind zum Beispiel die Art und Weise der Situationswahrnehmung und -interpretation (soziale Informationsver12 in Slater 2005, S. 145.
13 Witte 1994, S. 90.
14 nach Witte 1994, S. 90.
14
2. Prosoziales Verhalten
arbeitung), die Perspektivenübernahmefähigkeit, die Empathiefähigkeit sowie die Hilfsbereitschaft.
2.2.
Prosoziales Verhalten aus
pädagogisch-psychologischer Sicht
Die Spezifikation auf die Schule ist leicht vollzogen und ist dann gegeben, "wenn ein Lehrer
oder Schüler einem Lehrer oder Schüler eine Wohltat erweist und wenn er freiwillig handelt"15.
Mit dem Bestimmungsstück der Freiwilligkeit sind wiederum neben der positiven gesellschaftlichen Bewertung und dem Verhalten zugunsten anderer die wesentlichen Charakteristika prosozialen Verhaltens aufgezählt.
Spezifische Verhaltensweisen als Ausdruck prosozialen Verhaltens mit Relevanz für die Schule
sind:
Abb. 2: Prosoziale Verhaltensweisen im schulischen Kontext
Die einzelnen Verhaltensweisen sollen nun näher beschrieben werden, da sie im schulischen
Kontext eine wesentliche Rolle spielen und für ein von uns erstelltes Förderprogramm ausgewählt worden sind.
15 Bierhoff 1998, S. 410.
15
2. Prosoziales Verhalten
2.2.1.
Hilfeverhalten
Schüler helfen Schülern, Schüler helfen Lehrern, Lehrer helfen Schülern und Lehrer helfen
Lehrern. Selbstverständlichkeiten sollte man meinen. Der Blick in die Wirklichkeit, wie Lehrer
sicherlich bestätigen können, sieht allerdings häufig etwas anders aus.
Hilfeverhalten kann als Kernbereich prosozialen Verhaltens gekennzeichnet werden und wird
definiert als Verhalten, dem die Intention, andere aus einer Notlage zu befreien, ihre wahrgenommene Not zu lindern, zugrunde liegt. Durch Hilfe wird jemand anderem etwas Gutes erwiesen16.
(Echtes) Hilfeverhalten, obwohl stark von kulturellen Verhaltensmustern und normativen
Setzungen beeinflusst, ist freiwilliges Handeln. Dadurch wird solches Verhalten ausgeschlossen, welches aufgrund von Rollenvorschriften und professionalen Zwängen erfolgt.
Durch Hilfeverhalten wird anderen Personen etwas Gutes erwiesen. Sie werden beispielsweise aus einer Notlage befreit.
Ausgangspunkt einer Hilfehandlung ist, dass die andere Person (Hilfeempfänger) durch den
Akteur (Helfer) in einer Notlage "wahrgenommen" wird. Für das Wahrnehmen einer Situation als Notlage ist vor allem die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme erforderlich. Diese
umfasst:
-
-
die Fähigkeit, affektive Zustände anderer zu unterscheiden und zu benennen,
die Fähigkeit, den Standpunkt und die Rolle eines anderen Menschen einzunehmen,
sowie
die emotionale Empfänglichkeit, die Gefühle des anderen in der beobachteten Situation zu teilen.17
Hilfeinteraktionen sind in der Mehrzahl der Fälle durch Asymmetrie gekennzeichnet. Asymmetrie wird mitunter trotz eigener Notlage auch als unangenehm erlebt, was dazu führen
kann, dass Gegenstrategien angewendet werden. Eine solche Gegenstrategie ist z.B. die
Leugnung von Hilfebedürftigkeit und das Ablehnen von angebotener Hilfe.
Hilfe kann unterschiedlich motiviert sein. Als Pole werden im wesentlichen in diesem Zusammenhang egoistisch und altruistisch beschrieben. Motive für unterlassene Hilfeleistungen sind:
-
sich nicht verantwortlich gefühlt haben,
nicht wissen, wie man hätte helfen können,
sich nicht einmischen wollen,
die Situation als gefährlich oder angsterregend empfinden.18
16 nach Bierhoff 1988.
17 Feshbach, in: Schmidt-Denter 1994a, S. 241.
18 ebenda S. 236.
16
2. Prosoziales Verhalten
Eine Grundlage helfenden Verhaltens kann das Prinzip der Gegenseitigkeit sein. Ein Kind
hilft einem anderen Kind in der Hoffnung, auch von ihm in einer Notlage Hilfe zu erhalten
beziehungsweise weil es von ihm auch schon einmal Hilfe bekommen hat. Neben dieser positiven Reziprozität existiert auch eine negative Reziprozität im Sinne von Nicht-Hilfe mit
Nicht-Hilfe beantworten19.
Hilfe im Sinne von Geben und Nehmen kommt nach vorliegenden Untersuchungsergebnissen20 zum Beispiel unter Grundschulkindern nur zu etwa 24% vor. Ansonsten ist
Hilfe Inhalt von anderen Interaktionskategorien beziehungsweise mit diesen vernetzt (Hilfe
zum Beispiel im Rahmen der Kooperation, des Spielens, des Sanktionierens).
Helfendes Verhalten wird gelernt. Es unterliegt den Lern- und Sozialisationsprozessen wie
sie für die Entwicklung prosozialen Verhaltens allgemein beschrieben werden. Entwicklungspsychologische Befunde zum Hilfeverhalten sind wenig konsistent und zum Teil widersprüchlich. „Im Grunde lässt sich ... keine allgemeingültige Aussage über die quantitative Zu- oder Abnahme prosozialen Verhaltens machen.”21
Helfendes Verhalten wird entgegen landläufiger und auch manch wissenschaftlicher Meinung eher von Peers und weniger von Erwachsenen gelernt. Diese These gründet sich auf
gut gestützte Annahmen von Piaget, Sullivan und Youniss22. Sie besagt, „dass sich nicht
vornehmlich Individuen, sondern vielmehr Partner entwickeln, indem sie ihre Beziehungswirklichkeit durch eigene Initiative ko-konstruieren”23
Helfen ist nicht gleich Helfen. Für eine Deskription und eine differenzierte Betrachtung von
Hilfeverhalten können folgende Merkmale genutzt werden, wie sie gerade für den Bereich der
Hilfe unter Grundschulkindern beschrieben worden sind:24
Hilfebereich
(z.B. physisches Brauchen und psychisches Brauchen),
Art der Hilfe bezüglich des Zustandekommens
(z.B. aufgefordert zur Hilfe, Hilfe angeboten),
Art der Hilfe bezüglich des Nichtzustandekommens
(z.B. verweigert, ignoriert, geht objektiv nicht),
Anzahl und Art der Beteiligten
(z.B. Dyade, Triade, mehr als drei, Junge hilft Jungen, Junge hilft Mädchen, Kinder helfen Erwachsenen),
Hilfeintonation
(z.B. widerwillig, sachlich, freundlich, zögerlich),
19
20
21
22
23
24
vgl. Bierhoff 1988, S. 77.
Kauke & Auhagen 1996, S. 233.
Schmidt-Denter 1994a, S. 248.
vgl. dazu die Diskussion in Krappmann & Oswald 1995.
Kauke 1993, S. 3.
Krappmann & Oswald 1995 und Kauke & Auhagen 1996.
17
2. Prosoziales Verhalten
Lokation
(z.B. auf dem Schulhof, auf dem Schulweg, zu Hause, im Unterricht),
Soziale Vernetzung
(Interaktionsfeld, z.B. beim Spielen, beim Lernen, beim Kooperieren).
Eine positive Ausprägung von prosozialem Verhalten im Sinne von Hilfeverhalten lässt sich
daran beobachten, dass Kinder anderen Hilfe anbieten, Hilfe anfordern oder tatsächlich Hilfe gewähren. Auf eine negative Ausprägung weist zum Beispiel hin, wenn in Notsituationen nicht geholfen oder angeforderte Hilfe abgelehnt wird.
2.2.2.
Kooperatives Verhalten
Der Begriff Kooperation kennzeichnet gemeinsames Handeln in Partnerschaft oder in der
Gruppe im Interesse maximalen gemeinsamen Gewinns. Für kooperatives Verhalten sind folgende Fähigkeiten des Partners/der Gruppenmitglieder bedeutsam:
die Kenntnis des zu lösenden Problems (Problemsicht),
die Notwendigkeit zu wissen, was der einzelne zur Lösung des Problems beitragen kann
(Selbstüberzeugtheit),
die Notwendigkeit, sich der möglichen Beiträge anderer zur Lösung bewusst zu werden
(Fähigkeit zu Perspektivenwechsel bzw. Perspektivenübernahme).
Unter Kooperieren ist also in Absetzung zum Helfen das gemeinsame Einbringen individueller
Stärken zum gegenseitigen Nutzen zu verstehen, um so Gruppenziele zu erreichen. Sinnvolles
Kooperieren ohne dass man sich gegenseitig hilft, ist schlecht denkbar. Ebenso beinhaltet Helfen
häufig Kooperation. Hier wird gut deutlich, dass sich in der Realität wie zum Beispiel im Schulalltag zwei Verhaltensweisen überschneiden (können) und sich zum Teil gegenseitig voraussetzen. „Hilfeszenen bedingen (...) markant häufig Kooperation, seltener Kompetition oder Aushandlungen“25. Weiterhin ist festzuhalten, dass drei Viertel der mit Hilfe-Interaktionen verknüpften Zusammenhänge kooperativ geartet sind. Insofern sind Überlappungsbereiche nicht nur bezüglich des Helfens und des Kooperierens in der Abb. 2 dargestellt.
Auf eine positive Ausprägung deutet solches Verhalten hin wie sich an Gruppenaktivitäten beteiligen, die Meinung anderer tolerieren und Vorschläge für die Gruppenarbeit machen. Negative
Ausprägung äußert sich z.B. darin, wenn Zusammenarbeit verweigert wird, während der Gruppenarbeit gestört wird und man andere nicht mitarbeiten bzw. mitspielen lässt.
25 Kauke & Auhagen 1996, S. 240.
18
2. Prosoziales Verhalten
2.2.3.
Konstruktives Konfliktverhalten
Immer dann, wenn verschiedene, gegensätzliche, unvereinbare Verhaltensweisen oder Merkmale zusammentreffen, wird im Allgemeinem von Konflikten gesprochen, von solchen, die innerpsychisch oder auch zwischen verschiedenen Personen oder Gruppen (soziale Konflikte) entstehen. Derartige Gegensätzlichkeiten treten in allen Sphären des Lebens und damit auch im schulischen Kontext auf. Soziale Konflikte sind grundsätzlich die Folge von Wahrnehmungs- bzw. Zuschreibungsprozessen der Interaktionspartner und repräsentieren neben anderen (s. Tab. 2) eine
besondere Qualität sozialer Beziehungen.
Richtung der Beziehung
Begriff für das Beziehungsverhältnis Art der Tätigkeit
Miteinander
Partnerschaft
Zusammenarbeit
Füreinander
Solidarität
Hilfe
Gegeneinander
Konflikt
Auseinandersetzung
Nebeneinander
Konkurrenz
Leistung
Tab. 2: Qualitäten sozialer Beziehungen26
Schulische Konflikte gehören zum Alltag von Lehrern und Schülern, sie sind nicht vermeidbar.
Worauf es ankommt, dass ist das Umgehen-Können mit den Konflikten. Einen konstruktiven
Umgang mit ihnen vorausgesetzt, können Konflikte auch eine aktivierende, eine voranbringende
Funktion haben.
Für den konstruktiven Umgang mit Konflikten sind Kompetenzen notwendig, die zum Teil gelernt und gelehrt werden (können). Es sind unter anderem folgende:
Konfliktresistenz - Konflikte, die man nicht lösen will oder kann, müssen ausgehalten
und ertragen werden. Das können Schüler schrittweise lernen.
Konflikttoleranz - Entstehung und Eskalation von Konflikten können zum Beispiel
durch Umbewertungen (auch Entdramatisierungen) vermieden werden.
Konfliktkompetenz - Lernen, Konfliktsituationen als solche zu erkennen, zu analysieren und zu bewältigen, schrittweise Erweiterung des Repertoires zur Konfliktbewältigung; betrifft eigene Konflikte aber auch solche, bei denen Schlichtung erforderlich ist.
26 s. Eberle & Kirchhoff 1981.
19
2. Prosoziales Verhalten
Wenn Kinder aggressives Verhalten anderer Kinder versuchen zu unterbinden und Konflikte
schlichten, ist das positiv zu werten. Negative Verhaltensweisen wären zum Beispiel, andere zu
schlagen und zu treten, andere zu ärgern, sie zu beschimpfen, patzig zu reagieren und vulgäre
Worte zu gebrauchen.
2.3.
Psychische Determinanten für Prosozialität
In dem Rahmenmodell27 in der Abb. 3 sind pädagogisch bedeutsame Sachverhalte des Sozialverhaltens dargestellt. Art und Intensität des Verhaltens in einer sozialen Situation sind zunächst
von der Situation selbst und ihrer Wahrnehmung und Interpretation abhängig. „Jenseits dieser situativen Bedingungen sind vor allem die vorhandenen (oder fehlenden) sozialen Kompetenzen
sowie die sozialen Einstellungen und Motive der Person ausschlaggebend dafür, wie soziale Interaktionen gestaltet und interpersonelle Probleme zu lösen versucht werden. Diese zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhandenen dispositionalen Faktoren des Sozialverhaltens sind Bestandteil der individuellen Persönlichkeitsstruktur und können in ontogenetischer Perspektive auf
Entwicklungsbedingungen etwa im Elternhaus und in der Schule zurückgeführt werden.“28
Personale Bedingungen anti- und prosozialen Verhaltens
Situative (lokale)
Bedingungen
Soziale
Kompetenzen
Frühere
Entwicklungsbedingungen
Perspektivenübernahme
Mitgefühl/Empathie
Temperament
kommunikative und
weitere interpersonelle Kompetenzen
usw.
Soziale
Einstellungen/
Orientierungen
Sozialverhalten
Situative (globale)
Bedingungen
Abb. 3: Pädagogisch bedeutsame Determinanten des Sozialverhaltens
27 Wild et al. 2001, in: Krapp & Weidenmann 2001, S. 257.
28 ebenda.
20
Soziale Folgen des Interaktionsverhaltens
Kognitive
Folgen des
Interaktionsverhaltens
2. Prosoziales Verhalten
Nach diesen allgemeinen Überlegungen zum Sozialverhalten ergibt sich die Frage nach den individuellen Bedingungen, die das prosoziale Verhalten mitbestimmen. Gefragt sind Eigenschaften, die „hinter“ prosozialem Verhalten stehen und deren Gesamtheit als Prosozialität bezeichnet
werden soll. Es handelt sich ähnlich wie im Fall „Aggressives Verhalten - Aggressivität“ um relativ verfestigte und mithin habituelle Determinanten. Das können dann auch die Zielgrößen sein,
die systematisch zu fördern sind.
Prosozialität
Fähigkeit und
Bereitschaft zur
Perspektivenübernahme
Empathiefähigkeit
Hilfsbereitschaft
Konfliktfähigkeit
Abb. 4: Ausgewählte psychische Determinanten prosozialen Verhaltens
2.3.1.
Perspektivenübernahme
Perspektivenübernahme ist grundsätzlich die Folge eines kognitiven Prozesses und wird beschrieben als die Bereitschaft und Fähigkeit, sich gedanklich „in“ einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Sie ist eine Grundlage für differenzierte soziale Wahrnehmung, welche wiederum
als eine wesentliche Steuerungsgrundlage des Interaktionsverhaltens anzusehen ist.
Je nachdem worauf sich dieses gedankliche Hineinversetzen bezieht, können drei Arten von
Perspektivenübernahme unterschieden werden (Abb. 5).29 Im von uns erstellten Förderprogramm
werden vor allem die beiden letztgenannten Arten der Perspektivenübernahme angesprochen.
Visuell-räumliche
Perspektivenübernahme
Konzeptuelle oder
kognitive Perspektivenübernahme
bezieht sich auf das Hineinversetzen in die Wahrnehmung räumlicher und visuell
erfassbarer Merkmale einer
Fremdperspektive
bezieht sich auf das Verständnis der Gesamtsituation
einer anderen Person
Affektive Perspektivenübernahme
bezieht sich auf das Erkennen der Gefühlslage einer
anderen Person
Abb. 5: Arten von Perspektivenübernahmen
29 nach Steins & Wicklund 1993.
21
2. Prosoziales Verhalten
2.3.2.
Empathiefähigkeit
Empathiefähigkeit ist die „Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage beziehungsweise Intention
einer anderen Person teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz der Teilhabe bleibt
das Gefühl aber auf den anderen bezogen“30. Das mitempfundene Gefühl hat den Charakter, eigentlich dem anderen zuzugehören. „Es bleibt qualitativ im Du verankert und daran erkennt man,
dass es bei der Situation, die man mitempfindet, eigentlich um die des anderen geht“31. Der Gefühle einer anderen Person kann man teilhaftig werden durch den Ausdruck, den diese Gefühle
beim anderen bewirken oder durch die Beachtung der Situation, in der er sich gerade befindet.
Die Folgen von Empathie können in zwei Richtungen beschrieben werden, die jeweils Motivationslagen darstellen und somit Ausgangspunkte entsprechenden Verhaltens sein können (Abb. 6).
Empathie
Prosoziale Konsequenzen
Entstehung von Mitgefühl
(sympathy) als ein Motiv prosozialen
Verhaltens (z.B. Hilfe); um das Mitleiden abzubauen
Sozial-negative
Konsequenzen
Entstehung von z.B. Schadenfreude,
Sensationslust, Neid und Aggression als
Motive für dissoziales Verhalten
Abb. 6: Mögliche Folgen von Empathie
Die Erwähnung des folgenden Befunds erfolgt mit der Absicht, grundsätzliche Hinweise für
die Gestaltung eines Trainings von Perspektivenübernahme zu erhalten. Förderliche Bedingungen
von Perspektivenübernahme konnten gefunden und auch experimentell bestätigt werden.32 Das
sind demnach folgende zwei Variablen, die alters- und geschlechtsunabhängig in Verbindung
miteinander wirken:
30 Bischof-Köhler 1998, S. 349.
31 ebenda, S. 351.
32 Steins & Wicklund 1997.
22
2. Prosoziales Verhalten
Nähe einer Person zu einer anderen Person: Nähe ergibt sich zum einen aus der Art der Beziehung zwischen Personen und ist bedingt beispielsweise durch die subjektive Wichtigkeit, die Interessantheit, die Vertrautheit und dem Bekanntheitsgrad zwischen diesen. Nähe fördert generell
Perspektivenübernahme und steht zu ihr in einem direkt proportionalen Verhältnis. Mit anderen
Worten heißt das, je ‚näher’ sich ein Kind einem anderen Kind gegenüber fühlt, desto eher sollte
es bereit und in der Lage sein, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt des anderen Kindes hineinzuversetzen. Die schlichte Konsequenz für die Entwicklung eines Förderprogramms ist, dass alle
Aktivitäten, die die Nähe zwischen Kindern zu befördern in der Lage sind, auch Perspektivenübernahme positiv beeinflussen und umgekehrt.
Qualität der Beziehung: Die Beziehung zwischen der Nähe zu einem Interaktionspartner und
der Perspektivenübernahme wird jedoch beeinflusst durch die Qualität der Beziehung zwischen
den Partnern. Das Vorliegen eines Konflikts zwischen oder ‚in’ den Kindern beispielsweise führt
nachweislich zur Reduzierung von Perspektivenübernahme. Es wird von einem Verfall der Perspektivenübernahme trotz großer Nähe gesprochen. Das hängt damit zusammen, dass bei konflikthaften Beziehungen die Wahrnehmung eher auf konfliktrelevante Aspekte gerichtet ist und
weniger auf das Denken und Fühlen der anderen Person. „Nähe wirkt also nur begünstigend für
Perspektivenübernahme, wenn die Beziehung zur Zielperson konfliktfrei ist“.33 Das Erproben und
Einüben konfliktreduzierender und -lösender Verhaltensweisen sollte als Trainingsziel mit bedacht werden. Außerdem gilt der bekannte Satz von Ruth Cohn34 - auch wenn es im Förderprogramm so nicht vorgesehen sein sollte - „Störungen haben Vorrang!“ Das bedeutet, dass auftretende Störungen und Konflikte sofort und an Ort und Stelle zu bearbeiten und Lösungen anzustreben sind, um danach im eigentlichen Programm fortzufahren. Wie bei der Darstellung der
Fördervorschläge noch zu sehen sein wird, stellen Konflikte auch eine Chance für das Initiieren
von Lernprozessen dar, sind mitunter sogar pädagogisch gewollt. Sie sollten also nicht generell
als eine Störung des Programmablaufs gesehen werden.
2.3.3.
Hilfsbereitschaft
Die motivationale Komponente von Prosozialität zeigt sich in der Bereitschaft zu prosozialem
Verhalten. Als wesentlich ist hierbei die Hilfsbereitschaft anzusehen. „Sie meint die ständige Bereitschaft, dem Schwächeren, Benachteiligten, Belasteteren in seinen Bedrängnissen zu helfen;
bereit zu sein, von den eigenen Ressourcen etwas abzugeben. Hat ein Mitschüler ein Problem,
kann man versuchen, ihm zu helfen“35.
Die „kleinen“ und „großen“ Hilfen, die Kinder bereit sind sich untereinander zu gewähren, sind
leicht vorstellbar und auch vielfältig. Die Bereitschaft, Hilfe zu gewähren, zeigt sich in der Schu-
33 ebenda, S. 185.
34 Cohn 1975.
35 Bönsch 1994, S. 59.
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2. Prosoziales Verhalten
le beispielsweise darin, wenn ein Kind einem anderen Kind etwas borgt, was der andere gerade
oder generell nicht hat. Sie zeigt sich aber auch darin, dass man einem anderen bereit ist, mit Rat
und Tat beizustehen, wenn er von anderen Kindern attackiert wird. Kauke & Auhagen36 beobachteten Grundschulkinder wie sie sich in der Schule untereinander helfen und konnten feststellen,
„dass Helfen unter gleichaltrigen Kindern im schulischen Kontext einer ihrer bedeutsamsten Interaktionsbereiche ist. Kinder helfen untereinander vornehmlich mit Wissen und Können, mittels
Materialien, aber auch psychisch-emotional. Vier Fünftel aller Hilfen werden ohne Zögern gegeben, gleich ob sie angeboten und angenommen oder erbeten und gewährt werden.“
2.3.4.
Konfliktfähigkeit
Konfliktfähigkeit ist eine entscheidende soziale Tugend. Sie setzt sich aus unterschiedlichen
Komponenten zusammen. „Während die (...) positive Einschätzung eines Konflikts eine entscheidende Voraussetzung (für eine ‘geregelte’ Konfliktaustragung) ist, kommen weitere hinzu,
wie etwa ein Minimum an Kontakt und ‚Sichtbarkeit’, die Verhaltensweisen der Parteien sind
nicht darauf gerichtet, die andere zu zerstören, zu bezwingen, zu unterwerfen. Sind diese Grundeinstellungen vorhanden, besteht das Handlungsrepertoire in verbalen Interaktionen (Argument,
Gegenargument, Überzeugung und Überredung) und in einer geregelten Verfahrensweise (...), die
in die Zeit hinein Verfahrensschritte vorsehen kann, die die Entscheidungsmodi festlegt (Abstimmung, Schiedsrichter, Kompromisse u.a.m.)“.37 Beispielsweise Interessenskonflikte unter
Kindern sind unvermeidbar und natürlich. Die Fähigkeit, solche konstruktiv zu lösen, zeigt sich
etwa darin, manchmal einfach verzichten zu können, möglicherweise aufgrund einer akzeptierten
Mehrheitsentscheidung, oder darin, generelle oder zeitweilige Kompromisse zu finden und in der
Fähigkeit, mit geeigneten Mitteln solche auszuhandeln.
36 Kauke & Auhagen 1996, S. 239.
37 ebenda S. 59.
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3. Prosoziales und aggressives Verhalten im Vergleich
3.
Prosoziales und aggressives Verhalten
im Vergleich
3.1.
Probleme in der begrifflichen Abgrenzung
Sowohl in der theoretischen als auch in der empirischen Sozialforschung lassen sich viele Belege für gravierende Unterschiede im Begriffsgebrauch in Bezug auf soziale Verhaltensweisen finden. Beispielsweise sei hier von Befunden ausgegangen, die Claus & Herter bei der Untersuchung des Stellenwertes von Gewalt im Leben Magdeburger Jugendlicher ermittelten38:
Rang
ist
Gewalt
ist keine
Gewalt
98,3
1,7
97,9
2,1
3
Jemanden mit einer Waffe oder einem waffenähnlichen Gegenstand zu töten oder zu verletzen
Jemanden mit körpereigenen Mitteln Schmerzen zuzufügen
Jemanden zu sexuellen Handlungen zwingen
97,4
2,6
4
Jemandem sein Eigentum wegnehmen
54,7
45,3
5
Jemandem die Existenzgrundlagen zu entziehen, z.B. den Arbeitsplatz wegnehmen
Gefühle anderer Menschen zu verletzen oder
zu missbrauchen
Jemanden mit Worten, Gesten oder Gebären
zu beschimpfen oder zu beleidigen
Jemanden durch Lärmen, Gestikulieren o.ä. zu
belästigen oder zu behindern
Beziehungen zwischen Menschen, z.B.
Freundschaften, Partnerschaften oder Gruppe,
auseinander zu bringen
41,1
58,9
40,6
59,4
23,0
77,0
22,1
77,9
20,7
79,3
1
2
6
7
8
9
Gewaltformen
Tab. 3: Was verstehst Du persönlich unter Gewalt?
(Angaben in Prozent, nach Rangplätzen geordnet)
Wie zu erkennen ist, gibt es einige Verhaltensweisen, die relativ einstimmig dem Gewaltbegriff
subsumiert wurden, bei anderen, wie zum Beispiel bei Diebstahl und psychischer Verletzung sind
die Zuordnungen sehr geteilt. Das Gewaltverständnis von Kindern und Jugendlichen ist im Vergleich zu dem von Erwachsenen oft nur auf Formen körperlicher Gewalt und dabei eingeengt auf
solche bezogen, die zu sichtbaren Schädigungen des Opfers führen. Allerdings gibt es in den Auffassungen unter den Kindern und Jugendlichen, wie es auch eine Dresdener Studie39 zeigte, eine
beachtliche Variabilität:
38 Claus & Herter 1994, S. 11.
39 s. Schubarth & Ackermann 2000.
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