Kathrin Fahlenbrach · Ingrid Brück · Anne Bartsch (Hrsg.) Medienrituale Kathrin Fahlenbrach Ingrid Brück Anne Bartsch (Hrsg.) Medienrituale Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. 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Theoretische Überlegungen Lothar Mikos Ritual, Skandal und Selbstreferentialität. Fernsehen und Alltagszyklen......................................................................................... 035 Knut Hickethier Fernsehen, Rituale und Subjektkonstitution. Ein Kapitel Fernsehtheorie ....................................................................................... 047 Helmut Schanze Noch einmal: Fernsehen als Ritual? Eine kritische Programmvorschau................................................................................ 059 Edgar Lersch Historische Ritualforschung in ihrem Verhältnis zu Medienritualen – eine kulturhistorische (Selbst-)Vergewisserung ........ 071 II. Ritualanalysen zum Fernsehen Hans-Jörg Stiehler, Falk Tennert Alle Jahre wieder. Fernsehrituale am Wahlabend ................................. 085 Claudia Dittmar, Susanne Vollberg Die Inszenierung der Revolution – Zur Ritualisierung und Medialisierung der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ im Fernsehen der DDR .......................................................................... 099 Sebastian Pfau, Sascha Trültzsch „Eine sozialistische Hochzeit braucht aber…“ – Alltag und Rituale in Familienserien des DDR-Fernsehens. ................. 113 8 Inhalt Matthias Buck Ritual und Drama der Fernsehköche ..................................................... 125 Karl Prümm Revolte gegen den ritualisierten Fernsehkrimi. Götz George und Horst Schimanski – Porträt einer Rolle und eines Schauspielers ......................................................................................... 137 III. Film und Ritual Ulrike Schwab Das Team: eine dramaturgisch-ideelle Genrekonstante im Hollywood-Kriegsfilm .......................................................................... 147 Manfred Kammer Rituale im Bollywoodfilm ..................................................................... 159 Roland Mangold Die positive Seite der Traurigkeit: Lernen durch negative Mediengefühle? ..................................................................................... 173 IV. Medienübergreifende Rituale Cordula Günther Jahrestage – Gedenkrituale in den Medien am Beispiel der Sigmund Freud-Ehrung 2006 ................................................................ 187 Peter Seibert „Vorhang auf!“ – Medienzitate eines Rituals ........................................ 201 Ingrid Scheffler Der Faktor Zeit als Teil eines narrativen Rituals: Erzähleinstiege in verschiedenen Medien ....................................................................... 213 Gerhard Lampe Das Gesicht als Bildschirm. Sozial- und mediengeschichtliche Dimensionen der individuellen Präsentation ......................................... 231 Inhalt 9 Achim Barsch Medienrituale und Werbung .................................................................. 243 Golo Föllmer Zum Verhältnis von Musik, Ritual und Medien .................................... 257 V. Rituale in den Neuen Medien Florian Hartling/Thomas Wilke Der produzierende Hörer – der hörende Produzent. Veränderungen von Radioritualen im und durch das Internet? ............. 269 Siegfried J. Schmidt Virtuelle Friedhöfe: Erst im Internet bist du wirklich lebendig ............. 281 Karin Wehn Ehrensenf – die tägliche Portion an Kuriositäten aus dem Internet .................................................................................................. 293 Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 11 Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach 1. Vorbemerkungen In westlichen Mediengesellschaften lässt sich eine paradoxe Gleichzeitigkeit von kultureller Differenzierung und Entdifferenzierung beobachten. Auf der einen Seite findet eine fortlaufende, durch die Massenmedien vorangetriebene Differenzierung sozialer Milieus und Kulturen statt. Die zunehmende Medienspezialisierung ermöglicht die Bildung von Teilöffentlichkeiten, deren Kodes und Werte nur von einer begrenzten sozialen Gemeinschaft geteilt werden. Trotz dieser Pluralisierung von Lebensstilen und Teilkulturen beobachten die Sozial- und Geisteswissenschaften andererseits schon lange eine Tendenz kultureller Entdifferenzierung: Denn die Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturen, Milieus und Szenen produziert kulturelle Legitimations- und Deutungskonflikte sowie das Bedürfnis nach kulturübergreifenden Leitwerten. Medien sind der Ort, an dem solche Konflikte am wirkungsmächtigsten ausgetragen und entschieden werden. Indem sie selektiv auswählen, welche Ereignisse und welche Akteure auf welche Art und Weise kollektiv wahrgenommen werden, produzieren sie Weltentwürfe und Deutungsmodelle, die kulturübergreifend rezipiert und angeeignet werden – und damit der Differenzierung kultureller Kodes und Werte entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, nach dem Stellenwert, den Erscheinungsweisen und Funktionen moderner Rituale in westlichen Mediengesellschaften zu fragen. Rituale entstanden ursprünglich in archaischen, monokulturellen Gesellschaften, in denen die Macht einzelner Sinndeutungsinstanzen wie Kirche und König regelmäßig in gemeinschaftlich ausgeführten Zeremonien bestätigt und verkörpert wurde. Die Ritualforschung – seit den 1970er Jahren als 1 weit gefächerter inter- und transdisziplinärer Bereich ausgebildet – hat schon lange erkannt, dass moderne, spätkapitalistische und pluralistische Gesellschaften ebenfalls Rituale ausbilden, die wichtige Funktionen der Vergemeinschaftung erfüllen (vgl. Brunotte 2003; Platvoet 2006). Hier werden Rituale als performative Handlungsmuster beschrieben, in denen die symbolische Ordnung (Leitwerte, 1 Einen ausführlichen Forschungsüberblick und Texte zu zentralen Ansätzen der Ritualforschung aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Wulf/Zirfas (2003) sowie das Handbuch von Belliger/Krieger (2006). 12 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach kollektive Identitäten oder emotionale Orientierungen) einer sozialen Gruppe reproduziert und von den Teilnehmern in gemeinschaftlichen Handlungen repräsentiert und verkörpert wird (Turner 2006; Grimes 2006 u. a.). Victor W. Turner (1989) hebt dabei besonders auf die komplexen Prozesse ab, die mit einem Ritual verbunden sind. Dies tritt besonders in „Übergangsriten“ (van Gennep) zum Vorschein, in denen ein soziales System den Übergang von einer Situation in eine andere rituell ‚bearbeitet‘. Albert Bergesen (2006) betont zudem, dass das emotionale Erleben, das in diesen Übergangsriten konzentriert auftritt, die individuelle Aneignung kollektiver Identitätsmuster verstärkt. Für ihn sind kollektive Emotionen daher ein zentrales Merkmal „ritueller Momente“: „Der Kern des rituellen Prozesses besteht darin, die individuellen Teilgefühle zu sammeln und daraus ein kollektives Gefühl zu machen, denn nur im gesammelten und konzentrierten Zustand kann sich die spezifisch kollektive Natur dieser Gefühle manifestieren. Der Prozess des rituellen Sammelns ist ein Prozess symbolischer Reproduktion, bei dem emergente Wirklichkeit, die aus der Sammlung und der Konzentration individueller Empfindungen entsteht, auf jedes Individuum zurückwirkt.“ (Bergesen 2006: 49) Die emotionale und körperliche Dimension von Ritualen kann als universelles Charakteristikum ritueller Prozesse betrachtet werden, das in den unterschiedlichen Epochen die Motivation zur rituellen Teilhabe gleichermaßen leitet. Denn Rituale sind in dieser Hinsicht, das betont auch Grimes (2006), Ausdruck eines konstanten menschlichen Bedürfnisses nach Momenten emotionalen und körperlichen Gemeinschaftserlebens. Kennzeichnend für Rituale in pluralistischen Gesellschaften ist nun, dass sie ganz im Zeichen des Paradoxons von kultureller Differenzierung und Entdifferenzierung stehen: Einerseits ermöglichen sie einzelnen Teilkulturen die fortlaufende Selbst-Versicherung ihrer symbolischen Ordnung und kollektiven Identitäten; andererseits bieten sie einer Gesellschaft als Ganzes und ihren Bürgern kulturübergreifende Orientierung durch die symbolische Reproduktion und performative Aneignung kultureller Sinn- und Handlungsmuster. Insofern sind Rituale heute in westlichen Gesellschaften wesentlicher Bestandteil ‚kultureller Programme‘ sensu Siegfried J. Schmidt. Rituale verankern das kulturelle Leitprogramm einer Gesellschaft in der Erfahrungswelt des Einzelnen, indem sie Leitwerte, Verhaltensmodelle und Identitätsmuster in ritualisierten Skripts verdichten, die kollektiv erlebt und im rituellen Handlungsvollzug körperlich und affektiv angeeignet werden (Wulf 2005; Viehoff 2007). Die technischen Massenmedien sind heute prominenter Ort ritueller Kollektiverfahrung. Dies gilt sowohl für tradierte Rituale (etwa religiöse oder staatliche) als auch für die Ausbildung moderner Medienrituale. Denn zum einen bedienen sich Akteure des öffentlichen Lebens der Medien als Forum ritueller Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 13 Selbstvergewisserung: Politiker, Kirchenvertreter, soziale Bewegungen etwa orientieren ihre rituellen ‚Zeremonien‘ an der Dramaturgie von Medienereignissen und verbinden sie mit ihren tradierten außer-medialen Formen.2 Zum anderen haben die Medien längst eigenständige Rituale entwickelt, die in ihrer Wirkungsmacht das ‚kulturelle Programm‘ unserer Gesellschaft prägen. Am offensichtlichsten wird dies bei der medialen Inszenierung kollektiver Probleme, Emotionen und Krisen in Medienereignissen. Gerade die Rundfunkmedien haben durch ihren Live-Charakter und ihre Serialität rituelle Formen der Verarbeitung entwickelt, die dem Einzelnen als Mitglied einer großen Gemeinschaft Orientierung bieten – weit über die Grenzen sozialer und nationaler Zugehörigkeit hinaus. Die Medien sind heute also die wichtigsten ‚Zeremonienmeister‘ moderner Rituale, indem sie den rituellen Ablauf und die prozessuale „Magie des Ästhetischen“ (Viehoff 2007) ebenso bestimmen wie die damit verbundenen Sinn- und Deutungsangebote. Dennoch sind sie nicht die einzigen Akteure ritueller Sprachund Handlungsspiele (vgl. Bergesen 2006). Wie Lothar Mikos betont, vollzieht sich ein von den Medien inszeniertes Ritual am Ende erst in der mimetischen Aneignung der teilnehmenden Rezipienten (vgl. Mikos in diesem Band; Couldry 2003). Medienrituale beruhen damit auf dem komplexen Zusammenwirken von Medienproduzenten, Medienrezipienten und gesellschaftlichen Teilsystemen, welche die diskursive und institutionelle Macht besitzen, die in den Medienritualen repräsentierte symbolische Ordnung mit zu gestalten. Besonders mächtige außermediale Instanzen sind hier das politische System, das Wirtschaftssystem und die Kirche (vgl. Couldry 2003). Die Vielschichtigkeit ritueller Prozesse, die durch die Medien selbst oder andere Akteure in den Medien ausgelöst werden, kann im Anschluss an das Ritualmodell des Soziologen Albert Bergesen in systematisierender Weise unterschieden werden. Bergesen differenziert drei Dimensionen ritueller Prozesse: Mikro-, Meso- und Makroriten. Als Mikroriten bezeichnet er die Muster der Alltagssprache, die insofern rituell sind, als dass die ihnen zugrunde liegenden Kodes die performative Rede einer sozialen Gruppe strukturieren. Mit anderen Worten: In der performativen Rede verinnerlichen und etablieren die Mitglieder einer Gruppe die Kodes ihres 2 Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Beerdigung von Papst Johannes Paul II im Jahr 2005. Die mediale Überformung des tradierten kirchlichen Rituals der Papstbeerdigung hat Reinhold Viehoff (2007) ausführlich untersucht. 14 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach 3 sozialen Habitus und ihrer kollektiven Identität. – Die Mesoriten sind Interaktionsrituale und ‚Rollenperformances‘, die ebenfalls sozialen Regeln und Kodes unterliegen. Gemeint sind Umgangsformen, in denen sich die Mitglieder einer Gemeinschaft gegenseitig ihres sozialen Status und ihrer Beziehungen vergewissern, indem sie auf kulturell kodierte Handlungsskripts rekurrieren. Als Makroriten schließlich bezeichnet Bergesen Zeremonien und ‚unabhängige Ereignisse‘, in denen die symbolische Ordnung einer Gruppe als ‚begrenztes Ganzes‘ rituell repräsentiert wird. Kollektive Identität, moralische Werte und Weltanschauungen einer Gruppe oder Kultur werden hier in Abgrenzung zu anderen Gruppen oder Kulturen in hervorgehobenen Ereignissen inszeniert, deren Ort und Zeit spezifisch kodiert sind (z. B. das Weihnachtsfest) und die eigenen Ablaufregeln gehorchen. Die drei Dimensionen ritueller Prozesse, die, wie Bergesen sagt, in Form ‚ritueller Ketten‘ miteinander verbunden sein können, lassen sich auch in Medienritualen beobachten. Sie zeigen zudem, wie die Teilhabe an Medienritualen auf Seiten der Produzenten und Rezipienten miteinander verwoben ist und in welcher Hinsicht sich ihre Akteursperspektiven unterscheiden. Medienrituale können zum einen in mehrfacher Hinsicht die Funktion von Makroriten erfüllen: Am offensichtlichsten sind hier die bereits erwähnten Medienereignisse, in denen entweder medienexterne Ereignisse medial re-inszeniert werden (wie etwa die Papstbeerdigung oder die Fußballweltmeisterschaft) oder Ereignisse von den Medien selbst initiiert werden (wie der EurovisionSongcontest oder Deutschland sucht den Superstar). Diese Medienereignisse werden als hervorgehobene Momente im Medienalltag inszeniert, wobei viele von ihnen in regelmäßigen Abständen wiederkehren. Als solche wiederkehrenden Medienereignisse werden in diesem Band etwa Wahlsendungen (vgl. Stieler/Tennert), Inszenierungen zum Gedenken an wichtige historische Ereignisse (vgl. Dittmar/Vollberg) oder Persönlichkeiten (vgl. Günther) vorgestellt. In solchen hervorgehobenen Ereignissen setzen die Medien nicht nur die kulturellen Leitwerte der Akteure in Szene, sondern auch selbstreferentielle Werte, die sich auf die Rolle der Medien selbst als kulturelle Deutungsinstanz beziehen (vgl. Schanze in diesem Band). Damit verbunden ist auch das mediale Selbstbild als „soziales Zentrum“, als Ort kollektiver und kultureller Selbstvergewisserung, das Nick Couldry (2003) als wesentlichen selbstreferentiellen Leitwert von Medienritualen betrachtet. In Medienereignissen werden daneben, wie Reinhold Viehoff (2007) argumentiert, Übergangsriten inszeniert, die „transitorische Muster des Denkens, 3 Bergesen (2006) führt hier die von Basil Berstein untersuchten „restringierten“ und „elaborierten“ Sprachkodes an, welche den sozialen Habitus und die kollektive Identität bestimmter sozialer Milieus charakterisieren. Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 15 Handelns und Fühlens“ vermitteln, die Übergangsmomente auf Dauer stellen. So werden in den Medien fortlaufend Ereignisse kreiert, in denen Menschen oder Gruppen in psychische Grenzsituationen oder in Schwellenmomente der sozialer Aus- und Eingrenzung geraten (z. B. in Reality-TV-Sendungen wie Big Brother oder die Dschungelshow; vgl. auch Mikos in diesem Band). Auf der Rezeptionsseite liegt es beim Publikum, an diesen Ereignissen rituell Anteil zu nehmen. Der symbolische Akt der Teilnahme beginnt, wie Mikos darlegt, bereits mit dem Einschalten des Fernsehers. Damit tritt der Zuschauer über in eine andere Wirklichkeitssphäre: „Das Einschalten des Fernsehers nach getaner Arbeit stellt bereits ein Schwellenritual dar, bei dem der Mensch als soziales Wesen in eine andere Rolle schlüpft, die des Fernsehzuschauers. Das Einschalten gleicht einer symbolischen Handlung, die den Eintritt in einen anderen Wirklichkeitsbereich markiert, hier den von der sozialen in die medial vermittelte Kommunikation.“ (Mikos, in diesem Band: 43) Den Rezipienten bietet sich auf der makrorituellen Ebene dabei die Möglichkeit, sich als Individuen vor dem Bildschirm oder dem Radiogerät als Teil eines kollektiven Ganzen zu fühlen. Als weiteres Makroritual kann man die Programmgestaltung und -dramaturgie im Fernsehen betrachten. Joan Bleicher hat darauf hingewiesen, dass die Fernsehprogrammstrukturen rituelle Muster etablieren, welche die Interaktion zwischen dem Medium und seinem Publikum prägen: „Die zyklische Wiederkehr bestimmter Programmformen, bestimmter Sendungen, aber auch bestimmter Sendungselemente zu bestimmten Zeitpunkten ermöglicht Ritualbildung im Rahmen der Fernsehrezeption.“ (Bleicher 1998: 68) Ziel ist also die Einbindung des Fernsehens in den Alltag seiner Rezipienten durch wiedererkennbare Programmabläufe, besonders durch Serien, etwa Familienserien, oder Reihen mit festem Sendeplatz wie etwa Koch-Shows (vgl. Trültzsch/Pfau und Buck in diesem Band). Auch hierbei werden im Sinne Bergesens übergeordnete Leitwerte vermittelt, die sich auf das Medium als Ganzes beziehen, nämlich auf das Fernsehen als Ort der ununterbrochener Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen, als ‚soziales Zentrum‘ (Couldry 2003). Dies gilt in besonderer Weise für Nachrichtensendungen, die sich längst als Medienrituale etabliert haben, in denen das Fernsehen selektiv Bilder der Wirklichkeit konstruiert, die dem kollektiven Bedürfnis nach „Ordnung und einem sichtbaren Ausdruck unsichtbarer Werte“ (Goethals 2006: 310) entsprechen. Gregor T. Goethals vergleicht die ritualisierten Berichte der Nachrichtensendungen gar mit vormodernen Mythen, da sie in ihren kondensierten Wirklichkeitsdarstellungen ein „Gefühl der Totalität der Dinge“ vermitteln (Goethals 16 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach 2006: 315). Die Moderatoren nehmen dabei als durch die Sendung führende Kommentatoren die Rolle ritueller Zeremonienmeister ein, die eine hervorgehobene Autorität besitzen und deren Auf- und Abtritte in Bild und Ton symbolisch ebenfalls rituell begleitet werden. Wie Helmut Schanze (in diesem Band) zu bedenken gibt, besteht hierin eine erhebliche soziale Verantwortung, die nicht selten in einer Vermischung von Nachrichten und Unterhaltung zu Gunsten der ‚Selbstfeier‘ des Fernsehens aufgegeben wird. Auf der Mesoebene bieten die Medien daneben regelmäßig Angebote für performative Interaktionsrituale. Gerade im Zusammenhang mit den Neuen Medien sind Interaktionsprozesse ins Zentrum des Interesses gerückt. So bieten etwa das Internet-Fernsehen Ehrensenf (vgl. Wehn in diesem Band) oder Internetbasierte Radioplattformen (vgl. Hartling/Wilke in diesem Band) zusätzliche Interaktions-Möglichkeiten. Am Beispiel der sogenannten ‚Virtuellen Friedhöfe‘ wird aber auch deutlich, wie öffentliche und private, massenmediale und informelle Kommunikation verstärkt und in Form ‚virtueller Performanz‘ ineinander greifen (vgl. Schmidt in diesem Band). Wie stark die mediale Produktion, Reproduktion, Vermittlung und Rezeption an Interaktionsrituale gebunden sein können, zeigt das Beispiel Musik (vgl. Golo Föllmer in diesem Band). Auch traditionelle Medien wie Kino und Fernsehen bieten eine ganze Bandbreite an Interaktionsritualen, in denen die Zuschauer zu emotionaler, kognitiver und sozialer Interaktion mit Medienfiguren oder anderen Akteuren animiert werden sollen. Wenn wir beim Beispiel des Fernsehens bleiben, so mag der Hinweis auf das Phänomen der parasozialen Interaktion mit Medienfiguren genügen. Wie zahlreiche Studien belegen (vgl. Vorderer 1996; Gleich 1997), bauen Fernsehzuschauer zu regelmäßig auf dem Bildschirm auftauchenden Figuren und Akteuren, wie Moderatoren, Showmastern oder Serienhelden, parasoziale Beziehungen auf. Die Sendungen und ihre Protagonisten bieten ihrem Publikum wiederkehrende Interaktionsmuster an, die auf die Ausbildung stabiler parasozialer Beziehungen abzielen – und damit zugleich auf eine weitere rituelle Verankerung im Alltag. Hierbei werden kulturelle Verhaltensmodelle und Interaktionsregeln performativ angewendet und etabliert, die wiederum auf die Denk- und Handlungsmuster der Rezipienten zurückwirken. Knut Hickethier sieht daher bei den Medien die gesellschaftliche Funktion, die ‚Subjekte zu modellieren‘ und deren Wahrnehmung zu disziplinieren (vgl. Hickethier in diesem Band). Vor allem Emotionen können auf diesem Weg kanalisiert und dem kulturellen Common Sense gemäß rituell ‚erzogen‘ werden (vgl. auch Hickethier 2007). Diese „Ritualisierung von Emotionen“ betrachtet auch Reinhold Viehoff (2007) als ein wesentliches Merkmal von Medienritualen. Die Medien bieten demnach auf der Ebene von Interaktionsriten Modelle emotionalen Erlebens, an denen sich der Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 17 Einzelne orientieren kann und die die emotionalen Skripts von Individuen kulturell überformen. Wie intensiv die Darstellung identitätsstiftender Rituale in fiktionalen Angeboten sein kann, zeigt das Beispiel Bollywoodfilm (siehe Kammer in diesem Band), das auch erahnen lässt, wie heikel eine ‚Übersetzung‘ solcher ‚emotionaler Handlungsanweisungen‘ von einer Kultur in die andere ist. Auf der Mesoebene vermitteln Medienrituale also kulturelles Regelwissen für den Umgang mit anderen Menschen – sowohl im Hinblick auf soziale Regeln als auch auf emotionales Interagieren und Erleben. Denn die performativ angeeigneten (Medien-)Modelle erweitern, so Viehoff, den Spielraum des eigenen emotionalen Erlebens. „Denn nach diesem Vorschlag ist davon auszugehen, dass solche Emotionen und emotionalen Ausdrucksformen als medienspezifisch transformierte Emotionen – als emotionale scripts über die Inszenierung von Gefühlen im Alltag, also als Performanz der Gefühle – ‚emergieren‘. Sie wechseln sozusagen aus der Lebens- und Handlungspraxis ‚innerhalb‘ der dargestellten Welt des Fernsehprogramms in die Lebens- und Handlungspraxis ‚vor‘ dem Bildschirm.“ (Viehoff 2007: 124) Das gilt auch für negative Emotionen wie Traurigkeit, Betroffenheit und Melancholie (vgl. Mangold in diesem Band). Damit erfüllen die Interaktionsrituale der Medien gerade in Bezug auf emotionale ‚Bildung‘ oder ‚Disziplinierung‘ ihrer Rezipienten Funktionen, die traditionellerweise religiöse Rituale leisten, nämlich Antwort auf die beiden zentralen identitätsrelevanten Fragen anzubieten: ‚Wer 4 bin ich?‘ und ‚Was soll ich tun?‘ Medienrituale weisen neben der Makro- und Mesodimension auch eine Mikroebene auf, die in genre- und gattungsspezifischen Kodes zum Ausdruck kommen (vgl. dazu u. a. Barsch, Prümm, Scheffler und Schwab in diesem Band). Sprache, Bilder und Klänge stehen im Zeichen ritualisierter Regeln der medialen Darstellung (was u. a. an der Funktion des Theatervorhangs deutlich wird; vgl. Seibert in diesem Band). Sie verweisen auf übergeordnete Werte, die sich auf das Selbstverständnis eines Mediums und Medienangebotes beziehen. Das zeigt sich selbst bei einem so ‚natürlich‘ erscheinenden Phänomen wie Fotos von menschlichen Gesichtern; auch diese unterliegen einer sozialen Kodierung, die im Zusammenhang mit einer langen Bildtradition steht (vgl. Lampe in diesem Band). Im Fernsehen gilt dies in besonderem Maße für Bilder. Die Bilder der Nachrichtensendungen etwa behaupten Authentizität und aktuelle Teilhabe an außermedialem Geschehen und dies vor allem durch eine Ästhetik des Dokumentarischen, die bestimmten Regeln der Bildauswahl, der Kameraführung und 4 Auf diese beiden Funktionen der Religion weist Goethals hin, die er mit Wilson als „latente“ und „offensichtliche Funktion“ unterscheidet. Vgl. Goethals 2006: 318 18 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach des Schnitts gehorchen. Es sind mediale Kodes, die auch von den Zuschauern verstanden werden und deren ‚Authentizitäts-Botschaft‘ in der rituellen Performanz der Bildkommunikation seit jeher verankert ist. Neben solchen selbstreferentiellen Werten bieten die Mikroriten medialer Kodes aber auch Orientierungswerte für außermediales Wahrnehmen und Erleben. Auch hier sind Bilder besonders hervorzuheben. Die zuvor beschriebenen Interaktionsriten können erst durch eine entsprechende Berücksichtigung visueller Darstellungsregeln erfolgreich inszeniert und von den Rezipienten mimetisch mitvollzogen werden. Momente empathischer Teilnahme etwa werden, sowohl in fiktionalen als auch in non-fiktionalen Gattungen, typischerweise durch Nahaufnahmen von Gesichtern, von Gesten und Körpersprache in Szene gesetzt. Indem die Kommunikation von Gefühlen in den Interaktionsritualen der Medien vorwiegend auf der Ebene von Bildern wirkungsmächtig repräsentiert und interpretiert wird, wird Visualität auch kulturell zu einem immer wichtigeren Modus emotionaler Kommunikation. Auf diesen Zusammenhang hat Viehoff eindringlich hingewiesen: „Dabei gehe ich davon aus, dass die Verbindung von Ritual und Medium in der modernen Medienkultur dazu führt, dass die Bedeutung, der Sinn von Emotionen nicht mehr kognitivdiskursiv ‚übermittelt‘, sondern visuell-affektiv ‚verkörpert‘ wird.“ (Viehoff 2007: 128) Hiermit wird deutlich, dass die in medialen Kodes etablierten rituellen Strukturen in engem Wechselverhältnis zur Makroebene von Kultur stehen, die schließlich wieder die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt einzelner Menschen beeinflusst. Die Systematisierung im Anschluss an das dreigliedrige Ritualmodell von Bergesen bietet auch die Möglichkeit, bisherige Forschungen zu Medienritualen zu unterscheiden. Einige wurden bereits genannt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es bisher zwar nur vereinzelt Studien gibt, die sich explizit mit Medienritualen befassen (vgl. hierzu Thomas 1996: 141 ff.), aber freilich eine große Bandbreite an Forschungen, die sich mit medialen Darstellungskonventionen, Medienkodes, Programmstrukturen, Medienstereotypen oder Rezeptionsgewohnheiten beschäftigen. Viele Ergebnisse dieser Forschungen berühren unmittelbar rituelle Strukturen und Prozesse in den Medien, auch wenn sie diese nicht in direkten Zusammenhang mit dem Ritualbegriff stellen. So gilt auch für die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung, was Belliger/Krieger (2006) für die Ritualforschung konstatieren: Auch hier gibt es einerseits die Tendenz zu empiriebasierter Auseinandersetzung mit einzelnen Ritualphänomenen in den Medien und andererseits Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 19 5 die Tendenz zu allgemeiner Theoriebildung. Diese Theoriebildung ist allerdings im medienwissenschaftlichen Bereich bis jetzt noch nicht so fortgeschritten, wie es die vielfältigen Anknüpfungspunkte nötig machen. Deshalb warnt Edgar Lersch (in diesem Band) denn auch davor, den Ritualbegriff allzu umstandslos für die medienwissenschaftliche Forschung in Anspruch zu nehmen und plädiert für ein interdisziplinäres, speziell geschichts- und sozialwissenschaftliches Herangehen. Die intensivste theoretische und analytische Auseinandersetzung mit rituellen Strukturen und Prozessen in den Medien findet bisher im Bereich der Fernsehforschung statt (etwa Thomas 1998; Bleicher 1998; Hickethier 2000; Schanze 2003; Mikos 2005; Goethals 2006; Viehoff 2007). Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, wird das Fernsehen übergreifend als dasjenige Medium betrachtet, das den größten Einfluss auf unsere gegenwärtige Medienkultur hat und dementsprechend auch den zentralen Ort heutiger Medienrituale darstellt. Da also die medienwissenschaftliche Theoriebildung zu Medienritualen insgesamt noch am Anfang steht und auch in der gegenstandsbezogenen Forschung die Potentiale ritualtheoretischer Analyse bei weitem nicht ausgeschöpft sind, möchte der vorliegende Band bisher vorhandene Ansätze beider Tendenzen vorstellen und zusammenführen. Damit möchte er dazu beitragen, die Auseinandersetzung mit dem Ritualbegriff in den Medienwissenschaften weiter anzuregen und die Potenziale aufzuzeigen, die die Ritualforschung für die theoretische und analytische Auseinandersetzung mit Medien und Medienkultur bieten. 2. Überblick 1. Fernsehen als Ritual? Theoretische Überlegungen Wie zuvor betont, steht das Fernsehen bisher im Mittelpunkt der medienwissenschaftlichen Ritualforschung. Daher sind ihm in diesem Band gleich zwei Kapitel gewidmet. Das erste Kapitel präsentiert allgemeine theoretische und systematisierende Überlegungen zum Ritualbegriff in der Fernsehforschung, wobei die Beiträge konstruktiv und kritisch die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Ritualbegriffes auf dieses kulturelle Leitmedium reflektieren. 5 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die gesamte Medienforschung im Hinblick auf implizite Bezüge zu rituellen Strukturen und Prozessen in den Medien vorzustellen. Diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich explizit damit beschäftigt haben, wurden oben genannt und werden hier präsentiert. 20 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach Der Beitrag von Lothar Mikos beleuchtet den rituellen Charakter des Fernsehens in mehrfacher Hinsicht. Zunächst hebt er die alltagsstrukturierende Bedeutung des Mediums hervor, das kalendarische gesellschaftliche Ereignisse markiert und im Sinne eines ‚Übergangsrituals‘ zwischen Phasen der Arbeit und der Freizeit vermittelt. Das Fernsehen hat außerdem die Funktion, Normverletzungen als Skandale in Szene zu setzen und somit die betreffenden Normen in ritueller Form zu thematisieren, zu bestätigen und auszudifferenzieren. Ein weiterer Bereich von Fernsehritualen dient der Selbstreflexion des Mediums. Insbesondere in Comedy- und Talkshows werden andere Sendeinhalte bewertet und kommentiert. Nicht zuletzt spielt das Fernsehen eine wichtige Rolle bei der Darstellung außermedialer Rituale wie beispielsweise der Heirat, die durch mediale Inszenierung und die implizite Präsenz eines Millionenpublikums überhöht werden. Unter Bezugnahme auf Turner (1989) schlussfolgert Mikos: „Es ist eine der Aufgaben der Medien- und Kommunikationswissenschaft diese ‚unendliche Tiefe‘ der Fernsehrituale auszuloten und in ihrer Bedeutung sowohl für die individuelle Sinnorientierung der sozialen Akteure als auch für die Gesellschaft insgesamt darzustellen.“ Knut Hickethier beschäftigt sich mit der Bedeutung von Medienritualen für die Subjektkonstitution. Als zentraler Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung vermittelt das Fernsehen zwischen den Funktionsanforderungen der Gesellschaft und dem Bedürfnis von Individuen, sich kulturelles Wissen anzueignen, das sie für ihre Selbstbehauptung innerhalb der Gesellschaft benötigen. Aufgrund seiner Serialität, Permanenz und gesellschaftlichen Zentralität ist das Fernsehen dazu prädestiniert, diese gesellschaftliche Vermittlungsfunktion im Prozess der kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen ‚Modellierung‘ des Subjekts zu übernehmen. Hickethier hebt dabei die besondere Rolle des Unterhaltungsfernsehens hervor: „Die Modellierung der Menschen durch das Fernsehen erfolgt primär über den Modus der Unterhaltung. Sie erfolgt nicht in der Form der Unterweisung und Belehrung, sondern betreibt Emotionssteuerung zumeist in der Form der Narration und setzt auf Verständlichkeit und Kurzweiligkeit. Der Fernsehgebrauch erfolgt auf der Basis der Freiwilligkeit. Der modellierende und disziplinierende Charakter der Medien wird verdeckt, weil im Gebrauch der Medien der kulturelle Zwang verdeckt bleibt.“ Auch Helmut Schanze betont in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem rituellen Charakter des Fernsehens die dominante Rolle der Unterhaltung, die im Zuge der Digitalisierung verstärkt hervortritt: Es ist ein immenser Bedarf an unterhaltenden Medieninhalten entstanden, der durch industrielle Produktion von möglichst billigem, seriellem und wieder verwertbarem ‚Content‘ gedeckt wird. Nicht weniger problematisch erscheint die Funktion des Fernsehens als Informationsmedium, aufgrund seiner Tendenz, ‚Ereignisse‘ mit Nachrichten- Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 21 wert selbst zu schaffen und zu inszenieren, vor allem solche mit Gewalt- und Skandal-Charakter. Kritisch wird auch hier die ausufernde Selbstreferentialität des Fernsehens gesehen, insbesondere die Neigung zu Selbstfeier und Eigenwerbung bei der Vermischung von Unterhaltungs- und Informationsprogramm. Daher Schanzes Plädoyer für eine kritische Fernsehwissenschaft: „Will die Medienwissenschaft (als Fernsehwissenschaft) nicht allein eine bloß beschreibende und macherfreundliche, berufsvorbereitende Wissenschaft sein, sondern eine kritische, unterscheidende und gelegentlich auch wertende – was keineswegs Praxisferne bedeutet – so ist die Formulierung nicht nur der Tatsache, sondern auch der Einwände gegen Vermischungen des Höchsten und des Alltäglichsten, des Ritus und des Fernsehens, seine Hybridisierung im Sinne von ‚Neuen Medien‘ auf der ‚Digitalen Plattform‘ ihre genuine Aufgabe.“ Edgar Lersch problematisiert das Verhältnis von Medien und Ritualen aus historischer Perspektive. Er hinterfragt die „häufig pauschale Unterstellung, es handele sich bei Medienangeboten um ‚Rituale‘“. Die Periodizität von Medienangeboten und ihre Integration in Alltagsroutinen reichen nach Lersch nicht aus, um den Begriff des Rituals auf Presse-, Rundfunk- und Fernsehangebote bzw. deren Nutzung zu beziehen. Bei dieser Verwendung des Ritualbegriffs fehlt das aus kulturhistorischer Sicht entscheidende Moment: „(…) der sich in der konkreten Handlung und der Interaktion zwischen den Anwesenden verdichtende Symbolgehalt.“ Auch im Hinblick auf das in der aktuellen Ritualforschung geläufige Performanztheorem, das sich auf die Interaktion zwischen Anwesenden bezieht, ist fraglich ob sich der Ritualbegriff sinnvoll auf Medien übertragen lässt. Lersch plädiert daher für eine interdisziplinäre Aufarbeitung des Themas: „Das Thema ‚Ritual‘ und ‚Medien‘ liegt im Schnittpunkt geschichts- und sozialwissenschaftlicher Deutungskonzepte, die noch nicht ohne Weiteres miteinander in Deckung zu bringen sind. Stoff für weitere Debatten ist ausreichend vorhanden.“ 2. Ritualanalysen zum Fernsehen Das zweite Kapitel präsentiert Beiträge, die sich mit konkreten rituellen Phänomen des Fernsehens beschäftigen und insofern in einem weiteren Sinne der empirischen Medienritualforschung zugerechnet werden können. In ihrer Gesamtheit vermitteln die Beiträge einen differenzierten Einblick in die Vielfalt von Medienphänomenen, deren Erforschung von einer systematischen Einbindung in die Ritualtheorie profitieren kann. Im Mittelpunkt des Beitrags von Hans-Jörg Stiehler und Falk Tennert stehen die rituellen Merkmale des Wahlabends im Fernsehen. Neben der Information über die aktuellen Hochrechnungen und deren Interpretation durch prominente 22 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach Akteure aus Medien, Politik und Sozialwissenschaften ist dieses Medienereignis für die Zuschauer mit einer Reihe weiterer Gratifikationen verbunden, etwa mit Anlässen zu sozialem Vergleich, Erwartungsbildung, Identitätsbildung, parasozialer Interaktion und zur Unterhaltung. Seine zentrale Funktion, Erklärungen für das Wahlergebnis zu liefern, kann das Medienereignis Wahlabend aber höchstens ansatzweise einlösen. An die Stelle fundierter Erklärungen tritt vielmehr eine ritualisierte Kommunikation mittels Stereotypisierung von Sendeformaten, Erklärungsmustern und sprachlicher Kommunikation. „Rituale liefern auf der einen Seite Ersatzinformationen vorrangig dann, wenn umfassende Erklärungs- und Entscheidungsprozesse nicht möglich sind. Auf der anderen Seite führt der Zwang zu medialer Präsenz zur Verwendung ritualisierter Verhaltens- und Erklärungsmuster in der politischen Kommunikation. Ritualität lässt sich nicht nur an Handlungen beschreiben, sondern auch an weitgehend standardisierten Kommunikationsformen wie Interaktionsritualen und sprachlichen Stereotypen.“ Claudia Dittmar und Susanne Vollberg gehen auf ein zentrales Ritual des DDR-Fernsehens ein: die mediale Inszenierung der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ anlässlich ihrer jährlichen, 5-jährigen und 10-jährigen Jubiläen. Die Jahrestage der Revolution boten der Kulturpolitik der DDR einen willkommenen Anlass für die Propagierung des Leitbilds der innigen Verbundenheit mit der Sowjetunion. Je nach Bedeutung des Jubiläums prägte dieses Medienereignis das Fernsehprogramm bereits Wochen oder Monate im Voraus, in Form von Nachrichtenbeiträgen, Dokumentationen, Spielfilmen und Unterhaltungssendungen mit Bezug zur Sowjetunion und zur deutsch-sowjetischen Freundschaft. Trotz der starken Ritualisierung und Stereotypisierung des Freundschaftsnarrativs lassen sich implizite Veränderungen beobachten, die den Wandel innen- und außenpolitischer Verhältnisse widerspiegeln: von der kulturpolitischen Etablierung des medialen Jubelrituals in den 1950er Jahren, über die zunehmend routinierte Wiederholung in den 1960er und 1970er Jahren bis hin zu den politischen Lippenbekenntnissen der späten 1980er Jahren, als sich die DDR-Führung weigerte, auf die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion zu reagieren. „Das Freundschaftsnarrativ wurde dabei zur alltäglichen Phrase, die sich in jeder offiziellen Rede wiederfand, und irgendwo verkündete immer ein Plakat: ‚Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‘. Als sich diese Weisheit allerdings Ende der 1980er Jahre bewahrheitete, konnte es der SED-Parteiführung alles andere als recht sein – läutete doch gerade das veränderte Verhältnis zur Sowjetunion den Untergang der DDR mit ein.“ Auch Sascha Trültzsch und Sebastian Pfau untersuchen Medienrituale im DDR-Fernsehen, und zwar hinsichtlich der Thematisierung von Alltagsritualen in Familienserien. Auch hier wird die Rolle der Unterhaltungsmedien als Instanz der sozialen Vermittlung, Bestätigung und Reflexion von Ritualen hervorgeho- Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 23 ben. Vor allem in frühen Produktionen wird die Rolle von Familienserien bei der Propagierung sozialistischer Rituale deutlich, insbesondere im Zusammenhang mit der Ehe und Familiengründung. Trotz des Festhaltens der DDR an der Ehe als gesellschaftlicher Institution werden bürgerliche Rituale verworfen und eine Neuetablierung sozialistischer Familienrituale angestrebt. In einer zweiten Phase der Serienproduktion werden bestehende Normen und Rituale aufgegriffen und ‚bürgerlichen‘ Denk- und Verhaltensweisen gegenübergestellt, die es endgültig zu überwinden galt. Die späten Produktionen der 1980er Jahre spiegeln dagegen zunehmende Individualisierungsprozesse wider. Die Kritik an bürgerlichen Lebensformen wird fortgeschrieben, doch sie mündet kaum noch in verbindliche Gegenentwürfe, sondern eher ins Bejahen individueller Auflehnung. Ähnlich wie Dittmar/Vollberg arbeiten die Autoren gesellschaftliche Erosionsprozesse heraus, die das Wechselverhältnis von Medien und Ritualen im DDR-Fernsehen veränderten. Die Medialisierung eines der ältesten menschlichen Rituale steht im Zentrum des Beitrags Ritual und Drama der Fernsehköche von Matthias Buck. „Kochen dient nicht allein der Befriedigung somatischer Bedürfnisse, Kochen ist immer eine kulturelle Handlung und zwar auch dann noch, wenn es sich dabei lediglich um das Erwärmen eines Fertiggerichtes in der Mikrowelle handelt (...). Beim Kochen findet eine Verwandlung statt, etwas Tiefgefrorenes, etwas Rohes, etwas, das Teil der Natur war, wird in den Raum der Kultur überführt, wird essbar gemacht.“ Die exakte, mimetische Wiederholbarkeit des Rituals garantiert den Erfolg der intendierten Verwandlung, wobei es in der Moderne weniger um die gesundheitliche oder religiöse Unbedenklichkeit des Essens geht, sondern vor allem um das symbolische Kapital, das durch Kochen entsteht. „Wer das Rezept eines Sternekochs nachkocht, versucht damit immer auch das mit dem Profikoch und seinem Rezept verbundene symbolische Kapital und die mitunter als magisch empfundene Verwandlung durch die Zubereitung auf das selbst gekochte Gericht zu transferieren. (...) Der Überlieferung des Rezeptes, als der Partitur des Rituals, wird durch die audiovisuellen Medien, die Überlieferung der Aufführung des Rituals, also das Kochen selbst, an die Seite gestellt.“ In seinem Beitrag Revolte gegen den ritualisierten Fernsehkrimi untersucht Karl Prümm die Figur des Tatort-Kommissars Horst Schimanski und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Fernseh-Krimis. Die von Götz George verkörperte Figur steht für einen radikalen Bruch mit den ritualisierten Erzählkonventionen und Leitbildern, die den westdeutschen Fernsehkrimi bis dahin prägten. Die exaltierte Körperlichkeit und Emotionalität der Schimanski-Figur und deren fehlende Distanz zum aufzuklärenden Verbrechen kennzeichnen sie als unmittelbaren Gegenentwurf zum traditionellen patriarchalen und rationalistischen Ermittler-Ideal. Schimanskis exzessive Vitalität und Aggressivität können als ver- 24 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach zögerter Ausdruck der 68er Revolte und ihres veränderten Männlichkeitsideals gelesen werden. So radikal wie er auf den ersten Blick erscheint, ist der Bruch mit der rituellen Struktur des Fernsehkrimis dennoch nicht. Auch die Schimanski-Krimis halten sich weitgehend an das ‚Schlussritual‘ der totalen und rückhaltlosen Aufklärung. Die Grundbotschaft des Fernsehkrimis, die ihn zum Trost spendenden Medienritual werden lässt, wird hier (noch) nicht in Frage gestellt, sondern lediglich unter Bezug auf ein neues Männlichkeitsideal umgedeutet. „Der vielgeschmähte ‚Schmuddel-Kommissar‘ ist in Wirklichkeit eine ‚reine‘, eine ethisch hochambitionierte Figur, die für den Zuschauer Trost bedeutet, ein oft unterschätzter Effekt des Krimis. Solange so entschlossen und unverbrüchlich gehandelt wird, ist nichts verloren in dieser scheinbar so heillosen Welt.“ 3. Film und Ritual Neben dem Fernsehen ist der Unterhaltungsfilm der wohl wirkungsmächtigste Ort medialer Rituale. Die hier vorgestellten Beiträge machen deutlich, dass der Film gerade im Hinblick auf die Verkörperung und Inszenierung gesellschaftlicher Leitwerte und Verhaltensmodelle besonders relevant ist und damit für die makrorituelle Dimension kollektiver Selbstvergewisserung. Ulrike Schwab thematisiert das ‚Team‘ als dramaturgisch-ideelle Genrekonstante im Hollywood-Kriegsfilm. Anhand von Beispielanalysen zeigt Schwab, wie eine außer-mediale rituelle Praxis zu einem Genre prägenden Element der Filmdramaturgie wurde. Der Teamgedanke, der nach dem zweiten Weltkrieg zu einer zentralen Kategorie im Selbstverständnis des US-Militärs avancierte, kam den erzählerischen und dramaturgischen Konventionen des Hollywood-Kinos entgegen und wurde daher bereitwillig aufgegriffen und variantenreich interpretiert. Die Beispielanalysen verdeutlichen dieses Verhältnis von Konstanz und Flexibilität des Team-Konzepts. The Longest Day (Ken Annakin, 1962) steht für die Etablierung des Teams als feste Größe im Genre-Schema – für das Zusammenspiel von Charakteren mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, die auf ihre Weise zum Erfolg des Teams beitragen. Steiner – Cross of Iron (Sam Peckinpah, 1977) thematisiert das Team als Gegenmodell zur nationalsozialistischen Militärideologie. Hier geht es nicht um den militärischen Erfolg – das Team um Steiner bildet sich in einer Situation heraus, in der das militärische Scheitern bereits unausweichlich geworden ist –, sondern um das erfolgreiche Verteidigen der eigenen Menschlichkeit gegen den Wahnsinn des Krieges. Platoon (Oliver Stone, 1986) dient als Beispiel für die kritische Dekonstruktion des Team-Gedankens. Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 25 Auf die Bedeutung von Ritualen im Bollywood-Film geht Manfred Kammer ein. Als Analysebeispiel dient der Film Kabhi Khushi Kabhi Gham (In guten wie in schweren Tagen), dessen Ausstrahlung (November 2004, RTL II) in einer synchronisierten und gekürzten Fassung einen Meilenstein der deutschen Rezeptionsgeschichte des Bollywood-Films markiert. Der Film verknüpft eine Vielzahl von Ritualen, die in der indischen Kultur von zentraler Bedeutung sind, u. a. Ehe- und Beerdigungsrituale, das Lichterfest, das der Erneuerung familiärer Bande dient, sowie nationale Rituale wie das Singen der Nationalhymne. Die dargestellen Rituale sind nicht nur schmückendes Beiwerk, das ‚Song-andDance‘-Sequenzen motiviert, Rituale dienen vielmehr als zentrales dramaturgisches Element, das Wendepunkte der Filmhandlung herbeiführt. Vor dem Hintergrund dieser starken rituellen Prägung des Bollywood-Films stellt sich die Frage nach dem interkulturellen Verständnis. Kammer bezweifelt, dass westliche Publika die Bedeutung der rituellen und symbolischen Handlungen voll erschließen können. Das westliche Interesse am indischen Film kann eher mit Hilfe ‚anthropologischer Konstanten‘ erklärt werden. So stellen etwa Partnerwahl, Freundschaft und Familienzusammenhalt allgemein menschliche Themen und Problemlagen dar, die je nach Kultur auf unterschiedliche Weise rituell verarbeitet und strukturiert werden, aber dennoch für Zuschauer aus anderen Kulturkreisen als solche erkennbar bleiben. Roland Mangold stellt in seinem Beitrag Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu emotionalen Gratifikationen vor. Er beschäftigt sich insbesondere mit dem ritualisierten Ausleben negativer Emotionen während der Filmrezeption. Ergänzend zur sozialisierenden und normierenden Funktion von Medienritualen geht er dabei auf individuelle Gratifikationen ein, die den Zuschauer zur freiwilligen Teilnahme am Medienritual motivieren. Im Zusammenhang mit Filmgenres wie Horror, Thriller oder Drama, die beim Zuschauer primär negative Gefühle auslösen, scheint dies in starkem Maße erklärungsbedürftig. Die Daten der interview- und fragebogengestützten Erhebung lassen darauf schließen, dass auch negative Emotionen wie Angst und Trauer mit Gratifikationen verbunden sein können. Diese ergeben sich insbesondere aus der Spezifik der medialen Auslösersituation im Unterschied zum Alltag. Ein zentrales Gratifikationsmoment, das sich in den Ergebnissen der Studie herauskristallisierte, besteht in der Möglichkeit, negative Gefühle frei von den Gefahren und Handlungserfordernissen realer Auslösersituationen zu erleben, um aus diesen Erfahrungen zu lernen und eigene belastende Erfahrungen zu verarbeiten. Medienrituale kommen demnach einem individuellen Bedürfnis entgegen, bedrohliche Situationen zu verstehen und Souveränität im Umgang mit ihnen zu entwickeln. 26 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach 4. Medienübergreifende Rituale Die Beiträge des vierten Kapitels demonstrieren anschaulich, dass Medienrituale häufig nicht auf einzelne Angebotsformen und Gattungen beschränkt sind, sondern dass sich ihr Wirkungspotenzial erst im inter- und transmedialen Zusammenhang erweist. Da nämlich, wo rituelle Prozesse zwischen Produzenten und Rezipienten über verschiedene Phasen hinweg medienübergreifend verkörpert werden. Cordula Günther untersucht Gedenkrituale in den Medien am Beispiel der Sigmund-Freud-Ehrung 2006. Im Zentrum des Interesses steht dabei der ritualisierte Umgang mit Medienbildern und anderen Dokumenten, die den medial gespeicherten Gedächtnisvorrat einer Kultur bilden. Günther verweist in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung von „Medien ersten Grades (Dokumente) und Medien zweiten Grades (Monumente) (...). Als Monument wird hier die wiederholte Verwendung bzw. mediale Wiederverwertung von Dokumenten (Texten, Bildern, Tönen, audiovisuellen Dokumenten) verstanden, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Erinnerungsrahmen geschieht und sich durch einen sozial bestimmten und praktizierten Erinnerungswert auszeichnet.“ Ergänzend zu den gesellschaftlichen Praktiken der medialen Verwendung hebt sie den Aspekt der Geformtheit von Monumenten hervor. Durch den Prozess der rituellen Wiederholung nimmt mediales Erinnern eine formale Struktur und Gestalt an, die über das Einzeldokument hinausweist. Drei Beispielanalysen verdeutlichen diesen Prozess der Formierung von medialen Monumenten bzw. Erinnerungsfiguren im Spannungsfeld von Zyklizität und Innovationszwang des medialen Erinnerns. Der Beitrag von Peter Seibert beschäftigt sich mit Medienzitaten des Vorhangrituals – eines Rituals, das für die theatrale Kommunikation in mehrfacher Hinsicht grundlegend ist. Der Vorhang „konstituiert nicht nur Theaterräume, er bestimmt die Semantik räumlicher Zeichen ebenso wie die von Zeichen für Zeitabläufe. (...) Durch das Ritual des Vorhangöffnens wird für ein Kollektiv ein spezifisches Rezeptionsdispositiv hergestellt, das Fallen des Vorhangs am Ende der Aufführung scheidet für das Kollektiv wieder zwischen Kunst und Alltagswelt und lässt z. B. die Schauspieler als solche aus ihrer Rolle heraustreten, um den Applaus entgegenzunehmen.“ Seibert diskutiert eine Reihe von Medienzitaten, die zeigen, wie dieses Ritual von anderen Medien übernommen wurde, etwa im Puppentheater, im Kino und Film, im Fernsehen sowie im Internet. Die meisten dieser Zitate sind als Teil von ‚Bekunstungsstrategien‘ zu verstehen: Das Prestige des bürgerlichen Theaters soll auf neue Medien übertragen werden, die einen vergleichbaren Kunststatus für sich reklamieren. Darüber hinaus thematisiert Seibert ironische Vorhangzitate, die die symbolische Botschaft dieses Ri- Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 27 tuals reflektieren und seine soziale Funktion in Frage stellen – wie etwa bei Brecht, den wiederum der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am Ende seiner Fernsehsendung zu zitieren pflegte: „(…) wir steh’n betroffen. Der Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Dem Faktor Zeit und seiner Funktion als Teil erzählerischer EinstiegsRituale geht Ingrid Scheffler in ihrem Beitrag nach. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind Ähnlichkeiten in der raum- und zeitüberschreitenden Funktion von Ritualen und Erzählungen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an Eröffnungs- und Einstiegssequenzen, die den Rezipienten auf die veränderte Zeitstruktur medialer Erzählungen einstimmen. Medienübergreifend sind hierbei drei Merkmale von Bedeutung. 1.) Wiederholung: Medienrezipienten werden durch die Wiederkehr von Vertrautem an die Erzählinhalte herangeführt. 2.) Spiel: Durch spielerische Veränderungen wird eine Flexibilität der Zeitwahrnehmung vermittelt, die sich von der Alltagszeit abhebt, und das Erzählte als Fiktion, als räumlich und zeitlich entferntes Geschehen etc. markiert. 3.) Kausalität: Das Erzählte wird kausal strukturiert und auf Ursache-WirkungsZusammenhänge zugespitzt. Dies gilt sowohl in formaler als auch in semantischer Hinsicht. Am Beispiel verschiedener Medien macht Scheffler deutlich, dass fiktionales und nicht-fiktionales Erzählen ähnlichen Regeln folgen. „Die Erzähleinstiege dienen der Orientierung des Rezipienten innerhalb der Zeitschiene des zu erzählenden Geschehens, machen Vorgaben für das Verständnis des Erzählzusammenhanges, wecken Interesse und erzeugen Spannung, oft durch emotionalisierende Mittel, etwa Visualisierung und Einsatz von O-Tönen oder Wiederholung, und vermitteln mit ihren Rezeptionsvorgaben ein auf das Kollektiv abzielendes Gemeinschaftsgefühl. Mit ihrer temporalen und rituellen Funktionalität weisen Medieneinstiege essentiell eine große Nähe zum klassischen Ritual auf.“ Die soziale Konstruktion des Gesichts, so Gerd Lampe in seinem Beitrag, ist ein ritueller Prozess, dessen Wurzeln sich bis in die ikonischen Traditionen der Christusdarstellung zurückverfolgen lassen. Bezugnehmend auf Deleuze/Guattari hinterfragt Lampe den Glauben an die Lesbarkeit des Gesichts als natürliches Zeichen. Dieser Glaube an das ‚vera icon‘ war dem christlichen Ritual der Ikonenmalerei von Anfang an als konstitutives Element eingeschrieben – in Form von Schweißtuchlegenden, die Christusdarstellungen trotz des bestehenden Bilderverbots rechtfertigten. Vor dem Hintergrund der ideologischen Verwurzelung im Christentum und dessen Machtstrategien erschließt sich die Funktionsweise und Semiotik scheinbar natürlicher und rein mechanischer Abbildungen des Gesichts in der Porträt- und Passbildfotografie sowie in Film- und Fernsehbildern: „Das Gesicht ist Produkt und Ausdruck sozialer kultureller Kontexte, keine nur natürliche, rein physiognomische Angelegenheit. Es hat sich eine Se- 28 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach miotik des Gesichts herausgebildet, das Gesicht fungiert als Projektionsfläche zwischen Individuum und Gesellschaft, es ist aber mehr als Maske und persona: Es ist auch ein von der Gesellschaft lizensierter ‚Bildschirm‘.“ Achim Barsch analysiert, wie sich die Werbung strukturelle Merkmale von Medienritualen zueigen macht und diese im Sinne ihrer spezifischen Kommunikationsziele funktionalisiert. Rituale verfügen über eine Reihe von Eigenschaften, die sie als besonders dichte, effektive und sozial verbindliche Form der Kommunikation ausweisen und somit für Werbezwecke prädestinieren. Zu diesen Kommunikationseigenschaften von Ritualen gehören insbesondere die Wiederholung, Explizitheit und Reflexivität, die soziale Funktionalität, der kollektive Charakter sowie die Ästhetik und symbolische Expressivität. Dieses kommunikative Potential von Medienritualen, das in besonderem Maße geeignet ist, die Aufmerksamkeit und emotionale Beteiligung der Zuschauer zu garantieren, wird von den Werbetreibenden zunehmend erkannt. Am Beispiel der Fernsehwerbung und der Printwerbung untersucht Barsch, wie gelungene Werbekampagnen eigene Medienrituale generieren. Das Verhältnis von Musik, Ritual und Medien thematisiert Golo Föllmer. Ausgehend von den Ursprüngen der Musik als ritueller Praxis verfolgt er eine historische Entwicklung, die Musik im Zuge der Säkularisierung und technischen Reproduzierbarkeit von ihrem ursprünglichen Charakter als partizipatorisches Ritual entfremdet. Institutionelle Dispositive wie der Konzertsaal und moderne Reproduktionsmedien heben einerseits wesentliche Aspekte des Rituellen wie den transzendentalen und partizipatorischen Charakter auf. Andererseits bieten sie jedoch Kompensationsmechanismen in Form von Medienritualen an. Als ‚Medienrituale‘ sind dabei „nicht sekundäre Phänomene wie die mediale Übertragung primärer Rituale zu verstehen, sondern Rituale, die von Medien in dem Sinne geprägt sind, dass sie den Glauben bestärken, dass die Gesellschaft ein soziales Zentrum besitzt und dass die Medien den wichtigsten Zugang dazu bilden (...). Dies geschieht, indem Handlungen grundlegende ‚Medienkategorien‘ wie Realität, ‚liveness‘, Medienperson, Medienort etc. zugeordnet werden.“ 5. Rituale in den Neuen Medien Das letzte Kapitel bietet einen Ausblick auf rituelle Phänomene, die sich gegenwärtig in den digitalen Medien neu etablieren. Interessant ist dabei zu sehen, wie diese die Rituale der klassischen Massenmedien aufgreifen, sie erweitern, aber auch eigenständige Medienrituale ausbilden. Letzteres gilt besonders für die Möglichkeit Neuer Medien, performative Interaktionsriten zu etablieren, die körperliche Ko-Präsenz virtuell simulieren. Damit können sie das ‚Defizit‘ der Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 29 klassischen, einkanaligen Massenmedien ausgleichen, die performativ-rituelle Interaktion nurmehr ‚para-sozial‘ initiieren können. Florian Hartling und Thomas Wilke beschäftigen sich mit den Auswirkungen des Internets auf klassische Produktions-, Rezeptions- und Autorschaftsrituale des Radios. Die Autoren analysieren zwei Internet-Phänomene, die erklärtermaßen darauf abzielen, die konventionelle Struktur der ‚one-to-many‘Kommunikation zu überwinden. Radioplattformen wie Pandora werben mit dem Slogan „Be your own DJ“ und versprechen damit dem Nutzer aktive Teilhabe an einem Ritual, das sie als Radiohörer nur in der passiven Rolle des Publikums erleben können. Auch die ‚radio-orientierte Netzliteratur‘ zielt darauf ab, Autorschaftsrituale zu hinterfragen und ästhetisch zu verarbeiten. Die Beispielanalysen von Hartling und Wilke machen jedoch deutlich, wie schwer solche für das Radio und andere Massenmedien konstitutiven Rituale zu modifizieren sind. „Traditionelle Rituale des Radiohörens und der Radioproduktion werden bei der radio-orientierten Netzliteratur ebenso wie bei den Radioplattformen kaum verändert, weil sie durch das Netzdispositiv faktisch nicht berührt werden. Damit aber stehen diese Netzphänomene auch nicht für eine Verschmelzung (oder Konvergenz) der Dispositive, sondern für einen Fortbestand dispositiver Strukturen des Radios auch im Internet. Grundsätzliche Veränderungen des Radiodispositivs sind momentan wohl an anderer Stelle zu suchen.“ Der Beitrag von Siegfried J. Schmidt stellt „virtuelle Friedhöfe“ vor, die sich seit Anfang der 1990er Jahre im Internet zu einem Massenphänomen entwickelt haben. Diese Entwicklung gibt Anlass zu Fragen, wie: „Ist etwa die Furcht verschwunden, die Menschen seit Menschengedenken vor dem Tod hatten und bis heute haben, die Furcht vor dem Sensenmann, vor Ende, Grab und Verwesung? (...) Oder hat sich nur die Kommunikationssituation dahingehend verändert, dass der Tod heute nicht mehr be- und verschwiegen, sondern in aller Öffentlichkeit diskutiert wird, eben weil er die Menschen immer noch umtreibt und ängstigt?“ Schmidt kommt zu dem Ergebnis, dass die religösen Rituale, die traditionell das Reden und Schweigen über den Tod und das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Umgang mit diesem schmerzlichen Thema geregelt haben, für große Teile der modernen Gesellschaft obsolet geworden sind. Virtuelle Friedhöfe können somit als Reaktion auf einen Nachholbedarf an kultureller Modernisierung verstanden werden, da sie „den Bedürfnissen einer komplexen, mobilen, pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft in vielerlei Weise entgegenkommen“. Karin Wehn stellt ein gelungenes Internetformat vor, das virtuos mit den Ritualen des Fernsehens spielt und diese gleichzeitig für partizipatorische Kommunikationsformen des Internets öffnet. Das Hybridformat, das Merkmale von TVNachrichten und Comedy-Shows mit denen von Weblogs und Podcasts verbin- 30 Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach det, verweist bereits im Namen auf den ironischen Bezug zum Referenzmedium: Ehrensenf ist ein Anagramm des Wortes ‚Fernsehen‘. Obwohl es sich an der geschlossenen Form der TV-Commedy orientiert, ist Ehrensenf in mehrfacher Hinsicht ein offener Text. Nicht nur die Rituale des Fernsehens, sondern auch selbst gesetzte Standards werden ironisch gebrochen und variiert. Der Bildraum des Studios wird geöffnet, durch den Austausch von Kommentaren mit dem Produktionsteam im Off. Die Sendung verweist vielfach auf Links im Internet, die nur kurz angedeutet werden und die der Zuschauer selbst aufsuchen muss, um den Informations- und Unterhaltungswert der Sendung voll auszuschöpfen. Des Weiteren handelt es sich um ein Community-orientiertes Format, das aktive Partizipationsmöglichkeiten bietet, u. a. durch Einsenden selbst recherchierter Links, die dann in der Sendung aufgegriffen werden. Damit fügt sich Ehrensenf „(…) nahtlos ein in den aktuellen Boom von kurzen, meist unterhaltenden Formen (SMS, YouTube-Videos und Podcasts), die mit der zunehmenden Omnipräsenz von Medien immer wichtiger werden. In Zeiten, in denen klassische Fernsehsender immer mehr Zuschauer an Neue Medien verlieren, zeigt es Wege auf, wie zukünftige Unterhaltungsformate aussehen könnten.“ Literatur Bartsch, Anne/Eder, Jens/Fahlenbrach/Kathrin (Hrsg.) (2007): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln: Herbert-vonHalem-Verlag Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.) (2006): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag Bergesen, Albert (2006): Die rituelle Ordnung. In: Belliger/Krieger (2006): 49-75 Bleicher, Joan (1998). Ritualisierung und Inszenierungsstrategien des Fernsehprogramms. In: Göttlich/Nieland/Schatz (Hrsg.) (1998): 54-73 Brunotte, Ulrike (2003): Ritual und Erlebnis. Theorien der Initiation und ihre Aktualität in der Moderne. In: Wulf/Zirfas (2003): 29-54 Couldry, Nick (2003): Media Rituals. A Critical Approach. London: Routledge Gerhards, Claudia/Borg, Stephan/Lambert, Bettina (Hrsg.) (2005): TV-Skandale. Konstanz: UVK Gleich, Uli (1997). Parasoziale Interaktionen und Beziehungen von Fernsehzuschauern mit Personen auf dem Bildschirm: ein theoretischer und empirischer Beitrag zum Konzept des aktiven Rezipienten. Landau: Verlag Empirische Pädagogik Goethals, Gregor T. (2006): Ritual und die Repräsentation von Macht in Kunst und Massenkultur. In: Belliger/Krieger (2006): 299-320 Göttlich, Udo/Nieland, Jörg-Uwe/Schatz, Heribert (Hrsg.) (1998). Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien. Köln: Herbert-vonHalem-Verlag Grimes, Ronald (2006): Typen ritueller Erfahrung. In: Belliger/Krieger (2006): 117-133 Hickethier, Knut (2007): Die kulturelle Bedeutung medialer Emotionserzeugung. In: Bartsch/Eder/Fahlenbrach (Hrsg.) (2007): 104-123 Hickethier, Knut (2000). Transformation. Sinnstiftung, Weltvermittlung und Ritualisierung des Alltags durch das Fernsehen. In: Thomas, Günter (Hrsg.) (2000): 29-44 Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale 31 Mikos, Lothar (2005): Aufmerksamkeitsrituale. Struktur und Funktion der Skandalisierung medialer Gewaltdarstellungen. In: Gerhards/Borg/Lambert (Hrsg.) (2005): 263-277 Platvoet, Jan (2006): Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften. 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