DE DE ARBEITSDOKUMENT

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EUROPÄISCHES PARLAMENT
2009 - 2014
Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres
17.3.2014
ARBEITSDOKUMENT
zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf
Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres
Berichterstatterin: Renate Weber
DT\1023400DE.doc
DE
PE530.088v01-00
In Vielfalt geeint
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I. Die Unschuldsvermutung und das Niveau der Achtung der Menschenrechte gemäß
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Die Unschuldsvermutung ist eine Säule des modernen demokratischen Strafverfahrens, das
auf der Achtung der Menschenrechte basiert. Sie entwickelte sich aus der historischen
Erfahrung mit dem Untersuchungsgrundsatz und mit den totalitären Systemen des
20. Jahrhunderts, die auf der Annahme der Schuld und der Erlaubnis der Anwendung von
Zwang gegen Verdächtige basierten. Leider ist ein solches Konzept heutzutage bedroht, unter
anderem durch Instrumente des sogenannten „Präventionsstaats“ (Massenerfassung von Daten
und Profilerstellung über die Bevölkerung) und die Einführung der parallelen „Zivil- und
Verwaltungs-“ Verfahren in Verbindung mit Strafverfahren, in denen die
Unschuldsvermutung nicht gilt.
Als Grundsatz hat die Unschuldsvermutung drei unmittelbare Auswirkungen für die Rechte
der Verdächtigen in Strafverfahren. a) das Recht auf Aussageverweigerung, b) die Beweislast
liegt bei der Strafverfolgungsbehörde, und c) Zweifel an der Schuld kommen den
Verdächtigen oder Beschuldigten zugute (in dubio pro reo). Wegen dieser Bedeutung der
Unschuldsvermutung begrüßt die Berichterstatterin ein gemeinsames Instrument der EU zur
Harmonisierung dieses Problems. Dieses Instrument muss jedoch sehr hohe gemeinsame
Standards einführen und nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner auf Grundlage der
EMRK widerspiegeln. Die Berichterstatterin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
Artikel 52 Absatz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Verhältnis
zwischen der Charta und der EMRK erläutert: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den
durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie
ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht
entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“
Die Charta erlaubt folglich die Einführung von Grundrechtsstandards, die im Vergleich zur
EMRK viel weitreichender sind. In diesem Zusammenhang verweist die Berichterstatterin auf
das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-399/11, Melloni, in dem Gerichtshof in Bezug auf
die Auslegung des Artikels 53 zu dem Ergebnis kam, dass die Annahme gemeinsamer
Standards der EU im Strafverfahren die Befolgung von höheren einzelstaatlichen
Verfassungsstandards als Grund für die Nichtanerkennung in der gegenseitigen Anerkennung
hindert. Um Widersprüche zwischen einzelstaatlichen Verfassungsstandards im Bereich des
Strafverfahrensrechts, die höher sind als die Mindeststandards der EMRK auf der einen Seite
und der Charta und Harmonisierungsregeln auf der anderen Seite (d. h. um einen „Solange“Streit zwischen Unionsrecht und einzelstaatlichem Verfassungsrecht in Bezug auf die
Grundrechte) zu vermeiden, sollten die Rechte der Charta so weitreichend wie möglich
ausgelegt werden und die gemeinsame EU-Harmonisierung sollte einen hohen Schutzstandard
einführen. Dieser in Unionsinstrumenten zur Harmonisierung der Verfahrensrechte
verwendete hohe Standard ist entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip auch für die
Rechtfertigung der Kompetenz der EU im Bereich des Strafrechts notwendig.
II. Erste Bewertung des Kommissionsvorschlags
Der Vorschlag der Kommission in seiner gegenwärtigen Fassung erfüllt die oben genannte
Aufgabe nur teilweise. Positiv zu werten ist, dass die Kommission in den Vorschlag eindeutig
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das Verbot aufnimmt, dass vor einer rechtskräftigen Verurteilung in öffentlichen Erklärungen
und amtlichen Beschlüssen von Behörden nicht so auf Verdächtige oder Beschuldigte Bezug
genommen wird, als ob diese verurteilt wären (Artikel 4), ein Standard, der seit dem Urteil
des EGMR in der Rechtssache Allenet de Ribemont/Frankreich (1995) eindeutig festgelegt
ist. Gleichzeitig wird deutlich darauf verwiesen, dass die Ausübung des
Aussageverweigerungsrechts und des Rechts, sich nicht selbst zu belasten im weiteren
Verlauf des Verfahrens nicht gegen Verdächtige oder Beschuldigte verwendet und nicht als
Bestätigung von Tatsachen gewertet werden darf (Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 Absatz 3).
In dieser Beziehung berücksichtigte die Kommission die Kritik, die der Veröffentlichung
ihres Grünbuchs über die Unschuldsvermutung 2006 folgte, in dem nachteilige Rückschlüsse
aus dem Aussageverweigerungsrecht möglich waren, was auf dem Urteil des EGMR in der
Rechtssache John Murray/Vereinigtes Königreich (1996) beruhte.
Die Berichterstatterin begrüßt diese Verbesserung des Schutzniveaus des
Aussageverweigerungsrechts als absolutes Recht des Verdächtigen oder Beschuldigten im
Einklang mit anderen Harmonisierungsinstrumenten der EU, wie etwa der Richtlinie
2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Die
Richtlinie enthält eine Art „EU Miranda-Warnsystem“, wonach jeder Verdächtige als
prophylaktische Regel zum Schutz des Aussageverweigerungsrechts eine vorherige Warnung
der Behörden erhalten muss, einschließlich des Rechts, die Aussage zu verweigern (vgl. dazu
auch die Gründe des US Supreme Court in der Rechtssache Miranda/Arizona, 1966). Diese
Verbesserung spiegelt auch das Sondervotum in der Rechtssache John Murray des EGMR
wider, in dem unter anderem ausgeführt wird: „Das Aussageverweigerungsrecht ist ein
grundlegendes Prinzip. Jede Einschränkung mit der Wirkung, die Ausübung dieses Rechts zu
bestrafen, indem nachteilige Rückschlüsse gegen den Beschuldigten gezogen werden, stellt
einen Verstoß gegen diesen Grundsatz dar.“
Leider wird der Ansatz mit einem ebenso hohem Standard in den anderen Teilen des
Vorschlags der Kommission nicht vollständig beibehalten, etwa in Bezug auf die Frage des
Zwangs (Erwägung 17), der Vermutungen der Verlagerung der Beweislast (Artikel 5) und
einen niedrigen Standard der Zulässigkeit von Beweismitteln (Artikel 6 Absatz 4, Artikel 7
Absatz 4 und Artikel 10).
a) Klares Verbot der Verwendung von Zwang
Die Kommission schlug den folgenden Text in Erwägung 17 vor: „Zwang, der ausgeübt wird,
um den Verdächtigen oder Beschuldigten zur Aussage zu bewegen, sollte begrenzt werden.
Bei der Entscheidung, ob der Zwang diese Rechte verletzt, sollte unter Berücksichtigung aller
Umstände des Falles folgenden Faktoren Rechnung getragen werden: Art und Intensität des
zur Erlangung des Beweises ausgeübten Zwangs, Gewicht des öffentlichen Interesses an der
Untersuchung und Bestrafung der betreffenden Straftat, in dem Verfahren bestehende
einschlägige Garantien und Verwendung des auf diese Weise erlangten Beweismaterials. Das
Maß, in dem Zwang auf Verdächtige oder Beschuldigte ausgeübt wird, um sie zur Aussage im
Zusammenhang mit dem gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu bewegen, darf jedoch ihr Recht,
sich nicht selbst zu belasten, und ihr Aussageverweigerungsrecht nicht in ihrem Wesensgehalt
antasten, auch nicht aus Gründen der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung.“
Dieser Wortlaut ist unklar, könnte zu Missbrauch führen und sollte daher gestrichen werden.
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Aus dem Text sollte deutlich werden, dass jede Anwendung physischer oder psychischer
Gewalt oder Drohungen gegen die beschuldigte Person, Folter und unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung verboten sind, da sie die Menschenwürde und das Recht auf ein
faires Verfahren verletzen. Leider hat der Kampf gegen den Terrorismus und die Bekämpfung
schwerer Kriminalität gezeigt, dass selbst moderne Demokratien nicht gegen einen Rückfall
in ganz andere vergangene Zeiten immun sind (vgl. z. B. Rechtssachen des EGMR wie
Irland/Vereinigtes Königreich, A., Nr. 5310/71, zur Frage „spezieller“ Verhörtechniken,
Gäfgen/Deutschland, 2005, zur Frage der Anwendung von Drohungen gegen die körperliche
Integrität durch die Polizei, El-Masri/Mazedonien, 2012, zur Frage der so genannten
„außerordentlichen Überstellungen“ oder El-Haski/Belgien, 2012, zur Frage des Verbots jedes
durch Folter gewonnenen Beweismittels). In dieser Hinsicht möchte die Berichterstatterin
darauf hinweisen, dass Artikel 3 EMRK über das Verbot der Folter und unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung ein absolutes Recht ist, von dem gemäß Artikel 15 EMRK nicht
abgewichen werden kann, da in „Artikel 3 der Konvention, der ein absolutes Verbot von
Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafen oder Behandlungen enthält, einer der
wichtigsten Grundwerte der demokratischen Gesellschaften verankert ist. Im Unterschied zu
den meisten materiellrechtlichen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle 1 und 4
sieht Artikel 3 keine Ausnahmen vor und nach Artikel 15 darf nicht einmal im Fall eines
öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, von ihm abgewichen werden“
(EGMR; Saadi/Italien, 2008, Randnummer 127). Folglich sollte auch kein aus einem solchen
Verhalten stammendes Beweismittel zulässig sein, da die Erfahrung im Strafrecht deutlich
zeigt, dass lediglich dienstrechtliche Verfahren gegen Beamte kein wirksames
Ausschlusssystem ersetzen können, um – wie weiter unten zu erläutern sein wird – einen
wirksamen Rechtsbehelf bereitzustellen.
Gleichzeitig wird es bereits aus dem Text der Kommission (vgl. Erwägung 18) ausreichend
klar, dass die Sammlung und Verwendung von Nicht-Zeugenbeweisen (Blut- und Urinproben,
DNA, Abnahme von Fingerabdrücken, Anfertigen von Lichtbildern, Schrift- oder
Sprachproben zu Identifikationszwecken) gestattet ist. Das verletzt im Einklang mit der
Rechtsprechung des EGMR in der Rechtssache Saunders/Vereinigtes Königreich, 1996, nicht
das Recht, sich nicht selbst beschuldigen zu müssen, wonach sich dieses Recht „in
Strafverfahren nicht auf die Verwendung von Material [erstreckt], das von dem Angeklagten
durch Anwendung von Zwang erlangt werden kann, das aber unabhängig vom Willen des
Verdächtigen existiert, wie u. a. Dokumente, die aufgrund einer gerichtlichen Anordnung
erlangt worden sind, Atemluft-, Blut- und Urinproben und Körpergewebe für einen
DNA-Test.“ Diese Methoden würden jedoch illegitim, wenn beispielsweise äußerst intrusive
nicht akzeptierte medizinische Methoden verwendet werden würden oder ein solcher Test
zum Entlocken von Antworten, die im wesentlichen Zeugenbeweise sind, verwendet würde.
In dieser Hinsicht stellte der US Supreme Court bereits 1966 in der Rechtssache
Schmerber/Kalifornien (384 U.S. 757) klar, dass die Tatsache, „eine Person dazu zu bringen,
sich Tests zu unterziehen, in denen versucht wird, ihre Schuld oder Unschuld auf der
Grundlage von physiologischen Reaktionen, willensgesteuert oder nicht, Geist und
Geschichte des fünften Zusatzes (Fifth Amendment) zur Verfassung der Vereinigten Staaten
hervorruft“, wobei die obligatorische Verwendung eines Lügendetektors als Beispiel
angeführt wird. In dieser Hinsicht verwarf auch der EGMR die Fairness des Verfahrens, wenn
mit der erzwungenen Verabreichung von Brechmitteln aus dem Körper des Verdächtigen
Beweismittel entnommen wurden (Jalloh/Deutschland, 2006).
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b) Umkehr der Beweislast
Der Text der Kommission enthält in Artikel 5 Absatz 2 Vermutungen, die zu einer
Beweislastumkehr führen. Dieser Verweis basiert auf die Rechtssachen des EGMR Salabiaku,
1988, Telfner, 2001 und O'Halloran und Francis/Vereinigtes Königreich, 2007. Die
Berichterstatterin ist jedoch der Ansicht, dass die Aufnahme von Artikel 5 Absatz 2 nicht die
sehr spezifischen Besonderheiten der erwähnten Fälle widerspiegelt – Besitz von verbotenen
Waren in der Rechtssache Salabiaku, Verweis auf die freie Beweiswürdigung durch Gerichte
und Beweis des ersten Anscheins in der Rechtssache Telfner (wobei ein Verstoß festgestellt
wurde) oder die spezielle Regelung für Verkehrsverstöße in der Rechtssache O'Halloran und
Francis, die die Vermutung ermöglichte, dass der Eigentümer der Fahrzeugs der Fahrer sei.
Diese Aufnahme in einen Gesetzestext spiegelt die Besonderheiten der erwähnten
Rechtsprechung des EGMR nicht angemessen wider und berücksichtigt auch nicht die
Gefahr, die mit der Aufnahme einer Vermutungsklausel zur Beweislastumkehr im regelnden
Teil eines Legislativtexts verbunden ist.
In dieser Beziehung sollten Anmerkungen zu der kürzlich angenommenen Richtlinie
2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Bezug auf die Aufnahme
sehr weit gefasster allgemeiner Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand
(Artikel 3 Absatz 6 der Richtlinie1) berücksichtigt werden, die auf sehr spezifischer
Rechtsprechung des EGMR gestützt ist. Es wurde argumentiert, das seine solche weite
legislative Ausnahmeregelung nicht die Besonderheit der sehr spezifischen Rechtsprechung
des EGMR berücksichtigt, ja sogar Gefahr läuft, zukünftige Änderungen der Rechtsprechung
des EGMR außer Acht zu lassen und somit Uneinheitlichkeiten zwischen dem Recht der EU
und der Rechtsprechung des EGMR hervorzurufen, wobei das Unionsrecht hinter den
Mindeststandard der EMRK zurückfallen könnte.
Gleichzeitig besteht bei der Umwandlung von sehr spezieller Rechtsprechung (wie in der
Rechtssache Salabiaku) in eine allgemeine gesetzliche Vermutung – trotz Regressionsverbots
– auch die Gefahr, eine nachteilige Entwicklung in Mitgliedstaaten mit höheren Standards und
auch einen Mindestansatz in Bezug auf diese Rechte im Recht der EU-Kandidatenstaaten oder
künftiger Kandidatenstaaten zu schaffen. Folglich sollte Artikel 5 Absatz 2 gestrichen oder
ganz neu gefasst werden.
c) Zulässigkeit von Beweismitteln
Einige Teile des Vorschlags der Kommission enthalten eine Zulässigkeitsregel (Artikel 6
Absatz 4, Artikel 7 Absatz 4 und Artikel 10). Im Allgemeinen sind gemeinsame
Zulässigkeitsregeln der EU zu begrüßen und eine direkte Folge der Harmonisierung von
Verfahrensrechten. Jede Harmonisierung von Verfahrensregeln ohne die Behandlung der
Folgen ihrer Verletzung bleibt eine lex imperfecta. In dieser Hinsicht besteht in Artikel 12
Absatz 2 der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand
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6. Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten
vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der
besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:
a) die dringende Notwendigkeit der Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person,
b) wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine
erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.
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bereits eine gemeinsame Zulässigkeitsregel der EU. Die angewendeten Standards müssen
jedoch erneut sehr hoch sein und zumindest ist die Rechtsprechung des EGMR zu
respektieren.
Die Kommission bezieht sich in ihrem Vorschlag auf die Unzulässigkeit als Folge der
Verletzung des Aussageverweigerungsrechts und des Rechts, sich nicht selbst zu belasten, „es
sei denn, die Verwendung dieser Beweismittel würde die Fairness des Verfahrens insgesamt
nicht beeinträchtigen.“ Diese Definition berücksichtigt jedoch nicht die sehr deutliche
Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf unter Verletzung des Artikels 3 EMRK gewonnene
Beweismittel (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung). Der EGMR hat etwa in
der Rechtsache Gäfgen/Deutschland (sogar in der Großen Kammer des EGMR) eine sehr
klare Theorie zu der absoluten Unzulässigkeit und Ausschlussregelung in Fällen von unter
Verletzung von Artikel 3 EMRK erlangten unmittelbaren Aussagen sowie aus Folter
stammenden mittelbaren Beweisen entwickelt. Diese Theorie wurde kürzlich in der
Rechtssache El-Haski/Belgien zusammengefasst (Randnummer 85): „… die strafprozessuale
Verwertung von Aussagen, die infolge einer gegen Artikel 3 verstoßenden Behandlungen
einer Person erlangt wurden – ungeachtet dessen, ob die Behandlung als Folter,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung eingestuft wurde –, als auch die Verwertung
von sachlichen Beweismitteln, die unmittelbar infolge von Folterhandlungen gewonnen
wurden, automatisch das Verfahren insgesamt unfair gemacht haben, und zwar unter Verstoß
gegen Artikel 6.“ (a.a.O., Randnummer 173). „Die Zulassung sachlicher Beweismittel, die
aufgrund einer Handlung erlangt wurden, die als unmenschliche Behandlung unter Verstoß
gegen Artikel 3 einzustufen, aber nicht mit Folter gleichzustellen ist, stellt jedoch nur dann
eine Verletzung von Artikel 6 dar, wenn der Verstoß gegen Artikel 3 den Ausgang des
Verfahrens gegen den Angeklagten beeinflusst, d. h. sich auf seinen Schuldspruch oder seine
Strafe ausgewirkt hat.“
Wenn folglich das Aussageverweigerungsrecht oder das Recht, sich nicht selbst beschuldigen
zu müssen, wegen eines Verstoßes gegen Artikel 3 EMRK verletzt wurden, ist das
Beweismittel absolut auszuschließen und keine – wie von der Kommission vorgeschlagene –
Gewichtung (Vergleich zwischen der Illegalität und ihrem Einfluss auf die Fairness) ist mehr
möglich, es sei denn, die Verwendung dieser Beweismittel würde die Fairness des Verfahrens
insgesamt nicht beeinträchtigen. Daher entspricht der Vorschlag der Kommission nicht den
Mindestanforderungen des EGMR in dieser Hinsicht.
Da jedoch Regelungen der EU Regeln mit sehr hohen Standards sein sollten, wäre es
angemessener, noch höhere Standards einzuführen als die oben beschriebenen
Mindeststandards des EGMR. In dieser Hinsicht möchte die Berichterstatterin auf das
teilweise abweichende Votum verschiedener Richter des EGMR in der Rechtssache Gäfgen
hinweisen, wonach eine Verletzung von Artikel 3 EMRK immer zu einem direkten
Ausschluss aller Beweismittel führen sollte (unmittelbar und mittelbar, ohne die
Unterscheidung zwischen Folter auf der einen Seite und unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung auf der anderen Seite, was den indirekten Beweis anbelangt). Gleichzeitig wurde
dieser Ansatz von einer Minderheit sogar für andere Verletzungen der EMRK vorgeschlagen,
wie etwa Verletzungen des Artikels 8 EMRK (Recht auf Privatsphäre) – vgl. Sondervotum
von Richter Loucaides in der Rechtssache Khan/Vereinigtes Königreich, 1999. Diesen Ansatz
gibt es bereits in einigen Mitgliedstaaten der EU.
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Die vorgeschlagene Richtlinie über die Unschuldsvermutung ist ein Eckstein des modernen
Strafverfahrensrechts der EU, das auf einem hohen Niveau der Achtung der Menschenrechte
basiert. In Anbetracht der oben erwähnten Punkte sind nach Ansicht der Berichterstatterin
jedoch bestimmte wichtige Änderungen am derzeit vorliegenden ersten Entwurf der
Kommission vorzunehmen.
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