Rainer Greshoff • Uwe Schimank (Hrsg.) Integrative Sozialtheorie? Esser - Luhmann - Weber Rainer Greshoff Uwe Schimank (Hrsg.) Integrative Sozialtheorie? Esser-Luhmann Weber III VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothel< verzeichnet diese Publil<ation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Absatz.Format.Zeichen, Niedernhausen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14354-9 ISBN-13 978-3-531-14354-5 Inhaltsverzeichnis Rainer GreshoffI Uwe Schimank Einleitung: Integrative Sozialtheorie 7 ]ens Greve Logik der Situation, Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation bei Esser und Luhmann 13 Thomas Schwinn Der Nut2en der Akteure und die Werte der Systeme 39 Tilmann Sutter Emergenz und Konstitution, Kommunikation und soziales Handeln: Leistungsbeziehungen zwischen Essers methodologischem Individualismus und Luhmanns soziologischer Systemtheorie 63 Bemhard Prosch/Martin Ahraham Gesellschaft, Sinn und Handeln: Webers Konzept des sozialen Handelns und das Frame-Modell 87 Rainer SchUt^eichel Die Selektivitat von Sinn. Uber die Sinnkonzeptionen und Sinnformen des Strukturtheoretischen Individualismus und der Systemtheorie und ihre methodologischen Pramissen und Implikationen Ill Martin EndreJ^ Zwischen den Stiihlen — Zu Hartmut Essers Versuch einer Rekonzeptualisierung von „Sinn" und „Kultur" im Gesprach mit ^Rational Choice" und Max Weber 157 Thomas Schwietring Geht es auch ohne? Zur Rolle des Kulturbegriffs in der Rational Choice-Theorie Hartmut Essers und in Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme 187 Georg Kneer Zur Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers erklarender Soziologie 229 Inhaltsver2;eichnis Christian Bt^odt Handeln, soziales Handeln und Handlimgstypen bei Weber und Esser unter Benicksichtigung ihrer unterschiedlichen methodologischen Ausrichtung 259 WilMartens Der Sinn des Handelns. Esser xmd Weber 289 Jindrea Maurer Die Rationalitat so2ialer Ordnung. Die Ordnimgskonzeptionen von Max Weber und Hartmut Esser im Vergleich 337 Dietmar Braun Rationalitatskonzepte in der Systemtheorie Niklas Luhmanns und in der Handlungstheorie Hartmut Essers: ein Theorievergleich 363 Zenonas Norkus Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber imd Esser im Vergleich 399 Rafael Wittek Abnehmende Abstraktion, Idealtypen, Erklarungslogik und Theorieverstandnis bei Weber und der erklarenden Soziologie im Vergleich 419 j-L. Schneider Erklarung, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vergleich 445 Thomas Kron/l^ars Winter Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esser 489 Rainer Greshoff Das Essersche „Modell der soziologischen Erklarung'' als zentrales Integrationskonzept im Spiegel der Esser-Luhmann-Weber-Vergleiche — was resultiert fur die weitere Theoriediskussion? Verzeichnis der Autorin und Autoren 515 581 Einleitung: Integrative Sozialtheorie Rainer Greshoff und Uwe Schimank In den letzten Jahren ist die explizite Beschaftigung mit der Vielfalt an Theorien in der Soziologie wieder vermehrt zum Gegenstand der Theoriediskussion geworden. Dies geschieht auf verschiedene Weise. Einmal dadurch, dass an die bereits versandet geglaubte Theorienvergleichsdebatte der 70er Jahre angekniipft und versucht wird, durch Vergleiche die nach wie vor unubersichtliche Theorienvielfalt in geklarte Verhaltnisbestimmungen der verschiedenen Ansat2e zu liberfuhren oder Vorschlage zu entwickeln, welche Ansatze zu eliminieren sind.^ Weiter geschieht es auch dadurch, dass der Sinn solcher Vergleichsbemiihungen bezweifelt und die Vielfalt statt dessen als etwas begriffen wird, was nicht als „multiple Paradigmatase" zu beklagen, sondern die Mannigfaltigkeit der sozialen Welt zum Ausdruck bringt und daher fur die jeweilige Theoriebildung als kreatives Potenzial zu nutzen ist.^ SchHeBlich gibt es noch den Vorschlag, die Vielfalt dadurch zu bewaltigen, dass die verschiedenen Ansatze oder zumindest deren relevante Konzepte in einer bzw. zu einer Theorie zusammengefiihrt und dariiber integriert werden. Das ist das Ziel, das sich Hartmut Esser mit seiner in den letzten Jahren konzipierten „Soziologie" gesteckt hat. Mit dem, was er „integrative und nicht-reduktionistische erklarende Sozialtheorie" nennt, macht er einen Vorschlag, der die verschiedenen soziologischen Paradigmen systematisch zusammenfiihrt. Ihm geht es damit um „die Uberwindung der das Fach seit jeher in seiner Arbeit, seinen Erfolgen und seinem Ansehen sehr schadenden internen Spaltung in die diversen Ansatze und Paradigmen" (Esser 2004, S. 8). Sein Anspruch ist hoch gesteckt: er will mit der integrativen Sozialtheorie dem Ziel naher kommen, fiir die gesamte Disziplin „Soziologie" ein einheitliches Fundament gelegt zu haben (Esser 1999, S. XVIf, 2001, S. 531-534). Einem Unternehmen dieses Zuschnitts kommt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Brisanz, die die so genannte multiparadigmatische Verfassung der Soziologie in der Theo- Siehe dazu etwa den Bericht von Andrea Hamp zur Theorienvergleichstagung der Sektion „Soziologische Theorien" der DGS in Dresden in Heft 4/2005 der „Soziologie"; siehe weiter die diskursiven Theorienvergleichsbande Greshoff/Kneer 1999, Greshoff/Kneer/Schimank 2003 sowie verschiedene Beitrage in Schimank/Greshoff 2005. Siehe etwa Barlosius/Miiller/Sigmund 2001, S. 21-23 sowie Reckwiti^ 2005. Rainer Greshoff und Uwe Schimank riediskussion immer noch besitzt, eine besondere Bedeutung zu."^ U m seinen Stellenwert und seine Tragweite genauer einschatzen zu konnen, bedarf es der Auseinandersetzungen damit. Dafiir wurde das vorliegende Buchprojekt gestartet. Seine Konzeption, mit der die Autorin und die Autoren fur die nachstehend abgedruckten Beitrage eingeladen wurden, basiert auf folgenden Uberlegungen: Die Auseinandersetzung mit Essers Sozialtheorie sollte sich zum einen zunachst auf seine dieoretischen und methodischen Grundlagen konzentxieren, also vor allem das „Modell der soziologischen Erklarung" und die damit verkniipften Konzepte in den Blick nehmen. Z u m anderen sollten die Untersuchungen im Vergleich mit entsprechenden Grundlagenpositionen anderer Ansatze durchgefuhrt werden. U m auf diese Weise die Tragweite von Essers Sozialtheorie ausloten zu konnen, waren Positionen mit moglichst eigenstandigen und vor aUem auch explizierten Grundlagen heranzuziehen. Giinstig erschienen dariiber hinaus Ansatze, denen Esser fiir die Umsetzung seines Integrationsvorhabens einen besonderen Stellenwert zumisst. Erfiillt werden die genannten Bedingungen in besonderer Weise durch die Konzeptionen von Max Weber und Niklas Luhmann. Beide haben als Sozialwissenschaftler ausgepragte und diszipHnar einflussreiche allgemeine Positionen verfasst. Beide Konzeptionen haben fiir Esser in unterschiedlicher Form eine besondere Bedeutung. Etwa: Esser greift Webers Konzepte gerade bei seinen grundlegenden Gegenstandsbestimmungen immer wieder zustimmend auf Andererseits setzt er sich aber auch kritisch von ihnen ab und will Begrenzungen iiberwinden. Man kann den Eindruck gewinnen, als wolle Esser ein modernisierter Max Weber sein. Luhmanns Konzeption stellt fiir Esser eine Herausforderung dar, an der er sich „reibt" und die er als Anregungspotential nutzt, welche er aber in ihrer Ganze als Gegenposition begreift, deren Anlage er nicht teilt, sondern fiir einen Irrweg halt. U m diese Uberlegungen umzusetzen, wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Richtungen angefragt, Esser-Weber- bzw. EsserLuhmann-Vergleiche durchzufiihren, in denen jeweils zu ausgewahlten Aspekten des oben skizzierten Themenspektrums dargelegt werden sollte, ob, warum und in welcher Weise die Positionen von Weber und Luhmann in Essers Theorie als integriert bzw. nicht-integriert anzunehmen sind. Zur naheren Erlauterung dieser Aufgabenstellung wurden folgende Fragen formuliert: Ein derartiges Integrationsunternehmen ist zudem selten. Auch international gesehen hat es einen singularen Charakter. Was ahnliche Unternehmen angeht, so mag man etwa an Parsons' friihere auf Theoriesynthese abzielende Theoriearbeit denken und im Anschluss daran an die Arbeiten von Alexander und Miinch. Auch Parsons ging es wie Esser darum, „der So'ziologie ... eine feste bzw. festere Grundlage zu geben" (Joas/Knobl 2004, S. 45). Einleitung: Integrative Sozialtheorie • Die verschiedenen Ansatze der Soziologie und die mit ihnen einhergehende konzeptuelle Vielfalt kann man als „dis2iplinaren Reichtum" betrachten, der nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte. Wird dieser Reichtxim bei der Integration in geniigender Weise bewahrt oder ist Essers Sozialtheorie ein Vorschlag zur Herstellung der Einheit der Soziologie, der mit (zu) groBen Verlusten einhergeht? • Was meint Esser mit „Integration"? Werden die Konzepte der jeweiligen Paradigmen methodisch eingebunden oder werden heterogene und nicht zusammenpassende Konzepte „additiv" nebeneinander versammelt, so dass daraus keine konsistente Konzeption resultiert? Weiter ist zu fragen: Welchen SteUenwert hat der Rational-Choice-Ansatz bei der Zusammenfiihrung der Konzepte? Ist seine „Pragekraft" so groB, dass keine iibergreifende Konzeption, sondern eine „bloBe" Erweiterung des Rational-Choice-Ansatzes entstanden ist, so dass es im Grunde beim multiparadigmatischen Zustand der Soziologie bleibt? • Was folgt aus den Antworten auf derartige Fragen, wie ist das Integrationsergebnis schlieBlich zu beurteilen? Z u diskutieren ist — zugespitzt formuliert —, ob und warum Essers integrative Sozialtheorie in der vorHegenden Form als gelungen zu akzeptieren, ganzHch zu verwerfen oder zu korrigieren ist — und in letzterem Falle ware anzugeben: in welcher Hinsicht, in welchem Umfang usw. Bei der Konzeption des Buches wurde auch der Fall beriicksichtigt, dass sich im Laufe der Arbeit an einem Buchbeitrag die Einschatzung einstellen mag, die Frage nach einer Integration sei so nicht zu stellen bzw. so nicht zu beantworten, wie mit den vorstehenden Punkten skizziert. Fiir diesen FaU sollte dann in vergleichender Perspektive untersucht werden, in welchem Verhaltnis Essers Konzeptvorschlage zu den jeweiligen Positionen von Weber oder Luhmann stehen. Etwa dahin gehend, dass analysiert wird, ob und warum die entsprechenden Konzepte von Esser mit den Positionen von Weber oder Luhmann grundsatzlich zu vereinbaren bzw. nicht zu vereinbaren und in welcher Weise letztere gegebenenfalls im Theorierahmen von Esser zu verorten sind. Herausgekommen ist ein Sammelband mit 16 Esser-Weber- bzw. EsserLuhmann-Vergleichen,4 in denen die zentralen materialen und methodischen Konzepte von Essers Ansatz diskutiert werden. Den — hoffenthch nur vorlaufigen — Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit Essers Integrations vorschlag bildet ein Beitrag, in dem vor allem die GrundUnien des „Modells der soziologischen Erklarung" sowie verschiedene Positionen aus den 16 Vergleichen mit BHck auf die weitere Theoriediskussion erortert werden. Als Ausnahme gibt es einen Esser-Weber-Luhmann-Vergleich; dessen spezifische Thematik war durch einen Vergleich liber aUe drei Ansatze hinweg fruchtbarer zu behandeln. 10 Rainer Greshoff und Uwe Schimank Was diese weitere Theoriediskussion angeht, so ist ein moglicher Pfad dafiir hier besonders herauszustellen, weil er im Zusammenhang mit der Konzeption des Buchprojektes steht. Dessen vergleichende Anlage resultiert nicht allein aus den oben dargelegten Uberlegungen, sondern hat auch noch den Hintergnind, damit Positionen in die Diskussion einbinden 2u konnen, die wie Esser in Richtung „einheitliches Fundament fut die Soziologie" argumentieren. In dieser Perspektive ist zunachst Karl Otto Hondrichs These von der „einen soziologischen Theorie und den vielen Ansatzen" aufzunehmen (Hondrich 1978, S. 314/328f). Hondrich war der festen Uberzeugung, dass liber eine breit abgesicherte vergleichende Bestandsaufnahme der verschiedenen soziologischen Ansatze auf Komplementaritaten, Gleichheiten und Alternativitaten hin der Weg bereitet wiirde, diese Ansatze in einer Theorie hoheren Allgemeinheitsgrades 2u integrieren (Hondrich 1976, S. 20, 1978, S. 320, S. 324-326). Er war sich sicher, dass letztlich „die Unterschiede ... im konsequenten Theorienvergleich verschwinden" miissen (Hondrich 1978, S. 326). Gegensatzlichkeiten etwa zwischen jeweiligen Ansatzen meinte er durch empirische Uberpriifung bzw. Falsifikation aufklaren zu konnen. Hinsichtlich der Idee eines einheitHchen Fundamentes fur die Soziologie geht in eine ahnHche Richtung die im Anschluss an Coleman formuHerte These von Michael Schmid, dass es „nur eine Sozialwissenschaft gibt". Um dieses „Einheits-Konzept" wirksam werden zu lassen, halt er es fur notwendig, „eine ,Synthese' der soziologischen Theorie voranzutreiben" (Schmid 2005, S. 70). Dafur wiederum mis St er, im Prinzip ganz ahnHch wie Hondrich, Theorievergleichen eine besondere Bedeutung zu (Schmid 2001, S. 489). SchHeBHch ist noch auf die jiingst formuUerte These von Gesa Lindemann hinzuweisen, die mittels des Verfahrens eines kritisch-systematischen Theorievergleichs zu dem Ergebnis kommt, dass sich zwischen verschiedenen soziologischen Ansatzen eine Konvergenz dahin gehend abzeichnet, was sie als „das Soziale" als den zentralen Gegenstand ihrer Konzeptionen begreifen (Lindemann 2005). V o n ganz verschiedenen Positionen her wird also so argumentiert, dass die Vorstellung von einem einheitHchen Fundament fiir die Soziologie keineswegs als eine Illusion, sondern als eine reale MogHchkeit zu begreifen ist. Und aUe diese Positionen messen dem Theorievergleich eine herausragende Bedeutung dabei zu, ein solches Fundament „zum Vorschein" zu bringen. Bedenkt man die iiberaus positiven disziplinaren Auswirkungen, die ein derartiges Fundament haben kann, ware zu iiberlegen, in der Soziologie eine TheorieForschungsinstanz zu etablieren, die vor allem mit Blick auf die Chancen fur eine solche Grundlage die besondere multiparadigmatische Verfassung der Soziologie vergleichend zu bearbeiten hatte. Fiir mehr Nachhaltigkeit in den Theoriediskussionen Sorge zu tragen, ware ein weiterer wichtiger Punkt. Anzulegen ware eine solche Instanz dann als eine Art von diszipHnarer Selbstver- Einleitung: Integrative Sozialtheorie 11 standigung, allerdings mit einem in vielerlei Hinsicht „kon2entrierteren" Zuschnitt, als sie die Theorievergleichsdebatte der 70er Jahte daistellte. Was auch immer aus einem solchen Projekt fiir die theoretische Verfassung der Soziologie resultieren mag, Essers integrativer Sozialtheorie kommt schon heute das Verdienst 2u, einen konkreten Vorschlag fur ein solches Fundament eingebracht zu haben, der bereits gegenwartig die einschlagige Diskussion befordert — wie man an dem vorliegenden Buch unschwer erkennen kann. Fiir das Gelingen des Buchprojektes ist verschiedenen Einrichtungen und Personen zu danken. Zunachst der D F G , die mit der Forderung des Projektes „Uberwindung des multiparadigmatischen Zustandes der Soziologie? Die integrative Sozialdieorie von Hartmut Esser im Vergleich mit den Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann" (SCHI 553/2-1, 2-2) die basalen Voraussetzungen dafur geschaffen hat. Dann der Autorin und den Autoren fur ihre Beitrage, insbesondere aber auch fiir die Geduld, die sie aufbringen mussten, bis das Buch endUch fertig gestellt war. Nicht nur fiir letzteres gilt unser Dank ebenso Frank Engelhardt vom VS-Verlag fiir Sozialwissenschaften, vor allem aber auch dafiir, dass er das Mitteilungsbediirfnis einiger Autoren so groBziigig toleriert hat. SchlieBlich ist Sabine Mohrenstecher ganz herzlich zu danken, die mit groBer Umsicht und Sorgfalt sowie in unermiidlicher Detailarbeit die Druckvorlage fur dieses Buch hergestellt hat. Litetatut Barlosius, Eva, Hans-Peter MiiUer, Steffen Sigmund (2001): Deutsche Soziologie im Umbruch. Bine Momentaufnahme in systematischer Absicht, in: Eva Barlosius, Hans-Peter Miiller, Steffen Sigmund (Hg.), Gesellschaftsbilder im Umbruch, Opladen, S. 9-34 Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt/M/New York Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur, Frankfurt/M/New York Esser, Hartmut (2004): Soziologische AnstoBe, Frankfurt/M/New York Greshoff, Rainer, Georg Kneer (1999) (Hg.): Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive, Opladen-Wiesbaden Greshoff, Rainer, Georg Kneer, Uwe Schimank (2003) (Hg.): Die Transintentionalitat des Sozialen, Wiesbaden Hondrich, Karl Otto (1976): Entwicklungslinien und Moglichkeiten des Theorievergleichs, in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie, Stuttgart, S. 14-36 12 Rainer Greshoff und Uwe Schimank Hondrich, Karl Otto (1978): Viele Ansatze - eine soziologische Theorie, in: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt/Neuwied, S. 314-330 Joas, Hans, Wolfgang Knobl (2004): Sozialtheorie, Frankfurt/M Lindemann, Gesa (2005): Theorievergleich und Theorieinnovation. Pladoyer fur eine kritisch-systematische Perspektive, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 44-64 Reckwitz, Andreas (2005): Warum die Einheit der Soziologie unmoglich ist: Die Dynamik theoretischer Differenzproduktion und die Selbsttransformation der Moderne, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 65-77 Schimank,Uwe, Rainer Greshoff (2005) (Hg.): Was erklart die Soziologie?, Miinster Schmid, Michael (2001): Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 12, S. 481-494 Schmid, Michael (2005): Soziale Mechanismen und soziologische Erklarungen, in: HansJiirgen Aretz, Christian Lahusen (Hg.), Die Ordnung der GeseUschaft, Frankfurt/M, BerHn, Bern, BruxeUes, New York, Oxford, Wien, S. 35-82 Logik der Situation, Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation bei Esser und Luhmann Jens Greve Ein Vergleich von Luhmanns und Essers Konzeptionen unter den Gesichtspunkten „Logik und Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation" steht vor dem Problem, dass die Bezugspunkte dem Esser'schen Konzept entiehnt sind und keine auffalligen Aquivalente bei Luhmann finden.^ Daher wird hier eine allgemeinere Folie des Vergleichs zwischen beiden Ansatzen gewahlt. Ich gehe dabei von der Mikro-Makro-Unterscheidung aus, Dieser Bezugspunkt bietet sich zunachst auch deswegen an, da Esser die Logik der Situation und die Logik der Aggregation als Schritte betrachtet, welche die Mikro- und die Makro-Ebene miteinander verbinden. Dariiber hinaus werden aus dieser Perspektive grundlegende Differenzen zwischen beiden Ansatzen deutlich und der Aufsatz erlaubt es damit, ansatzweise einen Beitrag zu der in jiingerer Zeit wieder aufgeflammten Diskussion um die Konkurrenz von Handlungstheorie und Systemtheorie zu leisten (vgl. Esser 2002, Baecker 2003, Esser 2003b, Nassehi 2003b). Im Folgenden wird zunachst Essers Fassung des Mikro-MakroVerhaltnisses unter dem Gesichtspunkt dargestellt, wie sich die Logik und Definition der Situation, firaming und die Logik der Aggregation in diese einfugen. Im Anschluss folgt die Untersuchung der Behandlung der Mikro-MakroUnterscheidung bei Luhmann.^ Im Gegensatz zu Esser wird sie von Luhmann nicht fiir das Verhaltnis psychischer und sozialer Systeme verwendet, sondern ledigHch im Kontext der Typenunterscheidung von Interaktion und Gesellschaft und auch dort mit einer deutUchen Reserviertheit gegeniiber der MikroMakro-Terminologie. In einem dritten Schritt werde ich zeigen, welche Griinde sich bei Luhmann dafiir finden lassen, die von Esser gewahlte Analysestrategie nicht einzuschlagen — als entscheidend wird sich dabei erweisen, dass fiir Esser die Dynamik sozialer Phanomene stets aus der Dynamik individuellen Han- Fiif Hinweise und Kritik danke ich Rainer Greshoff und Annette Schnabel. Andere Konzeptionen des Mikro-Makro-Verhaltnisses, neben denen von Luhmann und Esser, werde ich nicht behandeln. Diese sind vielfaltig und reichen von Betrachtungen des Gegensatzes von Kollektiv und Individuum, iiber Struktur und Handlung, groBen und kleinen sozialen Einheiten und entsprechender Forschungsstrategien bis hin zur Unterscheidung zwischen machtvollen und machtlosen Interaktionen (vgl. Alexander et al. 1987, KnorrCetina/Cicourel 1981, Mouzelis 1991). 14 Jens Greve delns abzuleiten ist, wohingegen fur Luhmann soziale Systeme durch Eigendynamiken gekennzeichnet sind, die eine solche Ableitung nicht zulassen.-^ A m E n d e des Aufsatzes wird ausgehend von dieser Beobachtung ein Vorschlag skizziert werden, in welcher Weise Korrekturen an beiden Theorieansatzen vorgenommen werden miissten, wenn man zu einer integrierten Sozialtheorie gelangen mochte. 1 D i e Mikro-Makto-Beziehung bei E s s e t Mikro- und Makroebene miissen in Essers Modell der soziologischen Erklarung verbunden werden, weil aus seiner Sicht das analytische Interesse der soziologischen Erklarung auf der Ebene der kollektiven Sachverhalte angesiedelt ist, die Erklarung aber ohne einen Rekurs auf die Mikroebene, die Handlungswahlen von Individuen, nicht durchfiihrbar sei. Erstens seien Erklarungen, die nur auf der Makro-Ebene angesiedelt sind, notwendigerweise unvoUstandig (Esser verweist hier auf die begrenzte Reichweite solcher soziologischer Gesetze wie dem ehernen Gesetz der Oligarchie, dem Kontraktionsgesetz, der Frustrations-Aggressions-Hypothese etc.) und zweitens miissten sie unverstandlich bleiben, weil eine sinnhafte Erklarung fehlen wiirde (vgl. Esser 1999a, S. 101 f). Esser betrachtet daher eine angemessene soziologische Erklarung, im Anschluss an den Vorschlag von Coleman (1990), als das Resultat Im Gegensatz zu Essers und Luhmanns eigenem knappen Theorievergleich (vgl. Esser/Luhmann 1996), in dem beide Autoren eher die Konvergeni^en betonen, i^eigen sich hier am Ende demnach eher Divergenzen. Zu den Konvergenzen rechnen beide Autoren erstens die Kritik an einer psychologistischen Position - fur Esser iibersieht diese Kontexte und Folgen des Handelns (vgl. Esser 1999b, S. 421) —, zweitens die Kritik an einem neo-klassischen Rationalitatsbegriff — beide kniipfen hier an Simons Kon^ept der bounded rationality an; vgl. z.B. Luhmann (1960, 1993a) —, drittens die Annahme, dass sich Systemrationalitat von Handlungsrationalitat unterscheiden lasst - bei Esser in Form der Annahme, dass es paretoinferiore Zustande bei Interdependenzen zwischen Akteuren gibt. Fiir Luhmann meint Systemrationalitat die Fahigkeit eines Systems, sich an der Different zwischen sich und seiner Umwelt zu orientieren (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 134, Esser 2001, S. 512, Luhmann 1991) - , viertens die Annahme, dass soziale Systeme durch Eigendynamtken gekennzeichnet sind — die sich nach Esser aber, im Gegensatz zu Luhmann, durch das Modell der soziologischen Erklarung als Folge dynamischer Prozesse auf der Ebene der individuellen Handlungswahlen aufklaren lassen (vgl. Esser 2000a, S. 8f, Esser 2001, S. 500) - sowie fiinftens die These von der struktureUen Kopplung psychischer und sozialer Systeme (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 134). Daneben markiert der Text auch Differenzen; im WesentHchen diejenige, dass das Ziel beider Theorien unterschiedlich sei, das Modell der soziologischen Erklarung ziele auf Erklarung, Luhmanns Konzept hingegen auf Gesellschaftsbeschreibung und fianktionalen Vergleich (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 131f). Die unterschiedlichen Ausgangspunkte beider Ansatze, die System-Umwelt-Unterscheidung und den Konstruktivismus bei Luhmann, die Situations-Akteur-Beziehung und den kritischen Rationalismus bei Esser, betont Kneer (2003, S. 304). Situation und Aggregation bei Esser und Luhmann 15 dreier Schritte: eines ersten Schrittes, der die Makro- mit der Mikroebene verbindet (Logik der Situation), eines zweiten Schrittes, der die Handlungswahlen auf der Mikro-Ebene erklart (Logik der Selektion), und eines dritten Schrittes (Logik der Aggregation), der von der Mikro-Ebene, den individuellen Handlungen ausgehend, zuriick auf die Makro-Ebene fuhrt. Daraus ergibt sich das „Badewannen-Modell" der soziologischen Erklarung (vgl. Esser 1999a, S. 98). Im Folgenden werde ich — meinem Thema entsprechend — den ersten und den dritten Schritt etwas eingehender betrachten. Die Logik der Situation stellt die Verbindung her zwischen der sozialen Situation und der Wahrnehmung dieser Situation durch die Handelnden. „Die Logik der Situation verkniipft die 'Brwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und den Bedingungen in der Situation. Diese Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur erfolgt bei der jeweiligen Erklarung iiber Beschreibungen, iiber die sog. Bruckenhypothesen!' (Esser 1999a, S. 94)"^ Die damit gewonnene Verbindung zwischen der Makro- und der MikroEbene muss in einer soziologischen Erklarung nicht notwendig einer vertiefenden Erklarung unterzogen werden, auch wenn dies moglich ist und gegebenenfalls erforderlich sein kann.^ D e n Gegenstand einer solchen Erklarung bildet dann — neben Prozessen „des Lernens, der Wahrnehmung, der Orientierung, der SoziaUsation [und] der sozialen Kontrolle" — die „De£inition der Situation" (Esser 1999a, S. 94). Als Definition der Situation bezeichnet Esser die Verbindung der objektiven Merkmale der Situation mit der subjektiven Deutung der Situation durch die Handelnden (vgl. Esser 1996, S. 4). Die subjektive Deutung der Situation lasst sich nach Esser als eine Selektion eines Modells der Situation (nach den Regeln der SEU-Theorie) verstehen.^ Ihre Erklarung — sofern sie notig wird — erfordert damit bereits die Inanspruchnahme der Logik der Selektion. Die Selektion solcher Modelle fur eine Situation bezeichnet Esser auch als framing.'' Dieses lasst sich analog zur Wahl von Handlungen verstehen - analog, weil hier nicht Handlungen, sondern Modelle der Wirklichkeit gewahlt werden. Framing beinhaltet dabei, dass bei jedem Eine solche lautet beispielsweise, dass mit der Zahl von Gruppenmitgliedern die Zahl wahrgenommener Handlungsoptionen steigt (vgl. Esser 1998, S. 95i5. Mikro meint dabei Akteure unter einem spezifischen Gesichtspunkt: „Akteure ,bestehen' als psychische Systeme aus einer im Gedachtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen fiir die Orientierung und das Handeln in t}^pischen Situationen, die iiber Symbole und Mustererkennung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Situationen herstellen" (Esser 2000a, S. 35). „Aucli die Definition der Situation ist ein Fall der maximierenden Optimierung in Form der komhinierten Evaluation von Erwartungen und Bewertungen." (Esser 1999a, S. 528, vgl. auch Esser/Luhmann 1996, S. 132) „Framing ist die ,Definition' der Situation durch eine eigene Leistung des Akteurs" (Esser 1997a, S. 80). Fiir eine Ubersicht iiber framing-Konzepte vgl. Stocke (2002).