Rezensionen HOLGER REINISCH (unter Mitarbeit von MATHIAS GÖTZL): Geschichte der kaufmännischen Berufe (angefertigt im Auftrag des Bundesinstituts für Berufsbildung). Mit einer Einleitung von RAINER BRÖTZ und FRANZ KAISER). In: Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung; WISSENSCHAFTLICHE DISKUSSIONSPAPIERE, Heft 125. Bonn 2011, 269 Seiten, ISBN 978-3-88555-906-1 (ausschließlich online: www.bibb.de/veroeffentlichungen). Ausdruck gebührenfrei Eine auf deutsche Verhältnisse fokussierte „Geschichte der kaufmännischen Berufe“, die einerseits bei den „Anfängen“ ansetzt, andererseits jedoch bereits kurz nach Erreichen des 20. Jahrhunderts unvermittelt abbricht, begegnet dem historisch Interessierten in einem eigentümlichen bildungspolitischen Kontext. Seine Charakterisierung kann vom Rezensenten schon deshalb nicht ausgespart werden, da sich der Verfasser – vornehmlich in seinen methodologischen Vorüberlegungen, später eher sporadisch – auf ihn einläßt. Es handelt sich um den im Jahre 2009 vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) initiierten ehrgeizigen Versuch, im Zuge seiner Modernisierungsbestrebungen zu einer Neuordnung der für die Erst- und Weiterbildung relevanten kaufmännischen Berufe zu gelangen. Dieses Ziel im Visier, haben die Projektleiter RAINER BRÖTZ und FRANZ KAISER der von REINISCH verfaßten umfangreichen historischen „Studie“ (S. 13–270) eine „Einleitung“ (S. 5–11) vorangestellt, in der sie (1) die mit der Untersuchung verknüpften Erwartungen artikulieren, (2) die „konzeptionelle Struktur“ der Studie skizzieren sowie – aus ihrer Sicht – (3) mittels einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse den für ihr Anliegen relevanten Erkenntnisgewinn fixieren. Die hiermit konstituierte Pragmatik vermittelt ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster und gefährdet so den unmittelbaren Zugang zum Gewesenen. Es ist hier nicht der Ort, das von BRÖTZ und KAISER der Öffentlichkeit mehrfach vor- gestellte Projekt als solches zu referieren und kritisch zu kommentieren. Doch soviel sei gesagt: Zur Abwendung einer konzeptionslosen Aufsplitterung kaufmännischer Qualifikationsprofile in den Sektoren Erstund Weiterbildung stellt es sich unter die Aufgabe, mittels einer „umfassenden Theorie des kaufmännischen Denkens und Handelns“ ein kognitiv-pragmatisches Regulativ zu entwickeln, das darauf angelegt ist, (1) im Spektrum der herkömmlichen beruflichen Ausdifferenzierung gemeinsame Leistungsanforderungen zu identifizieren und ihnen – ausbildungsbestimmend für den ganzen kaufmännischen Sektor – adäquate „kaufmännische Kernkompetenzen“ zuzuordnen sowie – soweit erforderlich – (2) mit diesen unabweisbare Spezialisierungserfordernisse systematisch zu verknüpfen. Das GUK-Projekt (Gemeinsamkeiten und Unterschiede kaufmännisch-betriebswirtschaftlicher Aus- und Fortbildungsberufe) sieht sich, was beispielhaft illustriert wird, aktuell mit einem Prozeß qualitativer Veränderungen kaufmännischer Arbeit konfrontiert, der dringend nach einem berufspädagogischen Upgrading verlange. Der Rezensent fragt sich, weshalb die im Rahmen des Projekts ausgeschriebene und von REINISCH erstellte Expertise zur „Geschichte der kaufmännischen Berufe“ auf einen Zeitraum festgelegt wurde (Mittelalter bis Ende des 19. Jahrhunderts), innerhalb dessen die vollständige historische Aufklärung der vermeintlich eine anspruchsvollere Qualifizierung verlangenden Sachverhalte nicht geleistet werden kann. Tatsächlich beziehen sich die das Projekt vom Anforderungs- und Qualifikationswandel her begründenden GUK-Verlautbarungen ausschließlich auf das Erscheinungsbild der kaufmännischen Berufe im 20. Jahrhundert. Hier hätte der Historiker eigentlich ansetzen müssen, hier wäre er auf die (zeit)geschichtlich geprägten Gegenwartsprobleme gestoßen, von hier aus hätte er es leichter gehabt, unter Berücksichtigung der bereits in den 1950er Jahren einsetzenden Reformbestrebungen Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen mit sachgerechten Fragen an die Vergangenheit heranzutreten. In der von BRÖTZ und KAISER verfaßten Einleitung findet sich keine Begründung für die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums. Da in ihrem Projektantrag ein geschichtliches Interesse nur kurz einmal anklingt („… Hinweise aus der historischen Entwicklung kaufmännischer Berufe […, zu ihrer] gesellschaftlichen Funktion […] sowie zur Flexibilisierung und Dynamisierung der Arbeits- und Lebenswelt [… sollen] geprüft werden“), ist es schon überraschend, daß der Untersuchungsauftrag, dessen Resultat Gegenstand dieser Rezension ist, überhaupt vergeben wurde. Vor diesem Hintergrund hatten die Projektleiter allen Anlaß, die Einleitung für eine nachträgliche Begründung zu nutzen: Es sei zu erwarten gewesen, mittels einer ausgreifenden historischen Literaturstudie „Hinweise für die Entwicklung einer Theorie des kaufmännischen Denkens und Handelns“ zu finden, womit ein „tieferes Verständnis für die kaufmännische Mentalität“ angebahnt werde und die Definition dessen, was unter kaufmännischer Arbeit zu verstehen sei, vorankomme. Aus dem von den Projektleitern gezogenen Fazit (S. 11) läßt sich entnehmen, daß nach ihrer Einschätzung zunächst nur der mentalitätsgeschichtliche Ansatz der Studie einen Erkenntnisgewinn erbracht habe: • • Die Studie „entmystifiziere“ die Vorstellung, das Verhalten des Berufsstandes habe sich spätestens seit dem Mittelalter an einer als „Kaufmannsehre“ zu bezeichnenden allgemein geltenden Norm orientiert. Allenfalls sei im „Innenverhältnis der Kaufleute, soweit sie feste Geschäftsbeziehungen pflegten“, „Redlichkeit“ geübt worden. Angesichts der „aus allen Zeitepochen“ überlieferten Verstöße „gegen Sitte und Moral“ im alltäglichen Kundenverkehr bestünden Zweifel an der realen Existenz des „ehrbaren Kaufmanns“. Er verkörpere „eher eine Norm“, denn die „gelebte Wirklichkeit“. Schon die griechische Mythologie wisse hiervon zu künden, sei ihr zufolge doch der Gott der Kaufleute zugleich derjenige der Diebe. 303 Es wird sich erweisen, daß dieser „Befund“ auf einer tendenziösen Interpretation beruht. Er ist überdies fehlerhaft. Hierüber kann nicht kommentarlos hinweggegangen werden, da die Lektüre der Studie sonst mit falschen Assoziationen belastet würde. • Die Projektleiter sind dem Mißverständnis aufgesessen, schon die griechische Mythologie habe die Kaufleute in einen anrüchigen Kontext gestellt. Damit verkennen sie den in ihr verankerten Gottesbegriff. Folgt man dem Altmeister der Gräzistik, WOLFGANG SCHADEWALDT (1900–1974), dann repräsentieren die Götter – das Seiende insgesamt erfassend – die (1) im Kosmos, (2) im sozialen Beziehungsgefüge und (3) im Individuum evident bzw. latent vorhandenen und unter bestimmten Bedingungen lang- oder kurzfristig aufbrechenden gestaltenden, bewahrenden oder zerstörerischen Mächte. Deren Zuordnung zu den einzelnen Göttergestalten, gelegentlich auch zu Dämonen, vollzieht sich nicht durchgehend unter dem Anspruch, die Mythologie mit Charakteren zu bevölkern, sondern auch mit Bezug auf plötzliche Ereignisse (Augenblicksgötter) oder – häufiger noch – in Anknüpfung an Episodisches, das in mythischen Erzählungen Erwähnung findet. Letzteres trifft für den umtriebigen Hermes zu. Von Zeus eingesetzt, göttliche Botschaften vom Olymp hinab in die Welt zu tragen und dieselben zugleich zu interpretieren, wurde er von den (hermeneutischen) Wissenschaften als ihr Gott reklamiert. Ein ganzes Bündel weiterer – inhaltlich unverbundener – göttlicher Zuständigkeiten sind ihm zugeordnet. Um nur die wichtigsten zu nennen: (1) Er ist der Gott der Wege und der Reisenden, da er den Verräter Battos in einen jener Steine verwandelte, die seinerzeit der Wegemarkierung dienten; (2) er gilt als Gott der Diebe, weil er am Tage seiner Geburt 50 junge Rinder aus der Herde seines Bruders Apollon entführte; (3) die Hirten beanspruchten ihn, hatte er doch die gestohlenen Rinder gehütet; (4) weiterhin war er der Gott der Kaufleute, denn er hatte es vermocht, den erzürnten Apollon mittels eines Tauschhandels zu Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 304 • besänftigen: Dieser gab sich mit der von Hermes erfundenen Lyra sowie einigen Pfeifen zufrieden, während der Bruder das Recht auf die Herde erhielt sowie den goldenen Heroldsstab. Die von den Projektleitern mit ihrem Schlenker zur griechischen Mythologie angereicherte Rufschädigung des Kaufmannsstandes bezieht sich auf von REINISCH referierte historisch belegte amoralische Praktiken, die allerdings nicht dem Straftatbestand des Diebstahls, sondern wohl eher dem des Betrugs zuzurechnen sind. Falsch ist der hieraus gezogene Schluß, der Topos „ehrbarer Kaufmann“ habe für eine „ideologisierte Figur“ gestanden, deren eigentliche Funktion es gewesen sei, eigensüchtige Standesinteressen zu kaschieren. Es wäre ein Unding, auf diese Weise die Wirklichkeit gegen die Norm ausspielen zu wollen. Der „ehrbare Kaufmann“ hatte nie den Charakter einer auf Induktion fußenden empirischen Erscheinung; er konnte es aus erkenntnistheoretischen Gründen auch gar nicht sein. Vielmehr handelt es sich im Kontext historischer Forschung um eine auf die Problemstellung der praktischen Philosophie gemünzte regulative Idee, die darauf angelegt ist, die Realität kaufmännischer Funktionswahrnehmung unter den in ihr enthaltenen Anspruch zu rücken. Tatsächlich erweist sie sich in der Studie als ein unverzichtbares Instrument mentalitätsgeschichtlicher Forschung. Ihre Bedeutung für die Akteure des Handels steht ohnehin außer Frage: Zwar vermögen sozial etablierte moralische Normen Normverstöße nicht gänzlich zu verhindern, aber sie zwingen zur Rechtfertigung, und ihre Verletzung schafft Risiken, zumal wenn sie mit Sanktionen bewehrt ist. Den Interessen der Auftraggeber entgegenkommend, aber wohl auch eigenen Intentionen folgend, stellt REINISCH fest, seiner „Geschichte der kaufmännischen Berufe“ liege ein „modernisierungstheoretisches Konzept“ zugrunde. Demnach hätte er es sich – auf den Untersuchungszeitraum bezogen – zur Aufgabe gemacht, die „Entwicklung und Herausbildung“ des „kaufmännischen Arbeitsvermögens“ (S. 17) in einem sich von Traditionen lösenden – positiv besetzten – Veränderungsprozeß nachzuzeichnen. Mit Blick auf diese Fragestellung war es naheliegend, das von VAN DER LOO und VAN REIJEN (dt. 1992; 2. Auflage 1997) entwickelte Instrumentarium einzusetzen: Modernisierung ereigne sich in einem im historischen Wandel befindlichen „Handlungsfeld“, das sich zur Beschreibung und Bewertung des Veränderungsverlaufs unter vier „Perspektiven“ rücken lasse, nämlich unter die der „Differenzierung“, der „Rationalisierung“, der „Individualisierung“ und der „Domestizierung“. Wie aus der Endsilbe -ung ablesbar, wird vorausgesetzt, die Analyse werde es mit in Bewegung befindlichen Vorgängen zu tun haben. Offen bleibt jedoch zunächst, wie sich das unter den vier regulativen Ideen Zeigende zueinander verhält und ob es sich einer – einzelnes zu einem Ganzen zusammenfassenden – Fortschrittsvision etwa in der Weise zu fügen vermag, daß das von partiellen Steigerungsfaktoren Bestimmte zu Linearität gerinnt. V. D. LOO/V. REIJEN vermeiden es, sich zur Umsetzung des „Projekts Modernisierung“ in gesellschaftspolitische Programmatik zu äußern. Die Kompetenz der Sozialwissenschaften ende dort, wo die Zukunft beginnt (S. 264); schon stehe die Postmoderne auf dem Plan (S. 283 ff.). Ihre zentrale Aufgabe als Analytiker sehen sie darin, der Komplexität des historisch vorliegenden Modernisierungsgeschehens gerecht zu werden. Die im Analyseschema verankerten vier Perspektiven stünden nicht per se für traditionsüberwindende eindeutig wirkende Faktoren. Vielmehr würden sie auf Paradoxien verweisen und zur Erreichung von Modernisierungseffekten auf gegenseitige Korrekturen angewiesen sein (S. 36 ff.; 90 ff.). Beispielhaft auf unser Thema bezogen: (1) Die Ausdifferenzierung des „kaufmännischen Arbeitsvermögens“ im Zuge zunehmender funktionaler Spezialisierung verspreche einerseits die Schärfung der Leistungsprofile, andererseits jedoch stelle sich das Problem der Institutionalisierung einer auf das Verständnis von Gesamtzusammenhängen abhebenden Reintegration. (2) Die Rationalisierung im Sinne einer sich an Strenge steigernden Bindung an die Ef- Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen fizienzkriterien des ökonomischen Prinzips reflektiere auf die Verbilligung kaufmännischer Leistungen. Sie habe enge Berührung mit dem per Differenzierung Angestrebten. Bar einer „natürlichen“ Selbstbegrenzung, sei jedoch zu erwarten, daß sie in Konflikt mit der sich in der Moderne artikulierenden Individualisierung gerät und auf eine Überforderung physischer und psychischer Potentiale der kaufmännisch Tätigen trifft. (3) Der moderne Mensch verlange Respekt vor seiner mentalen Befindlichkeit. Selbstverwirklichung, zumindest jedoch Partizipation nach eigenem Gusto, werde von ihm reklamiert. Seinem Drang nach Individualisierung auch im Beruflichen folgend, erstrebe er gewissermaßen die Rolle des „Lebens-Entrepreneur[s] am Markt“ (ULRICH BLUM 1998). Damit jedoch verfalle er einer Illusion. Denn die Modernisierung als Befreiung von traditionellen Bindungen mache den anonymen Zwängen Platz, die von den beiden erstgenannten Modernisierungstendenzen ausgehen. (4) Die auf Zwecke bezogene Manipulation bzw. Beherrschung des – im strengen Sinne – Naturgegebenen und des sich in historischen Prozessen strukturell Verfestigten wird hier dem Begriff Domestizierung subsumiert. Wo sie gelungen sei, habe sich der Spielraum für solche Veränderungen im vorgefundenen sozialen Handlungsfeld vergrößert, die sich als Facetten der Modernisierung klassifizieren ließen. Das Paradox der Domestizierung werde evident, sobald biologische und soziale Grundbedürfnisse zur Disposition gestellt würden. Zu den anthropologischen Essentials gehöre das Angewiesensein des einzelnen auf Gemeinschaft. Nicht zuletzt von hierher begründet sich der aus anderen Perspektiven als antiquiert erscheinende, aber in der Geschichte immer wieder auflebende berufliche Korporatismus. Ob sich die vorliegende Studie der Modernisierungsgeschichte zurechnen darf, soll hier noch nicht entschieden werden. Das Zögern rührt daher, daß REINISCH – gemeinsam mit den Projektleitern (S. 6; 18) – das von V. D. LOO/V. RAIJEN entwickelte Konzept zunächst verbal übernimmt, es jedoch im weiteren so modifiziert, daß sich Zweifel an dessen voller Leistungsfähigkeit 305 einstellen. Ohne jegliche Begründung heißt es, die „Kategorie Domestizierung“ sei für die Untersuchung „von geringem Interesse“; es fehle jedoch die „Kategorie Expansion“, denn die kaufmännische Tätigkeit werde „durch einen langfristigen Wachstumstrend gekennzeichnet“. Dieser Einwand führt in die Irre. Gewiß: Alles spricht für die Vermutung, in dem „Handlungsfeld“, auf das das Analyseschema Anwendung findet, hätten – eingebunden in ein differenziertes historisches Geschehen innerhalb einer sich über Jahrhunderte hinweg erstreckenden Zeitspanne – vor allem mehrdimensionale Expansionsprozesse stattgefunden, wenn auch kaum auszuschließen ist, daß dieselben hier und da von Schrumpfungsprozessen begleitet wurden. Beide sind „natürlicher Gegenstand“ modernitätstheoretischer Analysen, nicht jedoch selbst dem Instrumentarium zugehörig, das dem Erkenntnisprogreß dient. Grundsätzlich wurzelt das wissenschaftliche Interesse am Gewesenen in aktuellen Problemlagen. Nicht immer liegt dies so deutlich zutage wie bei einer Auftragsforschung in bildungspolitischer Absicht. Und kaum jemals ist die Gefahr, die historische Realität zu verfehlen, größer als hier. Denn der Politik, einschließlich der ihr hörigen „Politikberatung“, ist es in aller Regel nicht darum zu tun, sich von der Geschichte etwas „sagen zu lassen“, was sie verunsichern könnte. Kaum auszudenken, was geschähe, wenn die vorliegende Studie zur Erkenntnis käme, die von den Auftraggebern fest eingeplante „umfassende Theorie des kaufmännischen Denkens und Handelns“ fände in der Geschichte keine Stütze! Schlimmer noch: wenn es mißlänge, die dynamisch gefaßte Idee der Modernisierung durch die historischen Ereignisse zielsicher hindurchzuleiten. Die historische Legitimation des Projekts bliebe aus, die erhoffte Anschlußmöglichkeit erwiese sich als Illusion. Eine „Geschichte der kaufmännischen Berufe“ wird damit rechnen können, auf ein Interessenspektrum zu stoßen, das sich nicht nur in seiner Breite von demjenigen der Auftraggeber unterscheidet. Schon hier sei gesagt: Wer die wechselvolle Ausformung der Kaufmannschaft unter unterschiedlichen Aspekten verfolgen will, kommt bei Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 306 REINISCH auf seine Kosten. Zwar beteuert er, keine Chronologie liefern zu wollen, und sich hinsichtlich der Periodisierung für Zäsuren entschieden zu haben, die durch „Modernisierungsschwellen“ markiert seien. Tatsächlich jedoch werden von ihm vier große auf der Zeitgeraden liegende Kapitel gebildet, deren Überschriften ohne spezielle modernisierungstheoretische Termini auskommen. Und auch dem innerhalb eines jeden Kapitels wiederkehrenden Gliederungsmuster, das die Elemente des von STRATMANN (1993, S. 36) identifizierten „berufspädagogisch relevanten sozialen Gefüge(s)“ komprimiert, ist nicht zu entnehmen, daß der Leser darauf gefaßt sein muß, auf die pure Rekonstruktion von Modernisierungsprozessen zu stoßen. Die historische Darstellung bleibt dann auch auf der konventionellen Linie gegenwartsbedeutsamer Geschichtsschreibung: Sie verliert sich nicht an Historistisches. Aber sie verzichtet auch nicht auf narrative Konkretisierungen und Illustrationen. Dabei greift REINISCH immer wieder auf seine 1991 vorgelegte und bis heute leider unveröffentlichte Oldenburger Habilitationsschrift „Ökonomisches Kalkül und kaufmännisches Selbstbild“ zurück. Wenigstens ein Teil des von ihm bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten erschlossenen und in Erkenntnis umgesetzten reichen Materials wird mit der hier rezensierten Publikation zugänglich. Der in vier Abschnitte gegliederte Weg vom Mittelalter bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt nach einer Vorbesinnung, die die Funktion des Handels und die auf sie bezogene Verberuflichung in altorientalischen Hochkulturen und in der griechisch-römischen Antike streift, mit der seit dem Abklingen der Völkerwanderschaft verhalten einsetzenden Tauschwirtschaft auf deutschem Boden. Trotz anhaltend geringen Umfangs des Warenumschlags wurde der wandernde Fernkaufmann seit der Jahrtausendwende zu einem unübersehbaren Element der mittelalterlichen Gesellschaft. Seine Ablösung in Verbindung mit der Etablierung „seßhafter Handelsherren“ und dem Auftreten städtischer Kleinhändler im 13. und 14. Jahrhundert wird in einem ersten Untersuchungsschritt thematisiert (1). Es folgt (2) ein Sprung ins 17. und 18. Jahrhundert unter der Frage nach der wechselvollen Rolle der Kaufmannschaft im Zeichen merkantilistischer Gewerbeförderung. Danach (3) richtet sich der Blick auf das kaufmännische Denken und Handeln im Vorfeld der industriellen Revolution. Mit dem letzten Schritt (4) wird die Epoche der Hochindustrialisierung erreicht. In ihr hat sich jene exorbitante horizontale und vertikale Ausdifferenzierung kaufmännischer Funktionen angebahnt, aus der letztlich das Problem entstanden ist, dem sich das BIBB-Projekt heute stellt. In jedem der genannten Abschnitte trifft der Leser auf das gleiche Set von Untersuchungsfragen. Sie richten sich (a) auf die ökonomische Formation und Herrschaftsstruktur der jeweiligen Epoche, (b) auf die Zuordnung von Berufs- und Anforderungsprofil, (c) auf die mentale Verfassung der Kaufmannschaft im Zeichen von Normen und Werten sowie (d) auf die von unterschiedlichen Kräften getragene Qualifizierung und Sozialisation des kaufmännischen Nachwuchses. Im Mittelpunkt der ersten drei Untersuchungsperioden steht der seinen Betrieb repräsentierende Fern- bzw. Großkaufmann. So begegnen uns die hansische und die oberdeutsche Kaufmannschaft. Nur am Rande tauchen Krämer – das sind die seßhaften städtischen Kleinhändler – sowie vorwiegend den ländlichen Raum versorgende Höker auf. Zwischen Krämern und Hökern auf der einen und der kaufmännischen Oberschicht habe eine strikte Trennung bestanden; das Verhältnis sei das einer von unten nach oben grundsätzlich undurchlässigen „sozialen Hierarchie“ gewesen. Nicht zuletzt der in der Literatur anzutreffende Hinweis auf Mentalitätsunterschiede stützt die Vermutung, es habe anfangs keinen auf einen einheitlichen Charakter gegründeten Kaufmannsberuf gegeben. Sollte der abschließende Befund lauten, aus der Geschichte sei eine allgemeine „Theorie des kaufmännischen Denkens und Handelns“ ablesbar, dann müßte es in der Vergangenheit – möglicherweise als Folge von Modernisierung – zu einer Vereinigung von Entwicklungssträngen oder gar zu einem Absterben ursprünglicher Varianz gekommen sein. Wegbereiter der angesprochenen Vermutung ist ARISTOTELES. Eingebunden in seine Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen „Politik“, wurden von ihm die Grundlagen einer „Wissenschaft vom Erwerb“ (1256a– 1259b) entwickelt. Sie unterscheidet die an der Versorgung des „Hauses“ mit dem Notwendigen orientierte „Ökonomik“ im eigentlichen Sinne von der „Chrematistik“, dem Kapitalerwerbswesen. Für beide Bereiche spiele der Handel bzw. Tauschhandel eine Rolle. Doch ihre „Nachbarschaft“ (1256b) dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in ihnen tätigen Personen ihre eigene „Lebensart“ (1256a), das heißt – wie wir heute sagen würden – ihre eigene Mentalität besaßen. • • Für Krämer und Höker habe sich mit ihrem Beruf keine gewinnbezogene Erwerbserwartung, sondern eine Versorgungschance verbunden. Insofern hoben sie sich nicht von denjenigen ab, die darauf angewiesen waren, die Bedarfsbreite ihres Hauses dadurch zu decken, daß sie bei ihnen im Überfluß Vorhandenes gegen Benötigtes eintauschen konnten (1256a). Während Geld als Tauschmittel fungierte, waren Krämer und Höker „natürliche“ Tauschhelfer. Diese Dienstleistung, die verschiedene Kleinhandelsfunktionen umschloß, war darauf angelegt, auf der Basis von Arbeit „Nahrung“ zu gewährleisten. „Von Natur aus [gehöre] das Handelswesen nicht zum Kapitalerwerbswesen“. Denn der Tausch sei auf das beschränkt, was „für die Menschen hinreichend“ sei (1257a) und vollziehe sich – was den Wert betrifft – auf der „Grundlage der Gleichheit“ (H ANNAH R ABE ). Demgegenüber gehe das Begehren des See- und Landgroßhandels sowie des Zinsgeschäfts ins „Grenzenlose“ (1258a; 1258b). Zwar erweise sich das Kapitalerwerbswesen in einigen Teilen als nützlich, da die von ihm gestifteten Märkte über den Wert von Immobilien und Handelsgütern informierten. Die Zinsnahme sei jedoch zu Recht verhaßt. Sie laufe am meisten der Natur zuwider, „weil dort vom Geld selber das Erwerben rührt, nicht aber von dem, wozu eigentlich das Geld angeschafft wurde“ (1258b). 307 Mit Blick auf den in seine Studie einbezogenen Zeitraum stellt REINISCH fest, die ersten beiden Epochen seien wirtschafts-, sozial-, mentalitäts- und berufsbildungsgeschichtlich gut erforscht (S. 231). Die Menge des Zusammengetragenen verbürgt jedoch nicht, daß bezüglich Gewichtung und Beurteilung der Fakten Übereinstimmung hergestellt wäre. Konsens dürfte am ehesten hinsichtlich der Beschreibung und der berufspädagogischen Bewertung der damaligen Sozialisationsund Informationsstruktur bestehen. Allerdings würden verwertbare Quellen in größerer Zahl erst für die Zeit nach dem Ausklingen der nichtschriftlichen Kaufmannstätigkeit vorliegen (S. 46). Das Interesse konzentriert sich auf die Integration des Nachwuchses in das Geschäft der Fern- und Großhandlung. Das hier (von wenigen Ausnahmen abgesehen) für operative Funktionen – insbesondere Korrespondenz und Rechnungslegung – in denkbar geringer Zahl beschäftigte Personal hatte im allgemeinen zum Erlernen der Schrift und des Umgangs mit Zahlen niedere Elementarschulen, sogenannte Schreib- und Rechenschulen besucht. Im übrigen konnte es mit keiner strukturierten Unterweisung rechnen, war also auf das Gelingen von Imitatio angewiesen. Hierin habe sich ganz offenbar zwischen dem 15./16. und dem 17./18. Jahrhundert kaum etwas geändert (S. 104). Auf FRITZ REDLICH (1965) Bezug nehmend, heißt es, den Handlungslehrlingen im engeren Sinne sei kaum mehr aufgetragen worden, als ihr „Tagwerk abzuhaspeln“ (S. 106). Ganz anders sei die berufliche Sozialisation derjenigen verlaufen, die von Geburt an ausersehen waren, künftig etablierten Handelshäusern vorzustehen. Vornehmlich an sie habe sich JACQUES SAVARY 1675 (dt. 1676) mit seinem aufs Selbststudium setzenden „Le Parfait Négociant“ gewandt, einem wirkungsgeschichtlich ausstrahlenden, die Perspektive des denkenden und handelnden Kaufmanns aufnehmenden Werk (S. 98). Die erste und die zweite Epoche vergleichend, heißt es, die soziale Differenzierung der kaufmännischen Ausbildung habe sich im 17./18. Jahrhundert eher verstärkt (S. 108). An die Stelle der auf die Begegnung mit konkreten Berufsleistungen abhebenden Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 308 Auslandslehre (S. 53 ff.), derer sich im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit die vom Prinzipal Ausersehenen im allgemeinen zu unterziehen hatten, sei im ausgehenden 18. Jahrhundert bei Lehrabschluß zunehmend die das geschäftliche Umfeld im In- und Ausland bloß berührende Bildungsreise getreten (S. 119). Ausführlich wird die Flankierung der betrieblichen Ausbildung und Sozialisation durch schulische Einrichtungen angesprochen. Schon in seiner Habilschrift hatte sich REINISCH diesem Thema gewidmet und dabei ein vom damaligen Mainstream der Berufsund Wirtschaftspädagogik abweichendes Urteil gefällt. Man dürfe die Schreib- und Rechenschulen des späten Mittelalters und die spätere Ausweitung ihres Kanons um das Fach Buchhaltung weder in ihrer berufsvorbereitenden Funktion noch in ihrer berufsqualifizierenden Bedeutung überschätzen (S. 101; 103 f.). Erst recht gelte das für die „höhere kaufmännische Fachbildung“, wie sie (S. 109 ff.) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Gründung von Handlungsakademien – beispielsweise in Hamburg, Wien, Stuttgart – etabliert worden war. Deren Scheitern sei – und das betreffe auch ihren „Vordenker“, den „Projektemacher“ PAUL JACOB MARPERGER (S. 99 ff.) – vorprogrammiert gewesen. Denn einen „qualifikatorisch-funktionalen Druck“, der „in Richtung auf eine höhere kaufmännische Fachbildung“ gegangen wäre, habe es nicht gegeben (S. 101). Gleiches gelte für die dritte Epoche und in abgeschwächter Form sogar noch bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert (S. 155; 215). Gravierende Mängel der betrieblichen Ausbildung übergehend, habe die große Zahl der Prinzipale die Institution Schule für ungeeignet gehalten, einen Beitrag zur Eingliederung des Nachwuchses in ein erfolgreiches kaufmännisches Berufsleben zu leisten (S. 153 ff.; 214 f.). Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und am Vorabend des Ersten Weltkriegs sei ein ausdifferenziertes kaufmännisches Schulwesen entstanden. REINISCH stellt die Entwicklung der aus dem Mittelalter überkommenen Schulen, die der gehobenen Handelsschulen des 18. Jahrhunderts und die – nach seinem Urteil – in ihrer Bedeutung ebenfalls überschätzten wenigen vor der Reichsgründung errichteten Schulen des 19. Jahrhunderts (S. 155; 164) in keinen modernitätstheoretischen Zusammenhang. Er unterscheidet sich damit von STRATMANN. Schon für die zweite Epoche, aber unter Bezug auf den gewerblichen Sektor, hatte dieser die damals einsetzende Kritik an der reinen Imitatio und die „von außen“ erhobene Forderung nach der schulmäßigen systematischen Vermittlung technologischen Wissens zum Ausgangspunkt eines bis zur Gegenwart reichenden Modernisierungsprozesses erklärt. Im Rahmen des von ihm übernommenen Auftrags widmet REINISCH dem Wandel der mentalen Verfassung der Kaufmannschaft – über die Abfolge der vier von ihm behandelten Epochen hinweg – besondere Aufmerksamkeit. „Kaufmännisches Arbeitsvermögen“ und „kaufmännische Mentalität“ sind die beiden in der historischen Realität unterscheidbaren individuellen Potentiale, deren Bestimmung es sei, sich den Anforderungen der Moderne zu öffnen. An die bereits angesprochenen Fragen der Norm- und Wertebindung anknüpfend, beschränkt sich der Rezensent darauf, den hier vorliegenden Versuch einer Darstellung der „Mentalitätsgeschichte kaufmännischer Berufe“ kritisch zu referieren. REINISCH bewegt sich auf ihm seit langem vertrauten Terrain. Er hat das Verdienst, die im Umkreis der französischen Zeitschrift „Annales“ entwickelte Methodologie einer auf „Mentalität“ abhebenden Historiographie unserer Disziplin mit seiner Habilschrift erschlossen zu haben (1991, S. 5 ff.). Der Ansatz fokussiert auf das Phänomen des kollektiven Bewußtseins, das mehr oder minder großen sozialen Gruppen eigen ist und unter dem Einfluß interner Prozesse und äußerer Einwirkung einem historischen Wandel unterliegt. Meinungen, Informationsverarbeitungsmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Denkstile etc. begründeten soziale Identität. Den gleichen Effekt habe auch die mentale Orientierung an Berufsgenossen, also an jenen, deren „Arbeitsvermögen“ das gleiche Profil besitzt. Die von ARISTOTELES verneinte Frage nach der einheitlichen Mentalität der Handeltrei- Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen benden wird unter Bezug auf das Spätmittelalter und drei nachfolgende Epochen neu aufgeworfen. Das Ergebnis vorwegnehmend: Welches Merkmal auch immer ins Spiel gebracht wurde, keines erwies sich als ein prägnantes ein- bzw. ausgrenzendes Kriterium. Hätte der Zeithorizont, der der Studie gewährt wurde, das 19. Jahrhundert ausgeschlossen, wäre es möglich gewesen, vor dem Hintergrund der gerade noch überschaubaren Realität zwei Idealtypen mit punktueller Berührung zu bilden. Schon an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert war der Prozeß der Ausdifferenzierung im kaufmännisch-verwaltenden Sektor des Beschäftigungswesens so weit fortgeschritten, daß „Gemeinsamkeiten“ jeweils auf Teilbereiche beschränkt blieben. Um überhaupt in der Lage zu sein, ganz unterschiedliche Funktionen und mentale Ausprägungen dem Attribut „kaufmännisch“ zu subsumieren, wäre es nötig, mit der von REINISCH angesprochenen Abstraktion (S. 232) ernst zu machen. Indem man sich vom konkreten Geschehen löste, würde man die gesamtwirtschaftliche Aufgabe der durch Präferenzen und Kaufkraft bestimmten sozialen Bedarfsdeckung erfassen: Hier geht es (1) um die von Anreizen in Gang gesetzte (2) zweckrationale Akquisition von Gütern (oder von Dienstleistungspotentialen), (3) um ihre bedarfsgerechte quantitative und qualitative Manipulation (oder die Ausbildung von Dienstleistungskompetenzen) sowie (4) mit Blick auf die Relation von Herstellung (oder Leistungsbereitschaft) und Nachfrage um räumliche und zeitliche Überbrückung; des weiteren (5) um Kaufberatung (bzw. Erläuterung angebotener Serviceleistungen), (6) die Herbeiführung von Vertragsabschlüssen, (7) die Gewährung von Vorfinanzierung etc. Hinzu kommen „abgeleitete“ Aufgaben, nämlich die weit um sich greifenden Kontorfunktionen unter Einbeziehung des gewerblich-industriellen Sektors. Es gilt, den Selbständigen und Unselbständigen, den Fachkräften und den Auszubildenden, deren aktuelles bzw. angestrebtes „Arbeitsvermögen“ diesem weiten Feld zugeordnet werden kann, nicht nur den funktionalen, sondern auch den mentalen Zusammenhang zu erschließen, aus dem heraus sie sich – partiell partizipierend, aber 309 als ganze Person gefordert – als Kaufleute verstehen können. Wer Wert darauf legt, als der Kaufmannschaft zugehörig zu gelten, sollte wissen, daß bis in die frühe Neuzeit hinein ein Großteil seiner Berufsgenossen um eine angemessene soziale Plazierung kämpfen mußte. Der Kaufmann war in der Ständegesellschaft nicht vorgesehen. Während sich Krämer und Höker, die der Sorge um ihre eigene „Nahrung“ permanent unterlagen, eher unauffällig neben dem Handwerk behaupten konnten, lag es im Interesse des gehobenen Kaufmanns, in die Nähe des Geburtsadels zu rücken. Ohne ökonomische Erfolge, ohne vorzeigbare Gewinne hatte er keine Chance. Doch die hierauf gerichteten Anstrengungen galten als sündhaft und standen lange unter kirchlichem Verdikt. Sie wurden mit Habsucht und Selbstsucht assoziiert (S. 45 ff.), insbesondere würden sie das unterhalb von Klerus und Herrschaft geltende Gleichheitsgebot verletzen. Zur Rechtfertigung des sich auf den „gerechten Preis“ verpflichtenden Kaufmanns kam es im 13. Jahrhundert unter dem Einfluß von ALBERTUS MAGNUS und THOMAS VON AQUINO (BRUCHHÄUSER 1989, S. 24 ff.). Die kämpferische Mentalität der Kaufmannschaft blieb jedoch weiterhin gefragt. Sie mußte sich einer zu Vorurteil und Nachrede allzu bereiten Öffentlichkeit erwehren, die ökonomische Erfolge unredlichen Geschäftspraktiken zuschrieb. Diesen Vorwurf bewertend, äußert sich REINISCH widersprüchlich. Einerseits heißt es, der Kaufmann sei sich der religiösen Verbote bewußt gewesen und habe zu ihnen gestanden, was allerdings Verstöße nicht völlig ausschließe, andererseits legt er den Projektleitern (siehe oben) in den Mund, die von Kaufleuten gelebte Wirklichkeit habe moralischen Normen nicht entsprochen (S. 47). ERICH MASCHKE (1964), auf dessen Abhandlung „Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns“ Bezug genommen wird, stimmt letzterem nicht zu. Jenseits der referierenden Wiedergabe globaler Verunglimpfungen geht REINISCH jedoch mit ihm konform. Die Mentalität der Groß- und Fernhändler glich einem Spagat zwischen Mut und Demut. Dem Muster der Merchant Adventurers folgend, waren die Kaufleute angetreten, Trans- Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 310 aktionen zu wagen. Um des Erfolgs, um des zu erwartenden Gewinns willen wurden vielfältige Risiken eingegangen, jedoch im allgemeinen nicht in der Manier des Hasardeurs, sondern gebunden an erfahrungsgesättigte Rationalität. Dieselbe vermochte es jedoch nicht annähernd, Unsicherheit in Sicherheit umzumünzen. Erst mit dem Aufkommen von Versicherungen war es möglich, Risiken zum Gegenstand rationaler Kalkulationen zu machen. Kurz: Der Kaufmann sah sich in Gottes Hand. Gewiß, sein „Frömmigkeitsstil“ war „kommerziell eingefärbt“ (S. 48), womit allein gesagt ist, derselbe sei in der existentiellen kaufmännischen Grundbefindlichkeit tief verankert gewesen. Die mit dem Sicherheitsbedürfnis verknüpften Tugenden der Bescheidenheit und Sparsamkeit waren in dieser Epoche eine zentrale Komponente im mentalen Profil des deutschen Kaufmanns. Von einem „stabilen“ mentalen Wesenszug lasse sich jedoch nicht sprechen. Im Zuge verbesserter – zum Teil korporativer – Risikobeherrschung und deutlicher Fortschritte im Bemühen um soziale Integration auf hohem Niveau sei es zu einer veränderten Wertorientierung gekommen: Vom europäischen Mittelmeerraum ausgehend, habe sich im 17. und 18. Jahrhundert – stärker im Süden als im Norden Deutschlands – die Neigung verbreitet, kirchlichen und höfischen Prunk in die Welt des Kaufmanns zu übertragen (S. 50; 92 ff.). Merkwürdigerweise dienen der erklärtermaßen vornehmlich auf Deutschland bezogenen Studie die französischen – zum Annales-Kreis zählenden – Sozialhistoriker FERNAND BRAUDEL und JACQUES LE GOFF vor allem dort als maßgebliche Referenz, wo es nicht nur formal, sondern auch inhaltlich um ökonomische Strukturen und Mentalitätsgeschichtliches geht. Insbesondere unter dem letztgenannten Aspekt bleibt bei ihnen offen, ob und ggf. wie der Protestantismus mit seinen „weltlichen Lehren“, in denen „die Wurzeln der Weltanschauung der deutschen Aufklärung“ liegen (HANS M. WOLFF, 1963, S. 14), in der ökonomischen Praxis wirksam geworden ist. Weshalb wird beispielsweise LUTHERs eingängig formulierter und mit plastischen Beispielen durchsetzter Sermon „Von Kaufhandlung und Wucher“ (1524, in: Werke Bd. 7, hrsg. von K. ALAND, S. 263–282) von REINISCH übergangen? Kaum vorstellbar, daß LUTHER – obwohl nicht durchgängig bündig argumentierend – mit seiner in dieser Schrift fixierten Normierung von Handels-, Geld- und Kreditgeschäften keine Spuren im beruflichen Bewußtsein derer hinterlassen hat, die seine Landsleute waren! Es ist nicht Aufgabe des Rezensenten, eine historiographische Lücke zu schließen. Aber er möchte doch einfließen lassen, daß sich LUTHER nicht auf den anderenorts bevorzugt behandelten Fernhandel bezieht („… der ausländische Kaufhandel […] sollte nicht zugelassen werden“, S. 263). Sein zentraler Bezug ist der „tägliche Bedarf“, zu dessen Befriedigung „Kaufen und Verkaufen ein notwendig Ding“ sei (ebenda). Allerdings habe das zum Wohle des Nächsten zu geschehen: Der Kaufmann dürfe im Prinzip an seiner Ware nur so viel gewinnen, „daß seine Kosten bezahlt, seine Mühe, Arbeit und Gefahr belohnt werde“ (266 f.). Darüber hinaus müsse „des Nächsten Not zugleich der Ware Einschätzung und Wert sein“ (S. 265). Nach diesem Grundsatz läßt sich nur im Detailhandel verfahren, somit im Raum städtischer Gemeinschaften (ARNO BORST 1979, S. 395) bzw. der Face-to-FaceBeziehungen innerhalb eines auf Vertrauen gegründeten festen Kundenkreises. Noch im 19. Jahrhundert beeinflußte der soziale Aspekt den individuellen Verbraucherpreis. Mit den Festpreisen der Warenhäuser kam diese Praxis nach und nach zum Erliegen. Wollte man hier von „Modernisierung“ sprechen, würde allein auf den Aspekt der „Rationalisierung“ abgehoben, ohne zugleich das „Paradox“ der Entindividualisierung in die Bewertung einzubeziehen. Auch die modernitätstheoretische Klassifizierung kaufmännischer Berufstätigkeit im Zeichen einer Expansion des tertiären Sektors, als deren auslösende Faktoren vor allem Bevölkerungsentwicklung, Urbanisierung, Hochindustrialisierung und Imperialismus zu nennen sind, bereitet Schwierigkeiten. Mit seiner Darstellung und Analyse der vierten Epoche wendet sich REINISCH nicht zuletzt der mentalen Verfassung der vielen zu, die jetzt dauerhaft in einem zum Teil funktional ausdifferenzierten Feld Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen als „kaufmännische Angestellte“ beschäftigt wurden. Zuvor hätten sich diejenigen, die nach der Lehre als abhängig Beschäftigte im Betrieb verblieben, in einer „Durchgangsstation zur Selbständigkeit“ befunden und sich als „Prinzipale in Wartestellung“ verstanden (S. 149). Ihre künftige Position antizipierend, sei ihr kleines tägliches Tun in einem für sie sinnvollen kaufmännischen Zusammenhang eingebettet gewesen. Jetzt lag für diejenigen, die weder über Kapital noch Kredit verfügten, anderes in der beruflichen Perspektive: schmale Leistungsausschnitte, ein enger gestalterischer Spielraum, organisatorische Vorgaben, die möglicherweise Arbeitszerlegung institutionalisierten, um Routineeffekte zu erreichen. Wer sich hervorzutun vermochte, habe allenfalls die Chance gehabt, in der sich entwickelnden betrieblichen Hierarchie aufzusteigen (S. 192 ff.). Während der selbständige Kaufmann weiterhin als „Einzelkämpfer“ im Sinne der Modernisierung differenzierend, funktionalisierend und rationalisierend agieren konnte (S. 163), um Gewinne zu erzielen und – wenn sich das Glück rar machte – mit seinem Betrieb zu überleben, sei den unterhalb des Managements wirkenden Angestellten das Modernisierungselement der „Individualisierung“ – selbst in Form einer begrenzten Partizipation – versagt geblieben (S. 232 f.). Vor dem Hintergrund des Ergebnisses der vorliegenden „Geschichte der kaufmännischen Berufe“ täten die Projektleiter gut daran, sich von der Idee zu verabschieden, die ihnen vorschwebende pragmatisch umsetzbare „Theorie des kaufmännischen Denkens und Handelns“ ließe sich historisch fundieren. Wäre das 20. Jahrhundert in den Untersuchungsauftrag einbezogen worden, hätte weiteres Material zur Stützung dieser Empfehlung bereitgestanden. Der historiographische Exkurs erweist sich als ungeeignet, Einsichten zu gewinnen, mittels derer „per Ableitung“ das zu verhindern wäre, was die inflationäre Entwicklung kaufmännischverwaltender Berufsbilder befürchten läßt, nämlich eine Partialisierung mit der Konsequenz mangelnder Transferfähigkeit des als kaufmännisch deklarierten Arbeitsvermögens. Jenseits einer eher als Hintergrundwissen tauglichen allgemeinökonomischen Literacy 311 und der Beherrschung allgemeiner Bürotechniken, die auch in anderen Lebensbereichen Anwendung finden, gibt es keine Gemeinsamkeiten, aus denen sich eine umfassende kaufmännische Kernkompetenz entwickeln ließe. REINISCH hat deutlich herausgearbeitet, daß auch das Motiv „Gewinnerzielungsabsicht“ untauglich ist, über das Feld horizontaler und vertikaler Ausdifferenzierung hinweg diejenigen mental miteinander zu verknüpfen, die sich – seien sie Prinzipal oder Mitarbeiter – als Angehörige eines kaufmännischen Berufs verstehen (S. 232 f.). Und doch: Die Geschichte kommt denen zur Hilfe, deren Interesse sich auf die didaktische Gestaltung der kaufmännischen Berufserziehung richtet. Die von REINISCH getroffene Feststellung, er habe „eine einigermaßen schlüssige Erklärung, warum [bei der Etablierung von kaufmännischen Ausbildungsberufen] dem Aspekt der Branche der Vorzug vor dem Aspekt der Funktion gegeben worden ist, […] dem […] historischen Material nicht entnehmen können“ (S. 234), läßt sich als Aufforderung verstehen, die Geschichte zum Sprechen zu bringen. Ohne daß der Historiker allzu tief in sie eindringen müßte, offenbart sie ihm einen historischen Verlaufsprozeß, von dem man annehmen könnte, in ihm habe HEGELs „List der Vernunft“ gewaltet. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte ein mit seiner Firma reüssierender Kaufmann die Funktionen, die er zu seiner Entlastung Hilfskräften und Eleven übertrug, zuvor oft selbst ausgeübt und mit seiner Geschäftsidee „beseelt“. Wer eine solche Funktion übernahm, pflegte sich mit der „Handlung“ seines Prinzipals zu identifizieren. Infolge der sozialen Unterfütterung dieser Bindung dürfte sie in vielen Fällen ausgeprägter gewesen sein als die Identifikation mit dem konkreten Arbeitsplatz, zumal dieser – Wechselfällen ausgesetzt – das Berufsschicksal nicht endgültig besiegelte. Gewiß, man hätte zu einem späteren Zeitpunkt, etwa als der „kaufmännische Angestellte als Massenphänomen“ (S. 165 ff.) in Erscheinung trat, ein funktionsorientiertes Berufsmuster einführen können. Erinnert sei an die in den 1950er und frühen 1960er Jahren geführte Diskussion darüber, ob das „Funktionalprinzip“ dem traditionellen, Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 312 auf die Branchenzugehörigkeit abhebenden „Universalprinzip“ vorzuziehen sei. Die damals entwickelten Reformvorstellungen vermochten sich nicht durchzusetzen. Das historisch Gewordene blieb im Prinzip erhalten und verhinderte die Institutionalisierung der Herauslösung einzelner Funktionen aus der historisch durchgehaltenen gesamtbetrieblichen Perspektive. Da heute die ursprünglich vorhandene Übersichtlichkeit des Lebenszusammenhangs verlorengegangen ist, bedarf es des Zusammenspiels von Betrieb und Berufsschule. Das Ziel, die Vermittlung eines konkreten branchenspezifischen Arbeitsvermögens so zu arrangieren, daß die vom Betrieb innerhalb politischer und sozialer Rahmenbedingungen (z. B. Käufermarkt oder Verkäufermarkt) übernommene Aufgabe (Gewinnerzielung und/oder die Lösung von Versorgungsproblemen) vom Auszubildenden teilnehmend mitbedacht werden kann, ist ohne die Schaffung von Reflexionsphasen kaum zu erreichen. In ihnen müßte zur Förderung beruflicher Flexibilität die Einsicht heranreifen, die Ausbildung vor Ort habe im Hinblick auf den Erwerb eines kaufmännischen Berufs exemplarische Bedeutung. REINISCH setzt andere Akzente, wobei er sich von seinem historischen Gedankengang löst. Seine Sorge gilt der berufspädagogischen Substanz der Ausbildungsberufe angesichts ihrer Vermehrung. Von hierher fragt er nach den „Grenzen“ ihrer „Teilbarkeit“. Er sieht sie dort, wo infolge eines zu schmalen Zuschnitts eine (1) „breit angelegte berufliche Grundbildung“, (2) die „Vorbereitung auf eine qualifizierte berufliche Tätigkeit“ sowie (3) die Ausbildung „beruflicher Identität“ nicht mehr möglich ist (S. 234). Die Auseinandersetzung mit der materialreichen historischen Studie sei allen empfohlen, die ausgetretenen Pfaden nichts abgewinnen können und bereit sind, sich darauf einzulassen, die Historiographie bei dem Versuch zu beobachten, einen Beitrag zur Lösung eines berufsbildungspolitischen Gegenwartsproblems zu leisten. Die Einbettung der Geschichte der kaufmännischen Berufe in ein Projekt des BIBB erwies sich als Handikap. Man kann nur wünschen, daß sich der Verfasser entscheidet, das von ihm Erforschte aus den Projektvorgaben her- auszulösen und unter Einbeziehung des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit zu tragen. Zitierte Literatur ARISTOTELES: Politik (Übers. u. hrsg. von FRANZ F. SCHWARZ). Stuttgart 1989 BLUM, ULRICH: Neue Arbeitswelt: Zukünftige Quellen des Wachstums und des Bürgereinkommens. In: HILTERHAUS F./SCHOLZ, R. (Hrsg.): Rechtsstaat – Finanzverfassung – Globalisierung. Köln 1998 BORST, ARNO: Lebensformen im Mittelalter. Berlin 1979 BRÖTZ,RAINER u. a.: Gemeinsamkeiten und Unterschiede kaufmännisch-betriebswirtschaftlicher Aus- und Fortbildungsberufe (Projektbeschreibung), BIBB-Projekt 4.2.202, Bonn 2009 B RÖTZ , R AINER /S CHAPFEL -K AISER , F RANZ : Anforderungen an kaufmännisch-betriebswirtschaftliche Berufe aus berufspädagogischer und soziologischer Sicht. Bielefeld 2009 BRUCHHÄUSER, HANNS-PETER: Kaufmannsbildung im Mittelalter. Köln u. Wien 1989 LOO VAN DEN, HANS/REIJEN VAN, WILLEM: Modernisierung, 2. Auflage. München 1998 LUTHER, MARTIN: Von Kaufhandlung und Wucher (1524). In: Gesammelte Werke, Bd. 7. Hrsg.: ALAND, KURT. Digitale Bibliothek. Bd. 63. Berlin 2002 M ASCHKE , E RICH : Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns. In: WILPERT, PAUL (Hrsg.): Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen. Berlin 1964 RABE, HANNAH: Haus II. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (hrsg. von RITTER, JOACHIM), Bd. 3. Darmstadt 1974 REINISCH, HOLGER: Ökonomisches Kalkül und kaufmännisches Selbstbild. Unveröffentlichte Habilschrift. Universität Oldenburg 1991 STRATMANN, KARLWILHELM: Die Gewerbliche Lehrlingsausbildung in Deutschland, Bd. 1, Frankfurt/Main 1993 WOLFF, HANS MATTHIAS: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, 2. Auflage. Bern und München 1963 Jürgen Zabeck Anschrift des Autors: Univ.-Prof. em. Dr. rer. pol., Dipl.Kfm., Dipl.-Hdl., Universität Mannheim, Robert-BoschStraße 13, 69502 Hemsbach, E-Mail: [email protected] Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen Ökonomische Rationalität, rationale Moralität und moralische Autonomie. Plädoyer für eine moralische Rationalisierung unseres Wirtschaftssystems. Zu dem neuen Buch von JULIAN NIDA-RÜMELIN: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie. München: Irisiana 2011. ISBN 978-3-424-15078-0. 311 S., Hardcover E 19,99.1 Gegen den Strom zu schwimmen, ist nicht Jedermanns Sache – zumal wenn das Gewässer nicht nur breit und tief, sondern auch so reißend erscheint wie der derzeit weltweite Trend zur neoliberalen Transformation der sozioökonomischen, soziokulturellen und sozialpolitischen Entwicklung und Deformation der betreffenden Strukturen. Umso gespannter dürfen wir sein, wenn ein prominenter Gelehrter, der schon in anderen Kontexten als scharfsinniger Analytiker hervorgetreten ist, sich dieses Themas annimmt, den Zeitgeist, der sich in dessen gegenwärtig dominierender Sichtweise offenbart, schonungslos als ein Konglomerat von Irrtümern enthüllt und seine Artgenossen zu entschiedener Umkehr auffordert. Genau das hat JULIAN NIDA-RÜMELIN in dem zu besprechenden Opus versucht. Zum Autor: Der braucht hier kaum noch vorgestellt zu werden; denn er hat sich in unserem Land längst ‚einen Namen gemacht‘: Als vielseitiger, in Mathematik, Physik, Politikwissenschaft und Wissenschaftstheorie bewanderter, auch ökonomisch versierter Philosophieprofessor hat er schon über zwei Jahrzehnte lang an renommierten in- und ausländischen Hochschulen geforscht und gelehrt – gegenwärtig unterrichtet er an der Ludwig-Maximilian-Universität seiner Heimatstadt München –, auch zahlreiche Schriften zu unterschiedlichen Themen veröffentlicht. Zudem absolvierte er eine politische Karriere, die vor rund zehn Jahren in der Position eines Staatsministers für Kultur und Medien der Bundesregierung kulminierte. Daneben nahm und nimmt er seit Langem stets eine stattliche Reihe von Ehrenämtern wahr. Inhaltsskizze. Im vorliegenden Buch präsentiert NIDA-RÜMELIN eine sachlich so 1 313 radikale wie sprachlich pointierte Kritik der – in Europa meist „neoliberal“ genannten – derzeitigen Entwicklung der Weltwirtschaft und Weltgesellschaft. Er beschreibt sie als Regression und Perversion des zuvor wenigstens halbwegs politisch kontrollierten, sozial disziplinierten und kulturell integrierten Kapitalismus, als dessen Umwandlung zu einer normativ weitgehend deregulierten, entfesselten monomanen Marktwirtschaft. In dieser dominiere zunehmend der homo oeconomicus, das heißt die Inkarnation des Modellmenschen der neoklassischen ökonomi(sti)schen Theorie. Dem sei – als gläubigem Adepten der grassierenden „Religion des Geldes“ (DEUTSCHMANN 2002, 2008) – nichts heilig als nur der Zugewinn an eigener materieller Verfügungsmacht, an monetärem Profit und insofern an „symbolischer Gewalt“ (vgl. BOURDIEU 2005 [1998]). Wegen seiner ungebändigten Selbstsucht und maßlose Geldgier zunehmend von Seinesgleichen isoliert, kenne dieser tendenziell eindimensionale homunculus (vgl. MARCUSE 1976) letztlich nur instrumentelle Rücksichten auf seine Mitmenschen: Er beachte, betrachte und traktiere sie prinzipiell misstrauisch und egoman als reale, zumindest potentielle Rivalen, vor denen man sich hüten müsse, die es nur gelte auszunutzen und zu übervorteilen, zu unterdrücken und auszugrenzen (‚notfalls‘ wohl auch: auszumerzen). NIDA-RÜMELIN trägt seine Mängeldiagnosen und Therapievorschläge in drei Schritten vor, die die drei Hauptteile seines Buches konstituieren: Zuerst demonstriert er die Irrationalität einer monologisch selbstgenügsamen ökonomistischen Optimierung, für die nur zählt, wer zahlt, und rechnet, was ‚sich rechnet‘, die sich damit aber selbst untergräbt. Denn vernünftige wirtschaftliche Entscheidungen, die auf die größtmögliche Nutzung knapper materieller Ressourcen zielten, könnten nicht ‚aus dem Bauch‘, ‚adhokratisch‘-individualistisch – allein nach den jeweiligen Profiterwartungen isolierter Investoren – getroffen werden. Sie bedürften der überlegten, gemeinwohlbezogenen, umund weitsichtigen normativen Begründung Eine sehr viel ausführlichere Besprechung dieses Buches wird voraussichtlich in der Zeitschrift bwp@ veröffentlicht werden. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 314 nach Maßgabe kollektiver Vorstellungen wünschenswerter personaler und sozialer Existenz und Entwicklung. Deren Eigendynamik spotte freilich bisher jeder endgültigen oder auch nur temporären Festschreibung und fordere folglich ihre fortgesetzte Reflexion, Diskussion und Revision. Im zweiten Hauptteil unterstreicht NIDARÜMELIN – als ‚bekennender Kantianer‘ im Allgemeinen zwar eher formalistisch-prozeduraler als material-wertethischer Argumentationen ‚verdächtig‘, – hier aber die „unterbestimmte“ universalistische Moraltheorie Kants dezidiert substanziell ergänzend und – anknüpfend an die seit der Antike gepriesenen, besonders in der „Nikomachische Ethik“ des ARISTOTELES analysierten „Kardinaltugenden“ jene moralrelevanten Charaktermerkmale, die im modernen sozialwissenschaftlichen Diskurs systematisch vernachlässigt werden, obwohl wir ihrer nach wie vor nicht nur als kommunikativer Voraussetzungen eines guten, gelingenden Lebens bedürfen, sondern angesichts unseres exponentiell eskalierten Verfügungs- und Zerstörungspotentials auch schon um unserer bloßen Fortexistenz willen auf sie angewiesen sind. Zu ihnen zählt er: – in erster Linie Verlässlichkeit, Urteilskraft und Entscheidungsstärke, – darüber hinaus auch Besonnenheit, Autarkie, Empathie, Loyalität, Respekt, Gerechtigkeit, „Charakter“, Achtsamkeit und persönliche Integrität. Der dritte Hauptteil endlich ist weiteren moralischen Erfordernissen humaner Wirtschaft und Gesellschaft gewidmet: – der Überwindung des Egoismus – als einer gemeinwohlfeindlichen, überdies selbstdestruktiven Orientierung – durch die soziale Produktivkraft Kooperation, – der solidarischen Selbstbeschränkung (vor Allem der derzeit noch Privilegierten), – der Realisierung der Menschenrechte (im Sinne größtmöglicher Freiheit Aller), – der Gerechtigkeit und Effizienz, Nachhaltigkeit und Ökologie sowie – der Kontrolle des Marktes durch den demokratischen Staat (und des Staates durch die Zivilgesellschaft). Evaluation. Die Relevanz des referierten Buches für angehende und amtierende Berufs- und – mehr noch – Wirtschaftspädagogen liegt auf der Hand und bedarf kaum weiterer Erörterung: Angesichts der verbreiteten wirtschaftspolitischen Verblendung und Unsicherheit eines großen Teils auch dieser Kategorie von Lehrkräften sind solche richtungweisende Werke längst überfällig. Zur Qualität der rezensierten Schrift sei dem positiven Tenor und Duktus meiner Darstellung ihres Inhalts noch ein nachdrückliches Lob der Form ihrer Präsentation hinzugefügt: Der Text ist außerordentlich leserfreundlich gestaltet – transparent gegliedert und souverän formuliert. Den meisten Teilen sind prägnante Zitate – meist antiker, aber auch zeitgenössischer Philosophen – vorangestellt, die jeweils ein erhellendes Licht auf die nachfolgenden Ausführungen werfen. Vereinzelt finden sich zwar auch hochabstrakte Argumente sowie – für sich genommen – anderweitig schwer ‚verdauliche‘ Formulierungen; sie werden aber meist sogleich durch konkrete Beispiele veranschaulicht und verständlich gemacht. Deshalb kann ich diesem gelungenen „Traktat“ – so bezeichnet der Autor eingangs bescheiden sein relativ seitenreiches (und fest gebundenes) Elaborat – nur wünschen, dass er auch bei Leserinnen und Lesern der ZBW jene Aufmerksamkeit findet, die er seiner Bedeutung und Güte gemäß verdient, jene Klärung bewirkt, die wir zu unserer Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Welt benötigen, und uns zumindest mehrheitlich zu jenen Entscheidungen motiviert, deren es angesichts der gegenwärtigen krisenhaften Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft bedarf. Zitierte Literatur (in eckigen Klammern: Erscheinungsjahr der ersten Auflage) BOURDIEU, P. (2005) [1998]: Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 315 DEUTSCHMANN, C. (2002): Postindustrielle Industriesoziologie. Theoretische Grundlagen, Arbeitsverhältnisse und soziale Identitäten. Weinheim: Juventa. DEUTSCHMANN, C. (2008): Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive. Wiesbaden: VS. MARCUSE, H. (1976): Der eindimensionale Mensch. Neuwied: Luchterhand. Weitere aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Neoliberalismus und Moralität ALTVATER, E./MAHNKOPF, B. (20077) [1999]: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot. BECKERT, J. (1997): Grenzen des Marktes: Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz. Frankfurt/M.: Campus. BOURDIEU, P. (2004) [1998, 2001]: Gegenfeuer. Konstanz: UVK . DUX, G. (2008): Warum denn Gerechtigkeit? Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit mit der Ökonomie. Weilerstwist: Velbrück Wissenschaft. GALBRAITH, J. K. (2005): Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs. Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft. München: Siedler. Lempert, W. (22011) [2010]: Soziologische Aufklärung als moralische Passion: Pierre Bourdieu. Wiesbaden: VS. SEN, A. (42007) [1999]: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. SEN, A. (2010) [2009]: Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck. WACQUANT, L. (2009): Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der neuen Unsicherheit. Opladen: B. Budrich. Wolfgang Lempert Anschrift des Autors: Prof. Dr. Wolfgang Lempert, Rüdesheimer Platz 11, 14197 Berlin, früher Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung, Freie und Technische Universität Berlin, e-mail: [email protected] CORNELIA WAGNER: Führung und Qualitätsmanagement in beruflichen Schulen – Triangulative Fallstudien zum Führungsverständnis und Führungshandeln einzelschulischer Führungskräfte – Band 15 der Reihe „Berufliche Bildung im Wandel“. Frankfurt/Berlin/Bern/Brüssel/New York/ Oxford/Wien: Peter Lang Verlag – Internationaler Verlag der Wissenschaften 2011. ISBN 978-3-631-60708-4. 338 Seiten, gb., E 51,80 Die Autorin ist Expertin für Qualitätsmanagement und Evaluation in Bildungseinrichtungen, untersucht das Führungshandeln an beruflichen Schulen und hat einen weiteren Forschungsschwerpunkt in der Fachdidaktik Wirtschaftslehre. Sie arbeitet (an der Abteilung Wirtschaftspädagogik) der HumboldtUniversität zu Berlin. Ziel der Untersuchung ist es: Erstens: den Vergleich der Führungsvorstellungen bzw. Führungsabsichten der Führungskräfte an sieben beruflichen Schulen in Berlin mit der Wahrnehmung und Interpretation des Führungshandelns durch die dort tätigen Lehrkräfte zu analysieren. Zweitens: auf der Basis der Zufriedenheitsurteile der Lehrkräfte die wahrgenommenen Wirkungen des Führungshandelns an der jeweiligen Schule zu rekonstruieren. Die Zufriedenheit wird mit Hilfe eines Fragebogens untersucht, der vier Hauptbereiche aufweist: Aufbau- und Ablauforganisation – Zufriedenheit mit dem Führungshandeln – Schulentwicklungsnutzen – Personaleinsatz und Stundenplanung. Die empirische Untersuchung wird auf ein sehr breites und umfangreiches Fundament gestellt. Die Schlüsselbegriffe der ersten sechs Kapitel dieser umfangreichen Differentialanalyse sind: das aktuelle Forschungsinteresse, Diskussion der Grundbegriffe: Management, Führung, Leitung, Führungshandeln, Führungsmodelle, Führungsprinzipien, einzelschulisches Führungshandeln und Qualitätsmanagement, die quantitative und qualitative Teilstudie unter besonderer Berücksichtigung der kategorienbasierten Textanalyse. Im Zentrum der beiden abschließenden Kapitel steht die „Triangulation und zusammenfassende Bewertung“ sowie die Reflexion mit einem Ausblick. Die umfangreichen und aktuellen Literaturhinweise regen zum vertiefenden Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 316 Studium an. C. Wagner wendet sich nicht nur an Bildungsforscher und Entscheidungsträger der Bildungspolitik, sondern auch an Führungskräfte in der Schule sowie an Lehrerinnen und Lehrer. Dabei spielt das Konzept des „Transformational Leadership“ eine wichtige Rolle. In einem neuen „Reader“ (2011) wird das Konzept des „Distributed Leadership“ („TEACHER LEADERSHIP“ Peter Lang Verlag – Studies in the Postmodern Theory of Education 2011) besonders akzentuiert.. C. Wagner hat den Leserinnen und Lesern mit den zusammenfassenden Bewertungen, den prägnanten Zwischenergebnissen, den Rückblicken und Ausblicken eine wertvolle Studienhilfe gegeben. Die resümierende Würdigung der Untersuchung erlaubt nur exemplarische und punktuelle Hinweise auf einige markante Befunde und Ergebnisse. Die Darstellung der einzelschulischen Befunde in Verbindung mit der quantitativen Teilstudie erfolgt systematisch und weist die folgenden, wiederkehrenden Gliederungspunkte auf: Befragungszeitpunkt, Rücklauf und Personenmerkmale der Befragten – Stärken und Schwächen im Bewertungsprofil – Einfluss der Personenmerkmale und der Leitungsstrukturen – Interpretation der Ergebnisse. Diese Systematik ist sehr leserfreundlich und ermöglicht die vergleichende Lektüre. Es werden drei Cluster gebildet: Hohes Bewertungsprofil, mittleres Bewertungsprofil und niedriges Bewertungsprofil. Sehr wichtig und informativ ist die Diskussion der Ergebnisse sowie das kurze und prägnante „Zwischenfazit“. Eine weitere Informationsquelle zum Führungsverständnis und Führungshandeln bildet die „qualitative Teilstudie“. Diese untersucht auf der Basis von Gruppendiskussionen das Führungsverständnis der einzelschulischen Führungskräfte an den sieben Berliner beruflichen Schulen. Besondere Beachtung findet die Frage: Wie definieren die Führungskräfte an den Schulen ihre Aufgaben und Funktionen im Bereich des Qualitätsmanagements und wie verhalten sie sich zu Vorgaben und Qualitätsforderungen des Berliner Schulgesetzes? Es wurden insgesamt 49 Führungskräfte befragt. Mehrfach wird von den Schulleiterinnen und Schulleitern darauf hingewiesen, dass die Erstellung von Schulprogrammen ambivalent bewertet wird. Markant ist folgende Formulierung: „Weiterhin zeigen die Befunde, dass sich nur an wenigen Schulen die Führungskräfte systematisch in die konzeptionelle Planung, Umsetzung und die Kontrolle der einzelschulischen Qualitätssicherung und -entwicklung einbringen“. Einen hervorragenden Überblick vermittelt die zweistellige Matrix, in welcher die quantitativen und qualitativen Ergebnisse der Teilstudien mit den drei Clustern verbunden werden. Ebenso einprägsam ist die Matrix mit der fallbezogenen Ergebnistriangulation. Diese Darstellungen tragen entscheidend zur Systematisierung der Ergebnisse bei. Wichtig ist die folgende Feststellung am Ende der Studie: Es fehlt leider immer noch an theoretischen und empirischen Überlegungen zur Konzeptualisierung von einzelschulischem Führungshandeln und zum Aufbau einzelschulischer Qualitätsmanagementsysteme sowie systematische Qualifizierungsangebote für das Führungspersonal an den Schulen. Gottfried Kleinschmidt Anschrift des Autors: Prof. Gottfried Kleinschmidt, Einsteinstr. 21, 71229 Leonberg-Ramtel ELEANOR BLAIR HILTY (Hrsg.): Führungsqualitäten der Lehrer – Die „neuen“ Grundlagen der Lehrerbildung – Ein Reader. New York/Washington/Baltimore/Bern/Frankfurt/ Berlin/Brüssel/Wien/Oxford: Peter Lang Verlag der Wissenschaften 2011. Originaltitel: „Teacher Leadership – The „New“ Foundations of Teacher Education – A Reader“ nur in englischer Sprache verfügbar. Band 408 der Reihe „Studies in the Postmodern Theory of Education“. 296 Seiten, kt., E 103,50 Die 38 Autorinnen und Autoren haben in diesem interessanten und informativen „Reader“ den aktuellen Stand der Diskussion über „Führungsqualitäten und Führungsaufgaben“ der Lehrerinnen und Lehrer aus der Sicht der amerikanischen Schulentwicklung dokumentiert. Die Herausgeberin hat die Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen Beiträge, die etwas mehr als zwei Dekaden umspannen, folgenden Schwerpunktthemen zugeordnet: Wie wird Führung aus der Sicht der Pädagogik definiert – Pädagogische Führung und Schulkultur – Pädagogische Führung und das Lernen in der Schule – Pädagogische Führung aus der Sicht einer professionellen Lerngemeinschaft – Die neuen Grundlagen der Pädagogik (Erziehungswissenschaft) – Ausblicke auf das 21. Jahrhundert. Das Buch wendet sich inhaltlich insbesondere an Lehrerinnen und Lehrer sowie Lehramtsstudierende. Einige Artikel sind auch für die Schulverwaltung und die Schulpolitik von Interesse. Die zusammenfassende Würdigung des neuen Werkes erlaubt nur exemplarische und punktuelle Hinweise auf wenige markante Aussagen. Nicht nur jeder Beitrag enthält weiterführende aktuelle Literatur, sondern im Anhang werden darüber hinaus neue Werke sowie „website links“ angegeben, die zum vertiefenden Studium anregen. Insgesamt 25 Merkposten sollen Aufschlüsse über die Bereitschaft zur Übernahme von Führungsverantwortung vermitteln. Diese werden einer fünfstelligen Auswertungsskala zugeordnet. Außerdem wird ein Auswertungsschema angegeben. In mehreren Beiträgen zeigt sich, dass die pädagogische Führung der Lehrerinnen und Lehrer insgesamt zehn Arbeitsbereichen zugeordnet werden kann. Diese reichen von der „Qualität des Lehrens und Lernens“ bis zur „neuen Schulverwaltung“. Nachdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die „Schulkultur“ sehr wichtig ist und diese maßgeblich durch die Schulleitung geprägt wird. Ebenso wichtig ist die Differenzierung in „niedrige und hohe Führungskapazitäten“ (low and high leadership capacities). Es gibt verschiedene Vorschläge, wie die pädagogische Führung aus der Sicht der Schulpraxis und der Schulverwaltung aussehen konnte. Der pädagogische Wandel, der mit der neuen Führungsverantwortung verbunden sein wird, kann mit mehreren kennzeichnenden Funktionen verknüpft werden. Wichtig ist das Dreieck „Lehrer – Schulleitung – Schulverwaltung“ Die folgende Frage wird in mehreren Beiträgen ausführlich diskutiert: „Was 317 bedeutet Lehrer-Führung in Verbindung mit pädagogischer Führung“? (What is Teacher Leadership in context with ‚distributed leadership‘?) Eindrucksvoll und instruktiv sind die vier Lehrerportraits, in welchen Lehrerinnen ihre neue Führungsaufgabe in der Schulpraxis darstellen. Entscheidend ist, dass einer im Kollegium die Initiative ergreift und die Zielrichtung konkretisiert werden kann. Ebenso wichtig ist die erforderliche „„Verstetigung der gemeinsamen Anstrengungen“. „The improvement was always the result of a cumulative process, step by step, action by action, decision by decision“. Es gibt verschiedene Einrichtungen und Institutionen, die den Prozess der Übernahme von pädagogischer Verantwortung durch die Lehrerinnen und Lehrer begleiten. Dazu gehören the National Staff Development Council, the National Association of Secondary School Principals, the National Association of Elementary School Principals, the National Board of Professional Teaching Standards and the National Commission on Teaching and America’s Future. In der Zeitschrift „SCHULLEITUNG“ ist ein deutscher Kommentar zu den „Fallstudien zur pädagogischen Führung“ veröffentlicht worden. Diese sind von der ISLLC (Interstate School Leaders Licensure Consortium, ETS-Educational Testing Service, Princeton, 2003) erarbeitet worden (vgl. SCHULLEITUNG, Nr. 4/2004). Durch Führungsqualitäten kann das Potenzial der Schulkapazität verbessert werden. In diesem Zusammenhang wird mehrfach „the essence of distributed leadership“ erwähnt. In der Zusammenfassung zu einem Beitrag schreibt der Autor: „When teachers begin to meet to focus on student learning and their deep-seated commitment to improve their own professional practice, in order to ensure success for all students, teacher leadership has the potential to build school capacity“. Im abschließenden Kommentar zu allen Beiträgen wird auch auf Widerstände hingewiesen, die mit dem Konzept der neuen Führungsaufgaben verbunden sind. Die kritischen Stimmen kommen von anderen Lehrern und von der Schulverwaltung. Die Herausgeberin stellt fest: „Teacher leaders Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 318 often complain that their worst critics are other teachers who do not want to change the status quo. Central to any effort to reinvent school in a new image is a reconsideration of the role of teacher leadership …“ Gottfried Kleinschmidt Anschrift des Autors: Prof. Gottfried Kleinschmidt, Einsteinstr. 21, 71229 Leonberg-Ramtel VBW – VEREINIGUNG DER BAYERISCHEN WIRTSCHAFT E.V. (Hrsg.): Gemeinsames Kernabitur – Zur Sicherung von nationalen Bildungsstandards und fairem Hochschulzugang – Gutachten des Aktionsrates BILDUNG – H.P. Blossfeld/W. Bos/H.D. Daniel/B. Hannover/D. Lenzen/M. Prenzel/H.-G. Roßbach/R. Tippelt/L. Woßmann. Münster: Waxmann Verlag 2011. ISBN 978-3-8309-2585-9, 109 Seiten, br. Der Aktionsrat BILDUNG hat sich in den vorangehenden Gutachten mit grundlegenden Themen wie Bildungsgerechtigkeit, Bildungsrisiken, Globalisierungsprozessen, Geschlechterdifferenzen und Bildungsautonomie auseinandergesetzt und im Jahresgutachten 2011 die „Bildungsreform 2000/2010/2020“ aus der Perspektive der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachtet. Das neue Gutachten „Gemeinsames Kernabitur“ gehört zu einer Reihe von Expertisen, die als konkrete Handreichungen für anstehende Einzelreformen im Bildungssystem gesehen werden können. Geplant sind in dichter Folge zwei bis drei Gutachten zu Schlüsselreformen. Im kommenden Jahr (2012) sollen weitere Gutachten zur Professionalisierung des frühpädagogischen und vorschulischen Personals und zur Internationalisierung der deutschen Hochschulen erscheinen. Die Gutachten des Aktionsrates BILDUNG verknüpfen geballten Sachverstand mit pragmatischen Lösungsvorschlägen für anstehende Qualitätsprobleme im Bildungssystem. Das neue Gutachten geht der Frage nach der optimalen Organisation und Umsetzung eines „Gemeinsamen Kernabiturs aller Bundesländer“ nach. Der demografische Wandel und der zunehmende Fachkräftebedarf wirken sich auch auf die Bildungsabschlüsse aus. Ein Problem bilden die aktuellen Leistungs- und Niveauunterschiede zwischen den Bundesländern beim Abitur. Notwendig ist eine bessere Vergleichbarkeit und mehr Transparenz bei den Abiturprüfungen. Das neue Gutachten weist folgende thematischen Schwerpunkte auf: Im Anschluss an den Problemaufriss und die Zielsetzung werden die Gründe für eine rationale Vergleichbarkeit der Abiturprüfungen erörtert. Die wissenschaftlichen Befunde und internationalen Vergleiche führen zu dem Schluss, dass ein „Gemeinsames Kernabitur“ erforderlich ist. Dieses soll in den „Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch“ bis zum Jahr 2018 angestrebt werden. Im Anschluss an die Zusammenfassung der bisherigen Befunde, schlägt der Aktionsrat BILDUNG zehn zentrale „Handlungsempfehlungen“ vor. Im Anhang werden noch Praxisbeispiele (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Berlin Brandenburg) sowie Erfahrungen in Frankreich, USA und in den Niederlanden vorgestellt. Wichtig sind auch die Alternativen mit herkömmlichen Klausuraufgaben und die Diskussion über gemeinsame Prüfungskomponenten für die mittleren Bildungsabschlüsse. Das aktuelle Literaturverzeichnis regt zum vertiefenden Studium an. Für die zukünftige Bildungsplanung kommt den zentralen Empfehlungen, den Vorschlägen für das „Gemeinsame Kernabitur“ und den zehn Handlungsempfehlungen des Aktionsrates BILDUNG besondere Bedeutung zu. Diese sollen hier in der erforderlichen Kürze einer knappen Würdigung des Gutachtens vorgestellt werden. Erforderlich ist ein Staatsvertrag über die Einführung des „Gemeinsamen Kernabiturs“ bis zum Jahr 2018. Im Zentrum des „Gemeinsamen Kernabiturs“ stehen die drei Kernfächer Mathematik, Deutsch und Englisch. Ein wichtiger Orientierungspunkt für die Planung: Die nationalen Bildungsstandards für die gymnasiale Oberstufe. Mit dem „Gemeinsamen Kernabitur“ werden etwa zehn Prozent der Abiturnote vergeben. Die Bundesländer und Schulen behalten den erforderlichen Freiraum für Flexibilität und Schwerpunktsetzungen. Als Prüfungsaufgaben werden Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 319 kompetenzorientierte Tests vorgeschlagen. Die länderübergreifende Abiturkomponente wird in drei Fächern (Deutsch, Mathematik, Englisch) im Umfang von dreimal neunzig Minuten einheitlich und in allen Bundesländern an einem Tag gestellt. Die Prüfungsergebnisse werden zentral von einer Institution ausgewertet. Der Aktionsrat BILDUNG schlägt als Institution das IQB in Berlin vor. Dieses Institut hat bereits die nationalen Bildungsstandards entwickelt. Es sollte von einer länderübergreifend zusammengesetzten Prüfungskommission unterstützt werden. Erforderlich ist ein nationaler Aufgabenpool mit normierten Testaufgaben, der sich u. a. auch an den Lehrplänen orientiert. Alle anderen Bestandteile der „Abitur Gesamtqualifikation“ werden länderspezifisch konzipiert und durchgeführt. Dazu gehören Prüfungen in den übrigen Kernfächern, schriftliche Prüfungen in anderen Fächern, mündliche Prüfungen und Jahrgangsfortschrittsnoten. Der Aktionsrat BILDUNG gibt darüber hinaus die konkreten Schritte an, die für die Organisation des geplanten „Gemeinsamen Kernabiturs“ bis 2018 erforderlich sind. „Das Gemeinsame Kernabitur“ stellt sicher, dass die ab 2012/2013 verbindlichen nationalen Bildungsstandards für die gymnasiale Oberstufe umgesetzt werden. Bereits 2012 sollen nach dem „Umsetzungsplan des Aktionsrates BILDUNG die Bundesländer den Staatsvertrag über die Einführung des „Gemeinsamen Kernabiturs“ abschließen. In dem Staatsvertrag sollen die länderübergreifenden, schriftlichen Prüfungsanteile in den drei Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch verpflichtend eingeführt werden. In der juristischen Expertise zu dem Vorschlag des Aktionsrates BILDUNG wird deutlich, dass es auch noch schuljuristische Alternativen gibt, die in die Gesamtkonzeption einbezogen werden sollten. Gottfried Kleinschmidt Anschrift des Autors: Prof. Gottfried Kleinschmidt, Einsteinstr. 21, 71229 Leonberg-Ramtel CHRISTIAN SCHMIDT: Krisensymptom Übergangssystem – Die nachlassende soziale Inklusionsfähigkeit beruflicher Bildung. Reihe: Berufsbildung, Arbeit und Innovation Dissertationen und Habilitationen, 22 (Dissertation Universität Duisburg-Essen, 2011). Bielefeld: W. Bertelsmann 2012. ISBN 978-3-7639-4953-3. Bestell Nr. 6004242, 259 Seiten, E 39.– Das Übergangssystem soll dazu beitragen, Jugendlichen ohne Schulabschluss (von den allgemeinbildenden Schulen) einen Übergang in die berufIiche Ausbildung zu geben. Ein wichtiges Ziel des Übergangssystems ist es, den Jugendlichen den Übergang in ein reguläres Ausbildungsverhältnis zu erleichtern. Der Autor (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Berufs- und Weiterbildung der Universität Duisburg-Essen) untersucht nicht nur die historisch-systematische Entwicklung des Übergangssystems und weist nachdrücklich auf die Defizite dieses wichtigen Teils des Berufsbildungssystems hin, sondern beleuchtet auch kritisch die derzeitigen Ziele sowie den unzureichenden Erfolg der sozialen Inklusion für benachteiligte Jugendliche. Die aktuelle Krise des Übergangssystems hängt eng mit der Krise des Berufsbildungssystems zusammen. Jörg Dräger und Klaus von Donanyi sind der Meinung, dass das Übergangssystem „weder den Übergang schafft, noch System hat“. Es ist sehr teuer (Kosten pro Jahr etwa vier Milliarden EURO) und sollte abgeschafft werden (vgl. J. Dräger und Kl. v. Donanyi: „Dichter, Denker, Schulversager“ (DVAMünchen 2011). Christian Schmidt plädiert für dringende Reformmaßnahmen. Eine besondere Stärke des neuen Buches zum Krisensymptom Übergangssystem besteht darin, dass die wichtige Differentialanalyse auf der Darstellung vieler Publikationen und neuer Studien aufbaut. Dazu gehören auch die „BIBB-Übergangsstudie“ und das „DJIÜbergangspanel“. Sehr leserfreundlich ist darüber hinaus, dass die große Zahl der Abkürzungen in einem Abkürzungsverzeichnis erläutert wird. Das aktuelle und detaillierte Literaturverzeichnis regt zum vertiefenden Studium an. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Rezensionen 320 In den neun Kapiteln seiner Studie beschäftigt sich der Autor mit den Krisensymptomen der dualen Ausbildung, geht den Anfängen und Entwicklungen des Übergangssystems an den beruflichen Schulen nach, untersucht die Übergänge „in und aus dem Übergangssystem“ und vermittelt Einblicke in die verschiedenen Gruppen der Benachteiligten, die sich im Übergangssystem befinden. Schließlich gibt er noch Antworten auf drei zentrale Fragen: Wie steht es mit der Professionalisierung des pädagogischen Personals im Übergangssystem? Welche Strukturalternativen zur Stärkung vollzeitschulischer Ausbildung und Modularisierung gibt es? Welche Gründe sind für die nachlassende soziale Inklusion des Übergangssystems maßgeblich und welche Forschungsdefizite sind festzustellen? In dem Bericht „Bildung in Deutschland 2010“ gehen die Autoren davon aus, dass aufgrund des demographischen Wandels und des Arbeitskräftebedarfs die Neueintritte in das Übergangssystem stark zurückgehen werden. Ab dem Jahr 2025 soll die Quote nur noch acht Prozent der aktuellen Anzahl sein. Das Übergangssystem wird als ein „Warteraum in Zeiten konjunktureller Krisen gesehen“. Dieser Warteraum ist in naher Zukunft auch ohne bildungspolitische Interventionen nicht mehr erforderlich! Das stark verfestigte Übergangssystem verdeutlicht, dass sich der Übergang von den allgemeinbildenden Schulen in Erwerbsarbeit vor allem für gering qualifizierte Jugendliche immer problematischer gestaltet. Chr. Schmidt macht folgenden Vorschlag: „Anstatt eines Übergangssystems als Reparaturbetrieb zwecks Eingliederung in die duale Ausbildung bedürfte es eines eigenständig qualifizierenden Teilbereichs des Berufsbildungssystems, in dem berufliche Teilqualifikationen zertifiziert werden und Anschlüsse auch direkt in Erwerbsarbeit möglich sind“ (S. 66). Im jetzt bestehenden Übergangssystem werden kaum berufsbildende Kompetenzen zertifiziert. Es kann somit kein marktfähiger berufsbezogener Abschluss erworben werden. Einen ausgezeichneten Überblick vermittelt die detaillierte Tabelle, in welcher die vorliegenden empirischen Studien zu Übergängen in die berufliche Ausbildung dargestellt wird. Die Auswertungskriterien sind: das Untersuchungsdesign, die Ziele, die erhobenen Daten und die zentralen Befunde. Sehr informativ sind die Einblicke in die Professionalisierung des pädagogischen Personals im Übergangssystem. Neben Berufsschullehrern/innen sind auch Fachpraxislehrer/innen, Sozialpädagogen/innen, Sozialarbeiter/innen, Ausbilder/innen, Stütz- und Förderlehrer/innen sowie pädagogisches Personal mit „Bastelbiografien“ in den Schulformen und Maßnahmen des Übergangssystems tätig. Die Berufsschullehrer/innen arbeiten im Übergangssystem verstärkt in den Bereichen der Sozialpädagogik und sehr wenig in den verschiedenen Bereichen der Berufspädagogik. Dies ist ein erhebliches Defizit. Die entscheidende Zukunftsfrage ist: Wird es möglich sein in Zukunft die Kompetenzen der Selbstreflexion und der Selbststeuerung bei gering qualifizierten Jugendlichen so zu fördern, dass sie zu einer „autonomen Lebensführung“ gelangen. Lebenswissen, Bildungswissen und berufliche Qualifizierung hängen eng zusammen! Gottfried Kleinschmidt Anschrift des Autors: Prof. Gottfried Kleinschmidt, Einsteinstr. 21, 71229 Leonberg-Ramtel Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108. Band, Heft 2 (2012) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012