Ärger im Paradies Vom Ende der Geschichte zum Ende - Beck-Shop

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Fischer Wissenschaft 37
Ärger im Paradies – Vom Ende der Geschichte zum Ende des
Kapitalismus
Bearbeitet von
Slavoj Žižek
1. Auflage 2015. Buch. ca. 368 S. Hardcover
ISBN 978 3 10 002388 9
Format (B x L): 13,4 x 21 cm
Gewicht: 462 g
Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >
Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert
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Slavoj Žižek
Ärger im Paradies
Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Inhalt
Einleitung – Getrennt sind wir stark! 7
1 Diagnose – Hors d’œuvre? 30
2 Cardiognosis – Du jambon cru? 82
3 Prognosis – Un faut-filet, peut-être? 141
4 Epignosis – J’ai hâte de vous servir 224
Appendix: Nota bene! 300
Anmerkungen 337
Einleitung – Getrennt sind wir stark!
Ärger im Paradies, Ernst Lubitschs Meisterwerk von 1932, erzählt die Geschichte von Gaston und Lily, einem fröhlichen
Betrügerpaar, das die Reichen bestiehlt, dessen Leben aber
kompliziert wird, als Gaston sich in Mariette, eines ihrer
wohlhabenden Opfer, verliebt. Der Text des Liedes, das
während des Vorspanns zu hören ist, gibt eine erste Definition von der Art des »Ärgers«, um den es gehen wird
(wie auch das Bild, das das Lied begleitet: Wir sehen zunächst die Worte »Ärger im«, unter den Worten erscheint
ein großes Ehebett und dann auf der Oberfläche des Bettes
in großen Buchstaben »Paradies«). Das »Paradies« ist also das
Paradies einer vollständigen sexuellen Beziehung: »Das ist
das Paradies, / wenn sich Arme umschlingen und Lippen
sich küssen, / aber wenn etwas fehlt, / bedeutet das / Ärger
im Paradies«.1 Um es in drastisch direkter Weise zu formulieren: »Ärger im Paradies« ist Lubitschs Bezeichnung für il
n’y a pas de rapport sexuel.
Worin besteht also der Ärger im Paradies in Ärger im Paradies? In Bezug auf diese Schlüsselfrage gibt es eine grundlegende Zweideutigkeit. Die erste Antwort, die sich aufdrängt, ist: Obwohl Gaston Lily ebenso wie Mariette liebt,
wäre die eigentlich »paradiesische« sexuelle Beziehung diejenige zu Mariette gewesen, und genau aus diesem Grund
ist es diese Beziehung, die unmöglich und unerfüllt bleiben
muss. Diese Unerfülltheit verleiht dem Ende des Films ei7
nen Hauch von Melancholie: Das Gelächter und die Ausgelassenheit der letzten Minuten des Films, die fröhliche
Zurschaustellung der Partnerschaft zwischen Gaston und
Lily füllen nur die Lücke dieser Melancholie. Zielt Lubitsch
nicht in diese Richtung mit der wiederholten Einstellung
auf das große Doppelbett in Mariettes Haus, einer Einstellung, die an das Bett des Vorspanns erinnert? Man kann es
aber auch in genau der gegenteiligen Weise interpretieren:
Könnte es sein, dass das Paradies eigentlich die skandalöse
Liebesaffäre von Gaston und Lily ist, zwei eleganten Dieben,
die für sich selbst sorgen, und der Ärger die erhaben statuenhafte Mariette ist? Diese Mariette ist, in einer quälenden
Ironie, die Schlange, die Gaston von seinem glücklichen,
sündigen Garten Eden weglocken will. […] Das Paradies, das
gute Leben, ist das Verbrecherleben voller Glamour und Risiko; die böse Versuchung kommt von Madame Colet, deren
Vermögen das Versprechen eines bequemen Dolce vita ohne
wirkliche kriminelle Kühnheit und List in sich birgt, nur die
fade Scheinheiligkeit der ehrbaren Klassen.2
Die Schönheit dieser Lesart liegt darin, dass die paradiesische Unschuld in der glamourösen und dynamischen Welt
des Verbrechens verortet ist, so dass der Garten Eden mit
der Verbrecherwelt gleichgesetzt wird, der Lockruf der besseren Gesellschaft hingegen mit der Versuchung durch die
Schlange. Diese paradoxe Umkehrung lässt sich allerdings
leicht durch Gastons ehrlichen und rohen Ausbruch erklären, den er ohne Eleganz oder ironische Distanz inszeniert,
den ersten und einzigen im Film, als Mariette es ablehnt,
die Polizei zu rufen, nachdem Gaston ihr mitgeteilt hat,
dass der Vorstandsvorsitzende ihrer Firma sie über die Jahre systematisch um Millionen betrogen hat. Gaston wirft
ihr vor, dass sie sofort bereit war, die Polizei zu rufen, als
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ein gewöhnlicher Taschendieb wie er ihr einen vergleichsweise geringen Betrag entwendet hat, sie aber wegsieht, als
ein Mitglied ihrer eigenen ehrbaren Oberschicht Millionen
von ihr stiehlt. Paraphrasiert Gaston hier nicht Brechts berühmten Satz: »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
Gründung einer Bank?« Was ist ein direkter Diebstahl wie
der von Gaston und Lily im Vergleich zum Raub von Millionen unter dem Deckmantel obskurer Finanzgeschäfte?
Es gibt allerdings einen weiteren Aspekt, der hier bemerkt werden muss: Ist Gastons und Lilys Verbrecherleben
tatsächlich so »voller Glamour und Risiko«? Sind die beiden
unter dem oberflächlichen Glamour ihrer Diebstähle nicht
die Quintessenz eines bürgerlichen Paares, gewissenhafte,
professionelle Leute mit teuren Vorlieben – Yuppies, die ihrer Zeit voraus sind? Gaston und Mariette sind dagegen das
eigentlich romantische Paar, die abenteuerlustigen und risikobereiten Liebenden. Indem er zu Lily und zur Gesetzlosigkeit zurückkehrt, tut Gaston das Vernünftige – er kehrt
sozusagen zu seiner Basisstation zurück und entscheidet
sich für das ihm vertraute mondäne Leben. Er tut dies mit
Bedauern, welches in seinem letzten langen, von Reue und
graziöser Leidenschaft auf beiden Seiten erfüllten Gespräch
mit Mariette deutlich wird.3
G. K. Chesterton hat bemerkt, dass die Kriminalge­schichte
in gewissem Sinne selbst daran [erinnert], daß die Zivilisation
selbst der sensationellste Aufbruch und die romantischste Rebellion ist. […] Wenn der Detektiv in einer Polizeiabenteuergeschichte allein und auf etwas törichte Weise furchtlos inmitten der Messer und Fäuste einer Räuberhöhle steht, dann
hilft das sicherlich, uns daran zu erinnern, daß der Vertreter
der sozialen Gerechtigkeit die ursprüngliche und poetische
Gestalt darstellt, während die Einbrecher und Straßenräuber
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bloß brave alte kosmische Konservative sind, glücklich mit
der uralten Respektabilität von Affen und Wölfen. Die Romantik der Polizei […] beruht auf der Tatsache, daß die Moral
die finsterste und waghalsigste aller Konspirationen ist.4
Ist dies nicht auch die zutreffendste Definition von Gaston
und Lily? Leben diese beiden Taschendiebe nicht in ihrem
Paradies vor dem Fall in die ethische Passion? Entscheidend
ist hier die Parallele zwischen Verbrechen (Diebstahl) und
sexueller Promiskuität: Was wäre, wenn in unserer postmodernen Welt von angeordneter Transgression, in der
eheliche Bindung als lächerlich veraltet wahrgenommen
wird, diejenigen, die daran festhalten, die eigentlich Subversiven sind? Was, wenn die normale Ehe ebendiese »dunkelste und gewagteste aller Transgressionen« ist? Genau
das ist die Prämisse, die Lubitschs Serenade zu dritt zugrunde
liegt: Eine Frau führt ein zufriedenes ruhiges Leben mit
zwei Männern; als waghalsiges Experiment probiert sie die
monogame Ehe aus, der Versuch scheitert jedoch kläglich,
und sie kehrt zu ihrem sicheren Leben mit zwei Männern
zurück, so dass das Endergebnis mit den oben zitierten
Worten Chestertons paraphrasiert werden kann:
Heirat selbst ist die sensationellste Lossagung und der romantischste Aufruhr. Wenn das Liebespaar sein Eheversprechen
ablegt, allein und wahnwitzig furchtlos unter den Versuchungen zu promiskuitiven Genüssen, dient es sicherlich dazu,
uns daran zu erinnern, daß die Ehe die eigentlich originelle
und poetische Figur ist, während die Ehebrecher und Teilnehmer an Orgien bloß friedliche, alte, kosmische Konservative
sind, glücklich in den uralten Anstandsbegriffen der promisken Affen und Wölfe. Das Eheversprechen gründet sich
auf die Tatsache, daß Ehe der dunkelste und gewagteste aller
sexuellen Exzesse ist.
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Eine entsprechende Doppeldeutigkeit ist in Bezug auf die
grundlegende politische Wahl am Werk, der wir uns heute gegenübersehen. Der zynische Konformismus sagt uns,
dass die emanzipatorischen Ideale von mehr Gleichheit,
Demokratie und Solidarität langweilig und sogar gefährlich sind und zu einer überregulierten grauen Gesellschaft
führen, dass unser wahres und einziges Paradies das existierende »korrupte« kapitalistische Universum ist. Radikales
emanzipatorisches Engagement geht von der Prämisse aus,
dass es die kapitalistische Dynamik ist, die langweilt und
nur mehr von demselben im Gewand ständiger Erneuerung
bietet und dass der Kampf für Emanzipation nach wie vor
die wagemutigste aller Unternehmungen ist. Unser Ziel ist
es, für diese zweite Option zu argumentieren.
Es gibt eine wunderbare französische Anekdote über
einen britischen Snob, der nach Paris kommt und glaubt,
der französischen Sprache mächtig zu sein. Er geht in ein
teures Restaurant im Quartier Latin, und als er vom Kellner gefragt wird »Hors d’œuvre?«, antwortet er: »Nein, ich
bin nicht arbeitslos, ich verdiene genug, um mir das Essen
hier leisten zu können! Was empfehlen Sie als Vorspeise?«
Der Kellner schlägt rohen Schinken vor: »Du jambon cru?«
Der Snob antwortet: »Nein, ich glaube nicht, dass ich beim
letzten Mal Schinken hatte. Aber gut, dann nehme ich noch
mal Schinken – und als Hauptgericht?« »Un faut-filet, peutêtre?« Der Snob verliert die Fassung: »Bringen Sie mir das
Richtige, ich sagte Ihnen, dass ich genug Geld habe! Aber
bitte gleich!« Der Kellner versichert ihm: »J’ai hâte de vous
servir!«, worauf der Snob schnauzt: »Warum sollten Sie
es hassen, mich zu bedienen? Ich werde Ihnen ein gutes
Trinkgeld geben.« Schließlich sieht der Snob ein, dass seine
Französischkenntnisse beschränkt sind; um sein Ansehen
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wiederherzustellen und zu beweisen, dass er ein kultivierter Mann ist, beschließt er bei seinem Aufbruch spät am
Abend, dem Kellner auf Lateinisch eine gute Nacht zu wünschen, da sich das Restaurant im Quartier Latin befindet,
und sagt: »Nota bene!«
Dieses Buch wird in fünf Schritten vorgehen und dabei den
Schnitzern des glücklosen britischen Snobs folgen. Wir
werden mit der Diagnose der grundlegenden Koordinaten
unseres globalen kapitalistischen Systems beginnen; dann
werden wir fortschreiten zur Kardiognosie, zur »Herzenserkenntnis« dieses Systems, d. h. der Ideologie, die uns dazu
bringt, es zu akzeptieren. Darauf folgt die Prognose, der Blick
in die Zukunft, die uns erwartet, wenn die Dinge weiterlaufen, wie sie es derzeit tun, ebenso wie die mutmaßlichen
Möglichkeiten oder Auswege. Wir werden mit der Epignose
schließen (einem theologischen Begriff des Wissens, an das
wir glauben, das unser subjektiv angenommenes Handeln
bestimmt) und die subjektiven und organisatorischen Formen umreißen, die für die neue Phase unseres emanzipatorischen Kampfes geeignet sind. Der Appendix wird den
Sackgassen des heutigen emanzipatorischen Kampfes anhand des letzten Batman-Films auf den Grund gehen.
Das »Paradies« im Titel dieses Buchs bezieht sich auf das
Ende der Geschichte (wie von Francis Fukuyama ausgearbeitet: ein liberaldemokratischer Kapitalismus als die letztlich für am besten befundene soziale Ordnung), und der
»Ärger« ist natürlich die anhaltende Krise, die selbst Fukuyama dazu genötigt hat, seine Idee vom Ende der Geschichte
fallenzulassen. Meine Prämisse lautet, dass das, was Alain
Badiou die »kommunistische Hypothese« genannt hat, der
einzig angemessene Rahmen ist, in dem sich die Krise dia12
gnostizieren lässt. Die Eingebung dazu entstand während
einer Vorlesungsreihe, die ich im Oktober 2013 als »Eminent Scholar« an der Kyung-Hee-Universität in Seoul hielt.
Als ich die Einladung annahm, war meine erste Reaktion:
Ist es nicht vollkommen verrückt, in Südkorea über die Idee
des Kommunismus zu sprechen? Ist das geteilte Korea nicht
das am deutlichsten denkbare, geradezu klinische Beispiel
dafür, wo wir heute nach dem Ende des Kalten Krieges stehen? Auf der einen Seite verkörpert Nordkorea die Sackgasse des kommunistischen Projekts im 20. Jahrhundert; auf
der anderen Seite befindet sich Südkorea inmitten einer
explosionsartigen kapitalistischen Entwicklung, die neue
Maßstäbe von Wohlstand und technologischer Modernisierung erreicht – und innerhalb deren Samsung selbst die
Vorherrschaft von Apple unterläuft. Ist Südkorea in diesem
Sinne nicht der beste Beweis dafür, wie falsch das ganze
Gerede von der globalen Krise ist?
Das Leid der Koreaner im 20. Jahrhundert war unermesslich, es verwundert daher nicht, dass es – wie mir gesagt
wurde – selbst heute noch ein Tabu in Korea ist, von den
Gräueltaten zu sprechen, die die Japaner dort während
der Besatzung im Zweiten Weltkrieg verübten. Sie fürchten, dass das Sprechen darüber den geistigen Frieden der
älteren Generation aufstören könnte: Die Zerstörung war
so vollständig, dass die Koreaner alles tun, um diese Zeit
zu vergessen und weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Ihre Haltung beinhaltet daher eine zutiefst nietzscheanische Verkehrung der gängigen Formulierung »Wir
vergeben, aber wir vergessen nicht«. Im Hinblick auf die
japanischen Gräueltaten haben die Koreaner eine Redensart: Vergessen, aber niemals vergeben. Und sie haben recht,
denn etwas zutiefst Scheinheiliges liegt in der Formel »Ver13
geben, aber niemals vergessen«, die äußerst manipulativ
ist, weil sie eine Erpressung des Über-Ichs voraussetzt: »Ich
vergebe dir, aber indem ich dein Vergehen nicht vergesse,
stelle ich sicher, dass du dich für immer schuldig dafür
fühlen wirst.« Ich möchte mit einem Bericht von Franco Be­
rar­di beginnen, einem italienischen Sozialwissenschaftler,
über seine jüngste Reise nach Seoul:
Am Ende des 20. Jahrhunderts – nach Jahrzehnten des Kriegs,
der Erniedrigung, des Hungers und fürchterlicher Bombardements – waren sowohl die physische als auch die anthropologische Landschaft dieses Landes auf eine Art verwüstete
Abstraktion reduziert. Zu diesem Zeitpunkt begaben sich das
menschliche Leben und die Stadt folgsam in die transformierende Hand der höchsten Form zeitgenössischen Nihilismus.
Korea ist der Ground Zero der Welt, eine Blaupause für die
Zukunft des Planeten. […]
Nach der Kolonisierung und den Kriegen, nach Diktatur und
Hungersnöten betrat der südkoreanische Geist, befreit von
den Bürden des natürlichen Körpers, sanft die digitale Sphäre, mit einem niedrigeren Grad an kulturellem Widerstand
als irgendein anderes Volk auf dieser Welt. Meines Erachtens
liegt darin die Hauptursache der unglaublichen wirtschaftlichen Leistung dieses Landes in den Jahren der digitalen
Revolution. Im leeren kulturellen Raum ist die koreanische
Erfahrung von einem extremen Grad an Individualisierung
gezeichnet, und gleichzeitig eilt es dabei der endgültigen Verkabelung des kollektiven Geistes entgegen.
Diese einsame Monade durchwandert den städtischen Raum
in andauernder zärtlicher Interaktion mit den Bildern,
Tweets und Spielen, die aus ihren kleinen Bildschirmen
kommen, vollkommen isoliert und vollkommen verkabelt
mit der glatten Schnittstelle des Datenstroms. […] Südkorea
hat die höchste Selbstmordrate der Welt. […] Selbstmord ist
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der häufigste Grund für Todesfälle bei unter Vierzigjährigen.
[…] Interessanterweise hat sich die Selbstmordrate in den
letzten zehn Jahren verdoppelt. […] Im Zeitraum von zwei
Generationen hat sich der Standard der Bevölkerung im Hinblick auf Einkommen, Ernährung, Freiheit und Reisemöglichkeiten sicher gesteigert. Aber der Preis für diese Steigerung ist
die Entleerung des alltäglichen Lebens, die hochgradige Beschleunigung des Rhythmus, die extreme Individualisierung
der Biographien, die berufliche Unsicherheit, die auch den
hemmungslosen Wettbewerb einschließt. […]
Der hochtechnisierte Kapitalismus beinhaltet stetig wachsende Produktivität und unaufhörliche Steigerung des Arbeitsrhythmus, aber er ist zugleich die Bedingung für die beeindruckende Verbesserung des Lebensstandards, der Ernährung,
der Kaufkraft. […] Aber die heutige Entfremdung ist eine
andere Art von Hölle. Die Beschleunigung des Arbeitsrhythmus, die Versteppung der Landschaft und die Virtualisierung
des Gefühlslebens arbeiten zusammen daran, ein Niveau von
Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit zu schaffen, das bewusst
kaum abzulehnen und zu unterlaufen ist. […] Isolation, Wettbewerb, das Gefühl von Bedeutungslosigkeit, Druck und
Scheitern: 28 Personen von 100 000 gelingt jedes Jahr die
Flucht, und deutlich mehr noch versuchen es erfolglos.
Weil Selbstmord als stärkstes Zeichen der anthropologischen
Mutation betrachtet werden kann, die mit der digitalen Umwälzung und der Prekarisierung verbunden ist, erstaunt es
nicht, dass Südkorea die Nummer eins in Bezug auf die Selbstmordrate ist.5
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