Kathrin Fahlenbrach · Ingrid Brück · Anne Bartsch (Hrsg

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Kathrin Fahlenbrach · Ingrid Brück · Anne Bartsch (Hrsg.)
Medienrituale
Kathrin Fahlenbrach
Ingrid Brück
Anne Bartsch (Hrsg.)
Medienrituale
Rituelle Performanz
in Film, Fernsehen
und Neuen Medien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage 2008
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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15668-2
Inhalt
5
Reinhold Viehoff
zum 60. Geburtstag
Inhalt
7
Inhalt
Einleitung
Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
Rituale in den Medien – Medienrituale ................................................. 011
I.
Fernsehen als Ritual? Theoretische Überlegungen
Lothar Mikos
Ritual, Skandal und Selbstreferentialität. Fernsehen und
Alltagszyklen......................................................................................... 035
Knut Hickethier
Fernsehen, Rituale und Subjektkonstitution. Ein Kapitel
Fernsehtheorie ....................................................................................... 047
Helmut Schanze
Noch einmal: Fernsehen als Ritual? Eine kritische
Programmvorschau................................................................................ 059
Edgar Lersch
Historische Ritualforschung in ihrem Verhältnis zu
Medienritualen – eine kulturhistorische (Selbst-)Vergewisserung ........ 071
II.
Ritualanalysen zum Fernsehen
Hans-Jörg Stiehler, Falk Tennert
Alle Jahre wieder. Fernsehrituale am Wahlabend ................................. 085
Claudia Dittmar, Susanne Vollberg
Die Inszenierung der Revolution – Zur Ritualisierung und
Medialisierung der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘
im Fernsehen der DDR .......................................................................... 099
Sebastian Pfau, Sascha Trültzsch
„Eine sozialistische Hochzeit braucht aber…“ –
Alltag und Rituale in Familienserien des DDR-Fernsehens. ................. 113
8
Inhalt
Matthias Buck
Ritual und Drama der Fernsehköche ..................................................... 125
Karl Prümm
Revolte gegen den ritualisierten Fernsehkrimi. Götz George
und Horst Schimanski – Porträt einer Rolle und eines
Schauspielers ......................................................................................... 137
III. Film und Ritual
Ulrike Schwab
Das Team: eine dramaturgisch-ideelle Genrekonstante im
Hollywood-Kriegsfilm .......................................................................... 147
Manfred Kammer
Rituale im Bollywoodfilm ..................................................................... 159
Roland Mangold
Die positive Seite der Traurigkeit: Lernen durch negative
Mediengefühle? ..................................................................................... 173
IV. Medienübergreifende Rituale
Cordula Günther
Jahrestage – Gedenkrituale in den Medien am Beispiel der
Sigmund Freud-Ehrung 2006 ................................................................ 187
Peter Seibert
„Vorhang auf!“ – Medienzitate eines Rituals ........................................ 201
Ingrid Scheffler
Der Faktor Zeit als Teil eines narrativen Rituals: Erzähleinstiege
in verschiedenen Medien ....................................................................... 213
Gerhard Lampe
Das Gesicht als Bildschirm. Sozial- und mediengeschichtliche
Dimensionen der individuellen Präsentation ......................................... 231
Inhalt
9
Achim Barsch
Medienrituale und Werbung .................................................................. 243
Golo Föllmer
Zum Verhältnis von Musik, Ritual und Medien .................................... 257
V.
Rituale in den Neuen Medien
Florian Hartling/Thomas Wilke
Der produzierende Hörer – der hörende Produzent.
Veränderungen von Radioritualen im und durch das Internet? ............. 269
Siegfried J. Schmidt
Virtuelle Friedhöfe: Erst im Internet bist du wirklich lebendig ............. 281
Karin Wehn
Ehrensenf – die tägliche Portion an Kuriositäten aus dem
Internet .................................................................................................. 293
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
11
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
1. Vorbemerkungen
In westlichen Mediengesellschaften lässt sich eine paradoxe Gleichzeitigkeit von
kultureller Differenzierung und Entdifferenzierung beobachten. Auf der einen
Seite findet eine fortlaufende, durch die Massenmedien vorangetriebene Differenzierung sozialer Milieus und Kulturen statt. Die zunehmende Medienspezialisierung ermöglicht die Bildung von Teilöffentlichkeiten, deren Kodes und Werte
nur von einer begrenzten sozialen Gemeinschaft geteilt werden.
Trotz dieser Pluralisierung von Lebensstilen und Teilkulturen beobachten
die Sozial- und Geisteswissenschaften andererseits schon lange eine Tendenz
kultureller Entdifferenzierung: Denn die Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturen, Milieus und Szenen produziert kulturelle Legitimations- und Deutungskonflikte sowie das Bedürfnis nach kulturübergreifenden Leitwerten. Medien sind der
Ort, an dem solche Konflikte am wirkungsmächtigsten ausgetragen und entschieden werden. Indem sie selektiv auswählen, welche Ereignisse und welche
Akteure auf welche Art und Weise kollektiv wahrgenommen werden, produzieren sie Weltentwürfe und Deutungsmodelle, die kulturübergreifend rezipiert und
angeeignet werden – und damit der Differenzierung kultureller Kodes und Werte
entgegenwirken.
Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, nach dem Stellenwert, den
Erscheinungsweisen und Funktionen moderner Rituale in westlichen Mediengesellschaften zu fragen. Rituale entstanden ursprünglich in archaischen, monokulturellen Gesellschaften, in denen die Macht einzelner Sinndeutungsinstanzen wie
Kirche und König regelmäßig in gemeinschaftlich ausgeführten Zeremonien
bestätigt und verkörpert wurde. Die Ritualforschung – seit den 1970er Jahren als
1
weit gefächerter inter- und transdisziplinärer Bereich ausgebildet – hat schon
lange erkannt, dass moderne, spätkapitalistische und pluralistische Gesellschaften ebenfalls Rituale ausbilden, die wichtige Funktionen der Vergemeinschaftung
erfüllen (vgl. Brunotte 2003; Platvoet 2006). Hier werden Rituale als performative Handlungsmuster beschrieben, in denen die symbolische Ordnung (Leitwerte,
1
Einen ausführlichen Forschungsüberblick und Texte zu zentralen Ansätzen der Ritualforschung
aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Wulf/Zirfas (2003) sowie das Handbuch von Belliger/Krieger (2006).
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
kollektive Identitäten oder emotionale Orientierungen) einer sozialen Gruppe
reproduziert und von den Teilnehmern in gemeinschaftlichen Handlungen repräsentiert und verkörpert wird (Turner 2006; Grimes 2006 u. a.). Victor W. Turner
(1989) hebt dabei besonders auf die komplexen Prozesse ab, die mit einem Ritual verbunden sind. Dies tritt besonders in „Übergangsriten“ (van Gennep) zum
Vorschein, in denen ein soziales System den Übergang von einer Situation in
eine andere rituell ‚bearbeitet‘. Albert Bergesen (2006) betont zudem, dass das
emotionale Erleben, das in diesen Übergangsriten konzentriert auftritt, die individuelle Aneignung kollektiver Identitätsmuster verstärkt. Für ihn sind kollektive
Emotionen daher ein zentrales Merkmal „ritueller Momente“:
„Der Kern des rituellen Prozesses besteht darin, die individuellen Teilgefühle zu sammeln und
daraus ein kollektives Gefühl zu machen, denn nur im gesammelten und konzentrierten Zustand kann sich die spezifisch kollektive Natur dieser Gefühle manifestieren. Der Prozess des
rituellen Sammelns ist ein Prozess symbolischer Reproduktion, bei dem emergente Wirklichkeit, die aus der Sammlung und der Konzentration individueller Empfindungen entsteht, auf
jedes Individuum zurückwirkt.“ (Bergesen 2006: 49)
Die emotionale und körperliche Dimension von Ritualen kann als universelles
Charakteristikum ritueller Prozesse betrachtet werden, das in den unterschiedlichen Epochen die Motivation zur rituellen Teilhabe gleichermaßen leitet. Denn
Rituale sind in dieser Hinsicht, das betont auch Grimes (2006), Ausdruck eines
konstanten menschlichen Bedürfnisses nach Momenten emotionalen und körperlichen Gemeinschaftserlebens.
Kennzeichnend für Rituale in pluralistischen Gesellschaften ist nun, dass sie
ganz im Zeichen des Paradoxons von kultureller Differenzierung und Entdifferenzierung stehen: Einerseits ermöglichen sie einzelnen Teilkulturen die fortlaufende Selbst-Versicherung ihrer symbolischen Ordnung und kollektiven Identitäten; andererseits bieten sie einer Gesellschaft als Ganzes und ihren Bürgern kulturübergreifende Orientierung durch die symbolische Reproduktion und performative Aneignung kultureller Sinn- und Handlungsmuster. Insofern sind Rituale
heute in westlichen Gesellschaften wesentlicher Bestandteil ‚kultureller Programme‘ sensu Siegfried J. Schmidt. Rituale verankern das kulturelle Leitprogramm einer Gesellschaft in der Erfahrungswelt des Einzelnen, indem sie Leitwerte, Verhaltensmodelle und Identitätsmuster in ritualisierten Skripts verdichten, die kollektiv erlebt und im rituellen Handlungsvollzug körperlich und affektiv angeeignet werden (Wulf 2005; Viehoff 2007).
Die technischen Massenmedien sind heute prominenter Ort ritueller Kollektiverfahrung. Dies gilt sowohl für tradierte Rituale (etwa religiöse oder staatliche) als auch für die Ausbildung moderner Medienrituale. Denn zum einen bedienen sich Akteure des öffentlichen Lebens der Medien als Forum ritueller
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
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Selbstvergewisserung: Politiker, Kirchenvertreter, soziale Bewegungen etwa
orientieren ihre rituellen ‚Zeremonien‘ an der Dramaturgie von Medienereignissen und verbinden sie mit ihren tradierten außer-medialen Formen.2 Zum anderen haben die Medien längst eigenständige Rituale entwickelt, die in ihrer Wirkungsmacht das ‚kulturelle Programm‘ unserer Gesellschaft prägen. Am offensichtlichsten wird dies bei der medialen Inszenierung kollektiver Probleme,
Emotionen und Krisen in Medienereignissen. Gerade die Rundfunkmedien haben
durch ihren Live-Charakter und ihre Serialität rituelle Formen der Verarbeitung
entwickelt, die dem Einzelnen als Mitglied einer großen Gemeinschaft Orientierung bieten – weit über die Grenzen sozialer und nationaler Zugehörigkeit hinaus.
Die Medien sind heute also die wichtigsten ‚Zeremonienmeister‘ moderner
Rituale, indem sie den rituellen Ablauf und die prozessuale „Magie des Ästhetischen“ (Viehoff 2007) ebenso bestimmen wie die damit verbundenen Sinn- und
Deutungsangebote. Dennoch sind sie nicht die einzigen Akteure ritueller Sprachund Handlungsspiele (vgl. Bergesen 2006). Wie Lothar Mikos betont, vollzieht
sich ein von den Medien inszeniertes Ritual am Ende erst in der mimetischen
Aneignung der teilnehmenden Rezipienten (vgl. Mikos in diesem Band; Couldry
2003).
Medienrituale beruhen damit auf dem komplexen Zusammenwirken von
Medienproduzenten, Medienrezipienten und gesellschaftlichen Teilsystemen,
welche die diskursive und institutionelle Macht besitzen, die in den Medienritualen repräsentierte symbolische Ordnung mit zu gestalten. Besonders mächtige
außermediale Instanzen sind hier das politische System, das Wirtschaftssystem
und die Kirche (vgl. Couldry 2003).
Die Vielschichtigkeit ritueller Prozesse, die durch die Medien selbst oder
andere Akteure in den Medien ausgelöst werden, kann im Anschluss an das Ritualmodell des Soziologen Albert Bergesen in systematisierender Weise unterschieden werden. Bergesen differenziert drei Dimensionen ritueller Prozesse:
Mikro-, Meso- und Makroriten.
Als Mikroriten bezeichnet er die Muster der Alltagssprache, die insofern rituell sind, als dass die ihnen zugrunde liegenden Kodes die performative Rede
einer sozialen Gruppe strukturieren. Mit anderen Worten: In der performativen
Rede verinnerlichen und etablieren die Mitglieder einer Gruppe die Kodes ihres
2
Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Beerdigung von Papst Johannes Paul II im Jahr 2005.
Die mediale Überformung des tradierten kirchlichen Rituals der Papstbeerdigung hat Reinhold
Viehoff (2007) ausführlich untersucht.
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
3
sozialen Habitus und ihrer kollektiven Identität. – Die Mesoriten sind Interaktionsrituale und ‚Rollenperformances‘, die ebenfalls sozialen Regeln und Kodes
unterliegen. Gemeint sind Umgangsformen, in denen sich die Mitglieder einer
Gemeinschaft gegenseitig ihres sozialen Status und ihrer Beziehungen vergewissern, indem sie auf kulturell kodierte Handlungsskripts rekurrieren. Als Makroriten schließlich bezeichnet Bergesen Zeremonien und ‚unabhängige Ereignisse‘,
in denen die symbolische Ordnung einer Gruppe als ‚begrenztes Ganzes‘ rituell
repräsentiert wird. Kollektive Identität, moralische Werte und Weltanschauungen
einer Gruppe oder Kultur werden hier in Abgrenzung zu anderen Gruppen oder
Kulturen in hervorgehobenen Ereignissen inszeniert, deren Ort und Zeit spezifisch kodiert sind (z. B. das Weihnachtsfest) und die eigenen Ablaufregeln gehorchen.
Die drei Dimensionen ritueller Prozesse, die, wie Bergesen sagt, in Form
‚ritueller Ketten‘ miteinander verbunden sein können, lassen sich auch in Medienritualen beobachten. Sie zeigen zudem, wie die Teilhabe an Medienritualen
auf Seiten der Produzenten und Rezipienten miteinander verwoben ist und in
welcher Hinsicht sich ihre Akteursperspektiven unterscheiden.
Medienrituale können zum einen in mehrfacher Hinsicht die Funktion von
Makroriten erfüllen: Am offensichtlichsten sind hier die bereits erwähnten Medienereignisse, in denen entweder medienexterne Ereignisse medial re-inszeniert
werden (wie etwa die Papstbeerdigung oder die Fußballweltmeisterschaft) oder
Ereignisse von den Medien selbst initiiert werden (wie der EurovisionSongcontest oder Deutschland sucht den Superstar). Diese Medienereignisse
werden als hervorgehobene Momente im Medienalltag inszeniert, wobei viele
von ihnen in regelmäßigen Abständen wiederkehren. Als solche wiederkehrenden Medienereignisse werden in diesem Band etwa Wahlsendungen (vgl. Stieler/Tennert), Inszenierungen zum Gedenken an wichtige historische Ereignisse
(vgl. Dittmar/Vollberg) oder Persönlichkeiten (vgl. Günther) vorgestellt. In solchen hervorgehobenen Ereignissen setzen die Medien nicht nur die kulturellen
Leitwerte der Akteure in Szene, sondern auch selbstreferentielle Werte, die sich
auf die Rolle der Medien selbst als kulturelle Deutungsinstanz beziehen (vgl.
Schanze in diesem Band). Damit verbunden ist auch das mediale Selbstbild als
„soziales Zentrum“, als Ort kollektiver und kultureller Selbstvergewisserung, das
Nick Couldry (2003) als wesentlichen selbstreferentiellen Leitwert von Medienritualen betrachtet.
In Medienereignissen werden daneben, wie Reinhold Viehoff (2007) argumentiert, Übergangsriten inszeniert, die „transitorische Muster des Denkens,
3
Bergesen (2006) führt hier die von Basil Berstein untersuchten „restringierten“ und „elaborierten“ Sprachkodes an, welche den sozialen Habitus und die kollektive Identität bestimmter sozialer Milieus charakterisieren.
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
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Handelns und Fühlens“ vermitteln, die Übergangsmomente auf Dauer stellen. So
werden in den Medien fortlaufend Ereignisse kreiert, in denen Menschen oder
Gruppen in psychische Grenzsituationen oder in Schwellenmomente der sozialer
Aus- und Eingrenzung geraten (z. B. in Reality-TV-Sendungen wie Big Brother
oder die Dschungelshow; vgl. auch Mikos in diesem Band).
Auf der Rezeptionsseite liegt es beim Publikum, an diesen Ereignissen rituell Anteil zu nehmen. Der symbolische Akt der Teilnahme beginnt, wie Mikos
darlegt, bereits mit dem Einschalten des Fernsehers. Damit tritt der Zuschauer
über in eine andere Wirklichkeitssphäre:
„Das Einschalten des Fernsehers nach getaner Arbeit stellt bereits ein Schwellenritual dar, bei
dem der Mensch als soziales Wesen in eine andere Rolle schlüpft, die des Fernsehzuschauers.
Das Einschalten gleicht einer symbolischen Handlung, die den Eintritt in einen anderen Wirklichkeitsbereich markiert, hier den von der sozialen in die medial vermittelte Kommunikation.“
(Mikos, in diesem Band: 43)
Den Rezipienten bietet sich auf der makrorituellen Ebene dabei die Möglichkeit,
sich als Individuen vor dem Bildschirm oder dem Radiogerät als Teil eines kollektiven Ganzen zu fühlen.
Als weiteres Makroritual kann man die Programmgestaltung und -dramaturgie im Fernsehen betrachten. Joan Bleicher hat darauf hingewiesen, dass die
Fernsehprogrammstrukturen rituelle Muster etablieren, welche die Interaktion
zwischen dem Medium und seinem Publikum prägen:
„Die zyklische Wiederkehr bestimmter Programmformen, bestimmter Sendungen, aber auch
bestimmter Sendungselemente zu bestimmten Zeitpunkten ermöglicht Ritualbildung im Rahmen der Fernsehrezeption.“ (Bleicher 1998: 68)
Ziel ist also die Einbindung des Fernsehens in den Alltag seiner Rezipienten
durch wiedererkennbare Programmabläufe, besonders durch Serien, etwa Familienserien, oder Reihen mit festem Sendeplatz wie etwa Koch-Shows (vgl.
Trültzsch/Pfau und Buck in diesem Band). Auch hierbei werden im Sinne Bergesens übergeordnete Leitwerte vermittelt, die sich auf das Medium als Ganzes
beziehen, nämlich auf das Fernsehen als Ort der ununterbrochener Teilhabe an
gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen, als ‚soziales Zentrum‘ (Couldry
2003). Dies gilt in besonderer Weise für Nachrichtensendungen, die sich längst
als Medienrituale etabliert haben, in denen das Fernsehen selektiv Bilder der
Wirklichkeit konstruiert, die dem kollektiven Bedürfnis nach „Ordnung und
einem sichtbaren Ausdruck unsichtbarer Werte“ (Goethals 2006: 310) entsprechen. Gregor T. Goethals vergleicht die ritualisierten Berichte der Nachrichtensendungen gar mit vormodernen Mythen, da sie in ihren kondensierten Wirklichkeitsdarstellungen ein „Gefühl der Totalität der Dinge“ vermitteln (Goethals
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
2006: 315). Die Moderatoren nehmen dabei als durch die Sendung führende
Kommentatoren die Rolle ritueller Zeremonienmeister ein, die eine hervorgehobene Autorität besitzen und deren Auf- und Abtritte in Bild und Ton symbolisch
ebenfalls rituell begleitet werden. Wie Helmut Schanze (in diesem Band) zu
bedenken gibt, besteht hierin eine erhebliche soziale Verantwortung, die nicht
selten in einer Vermischung von Nachrichten und Unterhaltung zu Gunsten der
‚Selbstfeier‘ des Fernsehens aufgegeben wird.
Auf der Mesoebene bieten die Medien daneben regelmäßig Angebote für
performative Interaktionsrituale. Gerade im Zusammenhang mit den Neuen Medien sind Interaktionsprozesse ins Zentrum des Interesses gerückt. So bieten
etwa das Internet-Fernsehen Ehrensenf (vgl. Wehn in diesem Band) oder Internetbasierte Radioplattformen (vgl. Hartling/Wilke in diesem Band) zusätzliche
Interaktions-Möglichkeiten. Am Beispiel der sogenannten ‚Virtuellen Friedhöfe‘
wird aber auch deutlich, wie öffentliche und private, massenmediale und informelle Kommunikation verstärkt und in Form ‚virtueller Performanz‘ ineinander
greifen (vgl. Schmidt in diesem Band).
Wie stark die mediale Produktion, Reproduktion, Vermittlung und Rezeption an Interaktionsrituale gebunden sein können, zeigt das Beispiel Musik (vgl.
Golo Föllmer in diesem Band). Auch traditionelle Medien wie Kino und Fernsehen bieten eine ganze Bandbreite an Interaktionsritualen, in denen die Zuschauer
zu emotionaler, kognitiver und sozialer Interaktion mit Medienfiguren oder anderen Akteuren animiert werden sollen. Wenn wir beim Beispiel des Fernsehens
bleiben, so mag der Hinweis auf das Phänomen der parasozialen Interaktion mit
Medienfiguren genügen. Wie zahlreiche Studien belegen (vgl. Vorderer 1996;
Gleich 1997), bauen Fernsehzuschauer zu regelmäßig auf dem Bildschirm auftauchenden Figuren und Akteuren, wie Moderatoren, Showmastern oder Serienhelden, parasoziale Beziehungen auf. Die Sendungen und ihre Protagonisten
bieten ihrem Publikum wiederkehrende Interaktionsmuster an, die auf die Ausbildung stabiler parasozialer Beziehungen abzielen – und damit zugleich auf eine
weitere rituelle Verankerung im Alltag.
Hierbei werden kulturelle Verhaltensmodelle und Interaktionsregeln performativ angewendet und etabliert, die wiederum auf die Denk- und Handlungsmuster der Rezipienten zurückwirken. Knut Hickethier sieht daher bei den Medien die gesellschaftliche Funktion, die ‚Subjekte zu modellieren‘ und deren
Wahrnehmung zu disziplinieren (vgl. Hickethier in diesem Band). Vor allem
Emotionen können auf diesem Weg kanalisiert und dem kulturellen Common
Sense gemäß rituell ‚erzogen‘ werden (vgl. auch Hickethier 2007). Diese „Ritualisierung von Emotionen“ betrachtet auch Reinhold Viehoff (2007) als ein wesentliches Merkmal von Medienritualen. Die Medien bieten demnach auf der
Ebene von Interaktionsriten Modelle emotionalen Erlebens, an denen sich der
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
17
Einzelne orientieren kann und die die emotionalen Skripts von Individuen kulturell überformen. Wie intensiv die Darstellung identitätsstiftender Rituale in fiktionalen Angeboten sein kann, zeigt das Beispiel Bollywoodfilm (siehe Kammer
in diesem Band), das auch erahnen lässt, wie heikel eine ‚Übersetzung‘ solcher
‚emotionaler Handlungsanweisungen‘ von einer Kultur in die andere ist.
Auf der Mesoebene vermitteln Medienrituale also kulturelles Regelwissen
für den Umgang mit anderen Menschen – sowohl im Hinblick auf soziale Regeln
als auch auf emotionales Interagieren und Erleben. Denn die performativ angeeigneten (Medien-)Modelle erweitern, so Viehoff, den Spielraum des eigenen
emotionalen Erlebens.
„Denn nach diesem Vorschlag ist davon auszugehen, dass solche Emotionen und emotionalen
Ausdrucksformen als medienspezifisch transformierte Emotionen – als emotionale scripts über
die Inszenierung von Gefühlen im Alltag, also als Performanz der Gefühle – ‚emergieren‘. Sie
wechseln sozusagen aus der Lebens- und Handlungspraxis ‚innerhalb‘ der dargestellten Welt
des Fernsehprogramms in die Lebens- und Handlungspraxis ‚vor‘ dem Bildschirm.“ (Viehoff
2007: 124)
Das gilt auch für negative Emotionen wie Traurigkeit, Betroffenheit und Melancholie (vgl. Mangold in diesem Band). Damit erfüllen die Interaktionsrituale der
Medien gerade in Bezug auf emotionale ‚Bildung‘ oder ‚Disziplinierung‘ ihrer
Rezipienten Funktionen, die traditionellerweise religiöse Rituale leisten, nämlich
Antwort auf die beiden zentralen identitätsrelevanten Fragen anzubieten: ‚Wer
4
bin ich?‘ und ‚Was soll ich tun?‘
Medienrituale weisen neben der Makro- und Mesodimension auch eine
Mikroebene auf, die in genre- und gattungsspezifischen Kodes zum Ausdruck
kommen (vgl. dazu u. a. Barsch, Prümm, Scheffler und Schwab in diesem Band).
Sprache, Bilder und Klänge stehen im Zeichen ritualisierter Regeln der medialen
Darstellung (was u. a. an der Funktion des Theatervorhangs deutlich wird; vgl.
Seibert in diesem Band). Sie verweisen auf übergeordnete Werte, die sich auf das
Selbstverständnis eines Mediums und Medienangebotes beziehen. Das zeigt sich
selbst bei einem so ‚natürlich‘ erscheinenden Phänomen wie Fotos von menschlichen Gesichtern; auch diese unterliegen einer sozialen Kodierung, die im
Zusammenhang mit einer langen Bildtradition steht (vgl. Lampe in diesem
Band). Im Fernsehen gilt dies in besonderem Maße für Bilder. Die Bilder der
Nachrichtensendungen etwa behaupten Authentizität und aktuelle Teilhabe an
außermedialem Geschehen und dies vor allem durch eine Ästhetik des Dokumentarischen, die bestimmten Regeln der Bildauswahl, der Kameraführung und
4
Auf diese beiden Funktionen der Religion weist Goethals hin, die er mit Wilson als „latente“
und „offensichtliche Funktion“ unterscheidet. Vgl. Goethals 2006: 318
18
Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
des Schnitts gehorchen. Es sind mediale Kodes, die auch von den Zuschauern
verstanden werden und deren ‚Authentizitäts-Botschaft‘ in der rituellen Performanz der Bildkommunikation seit jeher verankert ist.
Neben solchen selbstreferentiellen Werten bieten die Mikroriten medialer
Kodes aber auch Orientierungswerte für außermediales Wahrnehmen und Erleben. Auch hier sind Bilder besonders hervorzuheben. Die zuvor beschriebenen
Interaktionsriten können erst durch eine entsprechende Berücksichtigung visueller Darstellungsregeln erfolgreich inszeniert und von den Rezipienten mimetisch
mitvollzogen werden. Momente empathischer Teilnahme etwa werden, sowohl in
fiktionalen als auch in non-fiktionalen Gattungen, typischerweise durch Nahaufnahmen von Gesichtern, von Gesten und Körpersprache in Szene gesetzt. Indem
die Kommunikation von Gefühlen in den Interaktionsritualen der Medien vorwiegend auf der Ebene von Bildern wirkungsmächtig repräsentiert und interpretiert wird, wird Visualität auch kulturell zu einem immer wichtigeren Modus
emotionaler Kommunikation. Auf diesen Zusammenhang hat Viehoff eindringlich hingewiesen:
„Dabei gehe ich davon aus, dass die Verbindung von Ritual und Medium in der modernen
Medienkultur dazu führt, dass die Bedeutung, der Sinn von Emotionen nicht mehr kognitivdiskursiv ‚übermittelt‘, sondern visuell-affektiv ‚verkörpert‘ wird.“ (Viehoff 2007: 128)
Hiermit wird deutlich, dass die in medialen Kodes etablierten rituellen Strukturen in engem Wechselverhältnis zur Makroebene von Kultur stehen, die schließlich wieder die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt einzelner Menschen beeinflusst.
Die Systematisierung im Anschluss an das dreigliedrige Ritualmodell von
Bergesen bietet auch die Möglichkeit, bisherige Forschungen zu Medienritualen
zu unterscheiden. Einige wurden bereits genannt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es bisher zwar nur vereinzelt Studien gibt, die sich explizit mit Medienritualen befassen (vgl. hierzu Thomas 1996: 141 ff.), aber freilich eine große
Bandbreite an Forschungen, die sich mit medialen Darstellungskonventionen,
Medienkodes, Programmstrukturen, Medienstereotypen oder Rezeptionsgewohnheiten beschäftigen.
Viele Ergebnisse dieser Forschungen berühren unmittelbar rituelle Strukturen und Prozesse in den Medien, auch wenn sie diese nicht in direkten Zusammenhang mit dem Ritualbegriff stellen. So gilt auch für die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung, was Belliger/Krieger (2006) für die Ritualforschung
konstatieren: Auch hier gibt es einerseits die Tendenz zu empiriebasierter Auseinandersetzung mit einzelnen Ritualphänomenen in den Medien und andererseits
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
19
5
die Tendenz zu allgemeiner Theoriebildung. Diese Theoriebildung ist allerdings
im medienwissenschaftlichen Bereich bis jetzt noch nicht so fortgeschritten, wie
es die vielfältigen Anknüpfungspunkte nötig machen. Deshalb warnt Edgar
Lersch (in diesem Band) denn auch davor, den Ritualbegriff allzu umstandslos
für die medienwissenschaftliche Forschung in Anspruch zu nehmen und plädiert
für ein interdisziplinäres, speziell geschichts- und sozialwissenschaftliches Herangehen.
Die intensivste theoretische und analytische Auseinandersetzung mit rituellen Strukturen und Prozessen in den Medien findet bisher im Bereich der Fernsehforschung statt (etwa Thomas 1998; Bleicher 1998; Hickethier 2000; Schanze
2003; Mikos 2005; Goethals 2006; Viehoff 2007). Wie bereits deutlich geworden
sein dürfte, wird das Fernsehen übergreifend als dasjenige Medium betrachtet,
das den größten Einfluss auf unsere gegenwärtige Medienkultur hat und dementsprechend auch den zentralen Ort heutiger Medienrituale darstellt.
Da also die medienwissenschaftliche Theoriebildung zu Medienritualen insgesamt noch am Anfang steht und auch in der gegenstandsbezogenen Forschung
die Potentiale ritualtheoretischer Analyse bei weitem nicht ausgeschöpft sind,
möchte der vorliegende Band bisher vorhandene Ansätze beider Tendenzen vorstellen und zusammenführen. Damit möchte er dazu beitragen, die Auseinandersetzung mit dem Ritualbegriff in den Medienwissenschaften weiter anzuregen
und die Potenziale aufzuzeigen, die die Ritualforschung für die theoretische und
analytische Auseinandersetzung mit Medien und Medienkultur bieten.
2. Überblick
1. Fernsehen als Ritual? Theoretische Überlegungen
Wie zuvor betont, steht das Fernsehen bisher im Mittelpunkt der medienwissenschaftlichen Ritualforschung. Daher sind ihm in diesem Band gleich zwei Kapitel gewidmet. Das erste Kapitel präsentiert allgemeine theoretische und systematisierende Überlegungen zum Ritualbegriff in der Fernsehforschung, wobei die
Beiträge konstruktiv und kritisch die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Ritualbegriffes auf dieses kulturelle Leitmedium reflektieren.
5
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die gesamte Medienforschung im Hinblick auf implizite Bezüge zu rituellen Strukturen und Prozessen in den Medien vorzustellen. Diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich explizit damit beschäftigt haben, wurden oben genannt und
werden hier präsentiert.
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
Der Beitrag von Lothar Mikos beleuchtet den rituellen Charakter des Fernsehens
in mehrfacher Hinsicht. Zunächst hebt er die alltagsstrukturierende Bedeutung
des Mediums hervor, das kalendarische gesellschaftliche Ereignisse markiert und
im Sinne eines ‚Übergangsrituals‘ zwischen Phasen der Arbeit und der Freizeit
vermittelt. Das Fernsehen hat außerdem die Funktion, Normverletzungen als
Skandale in Szene zu setzen und somit die betreffenden Normen in ritueller
Form zu thematisieren, zu bestätigen und auszudifferenzieren. Ein weiterer Bereich von Fernsehritualen dient der Selbstreflexion des Mediums. Insbesondere
in Comedy- und Talkshows werden andere Sendeinhalte bewertet und kommentiert. Nicht zuletzt spielt das Fernsehen eine wichtige Rolle bei der Darstellung
außermedialer Rituale wie beispielsweise der Heirat, die durch mediale Inszenierung und die implizite Präsenz eines Millionenpublikums überhöht werden. Unter Bezugnahme auf Turner (1989) schlussfolgert Mikos: „Es ist eine der Aufgaben der Medien- und Kommunikationswissenschaft diese ‚unendliche Tiefe‘ der
Fernsehrituale auszuloten und in ihrer Bedeutung sowohl für die individuelle
Sinnorientierung der sozialen Akteure als auch für die Gesellschaft insgesamt
darzustellen.“
Knut Hickethier beschäftigt sich mit der Bedeutung von Medienritualen für
die Subjektkonstitution. Als zentraler Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung
vermittelt das Fernsehen zwischen den Funktionsanforderungen der Gesellschaft
und dem Bedürfnis von Individuen, sich kulturelles Wissen anzueignen, das sie
für ihre Selbstbehauptung innerhalb der Gesellschaft benötigen. Aufgrund seiner
Serialität, Permanenz und gesellschaftlichen Zentralität ist das Fernsehen dazu
prädestiniert, diese gesellschaftliche Vermittlungsfunktion im Prozess der kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen ‚Modellierung‘ des Subjekts zu übernehmen. Hickethier hebt dabei die besondere Rolle des Unterhaltungsfernsehens
hervor: „Die Modellierung der Menschen durch das Fernsehen erfolgt primär
über den Modus der Unterhaltung. Sie erfolgt nicht in der Form der Unterweisung und Belehrung, sondern betreibt Emotionssteuerung zumeist in der Form
der Narration und setzt auf Verständlichkeit und Kurzweiligkeit. Der Fernsehgebrauch erfolgt auf der Basis der Freiwilligkeit. Der modellierende und disziplinierende Charakter der Medien wird verdeckt, weil im Gebrauch der Medien der
kulturelle Zwang verdeckt bleibt.“
Auch Helmut Schanze betont in seiner kritischen Auseinandersetzung mit
dem rituellen Charakter des Fernsehens die dominante Rolle der Unterhaltung,
die im Zuge der Digitalisierung verstärkt hervortritt: Es ist ein immenser Bedarf
an unterhaltenden Medieninhalten entstanden, der durch industrielle Produktion
von möglichst billigem, seriellem und wieder verwertbarem ‚Content‘ gedeckt
wird. Nicht weniger problematisch erscheint die Funktion des Fernsehens als
Informationsmedium, aufgrund seiner Tendenz, ‚Ereignisse‘ mit Nachrichten-
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
21
wert selbst zu schaffen und zu inszenieren, vor allem solche mit Gewalt- und
Skandal-Charakter. Kritisch wird auch hier die ausufernde Selbstreferentialität
des Fernsehens gesehen, insbesondere die Neigung zu Selbstfeier und Eigenwerbung bei der Vermischung von Unterhaltungs- und Informationsprogramm. Daher Schanzes Plädoyer für eine kritische Fernsehwissenschaft: „Will die Medienwissenschaft (als Fernsehwissenschaft) nicht allein eine bloß beschreibende
und macherfreundliche, berufsvorbereitende Wissenschaft sein, sondern eine
kritische, unterscheidende und gelegentlich auch wertende – was keineswegs
Praxisferne bedeutet – so ist die Formulierung nicht nur der Tatsache, sondern
auch der Einwände gegen Vermischungen des Höchsten und des Alltäglichsten,
des Ritus und des Fernsehens, seine Hybridisierung im Sinne von ‚Neuen Medien‘ auf der ‚Digitalen Plattform‘ ihre genuine Aufgabe.“
Edgar Lersch problematisiert das Verhältnis von Medien und Ritualen aus
historischer Perspektive. Er hinterfragt die „häufig pauschale Unterstellung, es
handele sich bei Medienangeboten um ‚Rituale‘“. Die Periodizität von Medienangeboten und ihre Integration in Alltagsroutinen reichen nach Lersch nicht aus,
um den Begriff des Rituals auf Presse-, Rundfunk- und Fernsehangebote bzw.
deren Nutzung zu beziehen. Bei dieser Verwendung des Ritualbegriffs fehlt das
aus kulturhistorischer Sicht entscheidende Moment: „(…) der sich in der konkreten Handlung und der Interaktion zwischen den Anwesenden verdichtende Symbolgehalt.“ Auch im Hinblick auf das in der aktuellen Ritualforschung geläufige
Performanztheorem, das sich auf die Interaktion zwischen Anwesenden bezieht,
ist fraglich ob sich der Ritualbegriff sinnvoll auf Medien übertragen lässt. Lersch
plädiert daher für eine interdisziplinäre Aufarbeitung des Themas: „Das Thema
‚Ritual‘ und ‚Medien‘ liegt im Schnittpunkt geschichts- und sozialwissenschaftlicher Deutungskonzepte, die noch nicht ohne Weiteres miteinander in Deckung
zu bringen sind. Stoff für weitere Debatten ist ausreichend vorhanden.“
2. Ritualanalysen zum Fernsehen
Das zweite Kapitel präsentiert Beiträge, die sich mit konkreten rituellen Phänomen des Fernsehens beschäftigen und insofern in einem weiteren Sinne der empirischen Medienritualforschung zugerechnet werden können. In ihrer Gesamtheit vermitteln die Beiträge einen differenzierten Einblick in die Vielfalt von
Medienphänomenen, deren Erforschung von einer systematischen Einbindung in
die Ritualtheorie profitieren kann.
Im Mittelpunkt des Beitrags von Hans-Jörg Stiehler und Falk Tennert stehen
die rituellen Merkmale des Wahlabends im Fernsehen. Neben der Information
über die aktuellen Hochrechnungen und deren Interpretation durch prominente
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
Akteure aus Medien, Politik und Sozialwissenschaften ist dieses Medienereignis
für die Zuschauer mit einer Reihe weiterer Gratifikationen verbunden, etwa mit
Anlässen zu sozialem Vergleich, Erwartungsbildung, Identitätsbildung, parasozialer Interaktion und zur Unterhaltung. Seine zentrale Funktion, Erklärungen für
das Wahlergebnis zu liefern, kann das Medienereignis Wahlabend aber höchstens
ansatzweise einlösen. An die Stelle fundierter Erklärungen tritt vielmehr eine
ritualisierte Kommunikation mittels Stereotypisierung von Sendeformaten, Erklärungsmustern und sprachlicher Kommunikation. „Rituale liefern auf der einen
Seite Ersatzinformationen vorrangig dann, wenn umfassende Erklärungs- und
Entscheidungsprozesse nicht möglich sind. Auf der anderen Seite führt der
Zwang zu medialer Präsenz zur Verwendung ritualisierter Verhaltens- und Erklärungsmuster in der politischen Kommunikation. Ritualität lässt sich nicht nur an
Handlungen beschreiben, sondern auch an weitgehend standardisierten Kommunikationsformen wie Interaktionsritualen und sprachlichen Stereotypen.“
Claudia Dittmar und Susanne Vollberg gehen auf ein zentrales Ritual des
DDR-Fernsehens ein: die mediale Inszenierung der ‚Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution‘ anlässlich ihrer jährlichen, 5-jährigen und 10-jährigen Jubiläen. Die Jahrestage der Revolution boten der Kulturpolitik der DDR einen willkommenen Anlass für die Propagierung des Leitbilds der innigen Verbundenheit
mit der Sowjetunion. Je nach Bedeutung des Jubiläums prägte dieses Medienereignis das Fernsehprogramm bereits Wochen oder Monate im Voraus, in Form
von Nachrichtenbeiträgen, Dokumentationen, Spielfilmen und Unterhaltungssendungen mit Bezug zur Sowjetunion und zur deutsch-sowjetischen Freundschaft. Trotz der starken Ritualisierung und Stereotypisierung des Freundschaftsnarrativs lassen sich implizite Veränderungen beobachten, die den Wandel innen- und außenpolitischer Verhältnisse widerspiegeln: von der kulturpolitischen
Etablierung des medialen Jubelrituals in den 1950er Jahren, über die zunehmend
routinierte Wiederholung in den 1960er und 1970er Jahren bis hin zu den politischen Lippenbekenntnissen der späten 1980er Jahren, als sich die DDR-Führung
weigerte, auf die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion zu reagieren. „Das Freundschaftsnarrativ wurde dabei zur alltäglichen Phrase, die sich in
jeder offiziellen Rede wiederfand, und irgendwo verkündete immer ein Plakat:
‚Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‘. Als sich diese Weisheit allerdings Ende der 1980er Jahre bewahrheitete, konnte es der SED-Parteiführung
alles andere als recht sein – läutete doch gerade das veränderte Verhältnis zur
Sowjetunion den Untergang der DDR mit ein.“
Auch Sascha Trültzsch und Sebastian Pfau untersuchen Medienrituale im
DDR-Fernsehen, und zwar hinsichtlich der Thematisierung von Alltagsritualen
in Familienserien. Auch hier wird die Rolle der Unterhaltungsmedien als Instanz
der sozialen Vermittlung, Bestätigung und Reflexion von Ritualen hervorgeho-
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
23
ben. Vor allem in frühen Produktionen wird die Rolle von Familienserien bei der
Propagierung sozialistischer Rituale deutlich, insbesondere im Zusammenhang
mit der Ehe und Familiengründung. Trotz des Festhaltens der DDR an der Ehe
als gesellschaftlicher Institution werden bürgerliche Rituale verworfen und eine
Neuetablierung sozialistischer Familienrituale angestrebt. In einer zweiten Phase
der Serienproduktion werden bestehende Normen und Rituale aufgegriffen und
‚bürgerlichen‘ Denk- und Verhaltensweisen gegenübergestellt, die es endgültig
zu überwinden galt. Die späten Produktionen der 1980er Jahre spiegeln dagegen
zunehmende Individualisierungsprozesse wider. Die Kritik an bürgerlichen Lebensformen wird fortgeschrieben, doch sie mündet kaum noch in verbindliche
Gegenentwürfe, sondern eher ins Bejahen individueller Auflehnung. Ähnlich wie
Dittmar/Vollberg arbeiten die Autoren gesellschaftliche Erosionsprozesse heraus,
die das Wechselverhältnis von Medien und Ritualen im DDR-Fernsehen veränderten.
Die Medialisierung eines der ältesten menschlichen Rituale steht im Zentrum des Beitrags Ritual und Drama der Fernsehköche von Matthias Buck. „Kochen dient nicht allein der Befriedigung somatischer Bedürfnisse, Kochen ist
immer eine kulturelle Handlung und zwar auch dann noch, wenn es sich dabei
lediglich um das Erwärmen eines Fertiggerichtes in der Mikrowelle handelt (...).
Beim Kochen findet eine Verwandlung statt, etwas Tiefgefrorenes, etwas Rohes,
etwas, das Teil der Natur war, wird in den Raum der Kultur überführt, wird essbar gemacht.“ Die exakte, mimetische Wiederholbarkeit des Rituals garantiert
den Erfolg der intendierten Verwandlung, wobei es in der Moderne weniger um
die gesundheitliche oder religiöse Unbedenklichkeit des Essens geht, sondern vor
allem um das symbolische Kapital, das durch Kochen entsteht. „Wer das Rezept
eines Sternekochs nachkocht, versucht damit immer auch das mit dem Profikoch
und seinem Rezept verbundene symbolische Kapital und die mitunter als magisch empfundene Verwandlung durch die Zubereitung auf das selbst gekochte
Gericht zu transferieren. (...) Der Überlieferung des Rezeptes, als der Partitur des
Rituals, wird durch die audiovisuellen Medien, die Überlieferung der Aufführung
des Rituals, also das Kochen selbst, an die Seite gestellt.“
In seinem Beitrag Revolte gegen den ritualisierten Fernsehkrimi untersucht
Karl Prümm die Figur des Tatort-Kommissars Horst Schimanski und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Fernseh-Krimis. Die von Götz George verkörperte
Figur steht für einen radikalen Bruch mit den ritualisierten Erzählkonventionen
und Leitbildern, die den westdeutschen Fernsehkrimi bis dahin prägten. Die
exaltierte Körperlichkeit und Emotionalität der Schimanski-Figur und deren
fehlende Distanz zum aufzuklärenden Verbrechen kennzeichnen sie als unmittelbaren Gegenentwurf zum traditionellen patriarchalen und rationalistischen Ermittler-Ideal. Schimanskis exzessive Vitalität und Aggressivität können als ver-
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
zögerter Ausdruck der 68er Revolte und ihres veränderten Männlichkeitsideals
gelesen werden. So radikal wie er auf den ersten Blick erscheint, ist der Bruch
mit der rituellen Struktur des Fernsehkrimis dennoch nicht. Auch die Schimanski-Krimis halten sich weitgehend an das ‚Schlussritual‘ der totalen und rückhaltlosen Aufklärung. Die Grundbotschaft des Fernsehkrimis, die ihn zum Trost
spendenden Medienritual werden lässt, wird hier (noch) nicht in Frage gestellt,
sondern lediglich unter Bezug auf ein neues Männlichkeitsideal umgedeutet.
„Der vielgeschmähte ‚Schmuddel-Kommissar‘ ist in Wirklichkeit eine ‚reine‘,
eine ethisch hochambitionierte Figur, die für den Zuschauer Trost bedeutet, ein
oft unterschätzter Effekt des Krimis. Solange so entschlossen und unverbrüchlich
gehandelt wird, ist nichts verloren in dieser scheinbar so heillosen Welt.“
3. Film und Ritual
Neben dem Fernsehen ist der Unterhaltungsfilm der wohl wirkungsmächtigste
Ort medialer Rituale. Die hier vorgestellten Beiträge machen deutlich, dass der
Film gerade im Hinblick auf die Verkörperung und Inszenierung gesellschaftlicher Leitwerte und Verhaltensmodelle besonders relevant ist und damit für die
makrorituelle Dimension kollektiver Selbstvergewisserung.
Ulrike Schwab thematisiert das ‚Team‘ als dramaturgisch-ideelle Genrekonstante im Hollywood-Kriegsfilm. Anhand von Beispielanalysen zeigt
Schwab, wie eine außer-mediale rituelle Praxis zu einem Genre prägenden Element der Filmdramaturgie wurde. Der Teamgedanke, der nach dem zweiten
Weltkrieg zu einer zentralen Kategorie im Selbstverständnis des US-Militärs
avancierte, kam den erzählerischen und dramaturgischen Konventionen des Hollywood-Kinos entgegen und wurde daher bereitwillig aufgegriffen und variantenreich interpretiert. Die Beispielanalysen verdeutlichen dieses Verhältnis von
Konstanz und Flexibilität des Team-Konzepts. The Longest Day (Ken Annakin,
1962) steht für die Etablierung des Teams als feste Größe im Genre-Schema – für
das Zusammenspiel von Charakteren mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, die auf ihre Weise zum Erfolg des Teams beitragen. Steiner – Cross of Iron
(Sam Peckinpah, 1977) thematisiert das Team als Gegenmodell zur nationalsozialistischen Militärideologie. Hier geht es nicht um den militärischen Erfolg –
das Team um Steiner bildet sich in einer Situation heraus, in der das militärische
Scheitern bereits unausweichlich geworden ist –, sondern um das erfolgreiche
Verteidigen der eigenen Menschlichkeit gegen den Wahnsinn des Krieges. Platoon (Oliver Stone, 1986) dient als Beispiel für die kritische Dekonstruktion des
Team-Gedankens.
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
25
Auf die Bedeutung von Ritualen im Bollywood-Film geht Manfred Kammer ein.
Als Analysebeispiel dient der Film Kabhi Khushi Kabhi Gham (In guten wie in
schweren Tagen), dessen Ausstrahlung (November 2004, RTL II) in einer synchronisierten und gekürzten Fassung einen Meilenstein der deutschen Rezeptionsgeschichte des Bollywood-Films markiert. Der Film verknüpft eine Vielzahl
von Ritualen, die in der indischen Kultur von zentraler Bedeutung sind, u. a.
Ehe- und Beerdigungsrituale, das Lichterfest, das der Erneuerung familiärer
Bande dient, sowie nationale Rituale wie das Singen der Nationalhymne. Die
dargestellen Rituale sind nicht nur schmückendes Beiwerk, das ‚Song-andDance‘-Sequenzen motiviert, Rituale dienen vielmehr als zentrales dramaturgisches Element, das Wendepunkte der Filmhandlung herbeiführt. Vor dem Hintergrund dieser starken rituellen Prägung des Bollywood-Films stellt sich die Frage
nach dem interkulturellen Verständnis. Kammer bezweifelt, dass westliche Publika die Bedeutung der rituellen und symbolischen Handlungen voll erschließen
können. Das westliche Interesse am indischen Film kann eher mit Hilfe ‚anthropologischer Konstanten‘ erklärt werden. So stellen etwa Partnerwahl, Freundschaft und Familienzusammenhalt allgemein menschliche Themen und Problemlagen dar, die je nach Kultur auf unterschiedliche Weise rituell verarbeitet und
strukturiert werden, aber dennoch für Zuschauer aus anderen Kulturkreisen als
solche erkennbar bleiben.
Roland Mangold stellt in seinem Beitrag Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu emotionalen Gratifikationen vor. Er beschäftigt sich insbesondere mit
dem ritualisierten Ausleben negativer Emotionen während der Filmrezeption.
Ergänzend zur sozialisierenden und normierenden Funktion von Medienritualen
geht er dabei auf individuelle Gratifikationen ein, die den Zuschauer zur freiwilligen Teilnahme am Medienritual motivieren. Im Zusammenhang mit Filmgenres
wie Horror, Thriller oder Drama, die beim Zuschauer primär negative Gefühle
auslösen, scheint dies in starkem Maße erklärungsbedürftig. Die Daten der interview- und fragebogengestützten Erhebung lassen darauf schließen, dass auch
negative Emotionen wie Angst und Trauer mit Gratifikationen verbunden sein
können. Diese ergeben sich insbesondere aus der Spezifik der medialen Auslösersituation im Unterschied zum Alltag. Ein zentrales Gratifikationsmoment, das
sich in den Ergebnissen der Studie herauskristallisierte, besteht in der Möglichkeit, negative Gefühle frei von den Gefahren und Handlungserfordernissen realer
Auslösersituationen zu erleben, um aus diesen Erfahrungen zu lernen und eigene
belastende Erfahrungen zu verarbeiten. Medienrituale kommen demnach einem
individuellen Bedürfnis entgegen, bedrohliche Situationen zu verstehen und
Souveränität im Umgang mit ihnen zu entwickeln.
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
4. Medienübergreifende Rituale
Die Beiträge des vierten Kapitels demonstrieren anschaulich, dass Medienrituale
häufig nicht auf einzelne Angebotsformen und Gattungen beschränkt sind, sondern dass sich ihr Wirkungspotenzial erst im inter- und transmedialen Zusammenhang erweist. Da nämlich, wo rituelle Prozesse zwischen Produzenten und
Rezipienten über verschiedene Phasen hinweg medienübergreifend verkörpert
werden.
Cordula Günther untersucht Gedenkrituale in den Medien am Beispiel der
Sigmund-Freud-Ehrung 2006. Im Zentrum des Interesses steht dabei der ritualisierte Umgang mit Medienbildern und anderen Dokumenten, die den medial
gespeicherten Gedächtnisvorrat einer Kultur bilden. Günther verweist in diesem
Zusammenhang auf die Unterscheidung von „Medien ersten Grades (Dokumente) und Medien zweiten Grades (Monumente) (...). Als Monument wird hier die
wiederholte Verwendung bzw. mediale Wiederverwertung von Dokumenten
(Texten, Bildern, Tönen, audiovisuellen Dokumenten) verstanden, die in einem
bestimmten gesellschaftlichen Erinnerungsrahmen geschieht und sich durch
einen sozial bestimmten und praktizierten Erinnerungswert auszeichnet.“ Ergänzend zu den gesellschaftlichen Praktiken der medialen Verwendung hebt sie den
Aspekt der Geformtheit von Monumenten hervor. Durch den Prozess der rituellen Wiederholung nimmt mediales Erinnern eine formale Struktur und Gestalt
an, die über das Einzeldokument hinausweist. Drei Beispielanalysen verdeutlichen diesen Prozess der Formierung von medialen Monumenten bzw. Erinnerungsfiguren im Spannungsfeld von Zyklizität und Innovationszwang des medialen Erinnerns.
Der Beitrag von Peter Seibert beschäftigt sich mit Medienzitaten des Vorhangrituals – eines Rituals, das für die theatrale Kommunikation in mehrfacher
Hinsicht grundlegend ist. Der Vorhang „konstituiert nicht nur Theaterräume, er
bestimmt die Semantik räumlicher Zeichen ebenso wie die von Zeichen für Zeitabläufe. (...) Durch das Ritual des Vorhangöffnens wird für ein Kollektiv ein
spezifisches Rezeptionsdispositiv hergestellt, das Fallen des Vorhangs am Ende
der Aufführung scheidet für das Kollektiv wieder zwischen Kunst und Alltagswelt und lässt z. B. die Schauspieler als solche aus ihrer Rolle heraustreten, um
den Applaus entgegenzunehmen.“ Seibert diskutiert eine Reihe von Medienzitaten, die zeigen, wie dieses Ritual von anderen Medien übernommen wurde, etwa
im Puppentheater, im Kino und Film, im Fernsehen sowie im Internet. Die meisten dieser Zitate sind als Teil von ‚Bekunstungsstrategien‘ zu verstehen: Das
Prestige des bürgerlichen Theaters soll auf neue Medien übertragen werden, die
einen vergleichbaren Kunststatus für sich reklamieren. Darüber hinaus thematisiert Seibert ironische Vorhangzitate, die die symbolische Botschaft dieses Ri-
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
27
tuals reflektieren und seine soziale Funktion in Frage stellen – wie etwa bei
Brecht, den wiederum der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am Ende seiner
Fernsehsendung zu zitieren pflegte: „(…) wir steh’n betroffen. Der Vorhang zu
und alle Fragen offen.“
Dem Faktor Zeit und seiner Funktion als Teil erzählerischer EinstiegsRituale geht Ingrid Scheffler in ihrem Beitrag nach. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind Ähnlichkeiten in der raum- und zeitüberschreitenden Funktion von
Ritualen und Erzählungen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an
Eröffnungs- und Einstiegssequenzen, die den Rezipienten auf die veränderte
Zeitstruktur medialer Erzählungen einstimmen. Medienübergreifend sind hierbei
drei Merkmale von Bedeutung. 1.) Wiederholung: Medienrezipienten werden
durch die Wiederkehr von Vertrautem an die Erzählinhalte herangeführt. 2.)
Spiel: Durch spielerische Veränderungen wird eine Flexibilität der Zeitwahrnehmung vermittelt, die sich von der Alltagszeit abhebt, und das Erzählte als Fiktion, als räumlich und zeitlich entferntes Geschehen etc. markiert. 3.) Kausalität:
Das Erzählte wird kausal strukturiert und auf Ursache-WirkungsZusammenhänge zugespitzt. Dies gilt sowohl in formaler als auch in semantischer Hinsicht. Am Beispiel verschiedener Medien macht Scheffler deutlich,
dass fiktionales und nicht-fiktionales Erzählen ähnlichen Regeln folgen. „Die
Erzähleinstiege dienen der Orientierung des Rezipienten innerhalb der Zeitschiene des zu erzählenden Geschehens, machen Vorgaben für das Verständnis des
Erzählzusammenhanges, wecken Interesse und erzeugen Spannung, oft durch
emotionalisierende Mittel, etwa Visualisierung und Einsatz von O-Tönen oder
Wiederholung, und vermitteln mit ihren Rezeptionsvorgaben ein auf das Kollektiv abzielendes Gemeinschaftsgefühl. Mit ihrer temporalen und rituellen Funktionalität weisen Medieneinstiege essentiell eine große Nähe zum klassischen
Ritual auf.“
Die soziale Konstruktion des Gesichts, so Gerd Lampe in seinem Beitrag,
ist ein ritueller Prozess, dessen Wurzeln sich bis in die ikonischen Traditionen
der Christusdarstellung zurückverfolgen lassen. Bezugnehmend auf Deleuze/Guattari hinterfragt Lampe den Glauben an die Lesbarkeit des Gesichts als
natürliches Zeichen. Dieser Glaube an das ‚vera icon‘ war dem christlichen Ritual der Ikonenmalerei von Anfang an als konstitutives Element eingeschrieben –
in Form von Schweißtuchlegenden, die Christusdarstellungen trotz des bestehenden Bilderverbots rechtfertigten. Vor dem Hintergrund der ideologischen Verwurzelung im Christentum und dessen Machtstrategien erschließt sich die Funktionsweise und Semiotik scheinbar natürlicher und rein mechanischer Abbildungen des Gesichts in der Porträt- und Passbildfotografie sowie in Film- und Fernsehbildern: „Das Gesicht ist Produkt und Ausdruck sozialer kultureller Kontexte,
keine nur natürliche, rein physiognomische Angelegenheit. Es hat sich eine Se-
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
miotik des Gesichts herausgebildet, das Gesicht fungiert als Projektionsfläche
zwischen Individuum und Gesellschaft, es ist aber mehr als Maske und persona:
Es ist auch ein von der Gesellschaft lizensierter ‚Bildschirm‘.“
Achim Barsch analysiert, wie sich die Werbung strukturelle Merkmale von
Medienritualen zueigen macht und diese im Sinne ihrer spezifischen Kommunikationsziele funktionalisiert. Rituale verfügen über eine Reihe von Eigenschaften, die sie als besonders dichte, effektive und sozial verbindliche Form der
Kommunikation ausweisen und somit für Werbezwecke prädestinieren. Zu diesen Kommunikationseigenschaften von Ritualen gehören insbesondere die Wiederholung, Explizitheit und Reflexivität, die soziale Funktionalität, der kollektive
Charakter sowie die Ästhetik und symbolische Expressivität. Dieses kommunikative Potential von Medienritualen, das in besonderem Maße geeignet ist, die
Aufmerksamkeit und emotionale Beteiligung der Zuschauer zu garantieren, wird
von den Werbetreibenden zunehmend erkannt. Am Beispiel der Fernsehwerbung
und der Printwerbung untersucht Barsch, wie gelungene Werbekampagnen eigene Medienrituale generieren.
Das Verhältnis von Musik, Ritual und Medien thematisiert Golo Föllmer.
Ausgehend von den Ursprüngen der Musik als ritueller Praxis verfolgt er eine
historische Entwicklung, die Musik im Zuge der Säkularisierung und technischen
Reproduzierbarkeit von ihrem ursprünglichen Charakter als partizipatorisches
Ritual entfremdet. Institutionelle Dispositive wie der Konzertsaal und moderne
Reproduktionsmedien heben einerseits wesentliche Aspekte des Rituellen wie
den transzendentalen und partizipatorischen Charakter auf. Andererseits bieten
sie jedoch Kompensationsmechanismen in Form von Medienritualen an. Als
‚Medienrituale‘ sind dabei „nicht sekundäre Phänomene wie die mediale Übertragung primärer Rituale zu verstehen, sondern Rituale, die von Medien in dem
Sinne geprägt sind, dass sie den Glauben bestärken, dass die Gesellschaft ein
soziales Zentrum besitzt und dass die Medien den wichtigsten Zugang dazu bilden (...). Dies geschieht, indem Handlungen grundlegende ‚Medienkategorien‘
wie Realität, ‚liveness‘, Medienperson, Medienort etc. zugeordnet werden.“
5. Rituale in den Neuen Medien
Das letzte Kapitel bietet einen Ausblick auf rituelle Phänomene, die sich gegenwärtig in den digitalen Medien neu etablieren. Interessant ist dabei zu sehen, wie
diese die Rituale der klassischen Massenmedien aufgreifen, sie erweitern, aber
auch eigenständige Medienrituale ausbilden. Letzteres gilt besonders für die
Möglichkeit Neuer Medien, performative Interaktionsriten zu etablieren, die
körperliche Ko-Präsenz virtuell simulieren. Damit können sie das ‚Defizit‘ der
Einleitung: Rituale in den Medien – Medienrituale
29
klassischen, einkanaligen Massenmedien ausgleichen, die performativ-rituelle
Interaktion nurmehr ‚para-sozial‘ initiieren können.
Florian Hartling und Thomas Wilke beschäftigen sich mit den Auswirkungen des Internets auf klassische Produktions-, Rezeptions- und Autorschaftsrituale des Radios. Die Autoren analysieren zwei Internet-Phänomene, die erklärtermaßen darauf abzielen, die konventionelle Struktur der ‚one-to-many‘Kommunikation zu überwinden. Radioplattformen wie Pandora werben mit dem
Slogan „Be your own DJ“ und versprechen damit dem Nutzer aktive Teilhabe an
einem Ritual, das sie als Radiohörer nur in der passiven Rolle des Publikums
erleben können. Auch die ‚radio-orientierte Netzliteratur‘ zielt darauf ab, Autorschaftsrituale zu hinterfragen und ästhetisch zu verarbeiten. Die Beispielanalysen
von Hartling und Wilke machen jedoch deutlich, wie schwer solche für das Radio und andere Massenmedien konstitutiven Rituale zu modifizieren sind. „Traditionelle Rituale des Radiohörens und der Radioproduktion werden bei der
radio-orientierten Netzliteratur ebenso wie bei den Radioplattformen kaum verändert, weil sie durch das Netzdispositiv faktisch nicht berührt werden. Damit
aber stehen diese Netzphänomene auch nicht für eine Verschmelzung (oder Konvergenz) der Dispositive, sondern für einen Fortbestand dispositiver Strukturen
des Radios auch im Internet. Grundsätzliche Veränderungen des Radiodispositivs
sind momentan wohl an anderer Stelle zu suchen.“
Der Beitrag von Siegfried J. Schmidt stellt „virtuelle Friedhöfe“ vor, die
sich seit Anfang der 1990er Jahre im Internet zu einem Massenphänomen entwickelt haben. Diese Entwicklung gibt Anlass zu Fragen, wie: „Ist etwa die Furcht
verschwunden, die Menschen seit Menschengedenken vor dem Tod hatten und
bis heute haben, die Furcht vor dem Sensenmann, vor Ende, Grab und Verwesung? (...) Oder hat sich nur die Kommunikationssituation dahingehend verändert, dass der Tod heute nicht mehr be- und verschwiegen, sondern in aller Öffentlichkeit diskutiert wird, eben weil er die Menschen immer noch umtreibt und
ängstigt?“ Schmidt kommt zu dem Ergebnis, dass die religösen Rituale, die traditionell das Reden und Schweigen über den Tod und das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Umgang mit diesem schmerzlichen Thema geregelt
haben, für große Teile der modernen Gesellschaft obsolet geworden sind. Virtuelle Friedhöfe können somit als Reaktion auf einen Nachholbedarf an kultureller
Modernisierung verstanden werden, da sie „den Bedürfnissen einer komplexen,
mobilen, pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft in
vielerlei Weise entgegenkommen“.
Karin Wehn stellt ein gelungenes Internetformat vor, das virtuos mit den Ritualen des Fernsehens spielt und diese gleichzeitig für partizipatorische Kommunikationsformen des Internets öffnet. Das Hybridformat, das Merkmale von TVNachrichten und Comedy-Shows mit denen von Weblogs und Podcasts verbin-
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Anne Bartsch, Ingrid Brück, Kathrin Fahlenbrach
det, verweist bereits im Namen auf den ironischen Bezug zum Referenzmedium:
Ehrensenf ist ein Anagramm des Wortes ‚Fernsehen‘. Obwohl es sich an der
geschlossenen Form der TV-Commedy orientiert, ist Ehrensenf in mehrfacher
Hinsicht ein offener Text. Nicht nur die Rituale des Fernsehens, sondern auch
selbst gesetzte Standards werden ironisch gebrochen und variiert. Der Bildraum
des Studios wird geöffnet, durch den Austausch von Kommentaren mit dem
Produktionsteam im Off. Die Sendung verweist vielfach auf Links im Internet,
die nur kurz angedeutet werden und die der Zuschauer selbst aufsuchen muss,
um den Informations- und Unterhaltungswert der Sendung voll auszuschöpfen.
Des Weiteren handelt es sich um ein Community-orientiertes Format, das aktive
Partizipationsmöglichkeiten bietet, u. a. durch Einsenden selbst recherchierter
Links, die dann in der Sendung aufgegriffen werden. Damit fügt sich Ehrensenf
„(…) nahtlos ein in den aktuellen Boom von kurzen, meist unterhaltenden Formen (SMS, YouTube-Videos und Podcasts), die mit der zunehmenden Omnipräsenz von Medien immer wichtiger werden. In Zeiten, in denen klassische Fernsehsender immer mehr Zuschauer an Neue Medien verlieren, zeigt es Wege auf,
wie zukünftige Unterhaltungsformate aussehen könnten.“
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