Mein Bericht an die Welt - ReadingSample - Beck-Shop

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suhrkamp taschenbuch 4367
Mein Bericht an die Welt
Geschichte eines Staates im Untergrund
Bearbeitet von
Céline Gervais-Francelle, Franka Reinhart, Ursel Schäfer, Jan Karski
1. Auflage 2012. Taschenbuch. 619 S. Paperback
ISBN 978 3 518 46367 3
Format (B x L): 12,1 x 19,3 cm
Gewicht: 442 g
Weitere Fachgebiete > Geschichte > Geschichtswissenschaft Allgemein > Biographien
& Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
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Suhrkamp Verlag
Leseprobe
Karski, Jan
Mein Bericht an die Welt
Geschichte eines Staates im Untergrund
Aus dem Französischen von Franke Reinhart und Ursel Schäfer. Herausgegeben von Céline
Gervais-Francelle. Lizenz: Kunstmann.
© Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch 4367
978-3-518-46367-3
suhrkamp taschenbuch 4367
Als Hitler Polen überfällt, flieht der junge Offizier Jan Karski gen Osten –
und läuft den Sowjets in die Arme, die ihn an die Deutschen ausliefern.
Er flieht und schlägt sich zur polnischen Untergrundbewegung durch.
Jüdische Partisanen schleusen ihn ins Warschauer Ghetto und in ein Konzentrationslager ein, wo er Augenzeuge der Judenvernichtung wird. Karski
gerät in die Fänge der Gestapo, wird gefoltert, flieht erneut. Seine
wichtigste Mission im Widerstand führt ihn schließlich quer durch NaziDeutschland nach England und Amerika, um Anthony Eden und Franklin D. Roosevelt persönlich Bericht über die Greueltaten der Nationalsozialisten zu erstatten – aber sie glauben ihm nicht.
»Dieses Buch ist ein Ereignis. Es nimmt gefangen, hält in Atem und reißt
mit … ein großartiges Dokument.« Die Welt
»Eine schmerzliche, unverzichtbare Lektüre.« Christian Semler, taz
Jan Karski, geboren 1914 in Lodz, nahm 1942 den Namen Karski an. Seit
1939 Kurier der polnischen Untergrundbewegung, gelangte er 1943 in die
USA und wurde von Präsident Roosevelt empfangen. Er blieb dort nach
seiner Enttarnung und lehrte bis zu seinem Tod im Jahr 2000 als Professor
für Politikwissenschaften an der University of Georgetown in Washington.
Jan Karski
MEIN BERICHT
AN DIE WELT
Geschichte eines Staates
im Untergrund
Herausgegeben von
Céline Gervais-Francelle
Suhrkamp
Aus dem englischen Originaltext (Story of a Secret State, 1944)
und der französischen Neuausgabe von 2010 übersetzt
von Franka Reinhart und Ursel Schäfer.
Erste Auflage 2012
suhrkamp taschenbuch 4367
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2011
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der
Antje Kunstmann GmbH, München
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-46367-3
MEIN BERICHT
AN DIE WELT
Geschichte eines Staates
im Untergrund
inhalt
Einführung

























Die Niederlage
Gefangener in Russland
Austausch und Flucht
Das zerstörte Polen
Beginn
Verwandlung
Initiation
Borzęcki
Lwów
Mission in Frankreich
Der Untergrundstaat (I)
Tiefer Fall
In den Händen der Gestapo
Im Krankenhaus
Die Rettung
Der »Landwirt«
Dwór: Genesung und Propaganda
Hinrichtung eines Verräters
Der Untergrundstaat (II): Strukturen
Frau Laskowas Wohnung
Auftrag in Lublin
Der Schattenkrieg
Die Untergrundpresse
Mein »konspirativer Apparat«
Die Verbindungsagentinnen


































Eine Stellvertreterhochzeit
Schule im Untergrund
Eine Sitzung des Untergrundparlaments
Das Getto
Letzte Etappe
Wiedersehen Unter den Linden
Nach London
Mein Bericht an die Welt








Postskriptum

einführung
von Céline Gervais-Francelle
im oktober  trat Jan Karski aus dem Vergessen; Anlass war
eine internationale Konferenz der Befreier von Konzentrationslagern, die Elie Wiesel und der amerikanische Holocaust Memorial
Council organisiert hatten. Der einstige Kurier des polnischen Widerstands nahm Wiesels Einladung an und brach erstmals nach
 sein Schweigen. Ein weiteres Mal »legte er Zeugnis ab« von
den Vorgängen, die er im Sommer  mit eigenen Augen gesehen
und die er seit seiner Ankunft in London Ende November  beharrlich den maßgeblichen Politikern begreiflich zu machen versucht hatte: der Vernichtung der Juden. Er berichtete, was ihm die
Vertreter der Überlebenden im Warschauer Getto aufgetragen hatten, nachdem die großen Transporte nach Treblinka gerollt waren.
Das Thema seines Vortrags lautete: »Die Entdeckung des Plans
für die ›Endlösung‹«. Dabei behandelte er drei Fragenkomplexe:
». Was wussten die westlichen Politiker und die Öffentlichkeit im
Westen? Wann haben sie es erfahren? . Wie haben sie diese Informationen erhalten? . Wie haben sie reagiert? Welche Beweise gab
es?« und erklärte: »Ich war einer der vielen, die dabei eine gewisse
Rolle gespielt haben.«
Karskis präziser chronologischer Bericht rief vielen Anwesenden
in Erinnerung, was sie bereits in dem Buch Story of a Secret State gelesen hatten, in dem der Kurier Karski eben diese Fakten schilderte. Als das Buch  mit einer Auflage von vierhunderttausend
Exemplaren in den Vereinigten Staaten erschien, war es sofort vergriffen. Es wurde unmittelbar darauf in England neu aufgelegt und
 ins Schwedische übersetzt,  ins Norwegische, und 

erschien die französische Übersetzung mit dem schönen Titel in
Anlehnung an die Überschrift des letzten Kapitels Mein Bericht an
die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund.
Außerhalb der Vereinigten Staaten und Israels erfuhr die Öffentlichkeit wenig darüber, welchen Widerhall sein Auftritt bei dieser
Konferenz im Oktober  hatte. Stephen J. Solarz, Kongressabgeordneter aus New York, beantragte am . Dezember  im Repräsentantenhaus, Karskis Rede solle komplett ins Protokoll aufgenommen werden. Karski schloss mit den bewegten Worten:
»Bei Kriegsende sagte man mir, weder die Regierungen noch
hochrangige Politiker, weder Wissenschaftler noch Schriftsteller
hätten vom Schicksal der Juden gewusst. Sie waren überrascht. Die
Ermordung von sechs Millionen unschuldigen Menschen war ein
Geheimnis geblieben. ›Ein schreckliches Geheimnis‹, wie Walter
Laqueur geschrieben hat. Da bin ich Jude geworden. Ein Jude wie
die Angehörigen meiner Frau, die hier anwesend ist … Aber ich bin
ein christlicher Jude, praktizierender Katholik. Und obwohl ich
kein Ketzer bin, bekenne ich, dass die Menschheit einen zweiten
Sündenfall begangen hat: auf Befehl oder durch Fahrlässigkeit,
durch selbst auferlegte Unwissenheit oder Fühllosigkeit, aus Egoismus oder Heuchelei oder sogar aus kalter Berechnung. Dieser Sündenfall wird die Menschheit bis ans Ende der Welt verfolgen. Dieser Sündenfall verfolgt mich. Und ich will, dass es so ist.«
Im Juni  erkannte das Yad-Vashem-Institut, das Vertreter zu
der Konferenz entsandt hatte, Jan Karski den Titel »Gerechter unter den Völkern« zu.
In Frankreich (und anderen europäischen Ländern) wurde Jan
Karski erst vier Jahre später »wiederentdeckt« oder eigentlich überhaupt erst entdeckt: , als Claude Lanzmann Karskis schönes
Gesicht tränenüberströmt in seinem Film Shoah zeigte. Die Bilder
des »designierten Zeugen« Karski und die Unterhaltung stammten
vom Oktober . Doch trotz Shoah – oder vielleicht sogar wegen
Shoah – blieb Karski in vielen europäischen Ländern ebenso unbe
kannt wie der polnische Widerstand, dem er angehörte, und sein
Untergrundstaat ein während des Zweiten Weltkriegs in den besetzten Ländern einmaliges Phänomen.  wurde sein Buch in einer vollkommen überarbeiteten und kommentierten Version neu
aufgelegt und fand offensichtlich viele Leser, denn es war schnell
vergriffen.
Wer war Jan Karski, als er (bis ) noch seinen bürgerlichen Namen Jan Kozielewski trug? Er kam am . Juni  in Lodz zur
Welt, als achtes und letztes Kind eines polnischen Sattlermeisters,
der eine eigene Werkstatt besaß. Die Kozielewskis hatten weder ein
Familienwappen noch einen Familiensitz, wie Jan allen sagte, die
von seiner »aristokratischen« Erscheinung sprachen. Es war eine solide polnische Mittelschichtfamilie, glühende Katholiken, aber offen und tolerant, patriotische Anhänger von Józef Piłsudski, das
heißt, jedem extremen Nationalismus gegenüber ablehnend eingestellt (vgl. Kap. , Anm. ). Sie lebten in der besonderen kulturellen Vielfalt von Lodz, »der Stadt meiner glücklichen und stolzen Jugend«, wie Karski sagte. Bis  wohnte Walentyna Kozielewska,
seit  verwitwet, mit ihrem jüngsten Sohn in der Kiliński-Straße Nummer  in einer überwiegend jüdischen Nachbarschaft. Jan
hatte somit vom Hof, wo er spielte, bis zur Schulbank im Piłsudski-Gymnasium, wo er ein hervorragender Schüler war, jüdische
Kameraden und Freunde. Als er im Mai  (zwei Monate vor seinem Tod) als Ehrenbürger der Stadt nach Lodz zurückkehrte, sagte
er: »Im Geist bin ich nie fortgegangen. Ohne das Lodz von damals
hätte es den Karski von heute wohl nie gegeben« (Gazeta wyborcza,
. Mai ).
Im Jahr  verließ er Lodz mit freundlichen Erinnerungen,
aber auch mit den Idealen eines katholischen Kämpfers aus dem
Schülerbund der Marienlegionäre (Sodalicje Mariańskie) und einem Kindheitstraum, aus dem ein Berufswunsch wurde: Er wollte
Diplomat werden. Sein Bruder und Mentor nahm ihn beim Wort,

verlangte harte Arbeit und herausragende Leistungen im Studium
an der Jan-Kazimierz-Universität von Lwów (–), damit er
ihm Auslandsaufenthalte und Stipendien vermitteln konnte (vgl.
Kap. , Anm.  und ). Den Piłsudski-Anhängern der ersten Stunde bedeuteten Aufstieg durch Leistung und der Dienst für den
Staat, dessen Unabhängigkeit und Souveränität ständig gefährdet
waren, sehr viel. In Lwów wurde Jan Mitglied der piłsudskischen
Jugendlegion.  sagte er zu einem Journalisten, der ihn nach dieser Zeit befragte: »Ja, in meiner Jugend habe ich gerufen: ›Es lebe
Piłsudski!‹ Aber vor allem habe ich sehr, sehr viel gearbeitet.«
(»Krzysztof Masłoń interviewt Jan Karski«, Kurier czytelniczy, Nr.
, Dez. .)
Er träumte von einer – definitionsgemäß zivilen – Diplomatenkarriere, legte aber auch in der Kadettenschule der berittenen Artillerie den Wunsch nach herausragenden Leistungen an den Tag:
Er wollte Bester des Jahrgangs  werden und das sehr begehrte
»Ehrenschwert« erlangen, das vom Präsidenten der Republik verliehen wurde. Stanisław M. Jankowski zitiert in seinem letzten
Buch Karski. Raporty tajnego emisariusza (Karski. Die Berichte eines geheimen Kuriers, Poznań, Rebis, ) den patriotischen
»Schwur«, den Jan Kozielewski als Hauptverantwortlicher und sein
Stellvertreter und Freund Jerzy Lerski (an den er sich mit warmen
Worten im Kapitel »Lwów« erinnert) im Namen des Jahrgangs
 verfasst hatten. Auch das Ausbildungsprogramm für den
Dienst im Auswärtigen Amt entsprechend seinem Berufswunsch
(vgl. Kap. , Anm. ) schloss er als Bester ab.
Im Februar  fasste der Unterleutnant Jan Kozielewski (der
inzwischen den Decknamen Jan Kanicki angenommen hatte) in
Angers im Rahmen seiner ersten Mission, die ihn von Warschau
über Budapest nach Paris geführt hatte, für den Premierminister
der Polnischen Exilregierung, General Sikorski, seinen Weg seit der
Niederlage Polens im September  zusammen: »Gefangenschaft
bei den Bolschewiken, ungefähr sechs Wochen, bei Poltawa«, »Aus
tausch« als einfacher Soldat und Übergabe an die Deutschen, weil
gebürtig aus »Litzmannstadt« [Lodz], »Gefangener der Deutschen,
zehn Tage, bei Radom«, Flucht, Leben im Untergrund. »Im Land
habe ich politisch gearbeitet. Ich war illegal in Lwów, Lodz, Wilna,
Poznań, Lublin usw. Ich bin der Bruder von Herrn Konrad [das
heißt, Oberst Kozielewski, vgl. Kap. , Anm. ].« Er arbeitete mit
»Herrn Konrad« zusammen; gemeinsam verfassten sie im Dezember  einen ersten Bericht für die Regierung, die sich mittlerweile im französischen Exil als »rechtmäßige polnische Regierung«
neu gebildet hatte, über die allgemeine Lage der Bevölkerung und
die öffentliche Meinung in Polen – eine der wichtigen Informationsquellen, auf die er sich in den Berichten bezog, die er im Februar  in Paris niederschrieb. Er sagt weiter, dass er sich als Freiwilliger zu der im Aufbau befindlichen (Auslands-)Armee gemeldet
habe, die an der Seite der alliierten Streitkräfte kämpfte. Aber
»wenn meine Regierung meint, dass es Polen mehr nützt, bin ich
bereit, nach Polen zurückzukehren und dort zu bleiben«. Und er
endete mit einer Verpflichtung, aus der bereits der künftige Karski
spricht: »Ich möchte Polen unter den schwierigsten Bedingungen
dienen.« Das Wort »schwierigsten« wurde vom Adressaten des
Berichts unterstrichen.
In Angers wurde Karski von General Sikorski kühl und misstrauisch empfangen – war er nicht ein Zögling der Epigonen des
Marschalls Piłsudski, der »Obristen«? –, und der furchteinflößende
Professor Stanisław Kot, der Vertraute des Generals, schüchterte
ihn zunächst ein. Doch als erfahrener Pädagoge erkannte Kot in
Karski sofort die seltene Spezies, die »Perle«, wie er später in London sagte. Kot registrierte Karskis außerordentliche Fähigkeit, sich
Dinge einzuprägen, seine Disziplin und analytische Schärfe; er
hielt ihm lange Vorträge über den »Piłsudski-Mythos«, in dem er
Karski gefangen glaubte, und beschloss, ihn zum wichtigsten Kurier der Regierung zu machen. »Sie haben Professor Kot für sich gewonnen«, sagte Sikorski ungläubig zu Karski. Stanisław Kot ließ

Karski lange, komplizierte politische Anweisungen auswendig lernen, die er dem Untergrund überbringen sollte.
»Hast du alles verstanden?«
»Jawohl, Herr Professor.«
»Ich sollte dich vereidigen, Geheimhaltung schwören lassen.
Aber wozu? Ich vertraue dir! Und wenn du verraten willst, wirst du
verraten. Gott schütze dich.« (So schilderte Karski später die Unterredung gegenüber seinem Biografen Stanisław M. Jankowski,
Karski. Raporty, a.a.O.)
Das war die Geburtsstunde des »politischen Kuriers« der Exilregierung.
Karski vergaß indes nie den Mann, der ihn »angeworben« hatte, den Juristen Marian Borzęcki: Borzęcki hatte ihn überzeugt, dass
der zivile Kampf und die Aufgabe eines »Kuriers« für das Vaterland
genauso nützlich waren wie der bewaffnete Kampf.
Jan Kozielewski formulierte für sich von Anfang an ein »Ethos«
als Kurier und entwickelte eine Professionalität, die alle seine Vorgesetzten beeindruckte. Als er Ende April  aus Angers zurückkehrte, erstattete er zuerst in Krakau und dann in Warschau Bericht. Alle politischen Vertreter, die ihn hörten, sagten, sie seien
»verblüfft« gewesen. Er hingegen gab sich stets bescheiden, definierte seine Rolle als die einer »Grammofonschallplatte, die man bespielt, weitergibt, anhört«. Und er rechtfertigte stets das »in ihn gesetzte« Vertrauen, das er mit seinem Eid beschworen hatte – einem
Eid, den er, der glühende Katholik, vor seinem Gott ablegte und
der ihn verpflichtete, getreulich und gewissenhaft seine Mission zu
erfüllen.
Die patriotische Opferbereitschaft, die so weit ging, dass er aus
Angst, unter der Gestapo-Folter doch zu reden, einen Selbstmordversuch unternahm, hat als eine Dimension auch das persönliche
Drama des Christen. Rückblickend wird das in einer außergewöhnlichen Geste seiner Freunde deutlich: Sie gaben ihm am
. Oktober  vor seiner Abreise in doppelter Mission – dem

Auftrag der Regierung und dem Ersuchen der verzweifelten Menschen im Getto – ein Medaillon mit einer Hostie mit. Die Hostie
war das Gegenstück zu der Zyanidkapsel, die er ebenfalls erhalten
hatte. Er erkannte den Sinn der Geste und entledigte sich vor seiner Abreise der Zyanidkapsel. Vor diesem Hintergrund verstehen
wir die Hingabe von Jan Karski, dem neuen Gesandten im Kampf
gegen das Böse, besser und auch die Worte, die er vierzig Jahre später, , sagte: »Gott hat mich sehen lassen und sagen lassen, was
ich gesehen habe, damit ich Zeugnis ablegen kann.«
Im Februar  in Angers erinnerte ihn General Sikorski
nüchtern daran, dass er als aus Polen entkommener Reserveoffizier
weiterhin mobilisiert blieb. Ȇber Ihre Verwendung werden wir
entscheiden.« Diese Worte waren Karski im Dezember  noch
im Gedächtnis (zitiert von Stanisław M. Jankowski). Er wurde der
geheimen Verbindungsarbeit mit Polen zugewiesen, die Innenminister Stanisław Kot zu diesem Zeitpunkt aufbaute. In Warschau,
wohin Jan Kozielewski zurückkehrte, nachdem seine Mission als
Kurier der Regierung erfüllt war, unterstand er weiterhin General
Rowecki (vgl. Kap. , Anm. ), dem Oberkommandierenden des
Bunds für den bewaffneten Kampf oder ZWZ, der »Streitkräfte im
Inneren«, die ab Februar  den Namen AK-Armia Krajowa,
Heimatarmee, trugen.
In Warschau und Krakau führte Leutnant Jan Kozielewski von
 bis  den Decknamen »Witold«. Unter diesem Namen
kannte man ihn in den Untergrundorganisationen, an Witold
wandten sich die beiden Vertreter des Gettos. »Witold« Kucharski
war Jan Kozielewski auch bei seiner zweiten Mission im Juni ,
der Mission, bei der er in der Slowakei festgenommen, der Gestapo übergeben und gefoltert wurde. Und unter diesem Decknamen
wurde ihm im Februar  in absentia von General Rowecki das
Kreuz des Ordens Virtuti militari verliehen. Karski erfuhr davon
erst Ende der er Jahre von dem Historiker Andrzej Kunert, der
das Schreiben in einem Geheimarchiv in Lodz entdeckt hatte (vgl.

Bildteil). Auch General Sikorski wusste nichts davon, als er Karski
im Januar  erneut mit dem silbernen Kreuz des Ordens auszeichnete (vgl. Kap. ).
Als der Regierungsbevollmächtigte in Warschau, Cyryl Ratajski,
im Sommer  auf Empfehlung mehrerer Parteiführer beschloss,
»Witold« mit der außerordentlich gefährlichen Mission zu betrauen, als »politischer Gesandter des zivilen Kampfs« zur inzwischen
nach London übersiedelten Exilregierung zu reisen, erhielt er den
Decknamen Jan Karski. Und das blieb sein Name (vgl. Kap. ).
»Ich möchte Sie bitten, dass Sie vor Ihrer Abreise nach London
Vertreter der jüdischen Organisationen treffen. Werden Sie das
tun?«
»Natürlich, Herr Bevollmächtigter.«
»Sie werden Instruktionen der politischen Parteien mitnehmen.
Sie [die jüdischen Vertreter] gehören diesen Parteien nicht an, aber
sind ebenfalls polnische Bürger. Wenn sie etwas übermitteln möchten, sollten Sie es sich anhören.«
Diese Worte von Cyryl Ratajski (vgl. Kap. , Anm. ), die Jan
Karski  gegenüber seinem Biografen zitierte, werfen ein zusätzliches Schlaglicht auf die ersten Zeilen des  verfassten, unvergesslichen Kapitels »Das Getto«, das mit der Begegnung mit dem
Bund-Führer Leon Feiner und seinem zionistischen Begleiter beginnt. Der offizielle Teil der »jüdischen Mission« Karskis war, Ersuchen an die Exilregierung zu überbringen und Anweisungen an
die beiden Vertreter der jüdischen Minderheit im Nationalrat in
London, den zionistischen Anwalt Ignacy Schwarzbart und den
Bund-Vertreter, den Arbeiter Szmul Zygielbojm. Karski wusste bereits, dass die jüdische Unterabteilung des Büros für Information
und Propaganda der Heimatarmee alle Berichte über die »große
Aktion« im Warschauer Getto auf Mikrofilm gebracht hatte: die
Vernichtung der Juden, verbunden mit den Namen Treblinka,
Bełżec, Sobibor. Doch in Warschau wusste man auch, dass die Verantwortlichen in London und New York all die Berichte für »über
trieben« hielten. Deshalb willigte Jan Karski ein, neben seiner offiziellen Mission die zusätzliche, freiwillige des »Augenzeugen« zu
übernehmen, und riskierte dafür sein Leben. Es galt, die Verantwortlichen zu überzeugen, dass die beschriebenen Schrecken Realität waren, und Hilfe zu mobilisieren.
Die kostbaren Mikrofilme, die Jan Karski in einem Schlüssel
verborgen nach Paris brachte, gelangten am . November  in
die Hände der Exilregierung in London. Als die polnischen Vertreter am . November endlich ihren Kurier Karski bei den britischen
Behörden abholen konnten, beruhigte man ihn: Bereits am . November sei ein erster zweiseitiger zusammenfassender Bericht über
die Vernichtung der Juden in Polen an mehrere alliierte Regierungen sowie jüdische Vertreter und Organisationen in London gegangen. Renommierte Experten wie Richard Breitman haben
nachgewiesen, dass dieser erste »Karski-Bericht« entscheidend war
als Bestätigung der Informationen, die Gerhart Riegner, der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz, im August 
übermittelt hatte und die man in den Vereinigten Staaten immer
noch bezweifelte.
Am . Dezember  überbrachte Karski die Hilfeersuchen
persönlich, die verzweifelten Appelle aus dem Getto an die beiden
Vertreter der polnischen Juden im Nationalrat. Das polnische Kabinett hörte ihn an, und vor allem unterhielt sich Außenminister
Edward Raczyński bei einem langen Abendessen mit ihm; Raczyński hatte den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Karskis Informationen
innerhalb der britischen Regierung und in der Öffentlichkeit verbreitet wurden. Raczyński selbst sprach am . Dezember in der
Abendsendung der BBC dazu und bezog sich ausdrücklich auf
Karski (vgl. Bildteil).
Anfang Februar  wurde Karski auch zweimal vom britischen Außenminister Anthony Eden empfangen. Die Polen waren
enttäuscht, dass Eden jeden direkten Zugang zu Churchill unterband. Die Entscheidung, den Kurier Karski im Mai  in die Ver
einigten Staaten zu schicken, hing mit der Verschlechterung der
polnisch-sowjetischen Beziehungen zusammen (Entdeckung des
Massakers von Katyń).
In den Vereinigten Staaten verfolgten die Polen eine andere Strategie, um zu Roosevelt durchzudringen. Der polnische Botschafter
Ciechanowski lud Anfang Juli verschiedene Verantwortliche der
amerikanischen Regierung ein – unter anderem auch den Richter
am Obersten Gerichtshof Felix Frankfurter. Er wollte ihnen begreiflich machen, wie wichtig die Informationen waren, die dieser
Abgesandte des polnischen Widerstands mitgebracht hatte, der außerdem ein Augenzeuge der Tragödie des jüdischen Volks war. Am
Morgen des . Juli  wurde der Botschafter eingeladen, um elf
Uhr zusammen mit Jan Karski Präsident Roosevelt aufzusuchen
und ihm den jungen Kurier vorzustellen. Aus den verschiedenen
Berichten, die Karski von diesem Gespräch gegeben hat, wird deutlich, dass Roosevelt die Situation in Polen und an den polnischen
Grenzen (»No more Polish corridor«) sowie die Notwendigkeit einer Verständigung mit den Sowjets in den Vordergrund rückte. Auf
Karskis Frage, welche Botschaft des Präsidenten der Vereinigten
Staaten er seinem Volk überbringen solle, antwortete Roosevelt:
»Sagen Sie ihnen: Wir werden diesen Krieg gewinnen.« Und er fügte hinzu: »Sagen Sie ihnen, dass sie im Weißen Haus einen Freund
haben.« Im Übrigen sprach Karski noch von der »Herrscherhand«,
die Roosevelt ihm über seinen Schreibtisch hinweg reichte.
Jan Karski hat immer betont, wie sehr ihn die Macht beeindruckte, die Roosevelt verkörperte. Aber sehr bald dachte er wohl
auch über eine Bemerkung nach, die Botschafter Ciechanowski in
dem Wagen, der sie beide zur Botschaft zurückbrachte, gemacht
hatte: »Nun, viel gesagt hat der Präsident nicht.«
Als Karski aus den Vereinigten Staaten nach London abreiste, wo er
am . September  eintraf, hatte er die feste Hoffnung, sofort
nach Polen zurückgeschickt zu werden. Aber Premierminister Sta
nisław Mikołajczyk teilte ihm mit, dass das für lange Zeit nicht zur
Debatte stehe: Er war »verbrannt«, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen.
In deutschen Funksprüchen war die Rede von einem »gewissen Jan
Karski, [der] sich in den Vereinigten Staaten herumtreibt … ein bolschewistischer Agent, finanziert vom amerikanischen Judentum«.
Daraufhin bat Karski, sich der Armee anschließen zu dürfen, aber
das wurde ihm gleichfalls verwehrt. Er musste in London bleiben,
dem Premierminister zur Verfügung stehen und all seine Popularität dafür einsetzen, einer prosowjetischen Presse die Stirn zu bieten,
die entschlossen war, der »reaktionären Regierung« die Legitimität
abzusprechen und sogar die Loyalität der Heimatarmee infrage zu
stellen. Überdies zwang Anthony Eden Mikołajzyk am . Oktober
, Stalins Territorialforderungen unverzüglich nachzugeben, sobald Polen ein Ausgleich in Ostpreußen und Schlesien zugesichert
würde. Jan Karski begann eine neue Vortragsreihe über den polnischen Widerstandskampf; das Material dafür bekam er laufend aktuell von dem geheimen Radiosender Świt in Bletchley, in dessen
Arbeit er wieder mit einbezogen wurde. Ab Herbst  sprach er
systematisch vom Untergrundstaat: »The Polish Underground
State.« Sein erster Artikel mit diesem Titel erschien am . Dezember  in der Polish Fortnightly Review, dem Organ des polnischen
Informations- und Propagandaministeriums.
Unterdessen machten Churchill und Roosevelt auf der Konferenz von Teheran (. November bis . Dezember ) Stalin alle
gewünschten Zugeständnisse hinsichtlich Polen wie auch des übrigen Mittel- und Osteuropa. Als etwas davon durchsickerte, bestritt
Anthony Eden die Zugeständnisse am . Dezember  vor dem
Unterhaus und Franklin D. Roosevelt am . Januar  vor dem
Kongress. Unterdessen wartete Mikołajczyk auf die erbetene Audienz in Washington. Er hatte beschlossen, Karski mitzunehmen,
und im Hinblick auf die Reise bereitete Karski mit dem Leiter des
Informationsministeriums, Professor Stanisław Kot, ein Propagandaprogramm zur Verteidigung Polens in der amerikanischen öf
fentlichen Meinung vor. Nun wurde die Idee für einen Film über
den polnischen Widerstand aufgegriffen, den Karski im Sommer
zuvor vorgeschlagen hatte. Karski sollte das Drehbuch schreiben
und die Dokumentation übernehmen.
Am . Februar  wurde Karski ohne weitere Verzögerung
allein nach Washington geschickt. Botschafter Ciechanowski sollte
sich um ihn kümmern und im Übrigen seine amerikanischen Gesprächspartner in Kenntnis setzen, dass Karski bis Kriegsende nicht
nach Polen zurückkehren konnte. »Diesmal hat Herr Karski die
Aufgabe, mit Ihrer Hilfe, Herr Botschafter, einen großen Film über
den polnischen Widerstand fertigzustellen«, schrieb der neue Außenminister Tadeusz Romer. »Die Regierung misst dieser Aufgabe
allergrößte Bedeutung zu.« Materielle Hilfe wurde indes nicht gewährt, Karski musste »unseren Plan als Privatinitiative verwirklichen… Im Übrigen«, fuhr Romer im Namen des Premierministers fort, »wird Karski eine Reihe von Vorträgen halten und Artikel
für polnische und amerikanische Zeitungen in der Region um Chicago und an der Westküste schreiben.« (In Stanisław M. Jankowski,
Karski. Raporty, a.a.O.)
Jan Karski traf am . Februar  in Washington ein und stellte sehr schnell fest, dass er keine Chance auf Erfolg hatte, denn Hollywood war »an polnischen Themen nicht interessiert«. Doch die
Amerikaner hatten ihn nicht vergessen, sein Name war bekannt,
seine Vorträge fanden Zulauf. Botschafter Ciechanowski riet ihm,
ein Buch zu schreiben, und schickte den Presseattaché der Botschaft
auf die Suche nach einem Literaturagenten. Er fand Emery Reeves.
Am . März  telegrafierte Jan Karski an den für ihn zuständigen Minister Stanisław Kot in London: »Die Agentur Emery Reeves, die auch Churchill, Eden und Duff Cooper auf dem amerikanischen Markt vertreten hat, will ausgehend von dem, was ich
erlebt habe, ein Buch über den polnischen Widerstand herausbringen. Sie denken, dass das Buch großes Aufsehen erregen wird. Ich
bereite das Material dafür vor, es sollen ein paar Hundert Seiten

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