Aktivitäts- und Aufmerksam- keitsstörung im Kindes

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Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung im Kindes- und
Jugendalter
Prien, 28.04.2012
Professor Dr. med. Dipl. theol. Christine M. Freitag
Direktorin, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters
Klinikum der JW Goethe Universität
Einführung
Diagnosekriterien
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Cave!
Teil der Symptomtrias bei vielen anderen Erkrankungen
– unspezifisch!
Differentialdiagnose?
Oder mehrer Diagnosen? (= Komorbidität)
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Differentialdiagnosen
Problem
– Ausschluß organischer Ursachen in ICD-10 und DSM-IV nicht
explizit erwähnt - Diskussion DD oder Komorbidität
– Klinisch relevant: mögliche organische Ursachen müssen erkannt
und behandelt werden, u. a.
Epilepsie
Z. n. Schädel-Hirn-Trauma / Schlaganfall
Neurodegenerative Erkrankung
Hyperthyreose (selten)
Akuter Beginn nach 7. Lebensjahr schließt die Diagnose aus! ->
Hinweis auf organische Ursache!
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Differentialdiagnosen
Differentialdiagnose
– ADHS-Symptomtrias ist vollständig durch anderes Störungsbild
erklärbar
Bsp: Bindungsstörung, depressive Episode, manische Episode,
Störung des Sozialverhaltens, Autistische Störung, Angststörung, IQMinderung etc.
Komorbidität andere psychische Störung
– Symptome des ADHS sind nicht durch andere Störung erklärbar
– bei ca. 60-70% aller Kinder mit ADHS vorhanden
Bsp.: wie oben ... .
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Differentialdiagnosen
Bindungsstörung, v. a. mit Enthemmung
Störungen des Sozialverhaltens
Asperger Syndrom, atypischer Autismus
Frühkindlicher Autismus
Bipolare Störung / manische Episode (Kriterium: Größenwahn!)
(Geller & Tillman, 2005)
depressive Episode
Angststörung
emotional instabile PS - impulsiver oder Borderline Typus
IQ-Minderung / Teilleistungsstörungen
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Komorbidität
Psychische Störungen
– Störungen des Sozialverhaltens
F 91.0 auf familiären Bereich beschränkt: selten
F 91.1/2 bei fehlenden oder vorhandenen sozialen
Bindungen: ca. 30-50%
F 91.3 mit oppositionellem Verhalten: ca. 50%
– Tic-Störung und Tourette-Syndrom: ca. 10-30%
– Angststörungen: ca. 20-30% (Mädchen häufiger)
– Depressive Störungen: ca. 10-40% (Mädchen häufiger)
– Drogenabusus / -abhängigkeit: ca. 5-15%
(Busch et al. 2002; Lehmkuhl & Döpfner, 2003; Levy et al., 2005)
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Komorbidität
Teilleistungsstörungen
– Lese-Rechtschreibstörung (25-40%)
– Rechenstörung (10-60%)
– Sprachentwicklungsverzögerung (ca. 30%, häufiger bei Mädchen)
(Tannock, 1998; Tirosh & Cohen, 1998; Gillberg et al., 2004)
andere Entwicklungsstörungen
– Enuresis ca. 10-30%
(Duel et al., 2003; von Gontard 2004)
– Enkopresis (eher selten; meist in Verbindung mit F90.1)
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Diagnostik
Ziel der Diagnostik
Diagnose
– Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
– Komorbide Erkrankungen / Differentialdiagnosen
Multiaxiale Diagnostik
– Kognitive Fähigkeiten
– Teilleistungsstörungen
– ggf. körperliche Erkrankungen
Ätiologie und Risikofaktoren
Störungsmodell
Therapieplanung
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Anamnese Eltern / Kind
Anamnese
– Schwangerschaftsrisikofaktoren
– Entwicklung
– Körperliche Erkrankungen
– Kindergarten und Schule, Hausaufgaben
– Freundschaften
– Stärken und Schwächen, Hobbies
– Akute Lebensereignisse / andere Risikofaktoren
– Spezifische Verhaltensprobleme und Besonderheiten
– Kernsymptomatik: Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit, Impulsivität
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Anamnese Eltern / Kind
Familienanamnese
– Hinweis auf mögliche genetische Risikofaktoren
– Hinweis auf psychosoziale Risikofaktoren
Psychopathologischer Befund
Ziel der Anamnese / Psychopathologischer Befund
– Verdachtsdiagnose aufgrund beschriebenen Verhaltens
– Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren
– Klärung der weiteren notwendigen Diagnostik
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Verobjektivierung
Querschnitt
– Zusammenfassung der geschilderten Symptome
– Zusammenfassung der beobachteten Symptome
Z.B. Diagnosecheckliste Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung aus DISYPS-II oder KIDS 1
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Verobjektivierung
Querschnitt
Fragebogendiagnostik
– Kernsymptomatik
– weitere Problembereiche
– Eltern / Lehrer / Erzieher
in Deutschland „normierte“ Fragebögen
– CBCL / TRF, ab 12 Jahren YSR
– FBB-ADHS aus dem DISYPS-II (Eltern, Lehrer, Erzieher)
ab 3 Jahren; Problem: sehr kleine Stichproben; keine externe
Validierung
– ähnlich auch FBBs aus KIDS 1
International: Conners-Fragebögen, SWAN, SHEEHAN, etc.
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Weitere Problembereiche
Schule: TRF
Hausaufgaben: HPC-D (aus THOP-Handbuch)
Familie: HSQ-D (aus THOP-Handbuch)
eigene Symptomskalen
– orientiert an Therapiezielentwicklung
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Intelligenztestung
MUSS IMMER GEMACHT WERDEN!!!
– aktuelle Normen!
eindimensional
– CFT-20R
mehrdimensional
– SON-R 2½-7
– WPPSI
– HAWIK -IV
– WIE
– AID2
– IST 2000 R
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Teilleistungsstörungen
bei Hinweisen aus Schule
– Diktate / Deutschnote
ggf. Abklärung Lese-Rechtschreibstörung
z.B. HSP, DRT, ZLT, ELFE1-6 etc.
– Mathenote
ggf. Abklärung Dyskalkulie
z.B. HRT
bei Hinweisen aus Exploration / körperlicher Untersuchung
– Sprachstörung
nur im Vorschulalter normierte Sprachentwicklungstests (SETK2 / 3-5)
– Fein- und Grobmotorik
ggf. Züricher Neuromotorik (ab 6 Jahren); Malen, Schreiben
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Körperliche Untersuchung
muss erfolgen
– Ausschluss von behandelbaren Grunderkrankungen
– erhöhte Prävalenz von Neurodermitis / Frühgeburtlichkeit etc.
– Hinweis auf Misshandlung?
EEG ratsam; selten: Schlafentzugs-EEG
EKG vor Medikation notwendig
Blutabnahme vor Medikation notwendig
in der Regel nicht notwendig:
– Stoffwechseluntersuchung; kranielle Bildgebung (CT, MRT)
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Komorbide Erkrankungen
In Anamnese immer BREIT nach Symptomen aus allen
Bereichen fragen
nicht nur durch Patient und Eltern geschilderte Symptome
aufgreifen
Hinweise aus Fragebögen (CBCL, TRF)
– ansehen!
ggf. strukturiertes Interview Eltern / Kind, JugendlicheR
– Kinder-DIPS
– KIDDIE-SADS
gezielt weitere Fragebögen und Exploration anschließen
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Neuropsychologische Testung
Es gibt keinen diagnostischen neuropsychologischen Test
– Im Gruppenvergleich Einschränkungen bei ADHS
– Individuell zu starke Überlappung gesund - krank
– Sensitivität und Spezifität i.d.R nicht gut
– zusätzlich: i.d.R. fehlende Normen für Kindesalter; oft keine
externe Validierung mit ADHS und klinischen DD
ggf. können neuropsychologische Tests zur Verlaufsmessung
eingesetzt werden
– TAP, CANTAB, QB-tech, CPT ...
– d2-R, FAIR, KHV-VK ...
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Neurobiologische Grundlagen
Riskofaktoren
Genetische Faktoren (Heritabilität ca. 70%)
– Gen-Umwelt-Interaktion
Schwangerschaft - biologische und psychosoziale Faktoren
– Rauchen
– Frühgeburtlichkeit < 1500 gr
– psychosoziale Belastung Mutter (?) - komorbide Angststörung
postnatal
– psychosoziale Belastung Familie
– frühes Fernsehen < 3 Jahre (?)
– aversive Erziehungsbedingungen - komorbide SSV
– mütterliche Depression - komorbide SSV
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Gehirnentwicklung
Neurophysiologische Untersuchungen
In Ruhezustand erhöhte theta/beta-Aktivität (Barry et al., 2010)
– allgemein langsamere Hirnreifung
Ableitung spezifischer Therapie: Biofeedback (Logemann et al., 2010)
– bisher noch keine großen RCT
– gemessene Wirkung hängt stark von Kontrollbedingung ab
evozierte Potentiale
– Hinweise auf frühe Arbeitsgedächtnis basierte reduzierte
Verarbeitung von visuellen und auditorischen Stimuli (Lenz et al., 2010)
– Reduzierte funktionelle Konnektivität zwischen frontalem und
okzipitalem Kortex (top-down) (Mazaheri et al., 2010)
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Gehirnentwicklung
Bildgebung
– fronto-striataler Regelkreis funktionell verändert
top-down Prozesse, Belohnungsprozesse
– funktionelle und strukturelle Veränderungen im Parietallappen und
im Kleinhirn (Cherkasova & Hechtmann 2009)
früher: lokale Unterschiede; heute Fokus: Netzwerkstruktur des
Gehirns verändert -> Konnektivitätsuntersuchungen (Konrad & Eickhoff 2010)
– default mode network (DMN): PCC, MPFC, Parietallappen
rest-to-task: weniger schnelle Reduktion der Aktivität im DMN
– Aufgabenspezifisches Netzwerk: DLPC, IPS, SMA
weniger stark aktivierbar bei ADHS
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Therapie
Medikamente versus PT
Medikamentöse Therapie mit Methylphenidat im Vordergrund
MTA-Study (Multimodal Treatment Study of ADHD) 1999 ff
– Kinder mit ADHS - kombinierter Subtyp, 7-9 Jahre alt
4 Gruppen verglichen
– Medikation mit Methylphenidat (Titration)
– Intensive VT (Eltern, Schule, Sommer-CAMP)
– Kombination Medikation mit Methylphenidat (Titration) + VT
– „community care“
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Medikamente versus PT
deutliche Verbesserungen bei allen 4 Gruppen,
– aber:
Zielgröße ADHS nach 14 Monaten
– Medikation am besten und ausreichend; +VT keine zusätzlichen
Effekte; allerdings: Dosisreduktion möglich mit VT
Zielgröße Komorbide Erkrankungen
– Medikation + VT am besten
– komorbide Störung des SV, komorbide Internalisierende
Symptomatik
– Lesefähigkeit, Eltern-Kind-Beziehung
VT alleine: war nicht besser als „community care“
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MTA-Studie - Langzeit
Follow-up 10 Monate nach Ende (MTA 2004)
– Medikationsarme deutlich bessere Effekt auf ADHS und
oppositionelles Verhalten als die anderen beiden
Vergleichsgruppen
– VT keinen zusätzlichen Effekt
– Dauerhafte Therapie mit Methylphenidat insbesondere dann
besser, wenn regelmäßige Einnahme mit ausreichender Dosis
erfolgte
Unerwünschte Wirkung
– reduzierte Wachstumsgeschwindigkeit
– Appetitminderung
– Ängstlichkeit / Depressivität: Zeichen von Überdosierung
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MTA-Studie - Langzeit
Follow-up 8 Jahre nach Ende (Molina et al., 2009)
– Gruppen glichen sich an
– Medikation wurde bei > 60% reduziert nach 14-monatiger
Behandlung
– Pubertät: ADHS-Kinder deutlich mehr Probleme in fast allen
Bereichen als nicht-ADHS Kontrollkinder
Schule, Drogen, psychiatrische Krankenhausaufenthalte
noch nach 36 Monaten (11-13 Jahre alt) (Molina et al., 2007)
– VT: weniger Drogenabusus
– allerdings: nach 8 Jahren kein Einfluss mehr
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Medikation
Methylphenidat
– nicht-retardiert
– retardierte Präparate
– erhöht Dopamin im Striatum, wahrscheinlich durch Blockade von
DAT1; dazu wohl Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin
und Noradrenalin
Amphetaminsaft
– ähnlich Methylphenidat
Atomoxetin
– NA-Wiederaufnahmehemmer
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Medikation
bisher nicht nachgewiesen, dass wirksam:
– Zappelin
– Omega-3-Fettsäuren (aktuell RCT)
Weglassen von Zucker, Salz, Milch, Weizen etc.
Andere Diäten
Vitaminpräparate etc.
Allerdings
– einige Kinder mit ADHS zeigen Eisenmangel, der behandelt
werden sollte
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Weitere Therapieverfahren
nicht wirksam / bisher kein Nachweis
– Spieltherapie
– Ergotherapie
– soziales Kompetenztraining bei Kindern (CochraneCochrane-review 2011)
Konzentrationstrainings, andere Übungsbehandlungen
– nur sinnvoll in Kombination mit medikamentöser Therapie
– THOP-Training: vor allem bei komorbidem oppositionellem
Verhalten und familiären Interaktionsproblemen
Biofeedbacktherapie wohl effektiv bzgl. Aufmerksamkeitsproblemen (Bakhshayesh et al., 2011)
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Vielen Dank!
für das Zuhören.
Haben Sie Fragen?
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