2|2014 Universelle Werte? + Revolutionsrausch und „Werteimperialismus“ in Ägypten + Kultureller Relativismus und universelle Menschenrechte in Westafrika + Lateinamerika: Wertediskussionen im Spagat + Ukraine: Die Revolution der Menschenwürde 5 10 19 25 Foto: Jörg Kleinschmidt / Pixelio Editorial 2| 2014 Inhalt 3 Universelle Prinzipien für eine pluralistische Welt 5 Revolutionsrausch und „Werteimperialismus“ Beobachtungen zur universellen Gültigkeit von liberalen Entwicklungsansätzen von Menschenrechtsthemen in Ägypten Liebe Leserinnen und Leser gibt es universelle Werte? Werte, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, gleich welcher Herkunft, Ethnie, Geschlecht oder Religion? Die Frage nach Werten und Normen, die über nationale und kulturelle Grenzen hinaus Gültigkeit haben, wird seit vielen Jahren regelmäßig heiß diskutiert. Häufig treffen hierbei zwei konträre Auffassungen aufeinander: Während in der „westlichen Welt“ die Universalität bestimmter Werte und Normen meist bejaht wird, trifft dies in den sog. Entwicklungsländern, insbesondere in den Schwellenländern, auf eine tiefgehende Skepsis. Der Anspruch der Universalität, so lautet die Kritik, sei im Grunde nichts anderes als der Ausdruck von postkolonialen Partikularinteressen und von westlichen Vorstellungen dessen, was „richtig“ sei. In der vorliegenden Ausgabe von global&liberal haben es sich meine Kolleginnen und Kollegen in den Projektländern der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zur Aufgabe gemacht, die abstrakten Werte und Konflikte im Kontext der praktischen Arbeit vor Ort für die Menschen in Deutschland greifbarer zu machen. Dabei wird deutlich, dass die Diskussion um universelle Werte nicht nur die Menschen in den sog. Entwicklungsländern, sondern auch uns Europäer angeht — man betrachte nur die aktuellen Vorgänge in der Ukraine, in Griechenland oder in Ungarn. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an unserer Arbeit und wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! Ulrich Niemann Bereichsleiter Internationale Politik 10 Kultureller Relativismus und universelle Menschenrechte Beispiele aus der praktischen Arbeit der Stiftung in Westafrika 14 Malaysia: Machterhalt auf Kosten von Grundrechten 19 Lateinamerika: Wertediskussionen im Spagat zwischen indigener Selbstbestimmung und handfesten Eigeninteressen lokaler Eliten 22 Griechenland: Zurück zu alten Werten! 25 Ukraine: Die Revolution der Menschenwürde 29 Ungarn auf dem Weg zur gelenkten Demokratie Der autokratische Paternalismus von Viktor Orban 31 Vom Handlanger zum Helfer Polizeireformen in Indien 33 Mit Eigentumsrechten gegen Armut Interview mit Barun Mitra 35 Vom Eintauchen in ein exotisches Universum Dr. Ronald Meinardus ist seit Anfang August Leiter des Regionalbüros Südasien in Neu Delhi Universelle Werte? Universelle Prinzipien für eine pluralistische Welt Foto: Jörg Kleinschmidt / Pixelio Wir leben in einer pluralistischen Welt. Globalisierung und technologische Innovation haben die Teile der Erde immer mehr zusammengeführt. Gleichzeitig unterscheiden sich die religiösen, nationalen und kulturellen Identitäten beträchtlich. Deshalb stehen die Menschen überall auf der Welt vor der immer drängenderen Frage auf welche Regeln sie verständigen können. Wie kann es gelingen, in Frieden und Freiheit miteinander zu leben? Bedrohung schützen und zugleich die politische Macht, die mit dieser Schutzfunktion verbunden ist, so einschränken, dass der Staat nicht selbst zur Bedrohung für die Freiheit der Menschen werden kann. Armut ist immer noch ein für viele Menschen ein existentielles Problem – wenn auch in vielen Ländern die Armut spürbar zurückgegangen ist. Der Wunsch, Armut hinter sich zu lassen und den Kindern und Enkeln ein besseres Leben zu ermöglichen, ist ein universal verbreitetes Bedürfnis der Menschen. Der Weg aus der Armut ist untrennbar mit dem universellen Wert der Freiheit verbunden Der Schlüssel zur Lösung der Konflikte ist die Freiheit als universales Prinzip, das sowohl Frieden als auch Wohlstand ermöglicht. Freiheit beruht auf dem Prinzip, dass keine Gewalt gegen den anderen ausgeübt werden darf, weder gegen sein Leben, noch gegen sein Eigentum. Sie begründet sowohl die Toleranz als auch die Grenzen der Toleranz. Sie begründet die Toleranz gegenüber jeder Religion, Kultur, Lebensstil oder Gemeinschaft, solange dieser nicht in die Rechte andere eingreift oder andere gegen ihren Willen dazu zwingt ihr anzugehören. Sie begründet aber auch, dass die Toleranz dort endet, wo Menschen durch Gewalt gegen ihren Willen zu einer bestimmten Religion, Lebensstil, Kultur oder Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft gezwungen werden. Der „Economic Freedom Index of the World“ zeigt, wie sehr Freiheit und Wohlstand miteinander verbunden sind. Die Prinzipien von Freiheit und Marktwirtschaft wurden von Kritikern oft mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass es sich dabei um spezifisch „westliche“ Erfindungen handelt, die in anderen Teilen der Welt nicht wirksam wären. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman sah genau aus diesem Grund in der deutschen Teilung ein großes Sozialexperiment. Eine Nation mit gemeinsamer Kultur und Geschichte lebte in zwei Teilstaaten mit völlig verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Einer Demokratie und Marktwirtschaft im Westen und dem Sozialismus und der Planwirtschaft im Osten. Währen der Westen zu einer führenden Wirtschaftsmacht wurde, brach der Osten schließlich bankrott und ökonomisch ruiniert zusammen. In Asien entstanden zur gleichen Zeit neue dynamische Volkswirtschaften. Das ließ Friedman die Schlussfolgerung ziehen, Aus diesem allgemeinen Prinzip lassen sich verschiedene spezielle Rechte ableiten. Dazu gehört die Rechte auf Glaubens- Religions- Meinungs- und Gewissensfreiheit. Alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein, unabhängig von Rasse, Religion, Nationalität, sozialer Herkunft und Geschlecht. Die Instrumente zum Schutz der Freiheit sind der Rechts - und Verfassungsstaat, die Gewaltenteilung und die Demokratie. Sie sollen jeden Menschen vor Gewalt und 3 Universelle Werte? 2| 2014 dass letztlich die politische und wirtschaftliche Ordnung den Ausschlag geben und nicht die Kultur. zählten Ländern wäre in der stagnierenden politischen Kultur Griechenlands eine Rückbesinnung auf die alten Ideen, deren Wiege das Land einst war, ein großer Fortschritt. Auch in Ungarn standen die Dinge vor wenigen Jahren schon besser und in der Ukraine scheint der Konflikt darum, ob universelle Menschenrechte und europäische Traditionen eine größere Rolle spielen sollen, vollends losgebrochen. Dessen ungeachtet ist das Bedürfnis des Menschen, sich kulturell zu verorten und sich seiner Identität und Zugehörigkeit zu vergewissern, universal. Dieses Bedürfnis steht in keinem Widerspruch zur Freiheit. Kulturelle Vielfalt und gesellschaftlicher Frieden gehen miteinander einher, wenn sie mit der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Freiheit verbunden sind. Viele Staaten dieser Welt ringen heute mit dem Problem, dass kulturelle und religiöse Gegensätze die Gesellschaft spalten. Es gilt, dass gerade die Umverteilung von Ressourcen und die Anmaßung der Regierung, bestimmte Gruppen zu privilegieren und andere zu benachteiligen, solche Konflikte anheizt. In einer freien Gesellschaft hat jeder Bürger die Möglichkeit, sein Leben nach seinen religiösen und kulturellen Grundsätzen zu gestalten, ohne dabei vom Staat gegängelt und bevormundet zu werden. Freiheit zerstört keine Werte, wie der Antiliberalismus zu allen Zeiten behauptet hat, sie schafft Räume zu ihrer friedlichen Entfaltung. So unterschiedlich die skizzierten Herausforderungen, so unterschiedlich sind die in dieser Ausgabe beschriebenen Ansätze unserer Stiftung und unserer Partner. Doch eines eint uns alle: das gemeinsame Engagement und der Enthusiasmus für die Durchsetzung universeller Rechte, die weltweit jedem Menschen ein freies, selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dr. Gerárd Bökenkamp, Referent für Grundsatzfragen im Liberalen Institut Armin Reinartz, Projektassistent im Regionalbüro Bangkok Aus dieser Überzeugung heraus engagieren sich weltweit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der FriedrichNaumann Stiftung für die Freiheit und ihre lokalen Partner. Durch diese Ausgabe von global&liberal sollen diese abstrakten Werte und Konflikte im Kontext der praktischen Arbeit vor Ort für die Menschen in Deutschland ein Stück weit greifbarer gemacht werden. Autoren aus der Stiftung und von Partnerorganisationen diskutieren die Situation in ihrem Land oder ihrer Region und gewähren einen kurzen aber intensiven Einblick. Nicht nur in Ägypten werden vorgebliche Konflikte universeller Menschenrechte mit der Scharia genutzt, um auch andere Formen staatlicher Repressionen zu legitimieren. Staatliches Handeln und gesellschaftliche Traditionen stehen auch in Westafrika nicht selten in Konflikt mit Menschenrechten. Auf eigene Tradition oder sogar „asiatische Werte“ versuchen sich Regierungen in Indien und Malaysia zu beziehen, um ihr politisches Handeln nicht zum eigenen Nachteil einschränken zu müssen und nutzen dabei ironischerweise Gesetze aus der Kolonialzeit zur Repression der Bürger. Auf der anderen Seite der Welt in Lateinamerika scheinen Menschenrechte laut gängigem Narrativ im Konflikt mit indigenen Traditionen zu stehen, können bei detaillierter Betrachtung aber eine große Chance für diese Minderheiten sein. Ganz im Kontrast zu der „Rückwärtsgewandheit“ in den aufge- 4 Universelle Werte? 2| 2014 Revolutionsrausch und „Werteimperialismus“ Beobachtungen zur universellen Gültigkeit von liberalen Entwicklungsansätzen von Menschenrechtsthemen in Ägypten Anfang Oktober feierte die islamische Welt ihr höchstes Fest: Beim Opferfest wird des Propheten Abraham gedacht, der auch nach muslimischer Überlieferung die göttliche Probe bestanden hatte und bereit war, seinen Sohn zu opfern. Gottvertrauen und Dankbarkeit sind somit die Grundpfeiler dieser viertägigen Festlichkeiten. In genau diesen Tagen kam es aber allein im Zentrum Kairos auch zu mehr als 200 bekannt gewordenen Fällen von sexueller Belästigung von Frauen. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich weit höher. Nur ein Bruchteil solcher Vergehen wird mit staatlichen Mitteln verfolgt. Wie passen diese Fakten zusammen? Welche Sicht auf Werte und Würde ist notwendig, um diese Dichotomie zwischen ethischen Grundsätzen und Lebenswirklichkeit zu verstehen? Realität in vielen Ländern nachweislich anders aus. Liberale Gesellschaftskonstrukte und Menschrechte werden in Teilen oder gar ihrer Gesamtheit häufig abgelehnt. Ein Zustand, der die arabische Welt und nicht zuletzt auch Ägypten betrifft. Doch wie lässt sich rechtfertigen, dass Menschen in vielen Staaten – Artikel 1 zum Trotz – ihr rechtmäßiger Anspruch auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, auf Gleichberechtigung und Gleichheit vor dem Gesetz nicht gewährt wird? Nicht selten dienen Staatsvertretern die traditionellen Werte, also kulturelle Unterschiede, welche den Normen des Liberalismus widersprächen, als Legitimation diskriminierender Praktiken. Deutlich wird dies in der arabischen Welt z.B. mit Blick auf die Stellung der Frau. Sexuelle Belästigung ist ein großes Problem in den Gesellschaften, ebenso wie die häufig fehlende Möglichkeit, als Frau ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. In Ägypten scheint sich die Lage nach den Revolutionen und politischen Umwälzungen der letzten Jahre sogar verschlechtert zu haben. Schätzungen gehen davon aus, dass einem offiziellen Verbot zum Trotz auch heute noch über 90 % der ägyptischen Frauen ab 15 Jahren eine Genitalverstüm- „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Bereits der erste Satz des Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verweist auf zweierlei: liberales Gedankengut und den Anspruch auf universelle Gültigkeit. Doch obgleich eine eindeutige Mehrheit der VNMitgliedsstaaten die Erklärung ratifiziert hat, sieht die 5 Universelle Werte? 2| 2014 menschlichen Würde. Als erforderliche Vorrausetzungen für ein Leben in Würde gelten Freiheit und Gleichheit, also die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben in eigener Verantwortung zu führen. Gewährt werden soll dies dem Menschen durch Schutz- und Anspruchsrechte, sog. negative und positive Freiheiten, also durch die Freiheit von etwas (Diskriminierung, Verfolgung, etc.) sowie die Freiheit zu etwas (Meinungs-, Presse-, Religionsfreiheit, etc.). Der am vehementesten vorgetragene Anspruch auf die Respektierung der kulturellen Identität – und damit die Relativierung des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte – kommt zumeist aus islamisch geprägten Staaten wie Ägypten mit Hinweis auf die Scharia, mit deren Grundsätzen und Richtlinien die Menschenrechte in Einklang stehen müssten, um akzeptiert zu werden. 1990 veröffentlichten die Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz, die sich in der Menschenrechtserklärung der VN nicht repräsentiert sahen, eine Art Gegenerklärung, die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Dieses Dokument macht die Scharia zum Maßstab aller Menschenrechtsregelungen. Bestimmungen, die der islamischen Rechtsprechung entgegenstehen, werden danach als nicht verbindlich etikettiert. Regimestabilität als höchstes Gut? (Foto: FNF Cairo) melung erdulden müssen. In der kurzen Zeit der Herrschaft der Muslimbrüder (Juni 2012 – Juli 2013) hatte Präsident Mohammed Mursi das Thema wieder zur Privatsache einer jeden Familie erklärt und somit quasi legitimiert. Dabei werden in der Regel kulturelle Differenzen zur Rechtfertigung dieser Praktiken angeführt, zumal die traditionelle Familie oft als letzter Hort indigener kultureller Werte und Traditionen glorifiziert wird. Hierin kommt sicher auch zum Ausdruck, dass der Kollektivgedanke in der arabischen Welt in anderer Weise ausgeprägt ist als in weiten Teilen Europas. Dies macht es dem liberalen Grundprinzip der individuellen Selbstbestimmung schwer, Fuß zu fassen. Denn die Menschenrechte begründen sich ihrem Selbstverständnis nach durch die jedem Menschen inhärente eigene Würde – doch auch dieser Zusammenhang wird in arabischen Gesellschaften anders beurteilt als im Westen. Diese Problematik führt zu einer grundsätzlichen Debatte über die Wesensart der Menschenrechte. Ist ihr Anspruch auf Universalität über alle kulturellen Grenzen und Differenzen hinweg wirklich aufrecht zu erhalten? Existieren überhaupt Normen, welche universelle Gültigkeit besitzen, oder sind die von den VN verabschiedeten Menschenrechte ein Produkt des Westens, das sich nicht ohne weiteres auf kulturell anders geprägte Regionen des Globus übertragen lässt? Kurz: Verbirgt sich hinter liberalen Entwicklungsansätzen und Menschenrechten ein „Werteimperialismus“ oder haben diese universelle Gültigkeit? Rede- und Versammlungsfreiheit war eine der zentralen Forderungen der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz (Foto: FNF Cairo) Das internationale Verständnis von Menschenrechten fußt auf der von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechtserklärung. Danach hat ein jeder Mensch allein aufgrund seines Menschseins unveräußerliche Rechte gegenüber dem Staat. Jeder Bestandteil der Menschenrechtserklärung begründet dies mit der Trotz dieser Kairoer Erklärung spielt die Scharia aber oft nur eine untergeordnete Rolle bei den Menschrechtsverletzungen, die in Ägypten nach wie vor an der Tagesordnung sind. Viele Aspekte sowohl negativer als auch positiver Freiheit sind nicht gewährleistet. Deutlich wird dies im bevölkerungsreichsten arabischen Land vor allem 6 Universelle Werte? 2| 2014 durch das Paradoxon des Menschenrechtsschutzes: Der Staat, der für den Schutz und die Gewährung der Menschenrechte zuständig ist, verletzt sie zugleich beständig und in hohem Maße. Als der langjährige Staatspräsident Hosni Mubarak im Januar 2011 gestürzt wurde, wagten es die Demonstranten (und mit ihnen die gesamte Welt), von Gerechtigkeit zu träumen. Der Oberste Militärrat versprach „Freiheit, Rechtsstaat, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit“. Doch blieb alles beim Alten: Grundlegende Rechte der Menschen wurden missachtet. Straftaten des Militärs und der Polizei „von oben“ gedeckt und nicht aufgeklärt. Präsident Mursi versprach eine Besserung der Menschenrechtslage, ebenso wie Präsident Abdel Fattah Al-Sisi nach ihm. Es wurde aber kein Boden geschaffen, auf dem liberale Grundwerte hätten gedeihen können – im Gegenteil. Nach wie vor sind Folter und Demütigungen wie Elektroschocks, Schläge und auch sexuelle Gewalt seitens der Staatsgewalt alltäglich. (EOHR) werden Aktivisten aus der Zivilgesellschaft, Journalisten und Mitglieder des National Council for Human Rights über die ägyptische NGO-Gesetzgebung diskutieren, ob und inwiefern diese zur Liberalisierung der gesellschaftlichen Partizipation beiträgt oder – im Gegenteil – zu einem restriktiveren Umgang des ägyptischen Staates mit NGO’s führt. Als eine der zentralen Forderungen der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz galt Rede- und Versammlungsfreiheit. Und obwohl Rede- und Versammlungsfreiheit in der in diesem Jahr angenommenen neuen ägyptischen Verfassung fest verankert sind, geht der Staat brutal gegen Demonstrationen vor. Nominell räumt die neue Verfassung den Bürger- und Menschenrechten zwar einen höheren Stellenwert ein, als die alte es getan hatte, und schafft z.B. vorgeblich einen größeren Handlungsspielraum für NGOs – doch tatsächlich werden Demonstranten, Gewerkschafter, Aktivisten und Minderheiten nach wie vor eingeschüchtert, schikaniert und verhaftet, oft willkürlich. Durch das Ende 2013 in Kraft getretene und international scharf kritisierte Demonstrationsgesetz hat die ägyptische Regierung den Ausnahmezustand quasi bis auf weiteres verlängert, was ihr die Legitimation für ein hartes Durchgreifen liefert. Somit steht es um die Rede- und Versammlungsfreiheit derzeit schlechter als vor Mubaraks Sturz. Seit langer Zeit liegt das Augenmerk der Aktivitäten des Regionalbüros in Ägypten auf der Unterstützung von Journalisten und der Förderung von Ausbildungs- und Trainingsprogrammen (Foto: FNF Cairo) Auch um die für eine Demokratie unentbehrliche Gedanken- und Meinungsfreiheit und die daraus resultierende Meinungsvielfalt steht es schlecht, obwohl Artikel 65 der Verfassung sie zumindest offiziell zusichert. Journalisten und Blogger werden in Ägypten seit langem massiv bei ihrer Arbeit gestört, bedroht und eingeschüchtert. Kritik an der Regierung wird nicht selten mit Freiheitsentzug geahndet. Gerichtsprozesse – wenn sie denn stattfinden – werden häufig als Farce bezeichnet, wie im Juni 2014 die Verurteilung von drei Al-Jazeera Journalisten zu jahrelangen Haftstrafen gezeigt hat. Des Weiteren werden – unter fadenscheinigen Begründungen – immer mehr Fernsehsender und Zeitungsredaktionen geschlossen. Präsident Al-Sisi lässt währenddessen verlauten, dass die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit gegenwärtig Vorrang genieße gegenüber dem Schutz etwa der Meinungs- und Pressefreiheit. Dies hat unweigerlich Auswirkungen auf die Struktur des öffentlichen Diskurses, die etwa in Formen publizistischer Selbstzensur, als vorauseilender Gehorsam, bzw. unreflektierter Regierungstreue zum Ausdruck kommt. Auch der Vorwurf, es sei ein Prozess der Gleichschaltung der Medien zu beobachten, wird vorgebracht. Die Ausnahme bildet eine große Anzahl an Bürgerjournalisten, die be- Rede- und Versammlungsfreiheit sind jedoch unverzichtbare Bestandteile einer funktionstüchtigen, an liberalen Werten ausgerichteten Demokratie, in der alle Komponenten der negativen und positiven Freiheit garantiert sind. Das Regionalbüro der FNF in Kairo wird unter anderem vor diesem Hintergrund Ende des Jahres eine Konferenz organisieren, in deren Rahmen über neue Gesetzesregelungen bezüglich Nichtregierungsorganisationen in Ägypten gesprochen werden soll. In Kooperation mit der Egyptian Organisation for Human Rights 7 Universelle Werte? 2| 2014 ständig Handyvideos ins Netz stellen und somit die unverfälschte Realität im Land zeigen wollen. Staatsmedien auf Regierungslinie auf der einen, Bürgerjournalismus auf der anderen Seite – nur eine von vielen Trennlinien, entlang derer die ägyptische Gesellschaft zutiefst gespalten ist. Einschränkungen der Meinungsvielfalt stellen eine Verletzung der Menschenrechte dar, die liberalen Ansätzen in jeder Hinsicht widerspricht. Schon deswegen sieht die FNF auch hier Handlungsbedarf. Seit langer Zeit liegt das Augenmerk der Aktivitäten des Regionalbüros in Ägypten auf der Unterstützung von Journalisten und der Förderung von Ausbildungs- und Trainingsprogrammen, vor allem mit der Egyptian Radio and Television Union als wichtigem Partner. mit der eingangs angeführten, besorgniserregenden Lage der Frauen werden die repressiven Maßnahmen des Staates gegenüber der Bevölkerung in der Regel nicht mit kulturellem Relativismus gerechtfertigt, sondern mit Verweis auf den weiterhin proklamierten Anti-TerrorKampf der Regierung. Effekt und Intention sind jedoch dieselben. Wie der Kulturrelativismus fungiert auch diese Begründung als Scheinargument. Wesensgrund der repressiven Maßnahmen ist vielmehr der Machterhalt. Es gilt, unliebsame Stimmen der Kritik und Opposition verstummen zu lassen und dem autokratischen Herrschaftsstil eine Aura der Legitimität zu verleihen. Auf diese Weise werden im Namen des Kampfes gegen den Terror und somit vermeintlich im Interesse westlicher Werte schwere Menschenrechtsverletzungen begangen – ein Widerspruch! Welchen Blickwinkel des Menschenrechtsschutzes man auch immer behandelt: Beide Rechtfertigungen sind unzulässig. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Diskriminierung, Gewalt und Ausgrenzung meist in nationalistischen, religiösen oder allgemein in gesellschaftlichen Strukturen eingebettet sind. Dieser Befund macht die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Wandels in Ägypten deutlich. Jeder Wandlungs- oder Transformationsprozess beinhaltet zwar die Gefahr, dass Teile der ägyptischen Gesellschaft liberale Normen erst recht ablehnen, da sie kulturellen Werteimperialismus mächtiger internationaler Akteure dahinter vermuten. Aber dieses Szenario darf keine Begründung dafür liefern, diese Prozesse verhindern zu wollen oder sich gegen jeglichen Austausch über Normen, Werte und politische Zielfunktionen abzuschotten. Was wäre der deutsche oder amerikanische Liberalismus ohne seine Inspirationen aus England und Frankreich? Ist nicht das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bereits seit dem antiken Rom bekannt? Sind nicht die ersten demokratischen Erfahrungen im antiken Griechenland gemacht worden? Solchermaßen betrachtet, sind liberale und demokratische Ideen überall in erster Linie importiert und an die jeweiligen politischen und historisch-kulturellen Rahmenbedingungen angepasst worden. Dies gilt auch im islamischen bzw. arabischen Kontext. Erwähnt sei etwa der Islamtheologe Muhammad Abduh (1800-1866), der bereits im 19. Jahrhundert versuchte, die islamische Rechtswissenschaft mit modernen Ideen wie derjenigen der Demokratie zu verschmelzen. Denn schon immer taten auch arabische Denker das, was ihre Kollegen aus anderen Ländern getan hatten und immer noch tun: Sie wählten aus, sie passten an, sie stellten einen Kontext Die FNF bringt Vertreter unterschiedlichster Parteien zusammen (Foto: FNF Cairo) Darüber hinaus hat das Regionalbüro der Stiftung für die Freiheit in Kairo dieses Jahr das Projekt „National Dialogue on Climate Change in Egypt“ ins Leben gerufen, das sich über einen Zeitraum von fünf Jahren mit den Problematiken des Klimawandels beschäftigen wird. Es ist das einzige Projekt, welches Vertreter von Parteien unterschiedlichster ideologischer Ausrichtungen zusammenführt und nach gemeinsamen Lösungsansätzen suchen lässt. Die Gefahren des Klimawandels betreffen alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihren ideologischen Standpunkten; dieses Projekt soll daher die Möglichkeit bieten, trotz aller Konfliktlinien in der Gesellschaft den Wert echter, an der Sache orientierter Meinungsvielfalt und damit zugleich die Rolle politischer Parteien im demokratischen Wettbewerb zu vermitteln. Doch im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in Ägypten kommt es darüber hinaus zu einem weiteren Paradoxon. Denn anders als im Zusammenhang 8 Universelle Werte? 2| 2014 her, führten zusammen. Sie taten dies mit Kreativität, Leidenschaft und der Überzeugung, dass eine Idee nicht schon deshalb falsch ist, weil sie aus einer anderen Region, die andere Erfahrungen gemacht hat, kommt. Aber es ist an den arabischen Akteuren, aufzunehmen und anzupassen. Um Menschenrechte universell effektiv werden zu lassen, müssen diese somit in bekannte kulturelle Muster der Region übertragen werden, ohne dass ihre Substanz dabei verloren geht. Der sudanesischamerikanische Juraprofessor und Menschenrechtsaktivist Abdullah An-Na’im sagte dazu, nur diejenigen, die einer jeweiligen Kultur angehören, können auch eine Veränderung von innen herbeiführen. Der Einfluss von Menschenrechten sei eine Frage der Überzeugungskunst, nicht des Zwangs, eine Frage von kulturellem Wandel, nicht von Gewalt. Falsch angegangen, können liberale Ansätze demnach als Imperialismus von Werten aufgefasst werden. Schon, um dies zu verhindern, verfolgt die FNF-Projektarbeit eine intensive Dialogarbeit mit lokalen Partnern. Denn die FNF setzt wie ihre Partner darauf, dass vor dem Hintergrund des menschlichen Potentials zur Veränderung und Entwicklung an universell gültigen Menschenrechten und liberalen Werten gar kein Zweifel bestehen kann. Dirk Kunze, Projektassistent im Regionalbüro Kairo Julius Abarbanell, Praktikant im Regionalbüro Kairo (Student der Islamwissenschaften) 9 Universelle Werte? 2| 2014 Kultureller Relativismus und universelle Menschenrechte Beispiele aus der praktischen Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit aus Westafrika In unserem europäischen Kulturkreis herrscht weitgehend Einigkeit bei der Auslegung der allgemeinen Menschenrechte. Aber andere Kulturkreise und Religionen haben ihre eigenen Vorstellungen, wenn es um den zentralen Begriff der Menschenwürde und andere in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebene Rechte geht. ein. Sie fragte, womit sich die Stiftung für die Freiheit in Senegal beschäftige. Sie beschrieb ihr persöhnliches Engagement für Menschenrechte und ihre Besorgnis über einen aktuellen Fall aus dem Norden Nigerias: Die BBC hatte berichtet, dass ein 29-jähriger Wissenschaftler, Mubarak Bala, in der Provinz Kano in die Psychiatrie eingeliefert worden war, weil er seiner Familie erklärt hatte, er glaube nicht an Gott. In Kano, Nigerias meistbevölkerter Region, wurde im Jahr 2000 islamisches Recht eingeführt. Aminata erklärte in ihrer E-Mail, sie sei insbesondere darüber besorgt, dass Ärzte sich aufgrund von kulturellem Druck instrumentalisieren lassen. Ein Arzt in Kano hatte Bala, der keine Anzeichen von Krankheit zeigte, wegen Persönlichkeitsstörungen aufgrund eines „Krankheitsbildes Atheismus“ in die Psychiatrie eingewiesen. Die Menschenrechtsarbeit in Westafrika stößt unter dem Vorwand von Selbstbestimmung sowie der vermeintlichen Besonderheit kultureller und religiöser Werte häufig auf Widerstände. Aus Sicht der FNF sind die Menschenrechte universell gültig und wir setzen uns dafür ein, dass sie überall, unabhängig von den Einflüssen von Kultur gelten. Dies zeigt das Beispiel unserer Arbeit in Senegal und Côte d´Ivoire: Ein Fall für den „Observateur“ - Aminata schreibt an das Büro der FNF in Dakar, Senegal Im Juli 2014 ging im Büro der FNF in Dakar eine EMail von Aminata, einer senegalesischen Ärztin, Auch in Senegal kommt es immer wieder zu Fällen dieser Art, wie Thiéyacine Fall, der Generalsekretär des Observateur National des Lieux de Privation de 10 Universelle Werte? 2| 2014 Liberté (ONLPL), ein Kooperationspartner der FNF, erklärt. ONLPL ist eine unabhängige Aufsichtsbehörde, deren Aufgabe es ist, den Zustand von Gefängnissen, Polizeistationen und psychiatrischen Einrichtungen und die Behandlung von Festgenommenen kontrollieren und so die Beachtung ihrer fundamentalen Menschenrechte garantieren soll. Senegal kam mit der Schaffung der Institution des ONLPL einer freiwilligen Verpflichtung aus der UNAnti-Folterkonvention nach. gelungen, auf Missstände wie Folter oder unrechtmäßige Einweisung von Menschen in die Psychiatrie aufmerksam zu machen. Den Empfehlungen des ONLPL, wie z.B. der Bestrafung der Vollzugsbeamten bzw. Freilassung zu Unrecht eingewiesener Personen, wurde entsprochen, zuletzt im März 2014 im Fall eines Häftlings in der Dakarer Haftanstalt Rebeuss, wo der Observateur einen Häftling befreien konnte, der sieben Jahre zu Unrecht festgehalten worden war. Senegal beweist mit der Einrichtung des Observateur seine Vorreiterfunktion in einer Region wie Westafrika, wo Menschenrechte insgesamt der Stärkung bedürfen. Die Institution des Observateur ist, wie das Beispiel Senegal zeigt, ein erfolgreiches Modell, Menschenrechte in Westafrika zu stärken. Gäbe es dies auch in Nigeria, könnte Mubarak Bala, der wegen seiner nicht gesellschaftskonformen oder minoritären Einstellung verfolgt wird, seine Freiheit wiedererlangen. Der Observateur ist ein wichtiges Instrument, der noch weit verbreiteten kulturellen Relativierung von Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit entgegenzuwirken. Thiéyacine Fall, Generalsekretär des Observateur National, bei einer Veranstaltung in den Räumen der FNF in Dakar (Foto: FNF Westafrika) Die FNF in Westafrika unterstützt diesen Ansatz und will das Besipiel des Observateur aus Senegal auch in anderen Projektländern der Subregion bekannt machen. In Côte d´Ivoire und Mali existieren diese Institutionen noch nicht. Die Stiftung wird den Observateur bei Kontrollbesuchen unterstützen Der Observateur führt mit einem Team von Richtern, Anwälten, ehemaligen Polizeibeamten, Psychologen, Ärzten und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen Kontrollbesuche unter anderem in Gefängissen, psychiatrischen Einrichtungen und Polizeistationen durch. Die Organisation kann von natürlichen und juristischen Personen, aber auch von Parlamentariern oder dem Präsidenten angerufen werden und arbeitet in der Praxis eng mit Organisationen wie Amnesty International zusammen. Ziel der Organisation ist es, die 223 Gefängnisse, Polizeistationen und andere Orte des Freiheitsentzugs wie Militärgefängnisse und psychiatrische Einrichtungen in Senegal zu inspizieren. Diese Inspektionsbesuche werden mit Schulungen von Polizei und Gefängnispersonal sowie Informationsveranstaltungen für Vertreter der Zivilgesellschaft verbunden. Wiederholt ist es der Organisation bereits Mitglieder des Observateur, Amnesty International und des UNHCR bei einem Kontrollbesuch im Tambacounda im Südosten Senegals, Oktober 2014 (Foto: FNF Westafrika) 11 Universelle Werte? 2| 2014 sowie Informationsveranstaltungen begleiten, die die Institution bei der Bevölkerung sowie bei Militär, Polizei und Gefängnispersonal bekannt machen. Noch in diesem Jahr ist ein Liberaler Donnnerstag geplant, eine Veranstaltung in den Räumen der Stiftung in Dakar, wo ONLPL dem Anwaltsverein sowie Vertretern anderer juristischer Berufe vorgestellt werden soll. oder Stämme über den Ehegatten entscheiden. Im Jahr 2000 hat die Afrikanische Union jedoch einem Zusatzprotokoll zu Frauenrechten zugestimmt, das im Jahr 2005 in Kraft getreten ist. Das Dokument enthält Garantien zum Schutz vor unfairer Diskriminierung, Schutz vor Gewalt und schädlichen kulturellen Praktiken wie der Mädchenbeschneidung, Ehefreiheit und Scheidung, Mitbestimmungsrechte sowie soziale Rechte. Die Wirklichkeit sieht allerdings oft anders aus. Liberaler Donnerstag im FNF Büro Abidjan, Côte d´Ivoire – Dialog zu kulturellen Widerständen gegen die Durchsetzung von Menschenrechten am Beispiel schädlicher traditioneller Praktiken Das Beispiel der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Völker zeigt, dass die Tendenz, soziale, kulturelle und historische Eigenheiten des afrikanischen Kontinents institutionell zu verankern und damit die Gültigkeit der universellen Menschenrechte auszuhebeln, in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Im August 2014 organisierte das FNF-Büro in Abidjan gemeinsam mit der Jugendsektion von Amnesty International in Côte d´Ivoire einen Liberalen Donnerstag zum Thema der kulturellen Widerstände bei der Durchsetzung von Menschenrechten. An Liberalen Donnerstagen öffnet die Stiftung ihr Haus für Kooperationspartner, überwiegend aus dem Menschenrechtsbereich, um den Dialog über aktuelle Probleme zu fördern und Entscheidungsträger und Aktivisten zu vernetzen. Amnesty International berichtete über die vor allem in ländlichen Gebieten noch immer weit verbreitete Praxis der Genitalverstümmelung und der Zwangsverheiratung teilweise junger Mädchen. Die Charta geht beispielsweise davon aus, dass die Inanspruchnahme von Menschenrechten auch Pflichten gegenüber Familie und Staat mit sich bringt und nicht, wie nach europäischem Verständnis, jedem Menschen ohne Einschränkungen garantiert ist. So enthält die Afrikanische Charta nicht das Recht der freien Wahl des Ehegatten (Art. 16 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention), da traditionell in vielen Gegenden Afrikas die Familien Neben unmenschlichem Leid, dem Infektionsrisiko und dem Risiko der Ansteckung mit HIV/AIDS haben diese Beschneidungen unterschiedlichen Grades langfristige Folgen, die bis hin zu Sterilität oder zum Tod der Mutter beim Gebähren führen können. Die FNF arbeitet in Westafrika mit internationalen und lokalen Partnern wie dem Internationalen Menschenrechtsinstitut Jean Cassin, der UN Stabiliserungsmission in Côte d´Ivoire ONUCI und der Nationalen Menschenrechtskommission von Côte d´Ivoire CNDHCI daran, dass Zielgruppen wie Justiz, Militär, Verwaltung, aber auch die ivorische Bevölkerung besser über Menschenrechte Bescheid wissen und dazu beitragen, dass ihre Einhaltung auch durchgesetzt wird. Liberale Dialoge, bei denen auch Tabu-Themen wie die Genitalverstümmelung diskutiert werden und die das Ziel haben, solche kritischen Themen auch Liberaler Donnerstag mit Amnesty International Jugendsektion im FNF Büro Abidjan, Panel (Foto: FNF Westafrika) 12 Universelle Werte? 2| 2014 in die Medien zu bringen, tragen langfristig zu einer Bewusstseinsänderung vor allem junger Menschen bei. fach oktroyieren darf. Die Erfahrung zeigt, dass Veränderungen nur im Dialog möglich sind. Das ist der Ansatz der FNF in Westafrika. Kultur ist lebendig und ständigen Einflüssen und Veränderungen unterworfen. Wir wollen eine Veränderung hin zu mehr Freiheit des Einzelnen begleiten und fördern. Sindou Bamba, Koordinator der Menschenrechtsgruppe RAIDH (Regroupement des Acteurs Ivoiriens des Droits Humains), ein weiterer Partner der FNF in Côte d´Ivoire, sagt in einem Interview: Inge Herbert, Projektleiterin Westafrika „Nicht nur während der Krise in Côte d´Ivoire ist es zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen. Frauen und Kinder waren hiervon besonders betroffen. Aber auch weiterhin gibt es viele Fälle von Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt, die auch aufgrund von kulturellen Einflüssen - der Mann ist „Herr im Haus“ - nicht strafrechtlich verfolgt werden. Das kann sich nur ändern, wenn die Menschen ihre Rechte kennen und einfordern“. Er führt weiter aus: „ Menschenrechte sind universell. Afrikaner sind nicht anders als andere Menschen. Auch die afrikanische Gesellschaft verändert sich. Im modernen Côte d´Ivoire ist nicht mehr der Mann der „Chef“ der Familie. In der Praxis geht auch die Frau einer Arbeit nach und verdient manchmal mehr als er.“ Die Stiftungspräsenz in Subsahara-Afrika Beschneidungsinstrumente (Foto: Amnesty International, Jugendsektion Côte d´Ivoire) Menschenrechte bedeuten Machtbeschränkungen. Das „Kultur“-Argument wird gern von den Mächtigen und denen, die traditionelle Rollensysteme erhalten wollen, benutzt und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass Europa die Auslegung von Menschenrechten ein13 Universelle Werte? 2| 2014 Malaysia: Machterhalt auf Kosten von Grundrechten Foto: Malaysiakini 15 Jahre nach Ende der unsäglichen Debatte über „Asiatische Werte“ agieren manche asiatischen Regierungen weiterhin repressiv. Zum Beispiel in Malaysia, wo die Regierung immer noch Menschenrechte einschränkt. Angeblich führt Freiheit zu Chaos und Gewalt. durch Einschränkung von Menschenrechten gelang, jahrzehntelang an der Macht zu bleiben. Heute, 15 Jahre nach dem Ende der unsäglichen Debatte über „Asiatische Werte“, wird die Respektierung der Menschenrechte nahezu weltweit als politisch korrekt angesehen – auch in Malaysia. In den 1990er Jahren, als Malaysias damaliger Premier Mahathir Mohamad auf der Höhe seiner 22-jährigen Amtszeit war, war er auch am lautesten: Mahathir vertrat die Ansicht, dass westlicher Imperialismus konstant bemüht sei, die Entwicklung der Dritten Welt zu unterminieren. Konzepte wie universelle Menschenrechte seien Teil dieses westlichen Imperialismus – eine Methode, um östliche Regierungen unter Druck zu setzen, zu tun, was westliche Regierungen wollen. Mahathir sowie seine benachbarten Amtskollegen Lee Kuan Yew in Singapur und Suharto in Indonesien sprachen von „Asiatischen Werten“, nach denen individuelle Rechte dem Wohl der Gemeinschaft entgegenstünden. Ihr Kalkül war durchschaubar. Alle drei Regierungschefs waren Autokraten, denen es auch (vielleicht sogar vor allem) Nur leider beschneiden malaysische Politiker die Rechte von Individuen nach wie vor. Und selbst wenn sie sich nicht mehr explizit auf „Asiatische Werte“ als Rechtfertigung beziehen, so unterscheidet sich ihre Herleitung de facto kaum: Sie beschwören zumeist die Vorstellung, dass absolute Freiheit zu Chaos und Gewalt führe, dass die Bedürfnisse Vieler wichtiger seien als die Bedürfnisse von Wenigen oder gar des Einzelnen. Die Regierung trage Verantwortung dafür, die Mehrheit zu „beschützen“, auch wenn dies auf Kosten der Minderheit geht. Die Dynamiken, die Einfluss darauf haben, wann und warum sich Malaysias Regierung für Repression entscheidet und wiederholt Menschenrechte verletzt, sind im historischen Kontext zu sehen. 14 Universelle Werte? 2| 2014 men damit begründet, dass sie nicht nur für das Allgemeinwohl gut seien, sondern auch notwendig, um ethnische Interessen und ethnische Beziehungen zu schützen. Darüberhinaus beeinflusst innerparteiliche Politik ungerechtfertigte Ausübung von Staatsmacht. Rechte werden nicht nur im Zuge der Bemühung, die herrschende Partei gegen Dissidenten zu schützen, eingeschränkt. Manchmal geht es auch um den Kampf um innerparteiliche Dominanz. Ein gutes Beispiel dafür ist die Betrachtung der Fälle, in denen die Regierung den Internal Security Act (ISA) zwischen seinem Erlass 1960 und seiner Aufhebung 2011 angewendet hat. Der ISA war ein Gesetz, das Inhaftierungen ohne Gerichtsprozess erlaubte. Malaysias Ex-Premier Mahathir Mohamad ist ein Ideologe, der glaubt, dass die Vorherrschaft der Malaien in Malaysia energisch durchgesetzt werden muss (Foto: Malaysiakini) Als ISA 1960 erlassen wurde, behauptete die Regierung, das Gesetz werde zur Bekämpfung von Kommunisten genutzt. Malaysias erster Premier versprach, dass ISA nicht dazu heranzuziehen, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Allerdings blieb das Gesetz lange nach Beendigung des kommunistischen Aufstands in Kraft. 1987 wurden im Zuge der Operasi Lalang, der größten Razzia gegen Politiker und Aktivisten, die Malaysia je erlebt hat, 106 Menschen ohne Anklage inhaftiert. Hintergrund waren Spannungen im Zuge von Bemühungen der Regierung, mehr Kontrolle über Schulen auszuüben, in denen statt auf Malaysisch auf Chinesisch oder in anderen Sprachen unterrichtet wurde. Politiker verschiedener ethnischer Parteien organisierten Demonstrationen. Der größte Konflikte bestand nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen zwei Regierungsparteien: der (malaiischen) UMNO-Partei und der (chinesischen) MCA-Partei. Die MCA-Partei brachte 10.000 Menschen zur Unterstützung von Sprachfreiheit in Schulen auf die Straße. Daraufhin schmiedete die UMNO-Partei Pläne, eine Gegenkundgebung mit einer halben Million Teilnehmer zu organisieren. Malaysias derzeitiger Premier Najib Razak, der damals UMNOJugendchef war, soll gedroht haben, den ‚Keris‘ - also den traditionellen, malaiischen Dolch - in chinesischem Blut zu baden. Um „Eskalierung der Spannungen in Gewalt“ zu verhindern, inhaftierte die Regierung 106 Aktivisten und Politiker aus dem Oppositions- und Regierungslager. 40 von ihnen wurden zwei Jahre lang ohne Anklage in Haft gehalten. Die Regierung argumentierte, dass dieses Vorgehen begründet und notwendig sei – es sei unerlässlich, die Rechte einiger Weniger zu beschneiden, um Frieden und Harmonie für den Rest der Bevölkerung zu gewährleisten. Ethnische Parteien dominieren 1957 erlangte das damalige Malaya die Unabhängigkeit von Großbritannien und wurde 1963 mit der Aufnahme von Sabah, Sarawak und Singapur (welches 1965 von der Föderation wieder ausgeschlossen wurde) zu Malaysia. Malaysias gegenwärtig regierende Koalition, die Barisan National (Nationale Front), ist seit der Unabhängigkeit an der Macht. Malaysias Bürger haben also nie eine andere Regierung als die derzeitige gekannt. Die Nationale Front besteht hauptsächlich aus ethnischen Parteien, die die größten ethnischen Gruppen des Landes repräsentieren: ethnische Malaien (50.4%), Chinesen (23.7%) und Inder (7.1%). Eine Vielzahl anderer indigener Gruppen und eine Mischung weiterer Ethnien machen den Rest der Bevölkerung aus. Innerhalb der Nationalen Front Koalition hat die Partei das Sagen, die die Malaien, also die größte ethnische Gruppe, vertritt: die UNITED MALAYS NATIONAL ORGANISATION (UMNO). Die Dominanz ethnischer Parteien hat sich erheblich auf Malaysias soziale und politische Landschaft ausgewirkt. Auch wenn sich dies mittlerweile ein wenig ändert, so haben Oppositionsparteien historisch nie bedeutende Wahlerfolge erzielt. Die größten politischen Spannungen während Malaysias prägender Jahre traten nicht zwischen Regierung und Opposition auf, sondern zwischen den unterschiedlichen ethnischen Parteien innerhalb der Regierungskoalition. So drehte sich der vorwiegende politische Diskurs über viele Jahrzehnte hinweg um Probleme der ethnischen Beziehungen anstatt um unterschiedliche politische Ideologien. In Malaysia werden viele repressive Maßnah- 15 Universelle Werte? 2| 2014 SOSMA statt ISA: Alter Wein in neuen Schläuchen Mehr als 20 Jahre später, im September 2008, wurden in Malaysia immer noch politisch engagierte Menschen auf Grundlage des ISA verhaftet: der Blogger Raja Petra Kamarudin, die Oppositionspolitikerin Teresa Kok und die Journalistin Tan Hoon Cheng. Die ersten beiden wurden verhaftet, weil sie angeblich den Islam und die Malaien beleidigt hätten. Tans Fall war besonders interessant, da sie dafür inhaftiert wurde, Bemerkungen eines UMNOPolitikers (Ahmad Ismail) veröffentlicht zu haben, der sagte, dass die Chinesen in Malaysia sich so entwickeln würden wie die Juden in Amerika und nun, da sie die Wirtschaft kontrollierten, nach politischer Kontrolle streben. Er bezeichnete die Chinesen außerdem als Immigranten und Landbesetzer, die keine Gleichberechtigung verdient hätten. Die Öffentlichkeit war perplex darüber, warum Tan verhaftet wurde, während gegen Ahmad keinerlei Schritte unternommen wurden. In einer der bizarrsten Rechtfertigungen, die die Regierung je machte, sagte der für die Polizei verantwortliche Minister, Syed Hamid Albar, dass Tan zum Schutze ihrer eigenen Sicherheit verhaftet worden sei, da Drohungen ge- gen sie vorlägen. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Verhaftungen liegt in der damaligen politischen Atmosphäre. Der seinerzeitige Premierminister Abdullah Badawi galt vielen UMNO-Politikern als zu weich. Abdullah verbuchte sechs Monate nach den Verhaftungen den größten Wahlverlust in der Geschichte der Regierungskoalition. Nach starkem Druck innerhalb UMNOs – nicht unwesentlich von Abdullahs Vorgänger Mahathir betrieben – trat der Premier schließlich zurück. Er wurde durch Najib Razak ersetzt, der bis heute Premier ist. Najib gab im Jahr 2011 öffentlichem Drängen nach und hob den Internal Security Act auf. Allerdings führte Najib den Security Offences Special Measures Act (SOSMA) ein. Dieser erlaubt immer noch Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren. Der Austausch von ISA durch SOSMA ist demnach leider alter Wein in neuen Schläuchen. Zudem ist der Emergency Ordinance and Dangerous Drugs Act von 1952 weiterhin in Kraft, der ebenfalls Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren möglich macht. SOSMA ist bislang noch nicht verbreitet angewendet worden. Die Regierung hat in jüngster Zeit eine andere Lieblingswaffe: den Sedition Act von 1948. Das Gesetz stellt „Aufwiegelung“ oder „Volksverhetzung“ unter Strafe. Auch wenn es glücklicherweise keine Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren ermöglicht, so birgt das Gesetz doch eine Vielzahl anderer Probleme. Eines der größten ist die extrem vage Definition von „Volksverhetzung“ im Sinne dieses Gesetzes. Das Gesetz definiert Verhaltensweisen als volksverhetzend, die tendenziell „Hass, Verachtung, oder Unzufriedenheit gegenüber Führern oder Regierung erregen“ oder „Unzufriedenheit oder Missbehagen schüren" oder „Gefühle von Missgunst und Feindseligkeit zwischen verschiedenen Rassen oder Klassen der malaysischen Bevölkerung fördern“. Das Gesetz bietet keine konkreteren Richtlinien im Hinblick darauf, wie Hass, Verachtung, Missbehagen, Missgunst, Feindseligkeit etc. zu messen sind. Je nach Auslegung dieser Begriffe können mindestens die Hälfte aller Äußerungen, die in sozialen Medien über Malaysias Regierung getätigt werden, als volksverhetzend erachtet werden. Der unangemessen weite Spielraum, den Behörden dabei haben, etwas als volksverhetzend zu klassifizieren, ist wahrlich besorgniserregend. Allein in diesem Jahr sind bislang mehr als ein Dutzend Politiker und Aktivisten aufgrund des Sedition Acts verhaftet worden, die meisten in den Monaten August und September. Es ist kein konsistentes Muster zu erkennen. Malaysias Ex-Premier Abdullah Badawi und sein Nachfolger Najib Razak gerieten unter Druck von Hardlinern in ihrer UMNO-Partei (Foto: Malaysiakini) 16 Universelle Werte? 2| 2014 Die große Mehrheit der Verhafteten war allgemein regierungskritisch. Aber es gab auch ein paar symbolische Verhaftungen von Personen, die die Regierung unterstützen, dabei allerdings rechts von ihr stehen. Die angeblich volksverhetzenden Bemerkungen variieren ebenfalls stark. Einer der Verhafteten, Ali Abdul Jalil, hatte auf Facebook geschrieben, dass ein Sultan kein Gott sei. Ein anderer, RSN Rayer, beschrieb in einer regionalen Parlamentssitzung die UMNO-Partei in vulgärer Weise. Ein Juraprofessor, Azmi Sharom, wurde aufgrund einer juristischen Einschätzung verhaftet, die er Monate zuvor gegeben hatte. Wong Hoi Cheng wiederum wurde in Arrest genommen, weil er Malaysias Polizeichef auf Twitter mit Heinrich Himmler verglichen hatte. Da ähnliche Bemerkungen tagtäglich von vielen Malaysiern gemacht werden, legt das Fehlen eines konsistenten Musters bei Verhaftungen nahe, dass die Autoritäten willkürlich entscheiden, auf wen sie das Gesetz anwenden. Viele malaysische Aktivisten und internationale Beobachter charakterisieren die Verhaftungen als eine Art Schleppnetz, das Dissens und Meiningsfreiheit eindämmen soll. Möglicherweise sei die Verhaftungswelle auch im Lichte der schlechteren Ergebnisse der Regierung bei den jüngsten Wahlen zu sehen. All diese Beobachtungen sind größtenteils zutreffend, aber eine tiefere Analyse mag besser kontextualisieren, was gerade in Malaysia geschieht. Im April 2012 demonstrierten Zehntausende Malaysier für saubere Wahlen. Die Kundgebung war nicht genehmigt, Sicherheitskräfte schritten ein (Foto: Malaysiakini) Ex-Premier Mahathir zieht weiter Fäden 1987 gingen Risse innerhalb der Regierungskoalition der Operasi Lalang voraus. 2008, als Premier Abdullah innerparteilich unter Druck stand, kam es nach vielen Jahren wieder zu einer Welle von ISA-Verhaftungen. 2014 sind die Umstände ähnlich gelagert. Nicht nur die Dynamik zwischen Regierungs- und Nichtregierungsakteuren hat zu dem Anstieg menschenrechtsunterdrückender Maßnahmen geführt, auch Spannungen innerhalb des Machtapparates. Seit den Wahlen 2013 steht Premier Najib – der im Vergleich zu den vielen Hardlinern seiner UMNO-Partei relativ liberal ist – unter immensem Druck seitens noch weiter rechts stehender Faktionen seiner Partei. Der harte Ex-Premier Mahathir - mittlerweile 89 Jahre alt und eigentlich seit elf Jahren in Rente – hat weiterhin beträchtlichen Einfluss. Er führt seine Gewohnheit, seine Nachfolger schlecht zu machen und anzufeinden, fort. rend seiner Amtszeit als Premierminister wurde ISA zum ersten Mal als Machtinstrument, ja beinahe als Waffe sichtbar, die nicht nur der Regierung, sondern den ethnischen Malaien insgesamt zur Verfügung stand. Mahathir beeinflusste über die Jahrzehnte viele dahingehend, Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren als ein Instrument anzusehen, jegliche Bedrohung der malaiischen Vorherrschaft zu kontrollieren. In Wahrheit geht es um die Vorherrschaft der UMNO-Partei. Damit eine Waffe abschreckt, muss sie hin und wieder eingesetzt werden. Mahathir und andere Rechte innerhalb UMNOs waren offensichtlich enttäuscht, als Premier Najib 2012 versprach, den Sedition Act aufzuheben. Der Druck von Hardlinern scheint Erfolg zu haben: Zwei Jahre später ist der Sedition Act nicht nur immer noch gültig, er wird sogar vermehrt angewendet. Dies ist ein Sieg von UMNO -Hardlinern, die das Gesetz als lebensnotwendiges Instrument malaiischer Machterhaltung ansehen. Premier Najib kann dabei gewissermaßen nur verlieren: Entweder bricht er sein Versprechen, das Gesetz abzuschaffen – oder er verliert gegenüber rechtsgerichteten Kräften in seiner Partei an Boden, die ihn abzusetzen versuchen. Es ist kein Zufall, dass sich Verhaftungen wegen angeblicher Volksverhetzung vor UMNOs jährlicher Generalversammlung im November häuften. Hardliner innerhalb von UMNO werden sich mit ihrer Fähigkeit brüsten können, Regierungsmuskeln spielen gelassen zu haben, um ethnische Interessen zu schützen. Mahathir ist ein Ideologe, der aufrichtig glaubt, dass UMNOs Stärke und die Vorherrschaft der Malaien in Malaysia energisch durchgesetzt werden müssen. Wäh- Außer Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und der willkürlichen Anwendung menschenrechtsverletzender Gesetze gibt es viele weitere Methoden, mit denen die 17 Universelle Werte? 2| 2014 malaysische Regierung Grundrechte und Grundfreiheiten einschränkt. Für Radio-, Fernseh- und Printmedien gibt es keine Pressefreiheit. Einschränkungen werden dadurch gewährleistet, dass die einzigen Unternehmen, die notwendige Medienlizenzen erhalten, vollständig Eigentum von Regierungsparteien sind. Malaysia hat extrem strenge Vorschriften bei öffentlichen Kundgebungen. Ein weiteres Beispiel für die Einschränkung von Grundrechten sind kontinuierliche Manipulationen des Wahlsystems, die die Chancen der Regierung erhöhen. Malaysia hat ein Sodomie-Gesetz, das Homosexualität kriminalisiert. In der Praxis scheint es nur gegen Oppositionsführer Anwar Ibrahim instrumentalisiert zu werden. wendet werden soll. Damit soll der Staat eine extrem hohe Hemmschwelle haben, wenn es um das Beschneiden individueller Freiheiten geht. In Malaysia werden heutzutage solch grobe Ungerechtigkeiten begangen, dass philosophisch nuancierte und komplexe Argumente dahingehend, wo die Grenzen zwischen individuellen Rechten und Gruppenrechten zu ziehen wären, hier müssig sind. Das Internet als Plattform für einen ehrlicheren öffentlichen Diskurs hat den Bemühungen, ein rechtebewussteres Malaysia zu schaffen, außerordentlich geholfen – und zwar trotz der Anstrengungen der alten Garde, ihre Machtausübung zu erhalten. Auch wenn es noch viele Minenfelder gibt, so scheinen die Malaysier zunehmend mutiger vorwärtszuschreiten und einen Raum zu schaffen, in dem fundamentale Freiheiten Vorrang haben vor engstirnigen politischen Interessen. Macht auf Kosten von Grundrechten Einige dieser Fälle spiegeln traditionelle Einschränkungen durch einen Staat wider, der fest entschlossen ist, seine eigene Macht auf Kosten von Grundrechten und Freiheit zu erhalten. Andere Fälle von Unterdrückung scheinen eher interne, politische Kämpfe zu sein. Es gibt ein malaiisches Sprichwort: Wenn Elefanten kämpfen, sterben die Zwergböckchen dazwischen („bila gaja bertempur, kancil mati di tengah“). Auch wenn es verlockend ist, stets ein unkompliziertes Bild von tyrannischen Regierungen zu zeichnen, die ihr Volk unterdrücken, so macht effektiver Aktivismus es manchmal nötig, die vielen Blickwinkel und Wurzeln eines Problems anzuerkennen. Lokale Menschenrechtsaktivisten können gewöhnlich kaum Druck auf die malaysische Regierung ausüben. Die Reaktion der Regierung auf Kritik ist normalerweise, mit übergeordnetem Interesse der Gesellschaft zu argumentieren und Aktivisten ansonsten zu ignorieren. Malaysias Regierung reagiert allerdings durchaus auf internationale Kritik. Die Gefahr, internationales Ansehen zu verlieren sowie Gesichtsverlust zu erleiden, scheint zu den wenigen Aspekten zu gehören, die die Regierung ernst nimmt. Nathalien Tan ist Publizist in Kuala Lumpur, Malaysia Die malaysische Zivilbevölkerung beruft sich im Kampf gegen die vielen Ungerechtigkeiten im Land selten auf die alte, überholte Debatte um universelle Menschenrechte und „Asiatische Werte“. Ein Festhalten an einem so genannten „Naturrecht“ mag eine akkuratere Beschreibung des moralischen Rahmens sein, auf den sich diejenigen berufen, die sich für einen besseren Schutz fundamentaler Rechte in Malaysia einsetzen. Dieses Konzept der natürlichen Gerechtigkeit befördert Ansichten wie die, dass jedes Individuum das Recht auf einen gerechten Prozess haben soll. Es besagt zudem, dass das Gesetz einheitlich ohne Angst oder Begünstigung ange- Karte: TUBS / Wikimedia 18 Universelle Werte? 2| 2014 Lateinamerika: Wertediskussionen im Spagat zwischen indigener Selbstbestimmung und handfesten Eigeninteressen lokaler Eliten In den meisten Ländern des mittel- und südamerikanischen Festlandes herrscht ein bunter Mix von indianischer und hispanischer Kultur. Oft bilden Mestizen, also Mischlinge von Einwanderern und indigenen Bürgern, die größte Bevölkerungsgruppe. Der Katholizismus ist die vorherrschende Religion, die urbane „Leitkultur“, die von den noch immer häufig spanisch geprägten Eliten bestimmt wird, ist Europa sehr nah und zumindest in Zentralamerika ist der kulturelle Einfluss der USA groß. Die dominierenden Landessprachen sind so gut wie überall Spanisch oder Portugiesisch. Natürlich gibt es gewaltige kulturelle Gefälle zwischen arm und reich, ruraler und urbaner Bevölkerung. Doch nach Nordamerika ist Lateinamerika wohl durch seine koloniale Vergangenheit die Weltregion mit der größten Wertenähe zu Europa. Die Dichotomie „Westliche Werte“ – „Lokale Werte“ greift also nicht, weil große Teile Bevölkerungsteile Lateinamerikas Europa und die USA als (ambivalente) Bezugspunkte empfinden und Europa für viele zumindest einen Teil der eigenen Familiengeschichte repräsentiert. ländlichen Bevölkerungsgruppen oft konservativer eingestellt sind als die urbane Mittelschicht. Aus liberaler Sicht ist jedoch enttäuschend, dass gesellschaftspolitische Fortschritte vor allem mit der konservativen, katholischen, sich häufig selbst als liberal bezeichnenden Elite nicht zu machen sind. Aus liberaler Sicht positive gesellschaftspolitische Entwicklungen gehen fast ausschließlich von der Linken aus. Homoehe, Abtreibung, Entkriminalisierung von Cannabis: es waren linke Regierungen in Ländern wie Argentinien oder Uruguay, die hier für Fortschritt gesorgt haben. Parallel dazu gibt es noch echte Klassenkampfrhetorik gegen die imperialistischen USA und Kapitalisten im Allgemeinen (was die Chavez` des Kontinents allerdings nie davon abgehalten hat, ihr Erdöl weiter an den Klassenfeind zu verkaufen). Das alles erinnert an die Diskurse in Europa vor 40 Jahren und auch von sozialistischer Seite selbst wird das partielle kulturelle Erbe Europas nicht bestritten. Wie könnten sie auch! Der für die „bolivarische Revolution“ in Venezuela namensgebende Befreiungsheld Simón Bolívar (1783-1830) entstammte selbst einer reichen Mestizenfamilie und Che Guevara war Argentinier mit europäischen Wurzeln aus bürgerli- Die Trennlinie verläuft anderswo: konservativtraditionell und katholisch gegen fortschrittlich-modern. Es ist in der Tat so, dass die indigeneren und ärmeren 19 Universelle Werte? 2| 2014 Es berichtet hierzu Edwin Xol, der selbst einen Indigena -Background hat. Er hat an der Universidad Francisco Marroquín (Guatemala) Business Administration studiert und an den Universitäten Francisco de Vitoria und Rey Juan Carlos (Madrid) ein Aufbaustudium im Fach “Politisches Handeln und Bürgerbeteiligung” absolviert. Er sieht wenig Spezifisches in den Auseinandersetzungen, sondern beschreibt sie nüchtern als Folge schwacher staatlicher Institutionen, die mit dynamischen gesellschaftlichen Prozessen überfordert scheinen. Hier seine Analyse: Der Fall Guatemala Die Häufigkeit und Intensität der Proteste indigener Gruppen gegen den Abbau natürlicher Ressourcen, insbesondere gegen den Bergbau, ist Grund zur Sorge für die Regierung und die Unternehmen Guatemalas. Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen (Foto: Álvaro Herraíz San Martín, Flickr) chem Hause. Oft werden diese Proteste diskreditiert. Einerseits wird in Frage gestellt, ob sie tatsächlich von den einzelnen Gemeinden unterstützt oder lediglich von selbst ernannten indigenen Führungskräften oder Anführern inszeniert werden. Andererseits wird behauptet, das Interesse dieser Elite sei nicht unbedingt an den tatsächlichen Schutz natürlicher Ressourcen gekoppelt, sondern vielmehr an das Ziel, mit der Regierung Gegenleistungen auszuhandeln bzw. von der internationalen Gemeinschaft Entwicklungsgelder zu erhalten. Dieser Artikel soll hinterfragen, ob die Zunahme der Proteste nur anhand der Suche nach Vorteilen durch die eigens ernannten Führungskräfte erklärt werden kann. Selbst wenn die Zweifel teilweise begründet sind, scheint die Zunahme der Proteste vielmehr an einen tiefgreifenden Wandel der guatemaltekischen Gesellschaft gekoppelt zu sein. Der Wechsel steht im Zusammenhang mit dem Auftreten einer Gesellschaftsgruppe, die über ein definiertes politisches Bewusstsein verfügt, deren Vision - insbesondere hinsichtlich natürlicher Ressourcen - nicht in das derzeitige institutionelle Gerüst zu passen scheint. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ethnische Traditionen gibt, die mitunter mit dem Zivilrecht der lateinamerikanischen Staaten in Konflikt stehen. Der kulturellen und kosmologischen Dimension von Landbesitz in Indigena-Kulturen beispielsweise wird aber kaum die häufig auf den Gegensatz von Privat- und Gemeineigentum verkürzte Diskussion um Eigentumsrechte gerecht. Während linke Gruppen aus solchen Besonderheiten politisches Kapital zu schlagen versuchen und die Indigenas häufig für ihre Gesellschaftskritik instrumentalisieren, stehen Liberale für die Prinzipien Selbstbestimmungsrecht und Subsidiarität ein. Den Indigenas wäre deshalb mit konsequent liberaler Politik, die den Menschen vor allem Selbstbewusstsein und Würde verleiht, wesentlich besser gedient als mit dem - manchmal ja durchaus gutmeinenden - Paternalismus linker Unterstützergruppen. Und auch wenn indigene Völker in ihrer Gesamtheit manchmal kollektivistischer denken mögen, sollten sich Liberale davor hüten, das Individuum aus dem Auge zu verlieren. Viele junge Indigenas arbeiten heute genauso selbstverständlich als Webdesigner oder Anwälte in den liberaleren Großstädten und genießen ihre individuellen Freiheiten dort wie jeder andere auch. Die institutionelle Krise In seinem Werk “Political Order in Changing Societies” beschreibt Samuel Huntington die Effekte des Auftretens neuer gesellschaftlicher Gruppen in Ländern mit schwierigen institutionellen Rahmenbedingungen die in Chaos, Gewalt und sozialer wie politischer Instabilität münden. Seine Feststellungen beschreiben genau die derzeitige Situation Guatemalas. Als Beispiel für die realen und manchmal auch künstlich aufgebauschten Konflikte von lateinamerikanischen Staaten mit ihren eigenen Indigena-Völkern gilt Guatemala, das prozentual eine der größten indigenen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika beheimatet und für sich selbst als „Herz der Maya-Welt“ wirbt. 20 Universelle Werte? 2| 2014 Huntington analysiert und begründet die Unordnung von Ländern, die sich in Modernisierungsprozessen befinden, mit der nicht vorhandenen Fähigkeit politischer Institutionen, auf die sich häufenden Forderungen von heterogeneren und komplexen Gesellschaften adäquat zu reagieren. „Was ist der Grund für Gewalt und Instabilität?“, fragt sich der Autor. „Die herausragende These ist, dass sie als Konsequenz schneller sozialer Veränderungen und politischer Mobilisierung neuer Gruppen - einhergehend mit der langsamen Entwicklung politischer Institutionen - entstehen. [...] Während soziale Mobilisierung und politische Beteiligung ihren Höhepunkt erreichen, verhalten sich politische Organisationen und Institutionen träge. Das Ergebnis sind Instabilität und Chaos.“ So kann die steigende soziale Konfliktivität in Guatemala nicht nur auf externe Faktoren zurückgeführt werden, sondern auch als eine Krise der Institutionen des guatemaltekischen Staates verstanden werden. in Gemeinschaftsversammlungen getroffen werden. So sprechen wir hier von einem durch Eliten vorangetriebenen Instrument, das in den lokalen indigenen Gemeinschaften aber durchaus Zuspruch findet. Diese wachsende Verbindung zwischen Eliten und Gemeinschaften an der Basis der Gesellschaft führt zusammen mit der Förderung des Bergbaus durch die guatemaltekische Regierung zu intensiveren und häufigeren Protesten. Der unaufhaltsame Wandel der Institutionen Welche Antworten gibt es auf die Instabilität, die sich aus dem Widerstand indigener Völker gegen den Abbau natürlicher Ressourcen, insbesondere gegen den Bergbau ergibt? Wenn die Konflikte lediglich mit der Absicht von Eliten in Zusammenhang stünden, könnten die Proteste durch die Sicherheitskräfte zurückgedrängt werden. Wenn die Proteste jedoch aus einem tiefgreifenden sozialen Wandel hervorgehen, wie dieser Artikel andeutet, hätten solche Maßnahmen eine kurzfristige und begrenzte Wirkung. Eine langfristige Lösung setzt die Revision und Anpassung des institutionellen Rahmens voraus - ein schmerzhafter Prozess, dem permanent aus dem Weg gegangen wird. Die indigenen Völker - in Guatemala hauptsächlich Mayas - haben in den letzten drei Jahrzehnten vielleicht am stärksten neues Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer Identität und ihrer politischen Macht getankt. Ihr Auftreten (oder Wiederauftreten) führt zu Auseinandersetzungen mit einem Staat in einem anderen Kontext und mit Institutionen, durch die sich diese Gruppierung nicht repräsentiert fühlen. Die Hauptursache der Auseinandersetzungen zwischen indigenen Völkern und den Institutionen des heutigen Guatemalas konkretisieren sich im Abbau natürlicher Ressourcen. David Henneberger, Projektleiter Zentralamerika Die Stiftungspräsenz in Lateinamerika Die Auseinandersetzung im Bereich natürlicher Ressourcen Die indigenen Völker Guatemalas - wie andere Ureinwohner auch - schreiben der Erde einen ehrwürdigen Charakter zu. Diese Ansicht spiegelt sich auch in ihrer Haltung gegenüber dem Abbau natürlicher Ressourcen, insbesondere im Bergbau-Bereich: sie lehnen häufig jegliche Bergbau-Aktivitäten völlig ab oder bestehen mindestens auf ihrer Forderung des Rechts auf Konsultation vor Genehmigung von Bergbau-Projekten auf ihren Ländereien. Und genau dieses Konsultationsrecht wird häufig von Interessengruppen missbraucht. Es handelt sich hierbei um lokale Eliten mit einer eigenen politischen und wirtschaftlichen Agenda. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass es nicht auch positive Fälle gäbe, in denen die Konsultation lebendiger Ausdruck lokaler Kulturen ist, in welchen die Entscheidungen, die das Kollektiv betreffen, 21 Universelle Werte? 2| 2014 Griechenland: Zurück zu alten Werten! Für viele Menschen, insbesondere die freiheitlich-liberal gesinnten, sind die Begriffe „Griechenland“ und „Demokratie“ untrennbar miteinander verbunden. Seit dem Geschichtsunterricht der Mittelstufe wissen wir, dass die Agora als zentrale Versammlungsstätte der Polis sozusagen die Urform basisdemokratischer Entscheidungsfindung darstellt. Bei Homer galt das Fehlen einer Agora, also der Möglichkeit zur unmittelbaren Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung, sogar als Anzeichen für Recht- und Gesetzlosigkeit. Kaum ein Geschichtslehrer, vor allem mit humanistischer Grundprägung, der beim Gedanken an die Ursprünge der Demokratie im alten Griechenland nicht ein Funkeln in den Augen bekommt. dass den modernen Griechen die politischen und gesellschaftlichen Ideale ihrer Vorfahren abhandengekommen zu sein scheinen, während das architektonische wie intellektuelle Erbe auch heute noch überall präsent ist. Anders als ihre Bauten oder Heldenepen haben die politischen Werte der alten Griechen die Jahrtausende nicht überdauert: Aktive Teilhabe am politischen Prozess ist in der heutigen Hellenischen Republik weder stark ausgeprägt, noch von einem Großteil der Bevölkerung überhaupt gewünscht. Vier Jahrzehnte der Zweiparteienherrschaft – in einem parlamentarischen System wohlgemerkt! – haben ihre Spuren in der griechischen Seele hinterlassen: Politik dient dem Verteilen von Pfründen und falls man zu einem erlauchten Kreis gehört, dann nimmt man daran teil; wenn nicht, dann hält man sich davon so fern wie nur möglich. Das moderne Griechenland ist stolz auf sein kulturelles Erbe. Nahezu jeder Grieche kann die wahrlich nicht immer leicht zu durchschauenden Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der griechischen Götterwelt herunterbeten und zeigt sich geradezu erschüttert ob des Unwissens, wenn sein Gegenüber nicht mit den Unterschieden zwischen Homers Ilias und Hesiods Theogonie vertraut ist. Und auch wenn mittlerweile erwiesen ist, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, so ist und bleibt Griechenland die Wiege der Zivilisation. Von hier aus traten universelle Werte - so es sie denn gibt – ihren Siegeszug rund um den Globus an. „Die Demokratie ging vom griechischen Demos aus“, ist für jeden Griechen, der etwas auf sich hält, unumstößliches Dogma. Politische Bildung als Mittel zur Teilhabe Vier Jahrzehnte der Alleinregierung konservativer oder sozialistischer Parteien führten nicht nur zu einer zunehmenden Desillusionierung der Gesellschaft, sondern auch zu einem Verlust innerparteilicher Demokratie. Die langjährige Fokussierung auf Führungspersonen und familien – wie etwa auf konservativer Seite die Karamanlis- und Mitsotakis-Clans oder die PapandreouFamilie bei den Sozialisten – hat dafür gesorgt, dass sich Parteimitglieder lieber hinter charismatischen Persönlichkeiten sammeln als selbst aktiv die Parteipolitik mitzugestalten. Dies zeigte sich während des radikalen Wandels der Parteienlandschaft im Nachgang der euro- Es ist umso bedauerlicher – geradezu ein Dilemma –, 22 Universelle Werte? 2| 2014 päischen Wirtschafts- und Währungskrise nicht nur innerhalb der beiden großen Volksparteien Nea Dimokratia und PASOK. Das Phänomen politischer Unmündigkeit, das auf Dauer die politische Kultur eines jeden Landes zersetzen würde, ist in Griechenland durch das gesamte Parteienspektrum hindurch stark ausgeprägt. Die „Freunde der Freiheit“ Da das Wort „Liberalismus“ dem Lateinischen entstammt, es im Griechischen jedoch nur wenige Lehnwörter lateinischen Ursprungs gibt, heißt Liberalismus auf Griechisch Phileleftherismós (Φιλελευθερισμός). Die Vorsilbe Phil bedeutet Freund, Elefthería ist die Freiheit. Liberale heißen auf Griechisch also „Freunde der Freiheit“. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, jungen reformorientierten Menschen basisdemokratische Werte zu vermitteln und somit Entscheidungsprozesse auf Basis von Mehrheitsentscheidungen wieder salonfähig zu machen. Aus diesem Grund lud das Griechenland-Projekt der FNF Ende September zur „1. Liberalen Jugendkonferenz“ in die diesjährige Europäische Jugendhauptstadt Thessaloniki ein, um engagierten Jugendlichen eine Plattform für Diskussion und demokratische Meinungsbildung zu bieten. „Die Idee hierzu kam uns bei einem Besuch eines Bundeskongresses der Jungen Liberalen in Deutschland, als unsere griechischen Teilnehmer wissen wollten, welches Amt denn der Vater des JuLi-Vorsitzenden in der Partei ausübe“, erinnert sich der für Griechenland zuständige Regionalbüroleiter Hans Stein. „Spätestens da wurde uns klar, dass es auch bei liberal gesinnten Griechen einen großen Nachholbedarf bezüglich basisdemokratischer Entscheidungsprozesse gibt.“ innerparteilicher Demokratie und basisdemokratischer Entscheidungsfindung, wie sie in vielen europäischen Parteien praktiziert und angewandt werden, vertraut gemacht. Viele der über sechzig Delegierten sahen so zum ersten Mal in ihrem Leben einen „Leitantrag“, den sie Zeile um Zeile abändern, ergänzen oder streichen durften. Um die vier Kapitel „Wirtschaft & Arbeitslosigkeit“, „Bildung & Forschung“, „Europäische Integration“ und „Reform der Verwaltung“ mit Leben und Inhalt zu füllen, wurden vier Arbeitsgruppen gebildet, in denen die jeweiligen Probleme erörtert und Forderungs- bzw. Lösungskataloge erarbeitet wurden. In einer darauf folgenden Plenarsitzung wurden die Vorschläge der Arbeitsgruppen, aber auch Änderungsanträge einzelner Delegierter, thematisiert, leidenschaftlich diskutiert und abgestimmt. Ergebnis war eine sechsseitige Abschlusserklärung, die von den Teilnehmern trotz teilweise hitziger Debatten letztlich einstimmig angenommen wurde. „Das war eine wichtige Lektion in Sachen demokratischer Teilhabe am politischen Prozess“, war sich Spyros Pengas, Vizebürgermeister von Thessaloniki und engagierter Mitdiskutant bei den Arbeitsgruppensitzungen, nach der Konferenz sicher. „Dass dies keine Simulation war, sondern handfeste reformpolitische Arbeit, macht das Ergebnis noch bedeutsamer.“ Die Abschlusserklärung, die an alle Abgeordneten des griechischen Parlaments verschickt wurde, fordert zahlreiche Reformen im wirtschaftlichen Bereich, eine Abkehr vom allgegenwärtigen Staatsinterventionismus, die Schaffung von Arbeitsplätzen für die von hoher Arbeitslosigkeit geplagte Jugend durch ein investitionsfreundliches Klima sowie Reformen des griechischen Bildungsund Verwaltungssystems. Zudem sprachen sich die Jugendlichen eindringlich für eine pro-europäische Orientierung Griechenlands aus. Entsprechend der zuvor angesprochenen Kultur der „politischen Nicht-Teilhabe“ besitzt aktuell keine der liberalen, reformorientierten oder zentristischen Parteien einen Jugendflügel, der den Der Jugendkongress fand im neuen Ratssaal des Rathauses von Thessaloniki statt. Über sechzig Jugendliche debattierten die Abschlusserklärung, die auf www.fnf-europe.org heruntergeladen werden kann. (Foto: FNF Brüssel) Bei der 1. Liberalen Jugendkonferenz Griechenlands, für die Oberbürgermeister Yannis Boutaris den Ratssaal der nordgriechischen Wirtschaftsmetropole zur Verfügung gestellt hatte, wurden die aus liberalen Studentengruppen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen stammenden Teilnehmer zunächst mit Instrumenten 23 Universelle Werte? 2| 2014 Anliegen junger Menschen Gehör verschaffen könnte. Es bleibt zu hoffen, dass die Konferenz als Auftakt zu einer stärkeren Selbstorganisation griechischer Jungliberaler fungiert. Politischer Pluralismus als Fortschrittsmotor Nicht nur die unmittelbare Teilhabe am politischen Prozess, auch dessen konkrete Ausgestaltung ist nicht mehr mit dem regen Treiben auf der antiken Agora vergleichbar. Tummelten sich dort zahlreiche Redner und bildeten mit ihren Äußerungen die verschiedenen Meinungen und Tendenzen innerhalb der Bürgerschaft ab, so ist der Pluralismus als konstruktives Mittel demokratischer Willensbildung der griechischen Politik verlorengegangen. Die Agora von Athen datiert auf das 5. Jahrhundert v. Chr. Sie stellt einen bedeutenden Schritt in der Entwicklung der attischen Demokratie dar. (Foto: FNF Brüssel) Trotz einer erstaunlich hohen Anzahl an Parteien lassen sich deren Standpunkte oftmals dichotom zusammenfassen: man ist entweder für etwas oder dagegen. So verhält es sich bei der Akzeptanz von Spar- und Reformmaßnahmen, bei der grundsätzlichen Zustimmung zum Europäischen Integrationsprozess oder bei der vielbeschworenen Verkleinerung des Beamtenapparats. Entweder ist man radikal dafür oder ebenso rigoros dagegen; eine Mitte gibt es nicht, differenzierte Sichtweisen dringen kaum durch. Während Debatten auf der antiken Agora größtenteils argumentativ verliefen und auf die Erreichung eines Konsenses ausgelegt waren, so ging den modernen Griechen die Fähigkeit zum Kompromiss verloren. mehrheitsfähig werden. Pluralismus ist eine zwingende Voraussetzung für gesellschaftlichen wie politischen Fortschritt. Liberale Grundwerte wie Freiheit und Verantwortung sind Grundpfeiler jeglichen gesellschaftlichen Handelns. Sie sind zentrale Aspekte bei der Entwicklung offener Bürgergesellschaften. Ihre Förderung ist umso wichtiger in einer Gesellschaft, in der aufgrund der zuvor beschriebenen Polarisierung über einen langen Zeitraum freiheitliche Ideen und Meinungen politisch nicht vertreten wurden. Nicht verwunderlich begegnet in einer solchen Gesellschaft ein Großteil der Bevölkerung daher liberalen Ideen ob ihrer vermeintlichen „Radikalität“ mit großer Skepsis. Ein Grund hierfür ist zweifellos die wechselvolle Nachkriegsgeschichte des Landes, die die griechische Gesellschaft, und in noch stärkerem Maße die Politik, entlang einer Kluft zwischen national-konservativen und sozialistischen Überzeugungen spaltete. Dieser systemimmanente Konflikt wurde durch die Akteure des seit dem Ende der Militärjunta 1974 existierenden Zweiparteiensystems nie überwunden, die 2010 zutage tretende Staatsschuldenkrise verstärkte die Polarisierung von Gesellschaft und Politik dann nochmals. Das Engagement der Friedrich-Naumann-Stiftung in Griechenland ist daher nicht allein auf die Förderung liberaler Parteien ausgelegt, sondern richtet sich an ein breites, zivilgesellschaftlich aktives und reformorientiertes Partnerspektrum. Zusätzlich zu der Entwicklung junger, eigenverantwortlich handelnder Menschen ist es unser Ziel, die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands durch einen stets offenen Dialog und bürgernahe Maßnahmen der politischen Bildung mündig zu machen. Denn es braucht Mündigkeit und Mut, sein eigenes Schicksal und das des modernen griechischen Staates in die Hand zu nehmen und zum Besseren zu wenden. Um es in den Worten des großen attischen Staatsmanns Perikles zu sagen: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. Das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.“ Es ist augenscheinlich, dass zur Lösung der strukturellen Probleme Griechenlands tiefgreifende Reformen des griechischen Staatswesens, aber auch ein Umdenken in weiten Teilen der griechischen Bevölkerung hin zu mehr Eigenverantwortung und weniger staatlicher Intervention notwendig sind. Nur in einer pluralistischen Gesellschaft können verschiedene Meinungen und alternative Lösungs- und Reformvorschläge entwickelt, in den öffentlichen Diskurs eingebracht und gegebenenfalls Markus Kaiser, Programm Manager Griechenland 24 Universelle Werte? 2| 2014 Ukraine: Die Revolution der Menschenwürde Foto: Taisia Stezenko, Korrespondent.net Rechtsexperte am Kiewer Rasumkov-Zentrum und ehemaliger Vize-Vorsitzender der Werkhovna Rada, Dr. Volodymyr Viatrovytsch, seit März 2014 Vorsitzender des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedächtnis, und Professor Andreas Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. 1989 verschoben sich die Koordinaten der Weltpolitik. Europa erlebte einen gewaltigen Zuwachs an politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheit. Die ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Länder haben diesen Wandel auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Tempo vollzogen. In der Ukraine gestaltete sich die Transformation besonders schwierig. So kam es dort 2014 zur mittlerweile dritten Revolution. Eingeleitet wurde die Diskussionsrunde mit einem Impulsvortrag von Professor Wirsching, der mit seinem 2012 erschienenen Buch „Der Preis der Freiheit – Geschichte Europas in unserer Zeit“ eine erste überzeugende zeithistorische Einordnung der revolutionären Entwicklungen in Mittelosteuropa nach 1989/90 vorgelegt hat. Er bezeichnete die Ukraine als „Brennglas“, in dem sich gegenwärtig „Europas aufbauende und Europas zentrifugale Kräfte“ bündelten. Im Einzelnen führte er vier zentrale Faktoren als „allgemeine Tendenzen der europäischen Gegenwartsgeschichte“ an: „Erstens die Universalisierung Europas, zweitens die Renaissance nationalistischer und regionalistischer Identitäten, drittens die Auseinandersetzungen um die Geschichte und viertens weltpolitische Gewichtsverschiebungen“. Im Zusammenspiel dieser Faktoren spitze sich die Lage in der Ukraine zu. Aber auch die europäische Geschichte verdichte sich in der Ukraine. Das „europäische Konzept, Am 10. Oktober lud die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Rahmen der Deutschen Wochen ein, in Kiew über den „Preis der Freiheit“ zu diskutieren – in der Parlamentsbibliothek auf der Hruschewski-Straße, also an dem Ort, in dessen unmittelbarer Nähe die letzte ukrainische Revolution zwischen dem Kiewer DynamoStadion und dem Europaplatz mit Sergej Nigojan und Mikhail Zhyznevsky am 22. Januar 2014 ihre ersten Todesopfer forderte, woran die Moderatorin Sabine Adler, Osteuropakorrespondentin des Deutschlandradio, erinnerte. Über eben diesen Preis, den Menschen bereit sind, für den Wandel zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu zahlen, diskutierten Andrij Ljubka, Schriftsteller und Journalist aus Uschhorod, Professor Viktor Musijaka, 25 Universelle Werte? 2| 2014 v.l.n.r.: Miriam Kosmehl, Deutscher Botschafter Dr. Christof Weil, Andrij Liubka, Volodymyr Viatrovytsch das sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und kulturelle Pluralität, Menschenrechte und Individualismus gründet“ und das „weltweit große Anziehungskraft“ ausübe, stehe im Spannungsfeld mit „alten und neuen Gegenkräften“, wie „nationalistischen Versuchungen und Antipluralismus, Irredentismus und geschichtspolitischen Konstruktionen, am Ende auch militärischer Gewalt“. Für den westlichen Beobachter sei insbesondere faszinierend, „wie die universalistische Idee Europas und der Europäischen Union – nachdem sie in West- und in Ostmitteleuropa viel von ihrem Glanz eingebüßt und viele Enttäuschungen hervorgebracht hat – in der Ukraine eine geradezu umwerfende Anziehungskraft entwickelt“. politische und industrielle Verflechtung mit Russland sowie auch materielle Partikularinteressen den Prozess hin zu Europa verlangsamten. „War die Gegnerschaft Russlands überraschend?“ Volodymyr Viatrovytsch verwies bei der Beantwortung der Frage auf einen paradoxen – ungewollten – Effekt: dass nämlich Russland mit seiner auf Gewalt gestützten Politik in den letzten Monaten bewirkt habe, dass nun die ganze Ukraine nach Europa wolle. Gegenwärtig sei in der Ukraine eine „beschleunigte Version der Gestaltung als politische Nation“ zu beobachten. Gibt es eine Ethnisierung des Konflikts? Den Vergleich mit Jugoslawien wiesen Volodymyr Viatrovytsch und Andri Ljubka zurück. In der Ukraine gehe es, so Viatrovytsch, um den Widerstreit europäischer und sowjetischer Werte. Ljubka ergänzte, der Krieg in der Ukraine habe keine religiösen oder ethnischen Gründe und es werde auch nicht gelingen, daraus einen ethnischen Konflikt zu machen. Die eigentliche Gefahr für die Ukraine seien gegenwärtig Unruhen und der Verlust der Staatlichkeit. Ljubka deutete darüber hinaus auf die Gefahr eines Dritten Majdans gegen die Staatsmacht hin, falls Reformen nicht umgesetzt würden. Es folgte eine – durch klar strukturierte Leitfragen der Moderatorin geleitete – erkenntnisreiche Diskussion. Die Beantwortung der Eingangsfrage „Warum hat die Ukraine eigentlich so lange gebraucht, um sich für Europa zu entscheiden?“ fiel den Teilnehmern aber offensichtlich nicht leicht. Viktor Musijaka, Mitautor der ukrainischen Verfassung und gegenwärtig Kandidat für die neue Partei Syla Lyudey (Kraft der Menschen), fasste schließlich zusammen, dass die ukrainische Staatsführung niemals bereit gewesen sei, darauf hinzuwirken, europäische Kriterien zu erreichen. Aber der Weg zur Demokratie könne nicht ganz ohne staatliches Mitwirken beschritten werden. Zwar formuliere die ukrainische Verfassung, dass der Mensch und die Freiheit im Zentrum stehen, doch ukrainische Politiker hätten nie die Verantwortung dafür übernommen, dies auch umzusetzen. Andreas Wirsching verwies darauf, dass nicht etwa ethnischer Nationalismus den Jugoslawienkrieg befördert habe, sondern die politisch gewollte Ethnisierung den Konflikt erst habe eskalieren lassen. Er warnte davor, dass bestehende Konflikte in der Ukraine ethnisiert werden könnten. Der Balkanvergleich möge zu drastisch sein, aber fragil sei die gegenwärtige Lage dennoch. Als Beispiel für eine nicht ungefährliche Zuspitzung führte er an, dass von den mehreren Hunderttausend Flüchtlingen aus dem Donbass geschätzt etwa die Hälfte nach Russland und die Hälfte in andere Teile der Ukraine geflohen seien. Andreas Wirsching verwies auf die Traditionen der nationalstaatlich verfassten Demokratien vor 1939, an die die Menschen in Ostmitteleuropa und den baltischen Staaten anknüpfen konnten – und die der Ukraine fehlen. Umso gewaltiger sei der Schritt in die ukrainische Unabhängigkeit 1991 gewesen. Es sei nicht überraschend, dass die geopolitische, wirtschaftliche, energie- 26 Universelle Werte? 2| 2014 „Müssen sich die Ostukrainer entscheiden, ob sie zur Ukraine gehören wollen?“ Die ukrainischen Diskutanten verneinten dies. Der Kampf für die Freiheit habe die ganze Ukraine erfasst. Andri Ljubka erinnerte daran, dass der EuroMajdan der Majdan vieler Ethnien gewesen sei und man hauptsächlich Russisch gesprochen habe. Wahl. Wenn Europa sich aber jetzt nicht stark genug zeige, europäische Werte in der Ukraine zu verteidigen, führe das zu einer Niederlage für die Ukraine und Europa. Europa habe sich bereits in Ägypten, nach dem Arabischen Frühling, nicht ausreichend für europäische Werte stark gemacht. Viktor Musijaka ergänzte, das aktuelle Geschehen sei ein Trauma für die gegenwärtige Generation der Ukrainer und nicht leicht zu verkraften. Aus dem Kampf um die europäische Zugehörigkeit der Ukraine sei aber kein Ausstieg möglich. Wenn die Ukraine eines Tages in die EU Aufnahme finde, dann werde auch Russland ein anderes sein. „Gibt es unterschiedliche Historie? Gibt es unterschiedliche Helden?“ Volodymyr Viatrovytsch betonte, die Ukraine werde nicht durch Helden, sondern durch sich um diese Helden rankende Mythen getrennt. Jetzt herrsche ein Informationskrieg. Russland behalte sich, wie in den Dreißiger Jahren, das Monopol vor, anti-faschistisch zu sein. Viel Geld halte die russische Propaganda aufrecht. Andreas Wirsching hatte in seinem Einführungsvortrag an den „universalistischen Hang zur Ausdehnung“ erinnert, „den die Europäische Union inmitten ihrer Existenzkrise entwickelte“ und auf die Präambel des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine verwiesen. „Braucht die Ukraine einen Historikerstreit?“ Die ukrainischen Teilnehmer verneinten dies, der deutsche Gast wollte es nicht beurteilen. Aber es liege in der Natur der Sache und an der zwiespältigen Geschichte des Zweiten Weltkriegs, so Andreas Wirsching, dass Stephan Bandera (westukrainischer Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg und Freiheitskämpfer für die Einen, Nazi-Kollaborateur für die Anderen) eine umstrittene Figur bleiben werde. In der Präambel heißt es, „dass die Ukraine als europäisches Land durch eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbunden ist und sich zur Förderung dieser Werte bekennt, in Anbetracht der Bedeutung, die die Ukraine ihrer europäischen Identität beimisst“, und „in Bekräftigung der Tatsache, dass die Europäische Union die auf Europa gerichteten Bestrebungen der Ukraine anerkennt und ihre Entscheidung für Europa begrüßt, einschließlich ihrer Zusage, eine vertiefte und tragfähige Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen“. Andreas Wirsching empfahl „eine weitblickende Politik“ als pragmatisch-zielführenden Ansatz, auch wenn existierende Spannungen durch russisches Verhalten erst hervorgebracht bzw. verstärkt worden seien. Wenn sich keine Lösung finde, in die sich Russland ohne Gesichtsverlust einfinden könne, bestehe die Gefahr, dass sich diese Dichotomie auf ukrainischem Boden austrage. Entsprechend verpflichte sich die Ukraine, so Wirsching, auf die leitenden europäischen Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Menschenrechte und die Grundfreiheiten. Russland habe, so Wirsching weiter, unter „Bruch des Völkerrechts“ einen „Hebel in der Ukraine für deren künftigen Entwicklung in die Hand bekommen“. Inwieweit Europa und die USA hierauf richtige und wirksame Antworten finden, bleibe abzuwarten. „Wäre die Ukraine in der EU zwangsläufig eine Niederlage für Russland?“ Volodymyr Viatrovytsch antwortete, es sei an Russland selbst, darüber zu entscheiden. Russland habe schließlich die Möglichkeit, sich für „normale Werte“ auszusprechen. Wenn es sich aber für eine autoritäre Führung und für Aggression entscheide, dann sei das Russlands v.l.n.r.: Professor Andreas Wirsching, Professor Viktor Musijaka, Sabine Adler, Publikum 27 Universelle Werte? 2| 2014 In der „Welt am Sonntag“ schrieb der Publizist Richard Herzinger am 30. März dieses Jahres, die Lage in der Ukraine zeige, welche Gefahr von unverarbeiteten geschichtlichen Konflikten in Osteuropa ausgehe. „Damit die verworrenen geschichtspolitischen Gegensätze in Osteuropa nicht zunehmend in reale, gewalttätige Konflikte umschlagen, bedarf es nicht nur tragfähiger politischer Sicherheitsstrukturen, sondern außerdem einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur, die den einzelnen Nationen die schmerzhafte Beschäftigung auch mit den unrühmlichen Aspekten der eigenen Vergangenheit abfordert.“ Eine solche Erinnerungskultur fordere aber andererseits uns Westeuropäern die Anstrengung ab, die verschlungene Historie Osteuropas endlich als unsere eigene, gesamteuropäische zu begreifen und anzunehmen. Miriam Kosmehl, Projektleiterin Ukraine Karte: TUBS / Wikimedia 28 Universelle Werte? 2| 2014 Ungarn auf dem Weg zur gelenkten Demokratie Der autokratische Paternalismus von Viktor Orban Über kein anderes EU-Beitrittsland wird in den letzten Jahren derart kritisch berichtet wie über Ungarn. Die Politik der „nationalen Wiedergeburt“ von Viktor Orban wurde bereits kurz nach der Parlamentswahl Anfang 2010 mit einem restriktiven Mediengesetz und danach mit einer umfassenden Verfassungsänderung eingeläutet. Weitere Gesetze hat das Parlament – also faktisch die allein regierende nationalkonservative Partei FIDESZ, die in der Abgeordnetenkammer über eine Zwei-DrittelMehrheit und damit jederzeit über die Möglichkeit von Verfassungsänderungen verfügt – wie am Fließband verabschiedet. Den alten Traum von Großungarn spiegelt das neue Staatsangehörigkeitsgesetz wider, demzufolge alle Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen können. Viele der neuen Regelungen widersprechen eindeutig dem Geist einer liberalen, pluralistisch verfassten Demokratie und haben in der EU keine Parallele. An der Transformation Ungarns von einer pluralistischen Demokratie zum autoritären Obrigkeitsstaat ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Gesetze auf Druck von Brüssel geändert werden mussten. nahen Verfassungsrichtern wurde der ohnehin schon in seinen Kompetenzen beschnittene Verfassungsgerichtshof de facto in eine FIDESZ-Filiale umgewandelt und damit die demokratischen Kontroll- und Beteiligungsmechanismen erheblich eingeschränkt. Das Verfassungsgericht, das neue Gesetze wegen fehlender Verfassungskonformität blockieren könnte, darf über keine Regelungen mehr urteilen, die den Staatshaushalt betreffen. Budgetdefizite, Schulden, Geldverschwendung sind aber genau die Themen, die FIDESZ zum Anlass nehmen will, um juristisch gegen die einstigen sozialistischen Regierungschefs vorzugehen. Die von FIDESZ beherrschte mächtige Medienbehörde NMHH kontrolliert nicht nur vollständig den öffentlichrechtlichen Rundfunk. Sie kann willkürlich auch private Medien für redaktionelle Inhalte bestrafen und so in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Durch den Lizenzentzug können auch die letzten kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Als besonders kurzsichtig dürften sich die dirigistischen Eingriffe in die freie Marktwirtschaft erweisen. Fast ausschließlich große ausländische Unternehmen sollen u. a. rückwirkend mit Sondersteuern die riesigen Löcher im Staatshaushalt Ungarns stopfen. Besorgnis erregt auch Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung hat FIDESZ, die zuvor den gesamten Staatsapparat bis in die letzte Gemeinde gleichgeschaltet hatte, die Kontrolle auch über die Justiz übernommen. Durch die Wahl von partei- 29 Universelle Werte? 2| 2014 die de facto durchgesetzte Abschaffung der privaten Rentenversicherung. Orban scheute sich nicht, zu Jahresbeginn 2011 mit einer „Rentenreform“ in die Eigentumsrechte der Bürger einzugreifen, die einer realsozialistischen Enteignung gleichkommt. zu erwarten. Auch die Gründung neuer Parteien - teilweise mit alten Köpfen, die ein Teil des Problems sind kann man nicht ernst nehmen. Institutionen der Zivilgesellschaft und unabhängige Think-Tanks sind zurzeit die einzigen Hoffnungsträger für die Rückkehr zu mehr Liberalität in Ungarn. Orbans Weg in eine paternalistische Autokratie passt nicht in das Europa von heute und zur jüngeren Geschichte eines Landes, das sich mit seinem „Gulasch-Kommunismus“ stets als das „liberalste“ unter den kommunistischen Diktaturen präsentierte und bleibende Verdienste um den Zerfall des Ostblocks hat. Sicherlich werden in vielen entwickelten Demokratien und auch von der EU Gesetze und Direktiven verabschiedet, die die Bürgerfreiheiten unnötig einschränken und das Alltagsleben zu stark regulieren. Bedenklich im Falle Ungarns ist jedoch die Kumulierung der restriktiven Bestimmungen und damit die totale Umgestaltung der Rechtsordnung. Die Regierung Orban zementiert seit ihrem Amtsantritt Ende Mai 2010 ihre Macht auf allen Gebieten mit immer neuen Gesetzen, die jeder anderen Nachfolgeregierung die Umsetzung einer reformorientierten Regierungspolitik praktisch unmöglich machen werden. Dr. Borek Severa, Projektberater für die mitteleuropäischen und baltischen Staaten Dass Viktor Orban ein anderes Demokratieverständnis hat, das schwer mit den europäischen Standards in Einklang zu bringen ist, hat er endgültig mit seiner Rede auf einem Sommer-Camp im rumänischen Baile Tusnad dokumentiert. Nach seiner Auffassung müsse eine funktionierende Demokratie illiberal sein und den nationalen Interessen dienen. Die meisten NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen seien vom Ausland bezahlte Aktivisten, die von der Regierung beaufsichtigt werden müssen. Ungarn müsse sich von der westlichen Ideologie freimachen und einen neuen und starken ungarischen Nationalstaat aufbauen, der im globalen Wettbewerb bestehen kann. Seine Vorbilder auf diesem Wege seien China, Singapur, Russland und die Türkei. Es ist an Opportunismus nicht zu überbieten, dass Orbans Freunde in der Europäischen Volkspartei EPP zu seiner Politik der nationalen Wiedergeburt und der schleichenden Putinisierung Ungarns peinlich schweigen. Neues eBook der FNF Putins Russland hat mit der Annexion der Krim die europäische Nachkriegsordnung verändert und sich international isoliert. Auch wenn diese Entwicklung viele überrascht hat, ist sie nur der vorläufige Höhepunkt einer Politik, die sich seit Jahren abzeichnet. Mit einem zunehmenden Großmachtanspruch Russlands nach außen geht eine steigende Repression im Innern einher. Massive mediale Propaganda und ein ideologischer Unterbau stellen einstweilen sicher, dass die Herrschaft Putins unangetastet bleibt. Michael Roick macht die Linien dieser Entwicklungen deutlich. Er zeigt, dass die russische Politik nur sehr begrenzt von westlichen Akteuren beeinflussbar ist, und diskutiert, welchen irreführenden Argumentationsmustern auch Teile der deutschen Debatte folgen. Die enorme Popularität von Orban bei der eigenen Bevölkerung ist auch eine Folge des Versagens der proeuropäischen Eliten in Ungarn. Dies trifft sowohl für die Sozialisten als auch für den liberalen Bund Freier Demokraten SZDSZ zu, die in den letzten fünf Jahren ihrer gemeinsamen Regierungsarbeit durch innerparteiliche Grabenkämpfe und personelle Querelen Aufsehen erregten, statt eine klare Alternative zu Orbans nationalkonservativer Politik anzubieten. Deshalb klingt auch das Wehklagen ehemaliger Regierungsvertreter über den eklatanten Machtmissbrauch durch den FIDESZ wenig glaubwürdig. Von dieser Seite ist eine Erneuerung kaum Sie können das eBook in den Formaten ePub, mobi (amazon Kindle) oder als PDF-Dokument kostenfrei herunterladen und auf ihrem Tablet, eReader oder Smartphone lesen: bit.ly/ebook_russland 30 Universelle Werte? 2| 2014 Vom Handlanger zum Helfer Polizeireformen in Indien Die indische Polizei war für die britische Kolonialmacht ein Kontrollinstrument über die indigene Bevölkerung. Seitdem hat sich nicht viel geändert: Heute ist sie Handlanger der Neuen Eliten. Dies muss sich ändern um Millionen von Indern zu ihren Rechten zu verhelfen, meint Maria Schneider. schützen. Folter und Missbrauch in Polizeigewahrsam sind keine Seltenheit. Besonders Angehörige von benachteiligten Gruppen, religiöse und ethnische Minderheiten, Frauen oder die so genannten Unberührbaren werden schnell Opfer von Polizei-Willkür. Es gibt bislang keine Mechanismen für die Bürger, sich gegen Polizeimissbrauch zu wehren oder Beschwerden einzureichen. Hinzu kommen Korruption und ineffiziente Ermittlungen. Die Menschenrechte sind in Indien qua Verfassung und Gesetzen garantiert. Oft gibt es jedoch den Grundrechten zuwiderlaufende Gesetzgebungen, die zu großen Teilen noch aus Kolonialzeiten stammen, also aus einer Zeit vor der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Dies trifft insbesondere auf die Polizeigesetzgebung zu, die größtenteils von 1861 stammt und als Reaktion auf den ersten großen Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft erlassen wurde. Die Sicherheitskräfte sollten damals nicht Freund und Helfer der Bürger sein, sondern den Kolonialherren dabei helfen, die Inder zu beherrschen. Die Polizei: Schlagstock statt Computer Man darf die Schuld für einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit und unzulängliche Ermittlungen nicht nur der Polizei geben. Auch der Staat muss seine Aufgabe bezüglich der personellen, materiellen und finanziellen Ausstattung von Polizeistationen erfüllen. Die Zahl der indischen Polizisten und die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, sind oft völlig unzureichend zur Bewältigung der Herausforderungen – Verbrechensaufklärung, öffentliche Sicherheit, Verkehrsregulierung und vieles mehr. In Indien kommen auf 100.000 Einwohner circa 130 Polizisten (in den USA kommen auf 100.000 Bürger 250, in Deutschland etwa 300 Polizisten). Die Entsprechend weitreichend sind die Befugnisse der Polizei noch heute. Oft sind es Polizisten, die die grundlegenden Rechte der Menschen verletzen, anstatt sie zu 31 Universelle Werte? 2| 2014 meisten indischen Polizisten sind schlecht oder gar nicht ausgerüstet, Büroausstattung und Schreibutensilien, Transport- und Kommunikationsmittel fehlen häufig. Oft besteht die Ausrüstung lediglich aus Uniformen und Schlagstöcken. Mit einem Schlagstock aber kann ein Polizist keine Anzeige aufnehmen oder Beweise sicherstellen. Mit einem Stock kann er nur zuschlagen. Systematische Reformen und ein stärkeres Menschenrechtsbewusstsein bei der Polizei und der Bevölkerung sind überfällig. In Indien gibt es seit Jahren Debatten über Polizeireformen, aber ohne große Fortschritte. 2006 hat gar der Oberste Gerichtshof Anweisungen für konkrete Reformen gegeben. Auch das hat kaum zu Verbesserungen geführt. Die Verhältnisse spielen den Politikern und Bürokraten zu sehr in die Hände, als dass sie ohne Druck Veränderungen umsetzen würden. Hinzu kommt das Problem der politischen Einflussnahme. Politiker machen Polizisten oft zu ihren persönlichen Leibwächtern und ziehen sie von ihrem eigentlichen Dienst ab. Dadurch wird die Lage der unterbesetzten Polizeistationen noch prekärer. Auch greifen Politiker und Verwaltungsbeamte gerne zum eigenen Vorteil in polizeiliche Ermittlungen ein. Polizisten, die dies zu verhindern suchen, werden versetzt - oder nicht mehr befördert. An dieser Stelle setzt die Arbeit der Stiftung und ihres Partners COMMONWEALTH HUMAN RIGHTS INITIATIVE (CHRI) sowie vieler weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen an. „Demokratien brauchen demokratische Polizeigesetzgebungen. Das bedeutet eine Polizei, die die Menschenrechte achtet und das Gesetz durchsetzt“, betont Maja Daruwala, die Direktorin von CHRI. „Die Menschen brauchen keine Polizeikräfte, die sich gegen die Bürger einsetzen, sondern eine Polizei, die die Rechte der Bürger schützt und Menschen in Not hilft.“ Deshalb entwickeln Stiftung und CHRI Reformvorschläge und werben mittels Veranstaltungen und multimedialen Maßnahmen für verbesserte Gesetzgebungen. Wir bringen Polizisten und Bürger zusammen, damit sie sich kennen und respektieren lernen und Vorurteile abbauen. Wir leisten Aufklärungsarbeit für die breite Öffentlichkeit, damit diese sich ihrer Menschenrechte und ihrer Rechte vis-à-vis der Polizei bewusst ist. In den Erbländern britischer Gesetze Die Stiftung für die Freiheit setzt sich im Schulterschluss mit ihren Partnern auch in Pakistan, Bangladesch und den Malediven gezielt für eine modernere Polizeigesetzgebung ein. Im Rahmen des Netzwerks NETWORK FOR IMPROVED POLICING SOUTH ASIA (NIPSA) fördert die Stiftung die grenzübergreifende Zusammenarbeit und Professionalisierung von NROs, die im Bereich der Polizeireformen engagiert sind. Über die Internetseite www.nipsa.in und einen regelmäßig erscheinenden Newsletter tauschen die Partner Wissen und Erfahrungen aus. Denn je mehr Menschen mit der Problematik in Berührung kommen, desto weniger wird es als eine Art Tabuthema angesehen und desto wahrscheinlicher sind Veränderungen in der Praxis. Polizistinnen in Chennai, Indien (John Hill / Wikimedia) Indien erlebt häufig gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Es kommt vor, dass Politiker die Polizei dazu bewegen, in die andere Richtung zu schauen. Ergebnis: Die Opfer der Ausschreitung, meist Minderheiten, werden nicht geschützt, Übergriffe auf sie und ihr Eigentum nicht geahndet. Egal welcher Art die politische Einflussnahme ist, das Nachsehen haben die Bürger. Eine politisch gesteuerte Polizei hat andere Prioritäten als den Schutz der Menschen. Momentum nutzen Leider muss es manchmal erst zum Äußersten kommen bevor Verbesserungen vorgenommen werden. Das Jahr 2013 begann in Indien mit einem Aufschrei angesichts Verbesserungen sind hart erkämpft 32 Universelle Werte? 2| 2014 Mit Eigentumsrechten gegen Armut der brutalen und tödlichen Vergewaltigung einer jungen Studentin in Delhi. In der Hauptstadt und anderen großen Orten kam es zu Demonstrationen für mehr Respekt für Frauen, besseren Schutz vor und effektivere polizeiliche Ermittlungen bei sexuellen Übergriffen. Das Verbrechen hat dazu geführt, dass eine Kommission die indische Strafgesetzgebung bei Sexualdelikten überarbeitete und Verbesserungsvorschläge formulierte. Der Bericht der Kommission enthält mehrere Passagen, die der FNFPartner CHRI vorbereitet hat. Teile davon finden sich auch in dem neuen Strafgesetz zu sexueller Gewalt. So können nun auch die Täter von sexueller Belästigung, Stalking und Säureangriffen strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Dank FNF-Unterstützung konnten fast anderthalb Millionen arme Familien ihre Eigentumsrechte sichern. Seit 2011hilft der FNF-Partner Liberty Institute marginalisierten indischen Bauern dabei, ihren Grund und Boden offiziell zu registrieren. Regionalbüroleiter Dr. Ronald Meinardus sprach mit Barun Mitra, dem Präsidenten des Liberty Institute, über dieses originelle und in hohem Maße liberale Projekt: Mit Ihrem Programm helfen Sie marginalisierten Bauern in Indien Eigentumsrechte an dem von ihnen beackerten Land zu erwerben. Wie sieht die bisherige Bilanz aus? Die Lobbyarbeit für neue Gesetze, Menschenrechtskurse für Polizisten, Aufklärungskampagnen für die breite Bevölkerung – all das braucht Zeit. Es ist für die FNF und ihre Partner ein großer Erfolg, wenn ein Gesetz geändert wird. Auch ist es eine Motivation, wenn Menschen informiert und bestärkt aus unseren Veranstaltungen gehen. Dies sind jedoch nur erste Schritte. Die Arbeit geht weiter. Neue Rechte müssen umgesetzt, neues Wissen angewandt werden. Oft heißt es: zwei Schritte vor, einen zurück. Hier ist das Durchhaltevermögen einer Stiftung gefragt. Viele der Bauern besitzen keine Landtitel und folglich investieren sie auch nicht, um das Land zu entwickeln. Sie leben mit der Angst, vertrieben zu werden – sei es von der Polizei oder anderen staatlichen Stellen, etwa den Forstämtern. Die Bauern werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Aber hier hat sich etwas geändert, seit einige Bauern ihre Titel erworben haben. Viele glauben auf einmal, dass es ihnen auch so gehen könnte. Ganze Gemeinden haben an Selbstvertrauen gewonnen und klagen ihre Rechte ein. Wir stellen fest, dass die Menschen auf einmal mit Respekt behandelt werden, wenn sie bei den Behörden vorsprechen. Wir haben auch beobachtet, dass die Bauern, einmal in Besitz ihrer Titel, sofort anfangen zu investieren. Oft sind es nur Aufräumarbeiten und Einzäunungen; andere Bauern graben Brunnen. Wir haben auch erlebt, dass einige Dorfbewohnen Pläne haben, Wasserpumpen zu kaufen, die mit Solarstrom betrieben werden. Es ist nur eine Frage der Zeit und die Einkommen der Bauern steigen. Maria Schneider, Projektassistentin im Regionalbüro Delhi Es gibt viele Programme, die darauf abzielen, die Armut der Bauern zu bekämpfen. Was machen sie anders? Die meisten konventionellen Armutsbekämpfungsprogramme basieren auf Subventionen aus Steuermitteln. Angesichts der grassierenden Korruption und Ineffizienz geht viel Geld verloren, bevor es die Menschen in Not erreicht. In unserem Fall fließt so gut wie kein Steuergeld. Das ist auch ein Grund, wieso viele Beamte nicht viel von dem Projekt halten. Die Initiative muss von den Betroffenen selber ausgehen; sie müssen proaktiv ihre Ansprüche geltend machen. Wenn dieses Programm Erfolg hat, erhält die demütigende Armut in Indien ein anderes Antlitz – und zwar ganz ohne öffentliche Zu- Karte: TUBS / Wikimedia 33 Universelle Werte? 2| 2014 Der Zusammenhang von Eigentumsrechten und wirtschaftlicher Entwicklung hat international vor allem durch die Arbeiten von Hernando de Soto ein breites Echo gefunden. Folgen Sie seinen Vorgaben? Wir versuchen die Theorie De Sotos in Bezug auf die Bedeutung der Eigentumstitel zu befolgen. Ich hatte das Glück, persönlich mit De Soto zu kommunizieren. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: das indische Gesetz von 2006, das die Grundlage unserer Kampagne ist, ist nicht das Werk einer aufgeklärten politischen Führung; es ist nach anhaltenden Bemühungen vieler Einzelpersonen, Organisationen und Gemeinden verabschiedet worden. Es ist diese Nachfrage-Orientierung unserer Initiative, der Druck von unten, wo ich vielleicht den größten Unterschied zum De-Soto-Modell sehe. Und daher ist unser Ansatz in unsere Situation politisch erfolgreicher. Sie sind seit vielen Jahren Partner der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit. Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit der Stiftung für Sie? Dr. Ronald Meinardus im Gespräch mit Barun Mitra (Foto: FNF Delhi) Die Stiftung für die Freiheit hat eine wichtige Rolle gespielt, diese Initiative in Gang zu setzen. Zunächst hat die Stiftung uns dabei geholfen, im Rahmen von zahlreichen Seminaren und Workshops die Erkenntnis über die Bedeutung von Eigentumsrechten in der Bevölkerung mehren. All das geht sechs oder sieben Jahre zurück. Seit 2009 unterstützt uns die Stiftung auch dabei, den „International Property Rights Index“ in einer indischen Ausgabe auf den Markt zu bringen. Wir haben in vielen Teilen Indiens mit Ihrer Hilfe Seminare zum Thema abgehalten. Kürzlich hatten wir auch eine Anfrage Ihres Regionalbüros in Afrika. Da scheint es Interesse zu geben an unserem Projekt; Ihre Kollegen wollen herausfinden, ob dieser Ansatz auch in Afrika relevant sein kann. schüsse. Liberale sagen, das Recht auf Eigentum ist ein grundlegendes Menschenrecht. Viele Liberale argumentieren, dass dieses Recht ein Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung darstellt. Wie sehen Sie das? Eigentumsrechte sind eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung und die Marktwirtschaft. Indes haben Liberale versäumt, die politische und moralische Bedeutung deutlich zu artikulieren. Nach Jahrzehnten des Leidens und der Marginalisierung im Zuge der anhaltenden Missachtung und Erosion der Eigentumsrechte ergreifen viele Menschen in Indien jetzt erstmals die Initaitive und streiten für ihre Rechte als Bürger und verlangen den Schutz ihres Grund und Bodens. Das hat zu einem neuartigen Selbstvertrauen geführt, die Menschen ermächtigt und sie erfahren lassen, dass sie Bürger in einer freien und demokratischen Republik sind. Auf der anderen Seite zerstören Subventionen und Sozialprogramme dieses Selbstwertgefühl und festigen die Abhängigkeit von diesen Leistungen, von der Verschwendung von öffentlichen Ressourcen ganz zu schweigen. Viele der Ärmsten der Armen begreifen allmählich, dass sie Bürger des Landes sind und verlangen, dass ihr Recht auf Eigentum respektiert und beschützt wird. Weitere Informationen in: Recht auf Eigentum – Eine Chance für Indins Ärmste http://www.freiheit.org/Recht-auf-Eigentum-EineChance-fuer-Indiens-Aermste/246c30590i1p182/ index.html 34 Universelle Werte? 2| 2014 Vom Eintauchen in ein exotisches Universum Dr. Ronald Meinardus ist seit Anfang August Leiter des Regionalbüros Südasien in Neu Delhi. Im Folgenden teilt er erste persönliche Eindrücke aus Indien. „Ein Leben reicht nicht aus, Indien zu verstehen.“ Mit diesem Satz reagiert ein indischer Gesprächspartner nach meiner Ankunft in Neu Delhi auf den Hinweis, ich habe einen Dreijahresvertrag im Reisegepäck. einer anderen Stiftung mit einem Augenmzwinkern. Halden von Informationen und Lesestoff erwarten den Interessierten. Nicht nur kann der derart Geneigte zwischen einem guten Dutzend qualitativ ansprechender Tageszeitungen auswählen. Das ist eine große Versuchung für einen „news junkie“ wie mich. Der Besuch in einer der vielen Buchgeschäfte in Delhi – und davon gibt es viele, denn hier wird viel geschrieben und gelesen – wird bald zu einem deprimierenden Erlebnis. Denn eines ist sofort klar: niemals wird der gewillte Leser auch nur einen Bruchteil der Titel lesen können, die die Regale füllen und fortlaufend, ja täglich durch neuen Schmöker ergänzt werden. Indien ist ein Riesenland. Eigentlich ein Kontinent in einem Land. Oder – eher noch – mehrere Kontinente in einem Land. Dieses Land in seiner unermesslichen Vielfalt überschauen, geschweige denn verstehen zu wollen, wäre vermessen. Und so tut der Neuankömmling gut daran, sich in Bescheidenheit zu üben, die sprichwörtlichen kleinen Brötchen zu backen, wenn er den Mund aufmacht. Nach acht Jahren Ägypten, wo ich zwölf Jahre meiner Kindheit verbracht hatte, Schrift und Sprache leidlich beherrschte sowie Land und Leute zu taxieren gelernt hatte, ist der Wechsel nach Indien vergleichbar mit einem Eintauchen in ein exotisches Universum. „Freu Dich täglich auf bezahlten Bildungsurlaub“, rät der Kollege Es waren nicht die Bücher, die mich nach Indien zogen, es waren maßgeblich die vielen guten Gespräche, die ich über die Jahre mit klugen Menschen aus diesem Land geführt hatte – und die mich neugierig stimmten. In Indien gibt es viele hoch-intellektuelle Menschen – und 35 Universelle Werte? 2| 2014 das sympathische: Häufig sind diese Zeitgenossen am Gespräch, der rhetorischen Auseinandersetzung interessiert - und in der Lage (keineesfalls eine Selbstverständlichkeit in der Welt) dieses in gutem Englisch zu führen. Also, ganz kurz – und ohne Hang zur Stereotypisierung: In Indien gibt es viele kluge Menschen, und einige davon finden sich unter unseren Partnern. oft, dass sich in der Realität vieler Menschen etwas verändert. NRO sind, das wird schnell klar, ein ernstzunehmender Faktor im politischen Entscheidungsprozess. Natürlich ist ihre Rolle, allemal ihre Finanzierung, wenn sie aus dem Ausland kommt, nicht unkontrovers. Doch Verbote und Verhaftungen, wie sie in anderen Teilen der Welt an der Tagesordnung sind (die arabische Welt ist hier nur ein trauriges Beispiel von vielen), sind hier kein Thema. Die Mehrheit der 1200 Millionen Menschen sind arm „Lassen Sie sich nicht blenden von der intellektuellen Elite in den teuren Hotels in Dehli oder Mumbai“, warnt ein westlicher Diplomat. Natürlich bilden die Eliten, die Überflieger eine winzige Minderheit unter den 1.200 Millionen Indern. Die Mehrheit der Menschen sind arm und hungrig, viele können nicht lesen und schreiben. Massenelend und pompöser Reichtum, Spitzentechnologien und Steinzeitmethoden liegen hautnah beieinander. In keiner anderen Gesellschaft ist mir die eklatante, provokative Ungleichheit so ins Auge gesprungen. Jeden Tag und immer wieder, an jeder Straßenecke gleichsam – so dass man sich, ohne die Augen zu verschliessen, schnell an den Zustand gewöhnt. Indien ist eben eine Demokratie, sagt ein Kollege. Das klingt einfach, fast banal. Ist es aber ganz und gar nicht. Das hat auch mit Politik zu tun, über einen Umweg auch mit Liberalismus, oder – konkret im Falle Indiens – einem Mangel an freiheitlicher Politik. Diese zu mehren, ist der Anspruch der Stiftung, der ich jetzt als Regionalbüroleiter in diesem Riesenland und seinen südasiatischen Nachbarn vorstehe. An meiner Seite arbeitet eine Mannschaft engagierter und qualifizierter Mitarbeiter, die alle Hände voll zu tun haben, im Schulterschluss mit den Partnern gute Projekte voranzubringen. Die diversen Partner verbindet der Wunsch, Indien zu einem besseren – sprich freieren, gerechteren, liberaleren – Gemeinwesen zu machen. Es ist eine Sisyphus-Arbeit, die die Stiftung seit vielen Jahren mit Rat und Tat unterstützt. Über Indiens Zivilgesellschaft sind sicherlich viele Bücher geschrieben worden. Ich habe sie (noch) nicht gelesen. Mir als Neuankömmling aus dem Nahen Osten, der hierzulande West Asia heisst, fällt das Selbstbewustsein auf, mit dem die zivilgesellschaftlichen Gruppen zur Sache gehen. Gut organisiert und oft finanziell gut ausgestattet beanspruchen die NROs eine Rolle im politischen Willensbildungsprozess – und werden von den Mächtigen und Regierenden als Gesprächspartner akzeptiert. Aktuelles auf Twitter: @Meinardus Die Arbeit der indischen NRO verharrt nicht auf der Ebene der Absichtserklärungen. Das ständige Drängen und Drängeln, die vielen Aktionen und Kampagnen bewirken 36 Universelle Werte? 2| 2014 Politische Berichte des Bereich Internationale Politik „Brennpunkt“ Unser „Brennpunkt“ berichtet zeitnah über eine aktuelles Ereignis von besonderer Bedeutung (Wahlen, politische und soziale Krisen etc). Er wird von den Mitarbeitern der FNF aus der jeweiligen Region in deutscher (in Ausnahmefällen auch englischer oder spanischer) Sprache erstellt und beinhaltet eine Einordnung des Geschehens durch die FNF oder ihre Partner. Download unter: http://brennpunkt.freiheit.org „Hintergrund“ Unser „Hintergrund“ dient der Vertiefung und beschäftigen sich jeweils mit einem ausgewählten Thema, dass auch mittelfristig noch aktuell ist. Download unter: http://hintergrund.freiheit.org „global & liberal“ „global & liberal“ ist das Auslandsmagazin des Bereiches Internationale Politik. Mit einem ausgewählten Titelthema und verschiedenen Rubriken vermitteln wir einen Überblick über die internationale Projektarbeit der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit in rund 60 Ländern weltweit. Download unter: http://globalundliberal.freiheit.org IMPRESSUM Herausgeber Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Bereich Internationale Politik Referat für Querschnittsaufgaben Karl-Marx-Str. 2 14482 Potsdam-Babelsberg Telefon: +49(331) 7019-520 Fax: +49(331) 7019-132/133 Redaktion: Johannes Issmer E-Mail: [email protected] Bildnachweise: Soweit nicht anders gekennzeichnet besitzt die FNF die Bildrechte an den verwendeten Fotos und Grafiken. Wir danken allen Urhebern für die freundliche Überlassung. 37