Anthroposophie und Psychologie 3 Andreas Meyer Anthroposophie und Psychologie Wege zu einer spirituellen Psychologie In der heutigen universitären Psychologie stellt die Frage nach Seele und Geist ein grundlegendes Problem dar. Eine wissenschaftlich fundierte spirituelle Psychologie existiert bisher erst in Anfängen, ebenso eine Methodologie zur Erforschung des Bewusstseins aus einer Ersten-Person-Perspektive. Rudolf Steiner hat es gegenüber Franz Löffler als »eine anthroposophische Aufgabe« bezeichnet, »eine neue Psychologie zu schaffen«, die vor allem eine »spirituelle Betätigung« sein werde. Darin liegt bis heute eine wichtige Zukunftsaufgabe. Der vorliegende Artikel soll zeigen, ob und in welcher Weise Anthroposophie bereits eine spirituelle Psychologie in sich enthält und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, um eine wissenschaftliche Anschlussfähigkeit zu erreichen. Wie und wodurch kann eine »Spiritualisierung« der Psychologie erreicht und gerechtfertigt werden? Eine solche Begründung setzt zunächst voraus, sich die Geschichte und Erkenntnismethodik der heutigen Psychologie zu vergegenwärtigen. Eine weitere Bedingung ist die methodische Erweiterung des Bewusstseins durch Aufmerksamkeitsschulung und erkenntnisorientierte Meditation. Auf dieser Grundlage könnte die Entwicklung einer introspektiven Wissenschaft gelingen, die zugleich eine geistige Aufgabe Mitteleuropas – die seit der Zeit des deutschen Idealismus weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden ist – einlösen und überdies an andere westliche spirituelle Traditionen anknüpfen würde, die bisher zu wenig Beachtung fanden. Vom Pionier der kognitiv-psychologischen Forschung, Hermann Ebbinghaus stammt der Satz: »Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.«2 Zu dieser Vergangenheit gehört die Frage nach Seele und Geist in der Philosophie, Theologie und Medizin. Bereits Platon entwickelte eine Seelenlehre. Ein weiterer Traditionsstrang hat mit der von WolfUlrich Klünker vielfach beschriebenen aristotelischen Psychologie zu tun.3 Er führt von Aristoteles – der sich mit dem Verhältnis von Seele und Geist befasste – zu Thomas von Aquin – der sich mit dem Leib-Seele-Problem auseinandersetzte4 – hin zum vieldie Drei 2/2016 1 Kurt Vierl: ›Psychologie als spirituelle Betätigung‹, Stuttgart 1994, S. 11. 2 Hermann Ebbinghaus: ›Abriss der Psychologie, Leipzig 1908, S. 1. 3 Vgl. Wolf-Ulrich Klünker: ›Selbsterkenntnis der Seele. Zur Anthroposophie des Thomas von Aquin‹, Stuttgart 1990; sowie ders.: ›Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung‹, Stuttgart 1997. 4 Vgl. Godehard Brüntrup: ›Das Leib-Seele-Problem‹, Stuttgart 20083, S. 147. 4 5 Vgl. Rudolf Steiner: ›Vom Menschenrätsel‹ (GA 20), Dornach 19835, S. 165; sowie Vortrag vom 10.10.1918. in ders.: ›Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie‹ (GA 73), Dornach 19872). 6 Vgl. Vortrag vom 14.10. 1917 in ders.: ›Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis‹ (GA 177), Dornach 20136. 7 Vgl. Wolfgang Schönpflug: ›Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium‹, Weinheim 20042, S. 279f. 8 Vgl. John J. Miller: ›Book Review: Textbook of Transpersonal Psychiatry and Psycho­ logy‹ in: ›Psychiatric Services‹ 49 (April 1989), S. 541–42. 9 Vgl. Ulrich Weger: ›Die Frage nach Seele und Geist im Psychologiestudium‹ in: die Drei 2/2014, S. 33ff. 10 Vgl. Marek Majorek: ›Can the brain cause consciousness?‹ in: ›Journal of Consciousness Studies‹ Nr. 19 (2012), S. 121ff; sowie Johannes Wagemann: ›Gehirn und menschliches Bewusstsein. Neuromythos und Strukturphänomenologie‹, Aachen 2010. Andreas Meyer leicht letzten Repräsentanten dieser Strömung, Franz Brentano (1838-1917). Steiner wies mehrfach auf Brentano als »bedeutenden Seelenforscher« hin.5 Avicenna untersuchte bereits um 1000 n. Chr. psychische Erkrankungen und auch René Descartes (1596-1650) beschäftigte sich mit der Existenz der Seele. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Psychologie reichen also weit in die Vergangenheit zurück; als eigenständiges wissenschaftliches Forschungsgebiet gibt es die Psychologie jedoch erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Ihr Beginn als akademische Disziplin wird üblicherweise mit Wilhelm Wundt in Verbindung gebracht, der 1879 das erste Labor zur Erforschung psychologischer Phänomene an der Universität Leipzig begründete. (Das Jahr 1879 fällt mit dem von Steiner beschriebenem Beginn des Michael-Zeitalters und dem »Sturz der Geister der Finsternis« durch den Erzengel Michael zusammen.)6 Geistesgeschichtlich gesehen war in der Psychologie und Philosophiegeschichte immer schon eine spirituelle Psychologie in dem Sinne veranlagt, dass der Spiritus (lat. Geist, Hauch und spiro = »ich atme«) sowie die Psyche (altgriech. Ψυχh = die Seele) als »Geistigkeit« den Forschungsgegenstand darstellten. Dazu gehörten auch die Fragen nach der nachtodlichen Existenz der Seele und den Erkenntnismöglichkeiten und Grenzen des menschlichen Bewusstseins. Durch die Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert wurde die Frage nach dem Geist und der nachtodlichen Existenz der Seele aus der Psychologie ausgeklammert und an die Theologie delegiert.7 John Miller, Mitglied der ›American Psychiatric Association‹, merkte an, dass die westliche Psychologie eine Tendenz hat, die spirituelle Dimension der menschlichen Psyche zu ignorieren.8 Trotzdem kann bemerkt werden, dass auch nach zweihundert Jahren Aufklärung und moderner »Wissenschaftlichkeit« ein Bedürfnis nach Spiritualität und Ritualen im Menschen zurückbleibt, welches sich nicht auflöst. Gleichwohl haben die führenden Vertreter der universitären Psychologie bis heute Vorbehalte, von Seele oder Geist zu sprechen. Diese Begriffe werden als unwissenschaftlich betrachtet und für beide Gebiete werden alternative Erklärungen, wie etwa die Reduktion auf Hirnprozesse angeboten.9 Bei genauerer Betrachtung bieten diese Ansätze jedoch keine tragfähige Erklärung für den Großteil psychologisch beobachtbarer Tatbestände. Dies im Einzelnen nachzuweisen sprengt den Rahmen dieser Ausführungen und ist auch bereits ausführlich an anderer Stelle geschehen.10 die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie 5 Die Anthroposophie als Geistes-Wissenschaft, basierend auf »seelischer Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode«11, wie von Rudolf Steiner entwickelt, bietet sich als Weg zur Erforschung des Seelischen und Geistigen prinzipiell an. Sofern anthroposophische Forschung im Bereich der Psychologie wissenschaftlich anschlussfähig werden will, müsste ihr Potenzial als Erkenntniswissenschaft des menschlichen Bewusstseins nach stärker als bisher entfaltet und mit den Fragestellungen der Psychologie in Verbindung gebracht werden. Will man Introspektion als methodisches Werkzeug rechtfertigen und einsetzen, so muss man bis auf die methodologischen Wurzeln der heutigen Psychologie zurückgehen.12 Eine wissenschaftliche Anschlussfähigkeit der Anthroposophie im Bereich der Psychologie würde weiter voraussetzen, nicht die bereits geschichtlichen Inhalte der Anthroposophie zu wiederholen und neben die Wissenschaft zu stellen, sondern mittels eines meditativ geschulten, lebendigen Denkens die Geschichte, Erkenntnisvoraussetzungen und Methodologie der modernen Psychologie so zu durchdringen, wie Steiner es in der ›Philosophie der Freiheit‹ mit den gängigen philosophischen Strömungen seiner Zeit tat. Blickt man mit dieser Fragestellung auf das Gebiet der Psychologie, so stellt man fest, dass es weder die Psychologie gibt – sondern verschiedenste Strömungen – und ebenso keine einheitliche Methodologie, geschweige denn eine fundierte Erkenntnistheorie. Zusammenfassend gesagt, ist die heutige Psychologie die Wissenschaft vom Verhalten, Erleben und Bewusstsein des Menschen. Kann Verhalten bis zu einem gewissen Grade mit experimenteller Forschung von außen erforscht und beschrieben werden, so eignet sich dieser Ansatz jedoch nicht zur Erforschung der inneren Dimension von Erleben und Bewusstsein. Zudem sind der methodologische Ansatz und die Erkenntnisgrundlagen der verschiedenen psychologischen Strömungen ganz unterschiedlich. Deshalb soll hier zuerst, in sehr verdichteter Form, die Entwicklung der modernen Psychologie mit ihren verschiedenen Ausprägungen skizziert werden. 11 Siehe Rudolf Steiner: ›Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode‹ (GA 4), Dornach 1995; vgl. auch Jürgen Strube: ›Die Beobachtung des Denkens. Rudolf Steiners »Philosophie der Freiheit« als Weg zur Bildekräfte-Erkenntnis‹, Dornach 20112. 12 Vgl. Johannes Wagemann & Ulrich Weger: ›Bedingungen und Möglichkeiten einer Psychologie der Ersten Person‹, eJournal ›Philosophie der Psychologie‹ 2015: www.jp.philo. at/texte/WagemannJ1.pdf Durch Johann Friedrich Herbart (1776-1841) – der 1816 ein ›Lehrbuch zur Psychologie‹ herausbrachte –, durch die neuropsychologischen Studien eines Charles Bell (1774-1842) und die sinnesphysiologischen Forschungen von Johannes Peter Müller (1801-1858), Ernst Heinrich Weber (1795-1878), Hermann von Helmholtz (1821-1894) und Gustav Theodor Fechner (1801- Zur Geschichte der universitären Psychologie die Drei 2/2016 6 13 Vgl. Scipio Sighele: ›Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen‹, Dresden & Leipzig 1897; sowie Gustave Le Bon: ›Psychologie der Massen‹, Hamburg 2009. Andreas Meyer 1887), kam von Anfang an eine starke materialistische Prägung in die Psychologie hinein. Charles Darwin (1809-1882) begründete mit seinem Vergleich zwischen Mensch und Tier 1872 die vergleichende Verhaltensforschung. Diese Arbeiten werden als erste Ansätze empirischer Forschung nach wissenschaftlichen Kriterien in diesem Bereich angesehen. Als weitere Vorläufer des universitären Stromes der Psychologie gelten Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Moritz Lazarus (1824-1903) und der Philosoph und Linguist Heymann Steinthal (1823-1899), die im 18. und 19. Jahrhundert als Begründer der Völkerpsychologie gelten. Die Völkerpsychologie führte in Verbindung mit der von Gustave Le Bon (1841-1931) und Scipio Sighele (1868-1913) begründeten Massenpsychologie zur heutigen Sozialpsychologie.13 Wilhelm Wundt, der 1874 die ›Grundzüge der Physiologischen Psychologie‹ veröffentlichte, beschäftigte sich vor allem mit Wahrnehmungsphysiologie und lehrte Psychologie aus Sicht der Naturwissenschaften in Heidelberg. Als er 1875 seine Lehrtätigkeit in Leipzig aufnahm, vertrat er die Idee, dem Einfluss der Naturwissenschaft auf die Philosophie Geltung zu verschaffen. Er sah die Psychologie zwischen Philosophie und Physiologie sowie zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften und arbeitete erstmals eine psychologische Methodologie heraus, die sich explizit an empirisch-experimenteller Naturwissenschaft orientierte. Auch in den USA wurde die experimentelle Psychologie Wundts vorbehaltlos aufgenommen und die universitäre Psychologie folgte bis heute diesem Selbstverständnis. Ein anderer Strom, der zur Begründung verschiedener psychologischer Schulen führte, entwickelte sich zeitgleich durch die Arbeit Franz Brentanos. Er verband die Philosophie eng mit der Psychologie und orientierte sich an Oswald Külpe (1862-1915), dem Begründer der Würzberger Schule der Denkpsychologie. Aus diesem Strom entstand die Gestaltpsychologie, die später von Kurt Lewin (1890-1947) zur Feldtheorie der Sozialwissenschaften weiterentwickelt wurde. Damit wurde Lewin zu einem der Begründer der modernen experimentellen Sozialpsychologie, neben Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka. In den 1970er Jahren lösten die Hirnforschung und die Auseinandersetzung mit der Informationsverarbeitung weitgehend den Behaviorismus als führendes Paradigma ab und es begann die sogenannte Kognitive Wende in der Psychologie. Themen wie Aufmerksamkeit, Selbstwahrnehmung, Denken, Bewusstsein, die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie 7 Kognition und Emotionen traten in den Vordergrund, die der Behaviorismus mit seiner Blackbox-Psychologie unberücksichtigt ließ. Tragischerweise, aber dennoch folgerichtig, wurde der Computer zur Metapher des menschlichen Geistes und man erklärte das menschliche Innenleben mit neuronaler Tätigkeit. Auch die kognitiven Neurowissenschaften haben sich inzwischen vielfältig verzweigt, wofür die sogenannte Netzwerktheorie, Einflüsse aus dem Konstruktivismus, der Kybernetik und Systemtheorie nur beispielhaft genannt seien. Die nebeneinander existierenden verschiedenen Ansätze haben das Fach Psychologie inzwischen äußerst komplex gemacht. Im Folgenden sei eine kurzer Überblick der wichtigsten Strömungen gegeben. Der Behaviorismus (Verhaltensforschung oder »Lehre des Verhaltens«) wurde 1913 durch den amerikanischen Psychologen John B. Watson (1878-1958) begründet, der auf den Forschungen seines amerikanischen Kollegen Edward Lee Thorndike (18741949) und des russischen Mediziners und Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936) aufbaute. Er befasst sich ausschließlich mit beobachtbaren Verhaltensweisen, während nicht beobachtbare Dimensionen wie Erleben, Bewusstsein, Motiva­ tion oder Gefühle als nicht relevant erachtet werden. Der Mensch wird gemäß diesem Menschenbild als ein Wesen betrachtet, das fast vollständig von Stimuli aus der Umwelt gesteuert wird. Jede Art von Verhalten sei sowohl er- als auch wieder verlernbar. Später entwickelte sich Burrhus Frederic Skinner (1904-1990) zu einem der wichtigsten und prominentesten Vertreter, der wesentliche Beiträge zur Lernpsychologie leistete und das Konzept der operanten Konditionierung entdeckte. Während die von Pawlow erforschte klassische Konditionierung sich auf die Abfolge von Reiz und Reaktion beschränkte, beschrieb Skinner, wie die folgende Konsequenz (Belohnung oder Bestrafung) Verhalten fördert oder verhindert. Diese Theorien wurden bis heute vielschichtig weiterentwickelt und beeinflussten viele Teilgebiete der Allgemeinen Psychologie, wie die Klinische Psychologie und die Verhaltenstherapie. Das dahinterstehende Menschenbild, das keinen Raum für Seele oder Geist lässt, hat sich jedoch nicht verändert. Allerdings liegt darin doch eine gewisse Klarheit und Konsequenz: Man vermeidet jegliche Spekulation über die interne Dimension des Menschen (Erleben und Bewusstsein) und beschränkt sich auf die mit gewöhnlicher Sinneswahrnehmung erforschbare externe Dimension, das Verhalten. die Drei 2/2016 Der Behaviorismus Andreas Meyer 8 Die Psychoanalyse Über die Entwicklung der Psychoanalyse und den schicksal- 14 Vgl. Rudy Vandercruysse: ›Die therapeutische Dimension des Denkens. Anthroposophische Aspekte zur Psychoanalyse‹, Stuttgart 1999. 15 Vgl. das Kapitel ›Die Entdeckung des Unbewussten bei Nerval und Gautier‹ in Andreas Meyer: ›Zwei Orientreisende und ihre Suche nach dem wahren Selbst. Théophile Gautier und Gérard de Nerval‹, Aachen 2016. 16 Vgl. Sigmund Freud: ›Die Traumdeutung‹, Leipzig & Wien 1939, S. 415. 17 Vgl. Manfred Krüger: ›Gérard de Nerval. Darstellung und Deutung des Todes‹, Stuttgart 1966. 18 Vgl. Gérard de Nerval: ›Die Töchter der Flamme. Erzählungen und Gedichte. Werke III‹ hrsg. v. Norbert Miller und Friedhelm Kemp, München1989, S. 361ff. 19 Vgl. Théophile Gautier: ›Der Haschischklub. Phantas­ tische Erzählungen‹ (Literarische Kunststücke Bd. 5), Berlin 2015. 20 Vgl. Andreas Meyer: ›Verführung durch einen Geist. Die Suche nach der »wahren Heimat« in Théophile Gautiers »Spirita«‹, Norderstedt 2015. 21 Vgl. Gerhard Wehr: ›Friedrich Nietzsche. Der »SeelenErrater« als Wegbereiter der Tiefenpsychologie‹, Freiburg i. Br. 1982. 22 Sigmund Freud: ›Gesammelte Werke Bd. 14‹ hrsg. von Anna Freud, Frankfurt a.M. 1968, S. 86. haften Bezug Rudolf Steiners dazu wurde in anthroposophischen Zusammenhängen bereits einiges veröffentlicht.14 Allerdings ist die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse nur ein Teilaspekt der notwendigen Auseinandersetzung zwischen Anthroposophie und Psychologie. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Psychoanalyse sind bisher noch nicht vollständig erforscht und ausgewertet. Eine Spur führt zurück zum Mesmerismus, der von Franz Anton Mesmer (1734–1815) in Frankreich propagiert wurde. Sigmund Freud (1856-1939) hat sich damit ebenso intensiv befasst wie mit der Hypnosetherapie des bedeutenden französischen Arztes Jean-Martin Charcot (18251893), dessen Schüler er war. Weitere Bezüge bestehen zu den französischen Schriftstellern Gérard de Nerval (1808-1852) und Théophile Gautier (1811-1872). Beide thematisierten das Unbewusste, suchten nach Erkenntnis der Seele und ihrer früheren Existenzen, beschrieben die Seelenwanderung, DoppelgängerErlebnisse und lebten in der Gewissheit der Unsterblichkeit der Seele.15 Für Nerval wurde der Traum, den Freud später als Via regia (=Königsweg) zum Unbewussten bezeichnete,16 zum zweiten Leben. Er entwickelte ein erstaunliches Krankheitsverständnis, befasste sich intensiv mit dem Tod17 und lieferte u.a. in ›Aurelia‹18 eine tiefe Introspektion, die ihresgleichen sucht. Gautier bildete Begriffe, die Freud später als seine Entdeckungen ausgab. Er erforschte die Seele aus künstlerischer Phantasie und beschrieb als Erster in Frankreich Experimente mit halluzinatorischen Drogen19 – ein Impuls, der in den 1960er Jahren durch die Transpersonale Psychologie wieder aufgenommen wurde. In seinem letzten vermächtnishaften Werk ›Spirita‹ schildert er die Verbindung zu einem Geistwesen.20 Gautier starb 1872 und übergab geistig den Stab an Friedrich Nietzsche, der im gleichen Jahr seine Erstlingsschrift ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ veröffentlichte, die eine Art Kunstpsychologie enthält. Nietzsche wurde vielfach als Ahnherr der Psychoanalyse angesehen.21 Freud bewunderte ihn und bekannte zugleich: »Nietzsche, […]dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden«.22 Eine Fülle späterer »freudscher Begriffe« wie die sogenannten »Triebschicksale«, die Mechanismen der »Verinnerlichung«, die »Wendung gegen das eigene Ich«, die »Sublimierung« oder »Projektion« finden sich schon wörtlich bei Nietzsche und auch den die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie 9 Gruppenbild des Psychoanalytischen Kongresses von 1911 in Weimar, mit Sigmund Freud und C.G. Jung in der Mitte sowie Lou Andreas-Salomé (1. Reihe, 2. von links) Begriff des »Es« hatte Freud bei Georg Groddeck und dieser bei Nietzsche entliehen.23 Der Freud-Biograph Ernest Jones wies darauf hin, dass Freud in Bezug auf Nietzsche mehrfach bemerkte: »Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden«; »Nietzsche habe eine tiefere Selbsterkenntnis gehabt, als je ein Mensch vor oder nach ihm«.24 Interessant ist die Tatsache, dass Freud diesen Zusammenhang zu seinen Lebzeiten verbergen wollte. Im Briefwechsel, den Freud und Arnold Zweig (1887-1968) zwischen 1927-1939 führten, teilte Zweig Freud mit, ein Nietzsche-Buch zu schreiben und darin auch auf Freud und seine Beziehung zu Nietzsche einzugehen: Freud antwortete dazu: »Schreiben Sie es einmal wenn ich nicht mehr da bin und Sie von der Erinnerung an mich heimgesucht werden.«25 Allen genannten Ahnherren der Psychoanalyse ist gemeinsam, dass ihr Streben mit der Suche nach der Seele und dem Geist zu tun hatte und erste Ansätze einer spirituellen die Drei 2/2016 23 Vgl. dazu meine ausführliche Darstellung ›Nietzsche und die Psychologie‹ in Andreas Meyer: ›Nietzsche und Dionysos. Eine Suche nach den Quellen des Lebens‹, Basel 2015, S. 85–99. 24 Ernest Jones: ›Das Leben und Werk von Sigmund Freud‹ Bd. II, Bern 1960, S. 405f. 25 Sigmund Freud & Arnold Zweig: ›Briefwechsel‹ hrsg. von Ernst L. Freud, Frankfurt a. M. 1969, S. 37. 10 26 Rudolf Steiner: ›Mein Lebensgang‹ (GA 28), Dornach 19838, S. 136 f. 27 Ders.: ›Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen‹ (GA 178), Dornach 19803, S. 135 u. 144. 28 A.a.O., S. 111ff. u. 124. 29 Ders.: ›Drei Perspektiven der Anthroposophie. Kulturphänomene, geisteswissenschaftlich betrachtet‹ (GA 225), Dornach 19902, S. 147. Andreas Meyer Psychologie veranlagt waren. Aufgrund der fehlenden Methodologie konnte dieser Impuls aber noch nicht durchdringen. Das gilt auch für die Beziehung Freuds zu Josef Breuer (18421925), mit dem er im Jahre 1895 seine ersten psychoanalytischen Fallstudien veröffentlichte. Steiner arbeitete zur Zeit der Entstehung der Psychoanalyse im Hause der Familie Specht als Hauslehrer. Dort lernte er Dr. Breuer als Hausarzt kennen und schätzen und schilderte ihn als »anziehende Persönlichkeit«, die er bewunderte und als einen »vielseitig interessierten Geist«, ausgezeichneten Arzt, kulturell interessiert und voller Feingeis­ tigkeit.26 Breuer und Freud forschten zunächst gemeinsam, bis sie sich schließlich Ende der 90er Jahre aufgrund fachlicher Differenzen trennten. Zum Zeitpunkt von Nietzsches Tod im Jahre 1900 erschien von Freud ›Die Traumdeutung‹. Auf dem Umschlag des Buches findet sich das berühmte lateinische Motto der editio princeps: »Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo« aus Vergils ›Aeneis‹, was übersetzt werden kann mit: »Wenn ich die himmlischen Götter nicht erweichen kann, so werde ich die Hölle in Bewegung setzen«. Damit ist viel gesagt. Aus einer möglichen »Höhenpsychologie«, die das Seelische aus geistiger Perspektive versteht, wurde eine »Tiefenpsychologie«, die Seelisches aus der Sexualität heraus erklärt. Damit stellte Freud die Sache praktisch auf den Kopf. Im gleichen Jahr eröffnete Alfred Adler (1870-1937) seine private Praxis in Wien und Carl Gustav Jung (1875-1961) begann 1900 seine Tätigkeit als Assistent in der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich. Die Psychoanalyse hat bis heute eine vielschichtige Entwicklung genommen. Doch trotz aller Entwicklungen und Verästelungen ist die Kritik Steiners an der damaligen, von ihm erlebten Psychoanalyse nach wie vor berechtigt. Sie »hat wenigstens die Menschen aufmerksam gemacht« auf Seelisches und wäre ein Weg, »aus dem bloßen Materialismus herauszukommen und das Seelische ins Auge zu fassen«.27 Zugleich bescheinigt er für das zu erforschende Gebiet des Seelischen der Psychoanalyse mehrfach »unzulängliche Erkenntnismittel«, und »Viertelswahrheiten«, die »unter Umständen schädlicher sein [können] als ganze Irrtümer«, womit er vor allem auf die schädliche Wirkung von falschen Gedanken im Nachtodlichen hinweist.28 Die härteste Kritik ist sicher die Formulierung »Dilettantismus im Quadrat«.29 Auch wenn die Psychoanalyse heute innerhalb der klinischen Psychologie als Paradigma gilt, so ist dennoch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen bis heute umstritdie Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie 11 ten, ob sie als Wissenschaft anzusehen sei. Sie wird vielfach als komplexes Theoriegebäude zwischen Medizin (Neurologie), Psychiatrie, Philosophie und Metaphysik verortet oder auch als hermeneutische Methode der Literaturwissenschaft. Die »Humanistische Psychologie« entstand in den 50-er Jahren und bezeichnete sich als »dritte Kraft« der Psychologie. Die Hauptvertreter dieser Strömung – Charlotte Bühler, Abraham Maslow und Carl Rogers – gründeten 1962 in den USA die ›American Association for Humanistic Psychology‹ und versuchten sich gegen das monokausale, deterministische und biologistische Verständnis des Menschen in der Psychoanalyse und gegen das mechanistische Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus abzugrenzen, bei gleichzeitiger Anerkennung der Errungenschaften dieser beiden Strömungen. Der eher lockere Verbund unterschiedlichster Ansätze wird weniger durch eine gemeinsame Theorie, sondern vielmehr durch ein gleichartiges Menschenbild und eine grundsätzliche Übereinstimmung in den Prinzipien therapeutischer Arbeit zusammengehalten. Zu den therapeutischen Hauptrichtungen der Humanistischen Psychologie gehören u.a. die Gestalttherapie (Fritz Perls), Gesprächspsychotherapie bzw. klientenzentrierte Psychotherapie (Carl Rogers), das Psychodrama (Jacob Levy Moreno) und die Logotherapie und Existenzanalyse (Viktor Frankl). Die weltanschaulichen Wurzeln liegen vor allem im Humanismus, dem Existenzialismus und in der Phänomenologie Edmund Husserls. Man stellte die Förderung der inneren Entwicklung, das Wachstum und die ganzheitliche Entwicklung einer Persönlichkeit in den Mittelpunkt, wandte sich gegen voreilige Deutung und Wertung und stellte verschiedene Postulate und Axiome eines humanistischen Menschenbildes auf. Zu den Grundannahmen der Humanistischen Psychologie gehört, dass der Mensch ein soziales Wesen und mehr ist als die Summe seiner Teile, dass er sein Bewusstsein entwickeln und seine Wahrnehmungen schärfen kann. Er ist grundsätzlich in der Lage, selbst zu entscheiden und seine Entwicklung zu bestimmen. Damit ist die Humanistische Psychologie dicht am Menschenbild der Anthroposophie und vieles dürfte vertraut klingen. Interessanterweise begann bei vielen Vertretern dieser Richtung die innere Suche mit dem Thema awareness (das engl. Adjektiv »aware« steht für »gewahr«, »bewusst«, »merken« und »Kenntnis haben von«, »unterrichtet sein über«) und mündete später in eine spirituelle Suche. Die »awareness« soll helfen, sich den Dingen – die Drei 2/2016 Die Humanistische Psychologie Andreas Meyer 12 30 Vgl. Reinhard Tausch, in: Ernst G. Wehner: ›Psychologie in Selbstdarstellungen‹ Bd. III, Bern 1992), S. 291. so wie sie sind – zu öffnen um angemessener handeln und selbstbestimmter leben zu können. Frankl thematisierte die Sinn-Frage als existenzielle und therapeutische Dimension. Perls nannte seine therapeutische Arbeit anfangs »Awareness-Therapy«. Die Dimension und Ausbildung der Aufmerksamkeit und Empathie ist auch bei Rogers der Kern seiner therapeutischen Wirkkraft. Von Kritikern wird der Humanistischen Psychologie eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit vorgeworfen, besonders gegenüber der Empirie- und Grundlagenforschung, die man für eine verantwortliche therapeutische Arbeit als Grundlage ansieht.30 Die gleiche Kritik trifft seit Jahren anthroposophisch-therapeutische Methoden, die ihre Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit nach den Kriterien der jeweils herrschenden universitären Strömung belegen sollen. Dadurch, dass in der Humanistischen Psychologie der ganze Mensch in den Mittelpunkt gerückt wird, können – in Verbindung mit innerer Entwicklung, Selbsterkenntnis und Aufmerksamkeitsschulung – durchaus spirituelle Erfahrungen eintreten. Es fehlt jedoch die wissenschaftliche Methodik, die im Sinne einer Bewusstseinsphänomenologie den Weg zur Erkenntnis von Seele und Geist begehbar machen würde. Während die behavioristische Sichtweise nur äußeres Verhalten beschreibt und zu erklären sucht, die Psychoanalyse eher archäologisch in der Vergangenheit bohrt und andere Ansätze zu sehr das Dann-und-Dort als Ziel betonen, wird in der Humanistischen Psychologie der Blick konsequent auf das Hier-und-Jetzt gerichtet. Eine vertiefte, meditative Betrachtung des menschlichen Bewusstseins würde jedoch zeigen, dass unser gewöhnliches Alltagsbewusstsein auch beim Versuch im »Jetzt« zu sein, immer zu spät kommt und nur das Vergangene, die Endprodukte einer Bewusstseinsaktivität (Gedanken und Vorstellungen) feststellt, nicht die aktuelle Bewusstseinstätigkeit. Auch der Quellort von Gefühlen und Willensimpulsen kann zunächst nicht in statu nascendi verfolgt werden. Genau das aber wäre eine der Voraussetzungen für eine spirituelle Psychologie. Spirituelle Ansätze Mit jenseits des normalen Wachbewusstseins liegenden und das der Psychologie normale Erkenntnisvermögen überschreitenden »psychischen Fähigkeiten« befasst sich u.a. die Parapsychologie. Sie wurde jedoch als etablierte Wissenschaft nie anerkannt, weil nur wenige Universitäten und private Institute eine insgesamt zu geringe Anzahl methodisch abgesicherter empirischer Untersuchungen die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie zu den behaupteten »paranormalen« Phänomenen lieferten. Der Begriff »Parapsychologie« geht auf Max Dessoir (1867-1947) zurück, der 1889 in der theosophischen Zeitschrift ›Sphinx‹ einen Artikel mit dem Titel ›Die Parapsychologie‹ veröffentlichte. In der Bundesrepublik existiert seit 1950 das Freiburger ›Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V.‹. Die 1954 begründete ›Abteilung für Psychologie und Grenzgebiete der Psychologie‹ am Psychologischen Institut der Universität Freiburg wurde 2001 geschlossen. Auch die Transpersonale Psychologie31 befasst sich mit der Erforschung veränderter Bewusstseinszustände außerhalb des »normalen« Wachbewusstseins, mit Ekstase und spirituellen Erlebnissen. Doch anstatt diese Zustände von innen her – aus einer Ersten-Person-Perspektive – zu erforschen (wofür eben die Erkenntnismethodik fehlt), greift man zur Beschreibung und Erklärung dieser Bewusstseinszustände auf religiöse Vorstellungen, den Zen-Buddhismus, Sufismus oder Hinduismus zurück. Der Begriff wurde Ende der 1960-er Jahre von Vertretern der Humanistischen Psychologie geprägt. Die wichtigsten Gründer und Theoretiker der Transpersonalen Psychologie sind u.a. Stanislav Grof, Anthony Sutich, Ronald D. Laing, Roberto Assagioli, und Ken Wilber. Von ihnen liegen Forschungen vor, die sehr nah an die Anthroposophie heranführen und kompatibel wären, wenn eine gemeinsame Methodologie im Sinne wissenschaftlicher Introspektion gefunden werden könnte. Weitere Ansätze, wie den von Claire Petitmengin, beschreibt Johannes Wagemann in seinem Beitrag (siehe S. 19). Neben der Analytischen Psychologie von C.G. Jung und der Logotherapie von Frankl hat auch Karlfried Graf Dürckheim mit der von ihm begründeten Initiatischen Therapie im westlichen Kontext Impulse zu einer spirituellen Psychologie gesetzt.32 In den letzten zwei Jahrzehnten fand ein explosionsartiger Anstieg psychologischer Projekte zur Meditationsforschung statt. Auch die Frage nach der Heilkraft des Gebetes und spiritueller Heilung wurde vielfach untersucht.33 Fast allen Forschungen ist gemeinsam, dass sie aus Dritter-Person-Perspektive, also von außen, die Bewusstseinszustände von Meditierenden erforschen wollen, ohne selbst die Erfahrungen gemacht zu haben. Eine weitere Bewegung, die von manchen Autoren als »dritte Welle der Verhaltenstherapie« bezeichnet wird, ist die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (engl. Mindfulness Based Cognitive Therapy, MBCT). Sie wurde von Zindel V. Segal, J. die Drei 2/2016 13 31 Marcus Klische: ›Transpersonale Entwicklung. Stufenweg des erleuchteten Geistes‹, Diss. Universität Duisburg-Essen, 2006. 32 Vgl. Andreas Meyer (Hrsg.): ›Seele und Geist. Ansätze zu einer spirituellen Seelentherapie‹, Flensburg 1993. 33 Harald Walach: ›Verfahren der Komplementärmedizin. Beispiel: Heilung durch Gebet und geistiges Heilen‹ in: ›Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz‹ Nr. 49 (2006), S. 788–795. Andreas Meyer 14 Mark G. Williams und John D. Teasdale entwickelt und bezieht Elemente der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (engl. Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR) von Jon Kabat-Zinn mit ein.34 Das »Spirituelle« dieser Methoden besteht darin, dass verschiedene achtsamkeitsbezogene Übungen aus dem Kontext östlicher Traditionen in Kombination mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen therapeutisch benutzt werden. Die Wirksamkeit dieses Therapieansatzes wird dann mit randomisierten kontrollierten Studien belegt. Ein Ansatz zu einer Forschungsmethodik für eine spirituelle Psychologie im Sinne einer systematisch geschulten Introspektion und Meditation ist darin nicht zu sehen. Anthroposophie Jede Wissenschaft braucht eine Erkenntnistheorie, ohne die sie und Psychologie bodenlos und verworren dasteht. Der Anspruch und die Mög- 34 Vgl. Zindel V. Segal, J. Mark G. Williams & John D. Teasdale: ›Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der Depression. Ein neuer Ansatz zur Rückfallprävention‹, Tübingen 2008. 35 Dorian Schmidt: ›Lebenskräfte – Bildekräfte. Methodische Grundlagen zur Erforschung des Lebendigen‹, Stuttgart, 2010. 36 Vgl. Christoph Hueck: ›»Natur, dein mütterliches Sein, ich trage es in meinem Willenswesen« – Ein Beitrag zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung‹ in: ›Anthroposophie‹, Johanni 2014, S. 105–19. lichkeit der Anthroposophie ist es, gesicherte Erkenntnisse über den Menschen zu erlangen, insbesondere über das Seelische und Geistige. Damit sind jedoch nicht neue spirituelle Theorien oder Erklärungsmodelle gemeint, sondern eine Erkenntnisform, die das erkennende Subjekt mit einbezieht und ein Bewusstsein des Bewusstseins anstrebt. Der Weg dazu beginnt entschieden beim Denken und bei Aufmerksamkeitsübungen, die zu einer Bewusstseinssteigerung und Transformation führen. Dadurch werden die Aktivitätsformen und Zustände des Bewusstseins erlebbar, wenn denn der Blick darauf gelenkt wird. Gleiches gilt auch für das Gebiet des Ätherischen bzw. der Erforschung der Lebenskräfte.35 Für eine klare und wissenschaftlich anschlussfähige Wahrnehmung des Ätherischen ist eine selbstreflexive und systematische Denk- und Beobachtungspraxis notwendig.36 Es geht daher nicht um Wissen, sondern um Fähigkeiten und spirituelle Praxis, die das Übersinnliche – und damit auch Seele und Geist – als Ereignis erfasst. Die Werke Steiners sind in diesem Sinne nicht zur Inhaltsvermittlung, sondern vor allem als Schulungswerke zu verstehen. Durch diese Selbstaktivierung wird eine wissenschaftliche Introspektion möglich, aus deren Erfahrungen eine Bewusstseinsphänomenologie und Beschreibung von seelisch-geistigen Vorgängen vollzogen werden kann. Mit der daraus möglichen Forschungsmethodologie einer »Psychologie aus Erster-Person-Perspektive«, oder »Erkenntnispsychologie« wäre eine erste wichtige Brücke zwischen Anthroposophie und Psychologie geschlagen und zugleich eine Grundlage für alle weitere Forschung gelegt. die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie Die daraus resultierenden Forschungsergebnisse können eigentlich nicht ohne weiteres als Information weitergegeben werden und sind nicht äußerlich beweisbar. Sie gleichen eher einer Wegbeschreibung, die jedoch so genau sein kann, dass die Bedingungen des Erlebens bei entsprechender Übung und Selbstaktivierung für jeden herstellbar sind. Damit löst sich ein, was die Humanistische Psychologie zwar bereits postuliert, aber nicht erkenntnistheoretisch untermauert hat: Das menschliche Erkennen steigert sich zur produktiven Teilnahme an der Welt und die Selbst-Verwirklichung durch Selbst-Aktivierung findet statt. Die Steigerung der Aufmerksamkeit und des Denkens allein wirkt bereits heilend und bringt frische seelische Kräfte hervor, statt diese nur zu zergliedern und deskriptiv zu analysieren. Damit ist eine entscheidende Grundvoraussetzung für eine spirituelle Psychologie beschrieben. Derart verwirklichte Anthroposophie wird zur schaffenden Psychologie, die Entwicklungs- und Heilkraft hervorbringt. Doch auch hier gilt: »Die wirkliche Kraft des Gedankens kennt nur derjenige, der ihn bei seiner Entstehung erlebt«.37 Es ließen sich eine große Fülle von Übereinstimmungen zwischen anthroposophischen Forschungsergebnissen und »Mitteilungen« mit psychologischen Befunden beschreiben. Doch Mitteilungen wie »Rudolf Steiner hat auch gesagt, dass…« begründen noch keine Wissenschaftlichkeit. Auch die beschriebenen allgemeinen Feststellungen zur therapeutischen Kraft des Denkens, der Aufmerksamkeit und Selbstaktivierung führen allein noch zu keiner spirituellen Psychologie als Erkenntniswissenschaft und zu keiner handhabbaren spirituellen Therapiepraxis. Dazu sind jeweils ganz spezifische Fähigkeiten notwendig, die in der Praxis verfügbar sein müssen. Spirituelle Praxis ist eben nicht wie Wissen verfügbar, sondern muss stets neu verwirk­ licht und wiederholt werden. Es fällt auf, dass Steiner – besonders im Hinblick auf eine künftige spirituelle Psychologie – nicht von neuen Inhalten oder einer neuen Lehre spricht, sondern vielfältige Forschungsanregungen gibt.38 In diesen Anregungen steckt weiteres Potenzial um Brücken zur akademischen Psychologie zu schlagen, die in vielen Bereichen genau diese Forschung bräuchte. So ging man beispielsweise in der Gedächtnisforschung bisher davon aus, dass Gedächtnis und Erinnerung durch neuronale Tätigkeit verur­sacht sind und Gedächtnisinhalte im Gehirn gespeichert werden. Die Phänomene werden derzeit ausschließlich experidie Drei 2/2016 15 37 Rudolf Steiner: ›Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt‹ (GA 18), Dornach 19859, S. 134. 38 So in den Vorträgen über Psychoanalyse in ders.: ›Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen‹ (GA 178), Dornach 20155; ›Von Seelenrätseln‹ (GA 21), Dornach 19835; ›Die Schwelle der geistigen Welt‹ (GA 17), Dornach 20098 im Kap. ›Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann, und von dem Wesen der denkenden Seele. Vom Meditieren‹; sowie Vortrag vom 10. 10.1918 in ›Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie‹ (GA 73), 19872. 16 39 Andreas Meyer: ›Wenn ICH bin, dann bin ich – ohne Stress und Hektik‹ in: ›Gegenwart. Zeitschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft‹ Nr. 3/2001, S. 5–10. Andreas Meyer mentell aus Dritter-Person-Perspektive untersucht. Zahlreiche Befunde und Forschungen zeigen, dass diese Theorie nicht mehr haltbar ist. Wie sich aber Erinnerung konkret vollzieht, kann nach wie vor nicht beantwortet werden. Gleiches gilt für die Sichtweise auf das Ich und das Selbst. Eine Konstituierung des Ich aus neuronalen Prozessen oder Lernerfahrungen ist nicht nur einseitig, sondern unhaltbar. Wer sollte diesen Befund feststellen und ein Bewusstsein davon haben? Die Erforschung der geistigen Seite des Ich kann aber wiederum nur durch eine Steigerung und Innen-Beobachtung des Bewusstseins realisiert werden. Dabei würde der innere Tätigkeitsquell entdeckt und beschrieben werden können. Weiter ist die Natur der Aufmerksamkeit bisher völlig ungeklärt und trotz aufmerksamkeitsbasierter Therapien ist bisher nicht wissenschaftlich erforscht, was Aufmerksamkeit eigentlich ist und warum sie heilt. In der Schmerzforschung bestehen in Theorie und Praxis nach wie vor größte Probleme und bestimmte Schmerzarten (wie z.B. Phantomschmerz) können weder eindeutig erklärt noch behandelt werden. Gleiches gilt für die Schlafforschung oder die Erforschung von Nahtoderfahrungen. Auch die vielfältigen Übungen des anthroposophischen Schulungsweges, angefangen von Konzentrations- und Meditationsübungen bis hin zum Tagesrückblick und den Nebenübungen, wären ein geeigneter Beitrag, um westliche Traditionen in die Achtsamkeitsforschung zu integrieren und damit zugleich ein Werkzeug für wissenschaftliche Introspektion und Bewusstseinsforschung zu liefern.39 Grundlegend für eine spirituelle Psychologie ist weiterhin ein erfahrungsgestütztes inneres Unterscheidungsvermögen, das zwischen dem Denkinhalt, der Denktätigkeit und dem Denkenden und im Bereich des Fühlens zwischen dem Gefühlten, dem aktiven Fühlen und dem Fühlenden unterscheiden kann. So wie es zur Auflösung von Fehlern und Missverständnissen im Denken eines klaren und wirklichkeitsgemäßen Denkens bedarf, braucht es zur sachgemäßen Erkenntnis, Auflösung und Verwandlung emotionaler Formen neue, adäquate Begriffe. In anderen Worten: Im Verstehen eines Gedankens löst sich dieser in Verstehen, d.h. in freie Denkkraft auf; beim fühlenden Verstehen eines Gefühls löst sich das Gefühl in freie Fühlkräfte auf. Diese eher »fühlenden Begriffe« (ähnlich den künstlerischen Begriffen) sind aber zunächst noch gar nicht verfügbar, sondern müssen erst durch innere Tätigkeit gebildet werden. Sie unterscheiden sich von den gewöhnlichen Begriffen unseres die Drei 2/2016 Anthroposophie und Psychologie Alltagsbewusstseins dadurch, dass sie qualitativ neu und unbekannt sind, jedenfalls mit keinem bekannten Gefühl vergleichbar.40 Ähnliches vollzieht sich, wenn ein bisher noch nicht gehörtersIntervall einer atonalen Skala, ein Farbton oder Geruch zum ersten Mal erlebt wird. Der Begriff dafür muss sich erst bilden, und zwar aus dem lebendigen Erleben dieses »Etwas«, das man zuerst erlebt, heraus. Das entspricht der von Steiner entwickelten Methode der »seelischen Beobachtung«. Inadäquate Begriffe unseres gewöhnlichen Verstandes auf Seelisches anzuwenden, mag zwar eine gewisse Beruhigung schaffen, führt aber zu weiterer Abschnürung des eigentlichen Problems und verhindert damit in Wirklichkeit die weitere Entwicklung, auch im Nachtodlichen. Das meditativ gesteigerte Denken führt zu einem erkennenden Fühlen, das eine Kraft darstellt, mit der vertieftes Mitfühlen und fühlendes Verstehen möglich wird. Steiner bezeichnete es im ›Heilpädagogischen Kurs‹ als »objektives Mitleid«. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Fähigkeit zur Empathie, die Rogers so kultiviert und in den Mittelpunkt gerückt hat, weder als Theorie noch als Methode zu verstehen ist, sondern als menschliche Fähigkeit, die man ausgebildet hat oder eben nicht. Das erklärt auch die extrem unterschiedliche Erfolgsquote bei einzelnen Therapeuten in der Psychotherapie, während die einzelnen Therapieverfahren alle gleich »erfolgreich« sind. Es hängt eben nicht primär von den Methoden und Theorien ab (obwohl diese adäquat sein müssen und ggf. »Nebenwirkungen« haben), sondern von der konkreten Realisierung von Beziehung, Kräften und Wirksamkeiten zwischen Therapeut und Klient.41 Damit wird eine weitere Voraussetzung für spirituelle Psychologie und Therapie deutlich: der notwendige spirituelle Schulungsweg für den Forscher und Therapeuten. Nur dadurch kann vollständig klar das forschende oder therapeutisch tätige Subjekt in den Erkenntnis- oder Heilungsprozess einbezogen werden. Die spirituell-psychologische Forschung kann auch ein Licht auf die Heilungsprozesse und Wirksamkeiten werfen, die sonst immer nur mit randomisierten Studien verifiziert, nicht aber verstanden werden. Eine erste Wirksamkeitsstufe besteht schlichtweg darin, dass die Möglichkeit, »sich über das auszusprechen, was einen drückt«42, schon gut tut und Probleme lindert. Die Aufmerksamkeitskraft und -qualität des Zuhörenden spielt dabei eine große Rolle. Eine nächste Stufe begründet sich in der zwischenmenschlich-dialogischen Dimension von Heidie Drei 2/2016 17 40 Georg Kühlewind: ›Wege zur fühlenden Wahrnehmung‹, Stuttgart 1990; ders.: ›Bewusstseinsstufen. Meditationen über die Grenzen der Seele‹, Stuttgart 19802; sowie ders.: ›Der sanfte Wille‹, Stuttgart 2000. 41 Vgl. Andreas Meyer: ›Erkenntnisgrundlagen Spiritueller Psychologie‹ in: die Drei Nr. 5/2015, S. 55–59. 42 Rudolf Steiner: ›Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit‹ (GA 130), Dornach 19623, S. 143. 18 Andreas Meyer, geb. 1963, studierte Theologie, Psychologie, Neogräzistik, Byzantinistik und Literaturwissenschaft. Er lebt in Berlin, arbeitet als Therapeut in eigener Praxis, als pädagogisch-psychologischer Berater sowie als Dozent und ist Autor zahlreicher Bücher. Er gehört zu den Veranstaltern des Kongresses ›Psychologie, Bewusstseinsforschung und Heilung im Kontext westlicher Spiritualität‹ vom 10.-13. März 2016 in Berlin. Nähere Informationen hierzu unter https://tagungmaerz2016. wordpress.com 43 Rudolf Steiner: ›Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung‹ (GA 9), Dornach 201333, Kap. ›Leib, Seele und Geist‹, S. 28. Andreas Meyer lungs- und Entwicklungsprozessen, die in der Psychotherapie unter »Beziehung« subsumiert wird. Wie jedes Kind sich bedingungslos geliebt, gesehen und verstanden fühlen muss, um sich gesund entwickeln zu können, so braucht der erwachsene Mensch für seine Entwicklung, dass er von jemand anders miterlebt und mitgefühlt wird. So wie die Denkkraft (nicht die ausgesprochenen Inhalte) meines Gegenübers mir helfen kann, meine eigenen Gedanken zu ordnen und zu klären, lösen sich auch emotionale Verknotungen durch aktives erkennendes Fühlen auf, dass mein therapeutisches Gegenüber mir als Kraft zur Verfügung stellt. Die auf diese Weise wirkende »spirituelle Kraft« des Anderen erzeugt im Kontext vertiefter Begegnung und geschulter Aufmerksamkeit eine Resonanz im Gegenüber, was wiederum eigene Kräfte »entfacht« und eine Gefühlsklärung und Verwandlung ermöglicht. Tieferes inneres Vertrauen bildet sich und man fühlt sich gefühlt und im Inneren erkannt. Damit gerät das Schöpferische des Menschen – der nicht leibgebundene und kausal erklärbare Bereich des Ewigen und Schöpferischen – immer mehr ins Blickfeld. Alle weiteren Begegnungs- und Erkenntnisschichten haben mit Intuition und Wesenserkenntnis zu tun. Man weiß plötzlich was notwendig und das »Richtige« für diesen Moment des »Hier-und-Jetzt« ist und handelt danach. Vergangenheit und Zukunft fließen darin zusammen. Auch die Arbeit und Forschung aus Intuition kann und wird daher künftig zum Gegenstand psychologisch-introspektiver Forschung und therapeutischer Praxis werden müssen. Die schöpferische Möglichkeit des »Anfangen-Könnens« besteht immer und in jedem Menschen. Sie stellt das Potenzial dar, mit dem trotz aller Widrigkeiten in der Welt und im Persönlichen jederzeit Sinn gestaltet werden kann, in allen Lebenslagen. Daraus wird – auch im Sinne der Salutogenese – deutlich, dass der Mensch keineswegs an den Erlebnissen an sich oder aufgrund irgendwelcher Kausalitäten erkrankt. Entscheidend für Gesundheit oder Krankheit ist jeweils die Beziehung des Denkens zu den Ereignissen, also das, was ich aus dem Erlebnis mache. Der Mensch wird zunehmend zu dem, als was er sich denken kann und muss vor allem lernen, sich selbst denken zu können. »Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist«.43 Davon wird in Zukunft ganz wesentlich die weitere Entwicklung des Menschen, seiner Seele und der Welt abhängen. die Drei 2/2016