Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Neutrinos and the search for new physics Antusch, Stefan Max-Planck-Institut für Physik, München Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Das Standardmodell der Elementarteilchen beschreibt mit beeindruckender Genauigkeit alle bisher beobachteten Elementarteilcheneigenschaften, mit einer Ausnahme: Neutrinomassen. Neutrinomassen sind der erste klare Hinw eis aus der Teilchenphysik darauf, dass das Standardmodell erw eitert w erden muss. Neutrinooszillationen sind Quantenprozesse, die zur Entdeckung der Neutrinomassen geführt haben. In der Zukunft können sie erneut für überraschende Entdeckungen sorgen: W ie eine Lupe können sie w eitere neue Physik sichtbar machen und damit zur Suche nach dem neuen Standardmodell beitragen. Summary The Standard Model of elementary particles describes all observed properties of elementary particles w ith impressive accuracy, w ith one exception: neutrino masses. Neutrino masses are the first clear evidence from particle physics that the Standard Model has to be extended. Neutrino oscillations are quantum processes w hich have led to the discovery of neutrino masses. In the future they can again provide surprising discoveries: Like a magnifying glass they can make further new Physics visible and thereby contribute to the search for the new Standard Model. Neutrinomassen und Oszillationen Die Elementarteilchen im Standardmodell sind in zw ei Arten unterteilt: Quarks und Leptonen. Zu den Quarks gehören beispielsw eise das Up-Quark und das Dow n-Quark, die Grundbausteine der Protonen und Neutronen. Zu den Leptonen zählen z. B. das Elektron und sein neutrales Partnerteilchen, das Elektron-Neutrino. Zusätzlich zu diesen Elementarteilchen der so genannten ersten Familie existieren noch zw ei w eitere, schw erere Familien von Quarks und Leptonen. Bei den Leptonen sind dies das geladene Myon und Tauon, sow ie deren elektrisch neutrale Partner, das Myon-Neutrino und das Tauon-Neutrino. W ährend die Massen der geladenen Leptonen bekannt w aren, galten die Neutrinos lange Zeit als masselos. Der Nachw eis der Neutrinomassen gelang durch die Beobachtung von Neutrinooszillationen. Neutrinooszillationen treten auf, w enn zusätzlich zu Neutrinomassen das Phänomen der Teilchenmischung vorliegt. Dieses Phänomen ist bereits von den Quarks bekannt und bedeutet, dass die Neutrinos des © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Standardmodells, z. B. das Elektron-Neutrino, aus einer Überlagerung von quantenmechanischen Zuständen mit drei Massen bestehen. Werden die Neutrinos mit einer bestimmten Energie an der Neutrino-Quelle erzeugt, dann hat jeder dieser Bestandteile eine andere Geschw indigkeit. Dies führt zu Interferenzen, w eil die Bew egung von Quanten als Wellenphänomen zu verstehen ist. Durch diese Interferenzeffekte kann das Neutrino seine Familie verändern, aus einem Elektron-Neutrino w ird beispielsw eise ein Myon-Neutrino oder ein Tauon-Neutrino. Die Wahrscheinlichkeit mit der eine Familien-Umw andlung zu beobachten ist, die so genannte Oszillationsw ahrscheinlichkeit, hängt (für eine bestimmte Neutrino-Energie) periodisch von der Entfernung zw ischen Quelle und Detektor ab; daher der Name Neutrinooszillationen. Zusätzlich beinhalten die Oszillationsw ahrscheinlichkeiten Informationen über die Massendifferenzen der Neutrinos sow ie über die Teilchenmischungen. Mittlerw eile sind Familien-Umw andlungen von Neutrinos aus verschiedenen Quellen beobachtet w orden, z. B. aus der Sonne, aus Nuklearreaktoren, aus Teichenbeschleunigern sow ie aus Kollisionen der kosmischen Hintergrundstrahlung mit Teilchen der Erdatmosphäre. All diese Beobachtungen sind konsistent mit der Theorie der Neutrinooszillationen und erfordern w inzige Massen der Neutrinos [1]. Präzisionsexperimente mit Neutrinos Trotz dieser großartigen experimentellen Resultate bleiben noch viele Fragen offen. Beispielsw eise sind die Teilchenmischungen der Neutrinos derzeit noch unzureichend bekannt. Eine w eitere offene Frage ist, ob eine Verletzung der Symmetrie zw ischen Teilchen und Anti-Teilchen (CP-Symmetrie), w elche grundsätzlich notw endig ist um den Materieüberschuss im Universums zu erklären, auch im Lepton-Sektor (w ie bereits im Quark-Sektor) existiert. Außerdem ist die fundamentale Frage noch unbeantw ortet, ob Neutrinos ihre eigenen Anti-Teilchen sind. Diese Frage, ebenso w ie die Frage nach den Werten der Neutrinomassen, lässt sich mit Oszillations-Experimenten nicht beantw orten, w ohl aber mit Betazerfalls-Experimenten, w ie z. B. dem GERDAExperiment oder dem KATRIN-Experiment. Um die Fragen nach den Teilchenmischungen der Neutrinos und nach der Verletzung der CP-Symmetrie zu beantw orten, w erden Neutrinooszillations-Experimente mit hoher Präzision in Erw ägung gezogen. Ein Beispiel hierfür ist die so gannte Neutrinofabrik, bei der Myonen auf Geschw indigkeiten nahe der Lichtgeschw indigkeit beschleunigt w erden und dann auf einer „Rennstrecke” zerfallen, w obei Neutrinos produziert w erden. In den derzeit angedachten Neutrinofabriken könnten 10 21 Neutrinos pro Jahr erzeugt w erden (eine Eins mit 21 Nullen), w as eine Studie von Neutrinooszillationen mit fantastischen Genauigkeiten erlauben w ürde [2]. Einen möglichen Aufbau einer Neutrinofabrik zeigt Abbilung 1. © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Mögliche r Aufba u e ine r Ne utrinofa brik . © C ER N, [3] Neutrinooszillationen – eine Lupe zu neuer Physik Das grundlegende Prinzip von Neutrinooszillationen ist, dass durch quantenmechanische Interferenzeffekte auch w inzige Parameter, w ie z. B. die Neutrinomassen, sichtbar gemacht w erden können. Das w irft natürlich die Frage auf, ob zukünftige, äußerst präzise Neutrinooszillations-Experimente das Potenzial haben, w eitere neue Physik jenseits der Neutrinomassen zu entdecken. Diese Möglichkeit w urde in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität erforscht. Untersuchungen haben ergeben, dass eine Neutrinofabrik in der Lage ist, neue, auf Neutrinos w irkende Kräfte aufzuspüren, selbst w enn diese mehr als einen Faktor 100 schw ächer sind als die Kräfte im Standardmodell. Solche Kräfte könnten beispielsw eise von neuen Teilchen verursacht w erden, die bei der Erzeugung der Neutrinomassen eine Rolle spielen. Angesichts der hohen Präzision der Experimente ist es erforderlich auch die theoretischen Aspekte der Neutrinooszillationen mit entsprechender Genauigkeit zu behandeln. Eine theoretische Schw ierigkeit in Bezug auf Neutrinooszillationen in Gegenw art von neuer Physik besteht darin, dass die Teilchenmischungen der drei Neutrino-Varianten typischerw eise nicht mehr durch eine „unitäre” Matrix beschrieben w erden. Das bedeutet dann, dass Neutrinos eine Familien-Umw andlung vollziehen können ohne zu oszillieren. Mit einer Neutrinofabrik könnte eine solche Familien-Umw andlung der Neutrinos durch neue Physik mit sehr hoher Genauigkeit nachgew iesen w erden. Kürzlich ist es gelungen, eine konsistente Beschreibung von Neutrinooszillationen mit einer allgemeinen, nicht-unitären Mischungsmatrix zu formulieren [4]. Neue Phänomene in Neutrinooszillationen Interferenzeffekte zw ischen dieser treten sow ohl nahe neuen Form der einer Neutrino-Quelle Familien-Umw andlung und auf, als den auch durch ursprünglichen Neutrinooszillationen sow ie bei der Bew egung von Neutrino-Quanten durch Materie. Ein Beispiel für den möglichen Einfluss von neuer Physik auf Neutrinooszillationen ist in Abbildung 2 dargestellt. © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Be ispie l für de n m ögliche n Einfluss von ne ue r P hysik a uf Ne utrinooszilla tione n. Zur Ve re infa chung we rde n nur zwe i Ne utrino-Fa m ilie n und de re n O szilla tione n im Va k uum be tra chte t. Die obe re Abbildung ze igt e in Be ispie l für die W a hrsche inlichk e it e ine r Ne utrinooszilla tion ohne zusä tzliche ne ue P hysik (schwa rze Linie ) und m it ne ue r P hysik (rote ge striche lte Linie ) we lche e ine n Fa k tor 100 schwä che r ist a ls die so ge na nnte schwa che Kra ft de s Sta nda rdm ode lls. Die unte re Abbildung ze igt die O szilla tionswa hrsche inlichk e it für Anti-Ne utrinos a nste lle von Ne utrinos, m it und ohne de n m ögliche n Einfluss von ne ue r P hysik . Die Auswirk unge n de r ne ue n P hysik sind in die se m Be ispie l unte rschie dlich für Ne utrinos und Anti-Ne utrinos – sie ve rle tze n die C P Sym m e trie . © Ma x -P la nck -Institut für P hysik Darüber hinaus sind Neutrinos auch hervorragend geeignet, um Verletzungen von fundamentalen Symmetrien, z. B. der CPT-Symmetrie oder der Lorentz-Symmetrie aufzuspüren. Ein besonders interessantes Signal in diesem Zusammenhang w äre, w enn zukünftige Oszillations-Experimente ergäben, dass die Neutrinomassen und Teilchenmischungen für Neutrinos und Anti-Neutrinos unterschiedliche Werte haben. Das w ürde dann implizieren, dass die grundlegende Theorie der Elementarteilchen nicht-lokal ist, d. h. dass die Kräfte zw ischen Elementarteilchen Wechselw irkungen nicht sind an einem Punkt beispielsw eise übertragen eine w erden Eigenschaft der w ie im Standardmodell. Stringtheorie, oder Nicht-lokale allgemeiner von Quantentheorien im Hinblick auf die Einbeziehung der Gravitationskraft. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel für die Sensitivität mit der zukünftige Neutrinooszillations-Experimente solche Hinw eise auf neue Physik aufspüren könnten [5]. © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik Be ipie l für die m ögliche Se nsitivitä t zuk ünftige r Ne utrinooszilla tions-Ex pe rim e nte zur una bhä ngige n Me ssung de r Diffe re nze n de r qua drie rte n Ne utrinom a sse n m it AntiNe utrinos (x -Achse ) und Ne utrinos (y-Achse ). Die ä uße re schwa rze Linie ze igt die Se nsitivitä t m it dre i Sta nda rda bwe ichunge n Ge na uigk e it. Eine Diffe re nz de r e x pe rim e ne lle n R e sulta te wä re e in inte re ssa nte s Signa l für ne ue P hysik . © Ma x -P la nck -Institut für P hysik Aber auch andere Erw eiterungen des Standardmodells, w ie sie möglicherw eise am Large Hadron Collider (LHC) entdeckt w erden, können unter anderem Ausw irkungen auf Neutrinooszillationen haben. Für die Suche nach neuer Physik w ird es daher auf jeden Fall w esentlich sein, die experimentellen Daten von Neutrinooszillationen mit den Resultaten des LHC am CERN und von anderen Suchen nach neuer Physik zu kombinieren. Ausblick Durch Neutrinooszillationen gelang es, die w inzigen Massen der Neutrinos und deren Teilchenmischungen aufzuspüren. W esentlich an Neutrinooszillationen ist, dass durch quantenmechanische Interferenzeffekte auch sehr kleine Parameter sichtbar gemacht w erden können. Zukünftige äußerst präzise Oszillations-Experimente w erden dieses Phänomen mit bisher unerreichter Genauigkeit untersuchen. Diese Genauigkeit kann es erlauben, durch Neutrinooszillationen w eitere Hinw eise auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Elementarteilchen zu entdecken. In Kombination mit anderen Suchen nach neuer Physik, insbesondere den Experimenten am LHC, können zukünftige präzise Neutrinooszillations-Experimente dazu beitragen Antw orten auf offene Fragen der Elementarteilchenphysik zu geben und letztlich ein neues Standardmodell zu finden. Eines ist gew iss: Neutrinomassen, entdeckt durch Neutrinooszillationen, w erden Bestandteil dieses neuen Standardmodells sein. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] Particle Data Group (C. Amsler et al.): 2008 Review of Particle Physics: Neutrino mass, mixing, and flavor change. Physics Letters B 667, 1-6 (2008). © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2008/2009 | Antusch, Stefan | Neutrinos und die Suche nach neuer Physik [2] ISS Physics Working Group (A. Bandyopadhyay et al.): Physics at a future Neutrino Factory and super-beam facility. e-Print: arXiv:0710.4947. [3] CERN working group on oscillation physics at the Neutrino Factory (M. Apollonio et al.): Oscillation physics with a neutrino factory. CERN Yellow Report on the Neutrino Factory (e-Print: hep-ph/0210192). [4] S. Antusch, C. Biggio, E. Fernandez-Martinez, M.B. Gavela, J. Lopez-Pavon: Unitarity of the Leptonic Mixing Matrix. JHEP 0610 (2006) 084 (e-Print: hep-ph/0607020). [5] S. Antusch, E. Fernandez-Martinez: Signals of CPT Violation and Non-Locality in Future Neutrino Oscillation Experiments. Physics Letters B 665, 190-196 (2008); (e-Print: arXiv:0804.2820). © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/6