Ausblenden, was das Vorurteil stört

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Cash no 15, 14 avril 2000, p. 63
Ausblenden, was das Vorurteil stört
Autor: Professor Jean-Christian Lambelet, Universität Lausanne, über
Ungereimtheiten im Bergier-Bericht
«DER HISTORIKER hat nicht zur urteilen, sondern zu erklären und zu verstehen.» Gegen
dieses Gebot des berühmten französischen Wirtschaftshistorikers Fernand Braudel hat der
Bergier-Bericht über die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gleich im
mehrfacher Weise verstossen. Statt die Fakten vorurteilslos zu werten, ordnet der Bericht die
Fakten so, dass sie dem konventionellen (Vor-)Urteil einer herzlosen Schweiz entsprechen.
Der Mechanismus, mit dem dies geschieht, ist nicht neu: Schon vor über 50 Jahren hat John
K. Galbraith beschrieben, wie «konventionelle Weisheiten» am Leben gehalten werden,
nämlich indem man nicht passende Fakten und Fragen ausblendet oder einfach nicht
auswertet.
Der «Rapport Bergier» ist voll von solchen (bewussten oder unbewussten) Auslassungen, die
das Gesamtbild in der gewünschten Richtung verschieben. Ich nenne im Folgenden drei und
beginne mit einem eher nebensächlichen Detail, das aber die allgemeine Stossrichtung
trefflich illustriert:
Der Bericht schreibt, dass die Einführung des Judenstempels am 5. Oktober 1938 die
Emigration deutscher Juden praktisch unmöglich gemacht habe. An anderer Stelle ist zu
lesen, dass am 17. August 1938 in Deutschland ein Gesetz erlassen wurde, wonach alle Juden
verpflichtet wurden, in ihren offiziellen Papieren die Vornamen Sara oder Israel einzutragen.
Was im Bericht hingegen fehlt, ist eine Diskussion und Wertung des Umstandes, dass das
(ohne die Mitwirkung der Schweiz zustande gekommene) Namensgesetz anderthalb Monate
vor dem Judenstempel in Kraft gesetzt wurde. Diese in Bezug auf die praktische Wirkung des
Judenstempels nicht ganz unerhebliche Frage wird einfach ausgeklammert.
Entscheidend für die tendenziösen Schlussfolgerungen des Berichts sind jedoch vor allem
zwei weitere Auslassungen. Die erste betrifft die Frage, welche Auswirkungen eine teilweise
oder gar komplette Öffnung der Landesgrenzen für die Schweiz gehabt hätte. Dieses Problem
wird im Bericht zwar zwei- bis dreimal kurz angetippt, aber nirgends ernsthaft diskutiert.
Dazu sind zwei Punkte festzuhalten: Erstens gibt es niemanden, der ernsthaft behauptet, die
Schweiz hätte angesichts der hunderttausenden oder gar Millionen von potenziellen
Flüchtlingen und angesichts der restriktiven Einwanderungspolitik der andern potenziellen
Zufluchtsländer einen völlig ungehinderten Zustrom von Flüchtlingen zulassen können. Aus
diesem Umstand folgt zweitens, dass die Schweiz irgendeinen Mittelweg zwischen völliger
Öffnung und völliger Schliessung der Grenzen finden musste.
Aus ökonomischer Sicht handelt es sich dabei um ein spieltheoretisches Problem des Typs
«Signalling Model»: Die offizielle Schweiz musste bei ihren Verlautbarungen und
Entscheidungen die möglichen Reaktionen der «Mitspieler» bzw. die anderen Staaten und die
potenziellen Flüchtlinge mitberücksichtigen. Eine optimale Strategie zur Lösung des
Dilemmas besteht darin, einerseits gegen aussen eine harte Politik zu verkünden, um so eine
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gewisse Abschreckung zu erzielen, und andererseits in der Praxis möglichst viel Öffnung
zuzulassen und damit der humanitären Tradition des Landes gerecht zu werden.
Ob die Schweiz dabei den optimalen Weg gefunden hat, ist zwar vielleicht noch eine offene
Frage. Sicherlich kann man im Nachhinein mit guten Gründen die Meinung vertreten, die
Schweiz hätte noch mehr tun können. Was man aber nicht tun darf, ist das, was der Bericht
getan hat. Er hat das oben beschriebene Dilemma unterschlagen und hat nicht oder zumindest
zu wenig unterschieden zwischen dem, was die Schweiz signalisiert, und dem, was sie
tatsächlich getan hat. Der Bergier-Bericht zieht seine Schlussfolgerungen fast ausschliesslich
auf der Grundlage der öffentlichen Verlautbarungen, die in der Tat zuweilen sehr hartherzig
tönten und die im Nachhinein manchmal schwer zu verdauen sind. Dass die Taten der
Schweiz oft viel besser waren als ihre offiziellen Worte, wird hingegen kaum berücksichtigt.
Das bringt mich zur einer weiteren entscheidenden Unterlassung des Bergier-Berichts. Auch
hier geht es nicht darum, dass Fakten ausgeblendet werden, sondern es geht um ihre
Einbettung in den Gesamtzusammenhang. Die nackten Fakten, so wie sie im Bericht erwähnt
sind, sind die: Während der gesamten Kriegsperiode wurden 51'129 «illegale» (d.h. visalose)
Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen, und es kam zu 24'500 erwiesenen
Zurückweisungen (realistischere Einschätzung: ungefähr 30'000). Zudem ist aus der Analyse
von Einzelfällen bekannt, dass einzelne Flüchtlinge bis zu fünf Einreiseversuche gemacht
haben.
Was im Bericht jedoch völlig fehlt, ist eine Diskussion der entscheidenden Frage, was diese
Zahlen für den typischen Einzelfall bedeuten. Wenn wir vorsichtigerweise annehmen, dass
jeder abgewiesene Flüchtling (nur) noch einen zweiten Versuch gemacht hat, so zeigt sich,
dass die Schweiz von rund 57'000 Flüchtlingen, die an der Grenze angekommen waren, deren
6000 definitiv zurückgewiesen hat. Die Chancen jedes einzelnen Flüchtlings, in der Schweiz
aufgenommen zu werden, lag zwischen 86 und 92 Prozent! Sogar in der zweiten Hälfte des
Monats August 1942, als der Bundesrat während 10 Tagen eine vollständige Schliessung der
Grenzen angeordneten hatte, übertraf die Zahl der Aufnahmen mit 527 diejenige der (314)
Zurückweisungen deutlich. Ferner fällt auf, dass die Schweiz immer dann eine besonders
grosse Zahl von Flüchtlingen aufgenommen hat (bzw. einen besonders geringen Anteil
zurückgewiesen) hat, als die Not der Flüchtlinge und damit der Andrang am grössten war. Die
vorliegenden Zahlen erlauben es nicht, die Wahrscheinlichkeit einer Rückweisung nach
Nationalität und Religion aufzuschlüsseln, doch man muss davon ausgehen, dass die Chancen
der jüdischen Flüchtlinge geringer waren.
Mit solchen Wahrscheinlichkeiten und Durchschnittswerten sollen tragische Einzelfälle und
Fehlurteile nicht beschönigt werden, ganz im Gegenteil. Doch diese Analyse zeigt, dass die
Taten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg anders waren und der humanitären Tradition besser
gerecht wurden als ihre offiziellen Worte. Dies will der Bergier-Bericht offensichtlich nicht
wahrhaben. Deshalb wird alles, was das Vorurteil stört, ausgeblendet.
Eine ausführliche Studie (Cahier Nr. 00.04) zu diesem Thema kann per Fax Nr. 021 692 33 65
bei der Universität Lausanne kostenlos bestellt oder auf dem Internet
(http://www.hec.unil.ch/jlambelet/doc.html) abgerufen werden.
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