Ausgabe 14 • März/April 2012

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Ausgabe 29 September/Oktober 2014
Soziale Teilhabe und
Demokratie
Impressum
Deutscher Gewerkschaftsbund
Debattenmagazin GEGENBLENDE,
Redaktion: Dr. Kai Lindemann/Redaktionsassistenz: Martina Hesse
Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin
Telefon +49 (0) 30 24 060 757, E-Mail [email protected]
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Bilder und Kommentare. Diese sind auf der Homepage www.gegenblende.de einsehbar.
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GEGENBLENDE – Ausgabe 29
September/Oktober 2014
Inhaltsverzeichnis
Seite
Editorial ......................................................................................................................... 4
Matthäuseffekt und Teufelskreis – zum Problem von Inklusion und
Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften ................................................................ 5
von Martin Kronauer
Stop talking – act now! ................................................................................................ 20
von Terry Reintke, Martina Hartung
Das beklaute Gemeinwesen (Kolumne) ...................................................................... 24
von Robert Misik
German Organizing (Buchrezension) ......................................................................... 30
von Thomas Greven
NACHGEFRAGT bei Heidrun Abel – Das Urheberrecht im digitalen
Zeitalter (Interview) .................................................................................................... 35
von Kai Lindemann
Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten ............................................ 38
von Elisabeth Voß
Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive vom 13.-21. Jahrhundert ........................ 44
von Andrea Komlosy
Der zweifelhafte Exporterfolg der Bundesrepublik – Ursachen und Gründe ............ 49
von Stefan Beck
„Einfache Dienstleistungen“ in der Wertschöpfungskette ......................................... 55
von Philipp Staab
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Die französischen Sozialisten zwischen Programmatik, Popularität und
Hartz IV ........................................................................................................................61
von Bernard Schmid
Die Arbeitswelt im Wandel .......................................................................................... 65
von Rainer Fattmann
Staatsvolk und Marktvolk im entgrenzten Kapitalismus – Ein Essay zur
Streeck-Debatte ........................................................................................................... 68
von Lutz Wingert
Die Wahl in Schweden: Rückkehr zur „sozialdemokratischen Normalität“? ............ 76
von Joachim Kasten
Innovation braucht Führung und Beteiligung ............................................................ 79
von Ines Roth
Postdemokratie und die Erosion wirtschaftlicher Bürgerrechte ................................ 87
von Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey
Zwei Jahre nach dem Brand der Textilfabrik in Karatschi ......................................... 94
von Thomas Seibert
Kleine Finanzblasenkunde .......................................................................................... 99
von Tomasz Konicz
Das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China ................................. 104
von Zoltan Doka und Vasco Pedrina
Die Märchentour von Uncle Jeremy .......................................................................... 110
von Stefan Müller
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Editorial
Soziale Ausgrenzung und demokratische Teilhabe sind eng miteinander verbunden.
Die Schwerpunktbeiträge in der Ausgabe 29 behandeln dieses Thema aus
verschiedenen Perspektiven. Zudem beinhaltet sie Beiträge zu den aktuellen Themen
Share Economy, Streeck-Debatte, Exportweltmeister Deutschland und
Freihandelsabkommen.
Viel Spaß bei der Lektüre der pdf-Ausgabe wünscht
Kai Lindemann
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GEGENBLENDE – Ausgabe 29
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Matthäuseffekt und Teufelskreis – zum Problem
von Inklusion und Exklusion in kapitalistischen
Gesellschaften
von Martin Kronauer
In den Gesellschaften Europas breiten sich die soziale Entsicherung und Exklusion
von Lohnabhängigen aus[1]. Neue Spaltungslinien brechen auf, die die Fundamente
demokratischen Zusammenlebens zerstören.[2] Um Exklusion verstehen zu können,
ist es unverzichtbar, sich über zwei zentrale Aspekte des Problems Rechenschaft
abzulegen: über die Mehrdimensionalität und den Prozesscharakter von Inklusion
und Exklusion.
Wer gesellschaftlich „inkludiert“ ist, der ist dies in aller Regel nicht nur in einer,
sondern in allen relevanten Dimensionen; wer hat, dem wird gegeben – der
Matthäuseffekt also.[3] Umgekehrt gilt aber: wessen „Inklusion“ in einer zentralen
Dimension brüchig wird, der kann in der Regel nur bedingt und vor allem nicht über
lange Zeit hinweg Ressourcen aus den anderen Dimensionen mobilisieren. Er oder
sie steht in der Gefahr, dass Ausgrenzungsprozesse von einer Dimension auf die
anderen überspringen und sich zu einem Teufelskreis verstärken.
Woher aber rühren die Stabilität von Inklusion auf der einen Seite und die
destruktive Dynamik von Exklusion auf der anderen Seite? Für Niklas Luhmann
stellte sich das Problem folgendermaßen dar: Wie kann es sein, dass Gesellschaften,
die nicht durch ein einheitliches Zentrum zusammengehalten werden und die die
Personen nur über ihre unterschiedlichen Funktions- oder Publikumsrollen
inkludieren, Teufelskreise der Exklusion hervorbringen, die sich über die Grenzen
der Funktionssysteme hinweg verstärken? Eine plausible Antwort konnte er nicht
geben, da er davon ausging, dass die Funktionssysteme eigentlich durch
„Interdependenzunterbrechung“ gegeneinander hinreichend abgeschottet seien.[4]
Selbst in der deutschen Soziologie, die sich seit langem mehrheitlich davon
verabschiedet hat, den Kapitalismus auf den Begriff bringen zu wollen, setzt sich
mittlerweile die Erkenntnis durch, dass, wer von Exklusion und ihrer
Mehrdimensionalität reden will, nicht über den Kapitalismus schweigen darf. Wer
die innere Beziehung zwischen den Matthäuseffekten der Inklusion und den
Teufelskreisen der Exklusion begreifen möchte, wird an den „alten“ Kern
kapitalistischer Herrschaft, die Lohnarbeitsverhältnisse, herangehen müssen.
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Das Inklusionsproblem und die „Mehrdimensionalität“ kapitalistischer
Gesellschaften
„Kapitalistische Gesellschaften“ unterscheiden sich von anderen
Gesellschaftsformationen zumindest in zweierlei Hinsicht: durch die zentrale, direkte
wie indirekte Bedeutung der Lohnarbeit für die Sicherung des Lebensunterhalts der
Einzelnen und die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums; damit zugleich durch
das Prinzip der Akkumulation von Kapital - der Verwertung von Kapital um seiner
selbst willen - als wesentliche Triebkraft der Nutzung der Arbeitskraft (oder aber
auch ihrer Nicht-Nutzung).
Das Problem von Inklusion und Exklusion stellt sich aber nicht erst in
kapitalistischen Gesellschaften, auch wenn es dort besondere Formen annimmt.
Auch in vorkapitalistischen Gesellschaften spielten die Verteilung der Arbeit, die
Verteilung ihrer Erzeugnisse und die Aufteilung der verwandtschaftlichen Rechte und
Pflichten eine wesentliche Rolle für die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen.
Der Übergang zur kapitalistischen „Moderne“ bedeutete einen wesentlichen
historischen Einschnitt. Spätestens seit der staatlichen Durchsetzung von
Arbeitsmärkten im frühen 19. Jahrhundert wird die Auseinandersetzung darüber
geführt, wie weit die Regelung der Verteilung der Arbeit, ihrer Bedingungen und
Erzeugnisse Märkten überlassen werden kann und darf, und was dies für die soziale
Absicherung bedeutet. Erst in kapitalistisch verfassten Gesellschaften stellte sich das
Problem der Inklusion als gesellschaftliches Problem. Denn erst mit der Ablösung
der auf Privateigentum beruhenden Marktökonomie von Staat, Familie, Religion, erst
mit der Verstädterung und dem Bedeutungsverlust der Haushalte für die soziale
Absicherung des Familienverbands, erst mit der räumlichen und zeitlichen
Aufspaltung von öffentlicher Arbeits- und privater Lebenssphäre unter dem Diktat
der Lohnarbeit konstituierte sich die moderne Gesellschaft. Unter solchen
Bedingungen mussten Integration und Inklusion zum Thema werden – als
„systemische Integration“ von Staatsorganen, Rechtssystem, kapitalistischer
Ökonomie, Familienverbänden; als „soziale Integration“ (oder Inklusion) von
Individuen und Klassen, beide zunächst in den Formen und Grenzen von
Nationalstaaten.
Für die Soziologie, die sich als Wissenschaft dieser neuen Ära verstand, war
Integration von Anfang an ein wesentliches Thema. Marx und die ihm folgenden
marxistischen Theoretiker lehnten hingegen den bürgerlichen Konservatismus der
Soziologen ab und scherten sich um Fragen der Integration und Inklusion aus guten
Gründen nicht – wollten sie doch die kapitalistischen Verhältnisse, in denen „der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen
ist“[5], aus den Angeln heben.
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In einer kritischen, sozialistischen Perspektive wird das Problem der Inklusion in
kapitalistischen Gesellschaften erst rund sechzig Jahre nach Marx aufgeworfen. Als
Karl Polanyi 1944 sein epochales Werk „The Great Transformation“[6]
veröffentlichte, herrschte in Deutschland noch der Nationalsozialismus und trieb der
Zweite Weltkrieg auf die Entscheidung zu. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte
1929 und die folgende wirtschaftliche Depression waren nicht in revolutionäre
Aufstände gemündet, sondern in autoritäre und faschistische Bewegungen.
Polanyi heute zu lesen, ist nach der tiefen Finanzmarktkrise von 2008 und ihren
Folgen von beklemmender Aktualität. Er zeigt im historischen Rückblick in aller
theoretischen Schärfe auf, dass eine Gesellschaft, die Arbeit, Land und Geld als
Waren wie alle anderen behandelt, die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens
zerstören muss. Massenelend, Ausplünderung und Erschöpfung natürlicher
Lebensgrundlagen, periodische Zusammenbrüche von Handel und Unternehmen
wären die Folgen.
Im historischen Kontext von Faschismus und Weltkrieg, mit dem sich Polanyi
auseinanderzusetzen hatte, tritt ein Widerspruch zutage, den Marx in dieser Weise
nicht im Blick hatte. Entwickelte, das heißt, kapitalistische Marktwirtschaften setzen
voraus, dass Arbeit, Land und Geld zu Waren werden, zugleich aber durch
gesellschaftliche Regelungen auch wieder dem Markt entzogen, vor ihm geschützt
werden. Ohne „Selbstschutz der Gesellschaft“[7] vor den Märkten (und der auf
Märkten notwendigerweise sich bildenden Marktmacht) sind auch kapitalistische
Gesellschaften nicht überlebensfähig.
Polanyi spricht vom „Selbstschutz der Gesellschaft“, nicht von „Inklusion“. Wenn er
aber beschreibt, wie eine vor dem Markt ungeschützte Gesellschaft aussehen müsste,
schildert er soziale Ausgrenzungen in ihren drastischsten Formen: „Wenn man den
Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und
ihrer natürlichen Umwelt oder auch nur des Umfangs und der Anwendung der
Kaufkraft, zuließe, dann würde das zur Zerstörung der Gesellschaft führen. Die
angebliche Ware ‚Arbeitskraft‘ kann nicht herumgeschoben, unterschiedslos
eingesetzt oder auch nur ungenutzt gelassen werden, ohne damit den Einzelnen, den
Träger dieser spezifischen Ware, zu beeinträchtigen. Das System, das über die
Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychische und moralische Ganzheit ‚Mensch‘ verfügen, der mit dem Etikett
‚Arbeitskraft‘ versehen ist. Menschen, die man auf diese Weise des Schutzmantels der
kulturspezifischen Institutionen beraubte, würden an den Folgen gesellschaftlichen
Ausgesetztseins zugrunde gehen…“[8]. „Gesellschaftliches Ausgesetztsein“ – in nichts
anderem besteht der Kern von Exklusion.
Worin aber besteht der „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen“? Ob
kapitalistische Gesellschaften den ihnen immanenten Widerspruch, Arbeit, Geld und
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Land zur Ware machen, deren Gebrauch als Waren aber sogleich wieder
einschränken zu müssen, überhaupt bewältigen können, ist eine historisch offene
Frage. Erst recht gibt es keinerlei Gewissheit dafür, dass die institutionellen Formen,
in denen der Widerspruch angegangen werden mag, demokratische Institutionen
sein müssen. Polanyi hatte den Faschismus und den Nationalsozialismus als
Antworten seiner Zeit auf den Marktliberalismus vor Augen. Wer könnte
ausschließen, dass heute, wo Demokratien längst in ihrer sozialen Substanz ausgehöhlt sind[9], Auswege aus den Krisen wieder in offen autoritären, gar faschistischen
Regimen und mit Kriegen um knappe Ressourcen gesucht werden? In jedem Fall
werden die „Schutzmäntel kulturspezifischer Institutionen“ in ihren
unterschiedlichen Gestalten immer nur in historischen Auseinandersetzungen
fabriziert - löchrig sind sie in der Regel. In kapitalistischen Gesellschaften geht es
dabei immer um die Frage, wie weit Märkte und Marktmacht über die Verteilung und
Nutzung der Arbeitskraft, über die Bedingungen der Arbeit und die Verteilung ihrer
Ergebnisse entscheiden.
Matthäuseffekt der Inklusion und Teufelskreis der Exklusion im
gegenwärtigen Kapitalismus
Auf der Grundlage der bisher angestellten Überlegungen lassen sich nun die eingangs
gestellten Fragen angehen, die die Mehrdimensionalität von Inklusion und Exklusion
betreffen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich in dem Vierteljahrhundert
nach dem Zweiten Weltkrieg in den Nord- und kontinentaleuropäischen Ländern
institutionelle Arrangements herausgebildet haben, die in einem historisch bis dahin
unbekannten Maße, wenn auch in unterschiedlichen Formen, eine Inklusion der
Lohnabhängigen in die jeweiligen kapitalistischen Gesellschaften bewirkten. Diese
Arrangements werden seit den 1980er Jahren wieder brüchig und von
institutionellen Veränderungen abgelöst, die Exklusionsprozesse anstoßen und in
Gang halten.[10]
Dies führt zunächst zu der Frage, wie die Gesellschaften das Inklusionsproblem –
wenn auch nur vorübergehend und noch immer unvollkommen – entschärft haben.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede waren in der Regel alle drei wesentlichen
Inklusionsdimensionen im Spiel: Arbeit, die Umverteilung der Produkte der Arbeit
und soziale Beziehungen.
Inklusion wurde vorangetrieben:
1. durch eine relative Vollbeschäftigung, das heißt zunächst die
Vollbeschäftigung der männlichen Lohnabhängigen. Der Arbeitsmarkt
gewährleistete eine Inklusion in die gesellschaftlich anerkannte Arbeitsteilung,
somit in einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status.
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2. durch die Ausweitung des Bürgerstatus von persönlichen und politischen
Rechten auf soziale Rechte. Soziale Rechte zielten auf die Gewährleistung
eines kulturell angemessenen Mindeststandards an materieller Wohlfahrt und
sozialer Absicherung, somit gesellschaftlicher Teilhabe. Soziale Rechte wirkten
in Richtung einer „Dekommodifizierung“, einer Lockerung der
Marktabhängigkeit.
3. trug die Inklusion durch die Ausweitung sozialer Rechte und einen
expandierenden Arbeitsmarkt dazu bei, dass auf der Ebene sozialer
Beziehungen individuelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume erweitert
wurden. Die ökonomischen Abhängigkeiten vom Familienverband wurden
weiter gelockert, soziale Kontrollen und Verpflichtungen in diesem
Zusammenhang ebenfalls.
Diese sehr schematische Skizze lässt all die wichtigen nationalen Differenzierungen
bewusst außer Betracht, die in der breiten Literatur über unterschiedliche Typen von
Wohlfahrtsstaaten behandelt werden. Sie setzt sich darüber hinaus selbstverständlich
dem Vorwurf aus, die Kehrseiten des Inklusionsschubs nach dem Zweiten Weltkrieg
zu vernachlässigen – die Rigidität der Arbeitsverhältnisse in den Unternehmen der
„fordistischen“ Massenproduktion zum Beispiel; die in die Sozialgesetzgebung
eingeschriebenen sozialen Ungleichheiten der Geschlechter; die Begrenzung der
Reichweite von (weniger sozialen als politischen) Rechten auf Staatsbürgerinnen und
Staatsbürgern; die fortbestehenden Klassenverhältnisse und die vielfach autoritären
Strukturen der politischen Systeme. Die Einwände sind sehr berechtigt. Der
springende Punkt ist hier aber, was die verschiedenen Dimensionen der Inklusion
voneinander unterscheidet und was sie gleichwohl verbindet.
Alle drei Instanzen leisten Unterschiedliches. Soziale Rechte vermitteln
gesellschaftliche Teilhabe durch Umverteilungen, die Marktversagen – etwa im
Bereich sozialer Dienstleistungen – kompensieren. Erwerbsarbeit
vermittelt Zugehörigkeit durch Einbindung in die gesellschaftlich anerkannte
Arbeitsteilung. Soziale Nahbeziehungen vermitteln gesellschaftliche Zugehörigkeit
durch Einbindung in Verhältnisse persönlicher Reziprozität und Solidarität. Alle drei
Instanzen folgen unterschiedlichen Zuteilungslogiken. Soziale Rechte sind an einen
Bürgerstatus geknüpft, Erwerbsarbeit ist abhängig vom Arbeitsmarkt, soziale
Nahbeziehungen sind an Gelegenheiten und Vorlieben gebunden.
Gleichwohl sind alle drei Instanzen trotz ihrer Eigenständigkeit miteinander
verzahnt, stehen sie im Verhältnis einer nur relativen Eigenständigkeit zueinander.
Dies zeigt sich im Matthäuseffekt der Inklusion und im Teufelskreis der Exklusion.
Wie empirische Studien[11], die sich mit der Mehrdimensionalität von Inklusion und
Exklusion beschäftigen, zeigen, wirken im Inklusionsbereich über die Dimensionen
hinweg positive Verstärkereffekte. Wer stabil in das Erwerbsleben eingebunden ist,
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genießt arbeitsrechtlichen Schutz, kann in breitem Umfang die durch soziale Rechte
vermittelten Leistungen und Sicherheiten wahrnehmen und bewegt sich in
Bekanntenkreisen, die ähnlich gut mit Ressourcen ausgestattet sind: Wer hat, dem
wird gegeben.
Im Gegensatz dazu gestaltet sich der Teufelskreis der Exklusion folgendermaßen:
Wem etwas fehlt, dem wird noch mehr genommen. Brüchige oder gar abgebrochene
Erwerbsverläufe gehen häufig einher mit steigendem Armutsrisiko, verengtem
Zugang zu sozialen Dienstleistungen, der Ausbreitung von materieller Unsicherheit
über die Biographie hinweg, dem sozialen Rückzug vieler Nahbeziehungen. Dies ist
die Regel, von Abweichungen soll noch die Rede sein.[12]
Teufelskreise der Exklusion entwickeln sich über die Zeit. Die relative
Eigenständigkeit jeder Dimension kann dazu beitragen, dass die
Ausgrenzungsbedrohung in einer Dimension durch Unterstützung in einer anderen
zunächst kompensiert wird. Intakte Partnerschaften etwa wirken als stabilisierendes
Gegengewicht während einer Arbeitslosigkeit. Arbeitslosenversicherungen schützen
in den meisten Ländern zunächst vor Armut. Mit der Zeit aber erschöpfen sich die
kompensierenden Ressourcen.
Teufelskreise der Exklusion können sich im Raum verschärfen. Eine deutsche Studie
hat gezeigt, dass die räumliche Konzentration von Armen und Arbeitslosen in
bestimmten Straßen den Bezug von Sozialhilfeleistungen verlängert[13].
Entscheidend aber ist die Art der institutionellen Verbindung zwischen den
verschiedenen Dimensionen der Inklusion. Sie zu identifizieren ist die Voraussetzung
für politische Interventionen, die dazu beitragen können, dass Teufelskreise der
Exklusion unterbrochen werden oder gar nicht erst anlaufen.
Und damit komme ich zurück zum Problem der Inklusion in funktional
mehrdimensionalen kapitalistischen Gesellschaften. Wie lässt sich erklären, dass die
zentralen Dimensionen der Inklusion, die alle unterschiedlichen
„Funktionssystemen“ angehören und die alle einer eigenen Logik folgen, dennoch
ineinandergreifen und Matthäuseffekte der Inklusion oder auch Teufelskreise der
Exklusion erzeugen?
Christoph Deutschmann und Uwe Schimank haben in jüngerer Zeit Überlegungen
vorgestellt, die uns eine Antwort näher bringen können.[14] Beide greifen den
Gedanken des Primats der Ökonomie von Marx auf. Sie wollen wissen, wie sich dieses
Primat gegenüber den anderen „Funktionssystemen“ bemerkbar macht. Das
entscheidende Bindeglied sehen sie im Geld. Geld vermittelt die Abhängigkeit der
verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme von der Ökonomie. Über das
Geld werden ökonomische Zwänge auf die anderen Bereiche übertragen. Schimank
charakterisiert das Geld als Medium der „Systemintegration“ und „Sozialintegration“,
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Deutschmann als „universales Inklusionsmedium moderner Gesellschaften“. Von
Geld hängen ihm zufolge die Möglichkeiten der Teilhabe an den Leistungen der
unterschiedlichen Funktionssysteme ab.
In Bezug auf das Problem von Inklusion und Exklusion greift allerdings die Rede vom
Geld als „Inklusionsmedium“ zu kurz. Denn sie blendet weitgehend aus, was Marx
und Polanyi ins Zentrum der Analyse gerückt hatten: die gesellschaftliche
Formbestimmung des Geldes als Kapital und die beherrschende Rolle, die dieses auf
der Grundlage der Lohnarbeit in der „Moderne“ ausübt.
Deutschmann weist selbst darauf hin, dass die Ausbreitung des Geldes zum
generalisierten „Inklusionsmedium“ historisch von der Durchsetzung und
Verallgemeinerung der Lohnarbeit abhing. Erst indem „das menschliche
Arbeitsvermögen dem direkten Zugriff des Geldes geöffnet wurde“, schreibt er, sei
„dieses selbst damit in einer nie gekannten Weise aufgewertet“ worden[15]. Während
Deutschmann das Lohnarbeitsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch an
prominenter Stelle in seine Argumentation einführt, handelt Schimank die
„marktförmige Nutzung der menschlichen Arbeitskraft“ lediglich in einer Fußnote
ab.[16] Dies hat für seine Kapitalismuskritik weitreichende Konsequenzen. Sie
reduziert sich auf das Problem der „intrasystemischen Instabilität der
Wirtschaft“[17], ein Problem der „systemischen“ Steuerung über Märkte und Geld
also. Dagegen gerät das in der „marktförmigen Nutzung der menschlichen
Arbeitskraft“ enthaltene gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis aus dem Blick, in
dem Polanyi die Destruktionskraft der Exklusion erkannte.
Wenn aber die Lohnarbeit den Ursprung und Kern der „Aufwertung des Geldes“
bildet, muss auf die Lohnarbeit auch wieder das Augenmerk gerichtet werden, wenn
es um den gesellschaftlichen Kern von Inklusion und Exklusion geht. Dies will ich
abschließend zeigen. Im Zentrum der Verknüpfungen zwischen den verschiedenen
Dimensionen der Inklusion – soziale Rechte, Arbeitsmarkt und Arbeitsteilung,
soziale Nahbeziehungen – steht in kapitalistischen Gesellschaften die Ausgestaltung
der Lohnarbeitsverhältnisse. Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis des
Matthäuseffekts der Inklusion und des Teufelskreises der Exklusion.
Die Komplementarität von Institutionen und der Selbstschutz der
Gesellschaft
Polanyi hatte auf einen zentralen Widerspruch kapitalistischer Gesellschaften
hingewiesen: sie müssen die Arbeitskraft als Ware behandeln und sollen sie zugleich
vor Marktabhängigkeit schützen. Dieser Widerspruch zeigt sich sowohl innerhalb der
Dimensionen der Inklusion als auch in den institutionalisierten Verknüpfungen
zwischen ihnen.
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In Gesellschaften, die die Verteilung der Arbeit im Wesentlichen über Märkte
organisieren, bedeutet der Zugang zu Erwerbsarbeit eine wichtige Voraussetzung von
Inklusion. Diese stößt aber auf das Hindernis der ungleich verteilten Marktmacht
zwischen Kapital und Arbeit und überhaupt zwischen denjenigen, die Arbeitsplätze
zu vergeben haben und denen, die sie brauchen. Darüber hinaus stellt selbst die
Einbindung in ein Lohnarbeitsverhältnis nicht sicher, dass das erzielte Einkommen
einen kulturell angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Wohlfahrtsstaaten
wiederum können umverteilen und damit Lebenschancen sichern helfen. Sie sind
dafür jedoch auf Erträge aus Arbeits-und Kapitaleinkommen angewiesen, können
aber kein soziales Recht auf Arbeit gewährleisten. Soziale Nahbeziehungen
schließlich bedürfen, um tragfähig zu sein, materieller Ressourcen von Markt und
Staat.
An all den genannten kritischen Punkten kann Inklusion brüchig werden und können
Exklusionsrisiken entstehen. Es hängt aber von den institutionalisierten
Verknüpfungen zwischen den Dimensionen ab, ob die Risiken von einer zur anderen
„überspringen“ und sich dadurch verschärfen, oder ob und wie lange sie durch
Kompensationen aufgefangen werden. Diese Verknüpfungen unterscheiden sich in
den einzelnen europäischen Ländern, wenn auch auf typische Weise.
Matthäuseffekte der Inklusion zeigen sich vor allem in den Ländern, die
sozialstaatliche Leistungen unmittelbar mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbinden.
Wer sich hier in stabilen Beschäftigungsverhältnissen bewegt, die arbeitsrechtlich
abgesichert sind, ist zusätzlich durch Sozialversicherungen geschützt, die aus den
Beiträgen der Erwerbsarbeit finanziert werden. Insider des Erwerbssystems erfahren
auf diese Weise eine doppelte Absicherung gegen Exklusionsrisiken. Die
Institutionen des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherung ergänzen einander hier
im Sinne einer Effizienzsteigerung.
Gerade diese Form der Komplementarität hat aber ihre ausgrenzende Kehrseite. Sie
setzt diejenigen, die in arbeitsrechtlich nicht gesicherten Arbeitsverhältnissen stehen
oder gar zu den Außenseitern des Beschäftigungssystems gehören, umso stärker der
Gefahr aus, in den Teufelskreis der Exklusion zu geraten. Brüchige
Erwerbsbiographien ziehen reduzierte Ansprüche an die Sozialversicherungen nach
sich, verschärfen somit die Marktabhängigkeit und das Risiko der Verarmung und
belasten die sozialen Beziehungen.
Deutschland ist ein charakteristischer Fall dieses Typs komplementärer Institutionen
an der Nahtstelle von Sozialstaat und Lohnarbeitsverhältnis. Es weist im
europäischen Vergleich besonders hohe Exklusionsrisiken bei Arbeitslosigkeit
auf.[18] Matthäuseffekte der Inklusion und Teufelskreise der Exklusion entspringen
hier ein und derselben institutionellen Verknüpfung und treiben die
Lebensverhältnisse in der Gesellschaft weiter auseinander. In Deutschland ist das
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Lohnarbeitsverhältnis zudem in besonderer Weise mit dem Geschlechterverhältnis
und den Haushaltsformen verbunden. Die vom Sozialstaat gestützte Abhängigkeit
der Partnerinnen vom erwerbstätigen Partner erhöht die Ausgrenzungsrisiken für
Frauen erheblich, wenn die Partnerschaft scheitert oder im Fall „unkonventioneller“
Haushaltsformen (bei Alleinerziehenden, in der Regel alleinerziehenden Müttern).
Inklusion ist im Gegensatz zur Komplementarität der Effizienzsteigerung auf die
Lockerung der Verbindungen zwischen Lohnarbeitsverhältnis und sozialstaatlichen
Leistungen angewiesen. Oder allgemeiner formuliert: Die
„Interdependenzunterbrechung“ zwischen den einzelnen „Funktionssystemen“, von
der Luhmann glaubte, sie sei in „funktional differenzierten Gesellschaften“ bereits
realisiert und würde Exklusionsprozesse verhindern, müssten in den kapitalistischen
Gesellschaften der Gegenwart erst durchgesetzt, die Komplementarität der
Institutionen, die Teufelskreise erzeugt, müsste erst durchbrochen werden, um die
Gesellschaft vor den Märkten zu schützen.
Eine bestimmte Form jener Lockerung findet sich noch immer in den
skandinavischen Ländern. Sozialstaatliche Leistungen werden dort in stärkerem
Maße durch Steuern finanziert und damit auf eine breitere Basis gestellt als in den
Ländern mit Leistungssystemen, die durch Beiträge direkt an das
Lohnarbeitsverhältnis gebunden sind. Dadurch erweitern sich die Möglichkeiten
einer Inklusionspolitik, die den Arbeitsmarkt korrigiert. Dazu gehören eine aktive
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik; hohe Lohnersatzleistungen gerade für
diejenigen Arbeitslosen, die ihrer besonders bedürfen; eine Grundsicherung im Alter
unabhängig von Erwerbsarbeit, die dazu beiträgt, einen kulturell angemessenen
Lebensstandard über den Lebensverlauf zu gewährleisten. Solche institutionalisierten
Politiken können Teufelskreise der Exklusion unterbrechen oder gar unterbinden.
Deshalb lässt sich diese Form institutioneller Komplementarität als
kompensatorische kennzeichnen.
Der von Polanyi aufgezeigte Widerspruch ist aber auch damit nicht gelöst, sondern
nur verschoben. Die breite Steuerbasis, auf der der relative starke Schutz vor
Marktabhängigkeit in diesen Ländern beruht, ist auf eine hohe Erwerbsbeteiligung,
somit eine Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses, somit eine
Verallgemeinerung der Marktabhängigkeit angewiesen, die sie zugleich abmildern
soll. Auch dieser Konflikt kann abgeschwächt werden durch den Ausbau eines
öffentlichen Sektors, der gesellschaftlich notwendige Güter und Leistungen
bereitstellt, ohne sich dem Diktat der Kapitalakkumulation zu unterwerfen.
Schwindet allerdings die ökonomische Voraussetzung, der von den Unternehmen im
privaten Sektor anvisierte Profit, oder die politische Voraussetzung, der Konsens über
die Umverteilung, gerät auch dieser Ausgleichsmechanismus ins Stocken.
Einschränkungen im Niveau und den Bedingungen sozialstaatlicher Leistungen in
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Schweden und Dänemark während des letzten Jahrzehnts weisen darauf hin, dass
dies der Fall ist.[19]
Der „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen“ weist mittlerweile in allen
Ländern Europas immer größere Löcher auf. Durch sie hindurch zeigt sich
offensichtlicher als je zuvor in den Zeiten der sozialstaatlichen Klassenkompromisse
nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Herrschaft des Prinzips der
Kapitalakkumulation über die Schicksale der Gesellschaften nicht gebrochen wurde.
Die Rede von der Alternativlosigkeit der Bankenrettung, mit der die Regierungen
Europas vor der Herrschaft der Finanzmärkte in die Knie gingen; die durch sie
gerechtfertigte Umwandlung der Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise, die
den Lohnabhängigen den Schutzmantel immer weiter zu entziehen droht, sprechen
eine unmissverständliche Sprache der Macht.[20]
Neu ist, dass sie keinerlei Verbrämung mehr zu bedürfen scheint. Wer würde es
wagen, ohne sich völliger Lächerlichkeit preiszugeben, die Bankenrettung als Rettung
der Freiheit zu deklarieren? Oder als Ausdruck des Fortschritts? Selten wurden die
Zumutungen des Kapitalismus den Menschen so illusionslos und pragmatisch
auferlegt. Dabei steigt in den europäischen Ländern auch innerhalb der Zonen der
Inklusion stetig der Preis, den die Lohnabhängigen entrichten müssen, um
Sicherheiten zu bewahren – in Gestalt von Arbeitsverdichtungen, fremdbestimmter
Mobilitätsbereitschaft, Einkommenseinbußen. Gleichzeitig breiten sich die Zonen
prekärer Arbeitsverhältnisse und mit ihnen prekärer Lebensverhältnisse aus. Gegenwehr wird blockiert durch die neuen Spaltungslinien entlang der Abstufungen von
Inklusion und Exklusion innerhalb der europäischen Länder und zwischen diesen.
Auch die „Wohlstandskonflikte“[21] haben in dieser neuartigen Gemengelage von
Klassen- und Teilhabeungleichheiten ihren Ursprung.[22]
Für Polanyi war es offenkundig, dass der Selbstschutz der Gesellschaft es erfordert,
Arbeit, Land und Geld der Herrschaft der Märkte zu entziehen.[23] Auf dieser
Grundlage wäre eine institutionelle Komplementarität denkbar, die sich grundlegend
von den zuvor genannten Formen unterscheidet. Es wäre eine Komplementarität, die
die jeweils eigenständige Bedeutung aller drei Inklusionsdimensionen für die
Individuen anerkennen würde – die über Bürgerrechte vermittelte Teilhabe, den über
die Arbeit vermittelten Status, die über soziale Nahbeziehungen vermittelte
persönliche Reziprozität. Im Unterschied zur Komplementarität der
Effizienzsteigerung und zur Komplementarität der Kompensation wäre es die
Komplementarität einander im Ziel der Inklusion entsprechender Institutionen. Sie
wäre die Voraussetzung dafür, dass die Individuen gemeinsam über ihr Leben und
die Entwicklung der Gesellschaft entscheiden könnten.
Eine solche institutionelle Verknüpfung ist derzeit nicht in Sicht. Alle Anzeichen
weisen indessen in die entgegen gesetzte Richtung. Überall in Europa, wenn auch in
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unterschiedlicher Intensität, wird die Marktabhängigkeit der Arbeit verstärkt und
werden soziale Rechte immer enger an die Bedingung, Lohnarbeit zu leisten,
geknüpft.[24] Solange dies geschieht, wird Inklusion mehr und mehr zum
zweifelhaften Privileg und werden die Teufelskreise der Exklusion zunehmen.
Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Artikels aus der
Zeitschrift Mittelweg 36, April/Mai 2014.
Literatur/Quellen:
Amable, Bruno 2003. The diversity of modern capitalism. Oxford, New York: Oxford
University Press.
Begg, Ian; Muffels, Ruud J.A.; Tsagloglou, Panos 2002. “Conclusions: social
exclusion at the crossroads of EU employment and inclusion policies”, in: Social
exclusion in European welfare states, hrsg. v. Muffels, Ruud J. A.; Tsakloglou, Panos;
Myes, David G., S. 308-339. Cheltenham, Northampton: Edward Elgar.
Betzelt, Sigrid; Bothfeld, Silke (Hrsg.) 2011. Activation and labour market reforms in
Europe: challenges to social citizenship. Houndmills, Basingstoke, New York:
Palgrave.
Castel, Robert 2000. Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der
Lohnarbeit. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz.
Crouch, Colin 2008. Postdemokratie. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp.
Deutschmann, Christoph 2009. „Geld als universales Inklusionsmedium moderner
Gesellschaften“, in: Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und
sozialen Ungleichheit, hrsg. v. Stichweh, Rudolf; Windolf, Paul, S. 223-239.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Farwick, Andreas 2004. „Segregierte Armut: Zum Einfluß städtischer Wohnquartiere
auf die Dauer von Armutslagen“, in: An den Rändern der Städte, hrsg. v.
Häußermann, Hartmut; Kronauer, Martin; Siebel, Walter, S. 286-305. Frankfurt am
Main: Edition Suhrkamp.
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September/Oktober 2014
Flecker, Jörg 2007. „Interne Flexibilisierung – von der Humanisierungsvermutung
zum Risikobefund“, in: Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, 2.
Auflage, hrsg. v. Kronauer, Martin; Linne, Gudrun, S. 73-93. Berlin: Edition Sigma.
Gallie, Duncan; Paugam, Serge (Hrsg.) 2000a. Welfare regimes and the experience of
unemployment in Europe. Oxford, New York: Oxford University Press.
Gallie, Duncan; Paugam, Serge 2000b. “The social regulation of unemployment”, in:
Welfare regimes and the experience of unemployment in Europe, hrsg. V. Gallie,
Duncan; Paugam, Serge, S. 351-374. Oxford, New York: Oxford University Press.
Groh-Samberg, Olaf 2009. Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur
Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.
Hall, Peter A.; Soskice, David (Hrsg.) 2001. Varieties of capitalism. Oxford, New
York: Oxford University Press.
Jørgensen, Henning 2009: “From a beautiful swan to an ugly duckling: changes in
Danish activation policies since 2003”. Paper for the ASPEN/ETUI activation
conference Brno, 20.-21. March
Kronauer, Martin 2010. Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch
entwickelten Kapitalismus. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Frankfurt am
Main, New York: Campus.
Kumm, Mattias 2012: “It’s the banks, stupid! Die Eurokrise als Demokratiekrise“, in:
WZB Mitteilungen 137, September, S. 10-12.
Luhmann, Niklas 1995: „Inklusion und Exklusion“, in: ders., Soziologische
Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, S. 247-264. Opladen: Westdeutscher
Verlag.
Luhmann, Niklas 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
Marx, Karl [1844] 1970. „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“,
in: Marx-Engels Werke Band 1, S. 378-391. Berlin: Dietz.
McCann, Dermot 2010: The political economy of the European Union. Cambridge,
UK, Malden, USA: Polity Press.
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Merton, Robert K. [1968] 2010. „Der Matthäus-Effekt in der „Wissenschaft“, in:
Sternstunden der Soziologie, hrsg. v. Neckel, Sighard; Mijić, Ana; von Scheve,
Christian; Titton, Monica, S. 453-477. Frankfurt am Main, New York: Campus.
Muffels, Ruud J. A.; Tsakloglou, Panos; Myes, David G. (Hrsg.) 2002. Social
exclusion in European welfare states. Cheltenham, Northampton: Edward Elgar.
Obinger, Herbert 2012. „Die Finanzkrise und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates”, in:
Leviathan, 40, 3, S. 441-460.
Paugam, Serge 2008. Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger
Edition.
Polanyi, Karl [1944] 1995. The Great Transformation. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft.
Schimank, Uwe 2009. „Die Moderne: eine funktional differenzierte kapitalistische
Gesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie, 19, 3, S. 327-351.
Streeck, Wolfgang 2011: Die Krisen des demokratischen Kapitalismus, in: Lettre
International, 95, S. 7-13.
Vogel, Berthold 2009. Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte
kommen. Hamburg: Hamburger Edition.
[1] Für wichtige Hinweise zum Text danke ich Hassan Givsan, Ulf Kadritzke, Ilse
Schütte-Kronauer, Sigrid Betzelt und Stephan Lessenich.
[2] Ausführlich hierzu Kronauer 2010.
[3] Den „Matthäuseffekt“ hat Robert K. Merton in die Soziologie eingeführt und sich
dabei auf das akademische Zitierwesen bezogen (Merton [1968] 2010). Im Folgenden
greife ich den Gedanken „wer hat, dem wird gegeben“ auf, ich werde allerdings
zeigen, dass er nur mit einer wesentlichen Einschränkung auf das Problem von
Inklusion und Exklusion übertragen werden kann.
[4] Vgl. Luhmann 1995, S. 149f; Luhmann 1997, S. 768f; kritisch hierzu Kronauer
2010, S. 127f.
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[5] Marx [1844] 1970, S. 385.
[6] Polanyi [1944] 1995
[7] Polanyi [1944] 1995, S. 182
[8] Ebenda, S. 108
[9] Dazu unter anderen Crouch 2008.
[10] Siehe dazu Kronauer 2010, S. 93-117, 254-260.
[11] Gallie/Paugam 2000; Muffels et al. 2002; Paugam 2008.
[12] Zur Begriffsbestimmung und den Formen der Exklusion, insbesondere den
Gleichzeitigkeiten des „Drinnen“ und „Draußen“ der Ausgrenzungen in hoch
entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Kronauer 2010.
[13] Farwick 2004.
[14] Deutschmann 2009; Schimank 2009. Ausführlicher dazu Kronauer 2010, S. 241246.
[15] Deutschmann 2009, S. 232.
[16] Schimank 2009, S. 339
[17] Ebenda, S.338
[18] Die Verbindungen zwischen Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Isolation waren
während der 1990er Jahre in Deutschland, Frankreich und im Vereinigten
Königreich besonders stark ausgeprägt (Gallie/Paugam 2000b, S. 370). Deutschland
und Frankreich gelten als Länder des „employment centered“ Wohlfahrtsstaatstyps,
das Vereinigte Königreich als (im Hinblick auf Arbeitsmarkt und soziale
Absicherung) „liberaler“ Wohlfahrtsstaat mit geringen Absicherungen gegen
Marktabhängigkeit. Auf die in diesen Ländern besonders hohen Ausgrenzungsrisiken
im Fall von Arbeitslosigkeit weisen auch Begg/Muffels/Tsakloglou 2002, S. 325 f.
hin.
[19] Vgl. für Dänemark Jørgensen 2009.
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[20] „In der Zeit zwischen Oktober 2008 und Oktober 2011 hat die Europäische
Kommission 4,5 Billionen (das sind 37 % des europäischen Bruttosozialprodukts und
mehr als das sechsfache das Stammkapitals des ESM) in Staatshilfen für
Finanzinstitutionen genehmigt. Bankenrettungen – die volkswirtschaftlich
kostenträchtigen Externalitäten eines schlecht geregelten Bankensektors – sind eine
wesentliche Ursache für die wachsende Verschuldung der Mehrheit hilfsbedürftiger
Staaten in der Eurozone“ (Kumm 2012, S. 10).
[21] Vogel 2009
[22] Ausgrenzungsrisiken sind sozialstrukturell ungleich verteilt, fallen gleichwohl
nicht mit der Klassenlage zusammen. Angehörige der Mittelklassen sind noch immer
weitgehend von Ausgrenzung verschont, nicht aber von begründeten
Abstiegsängsten. Für viele Berufseinsteiger aus diesen Klassen ist der Übergang in
berufliche Etablierung und die „Zone der Integration“ (Castel 2000, S. 13)
schwieriger geworden. Auch ein tarifvertraglich abgesicherter Arbeiter in
Vollzeitbeschäftigung bei der Automobilindustrie wird, nach seinen
Teilhabemöglichkeiten, der „Zone der Integration“ angehören, im Unterschied zu
dem in nächster Nähe mit denselben Arbeiten befassten Zeitarbeiter, dessen
Arbeits- und Lebensverhältnisse prekär bleiben. Ausgrenzungsrisiken wiederum
konzentrieren sich bei Angehörigen der Arbeiterschaft (Groh-Samberg 2009;
Kronauer 2010, S. 257-260).
[23] Polanyi [1944] 1995, S. 332 f. Hier führt er weiter aus, warum das Ende der
Herrschaft der Märkte über Arbeit, Land und Geld, somit das Ende der
„Marktgesellschaft“, nicht gleichbedeutend sein muss mit dem Ende aller anderen
Märkte.
[24] Vgl. hierzu Betzelt/Bothfeld 2011. Zu den Gründen und insbesondere dem
Einfluss der europäischen Institutionen liegt mittlerweile eine Fülle von Literatur
vor. Einen guten Überblick liefert McCann 2010.
Autor: Prof. (em.) Dr. Martin Kronauer, Professor für Gesellschaftswissenschaft an
der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin
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Stop talking – act now!
von Terry Reintke, Martina Hartung
Von Chancen und Enttäuschungen europäischer Arbeitsmarktpolitik für
junge Menschen
Nie hat Europa eine besser ausgebildete und besser vernetzte junge Generation
gesehen als heute. Nie gab es mehr Chancen, jungen Menschen bei ihrem Einstieg ins
Arbeitsleben die europäische Perspektive aufzuzeigen. Nie gab es ein größeres
Potential von grenzüberschreitender Mobilität, die Europa einigt.
Dennoch: In Griechenland sind mehr als 50% der Jugendlichen arbeitslos, in
Deutschland arbeitet jeder dritte junge Mensch im Niedriglohnsektor, in Spanien
leben in einigen Regionen mehr als 80% der Unter-30-Jährigen noch oder wieder bei
ihren Eltern. Die traurige Rekordmarke von 50 % hatte Griechenland schon im
November 2011 geknackt und 34 Monate später ist noch immer keine Veränderung
für die Jugendlichen in Sicht. Seit dem Beschluss zu einer Jugendgarantie der Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union im November 2013 ist es
verhältnismäßig ruhig geworden um die Debatte über Jugendarbeitslosigkeit in
Europa.
Die europäische Wirtschaftskrise ist noch allgegenwärtig und die Erfahrungen
beweisen immer wieder: Junge Menschen sind die ersten, die den Job verlieren und
die Letzten, die einen Job finden. Sie konkurrieren mit Millionen anderen
Jobsuchenden auf dem Arbeitsmarkt. Auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz befinden sie sich in einer besonders schwierigen Verhandlungsposition
gegenüber den Unternehmen und so werden viele in Leiharbeit, Praktika oder völlig
unterbezahlte Arbeitsverhältnisse gedrängt. Junge Menschen sehen sich mehr und
mehr gezwungen „unter Wert“ zu verkaufen, um erstmal Berufserfahrung zu
sammeln.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat im letzten Jahr bestätigt, dass
Jugendliche bis um das Vierfache stärker von der Wirtschaftskrise betroffen sind als
Erwachsene. Dabei fällt der Blick nicht nur auf die südlichen Krisenstaaten wie
Spanien, Griechenland oder Italien, sondern ebenso auf die baltischen Länder. Auch
in Kroatien ist die Jugendarbeitslosenquote ungebrochen hoch und liegt bei 42%
(Quelle: Eurostat, Stand: Mai 2014). Die politisch forcierte Deregulierung der Arbeit
brachte kurzfristig Aufwind für die Beschäftigungssituation von jungen Menschen,
erweist sich aber im konjunkturellen Abschwung als Bumerang.
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Prekarisiert bis in die Fingerspitzen
„In der einen Hälfte der Mitgliedsstaaten haben wir keinen Job und wohnen wieder
bei unseren Eltern. In der andern Hälfte brauchen wir drei Jobs oder staatliche
Hilfe, um unsere Wohnungen bezahlen zu können.“
Rosige Zeiten für junge Menschen in Europa? Pustekuchen. Junge Menschen, obwohl
sie wohl am wenigsten zur Entstehung der Krise beigetragen haben, sind am
stärksten von ihr betroffen. Ihre jahrelange Arbeitslosigkeit oder prekäre
Beschäftigung wird sich langfristig negativ auf ihr weiteres Leben auswirken. Die
sogenannte NEET-Generation, meint „not in employment, education or training“,
wächst stetig an auf inzwischen mehr als 7,5 Millionen Betroffene. Sie haben wenig
Perspektiven und fragen deshalb zurecht: Was macht die Europäische Union
eigentlich für uns? Deshalb gehen sie auf die Straße, fordern Gerechtigkeit und
Respekt. Und vor allem fordern sie Beschäftigungsperspektiven. Unkreativ sind sie
dabei nicht. In Griechenland beobachten wir derzeit eine wahre Blütezeit von kleinen
Startups im Bereich von solidarischer Ökonomie, die in den meisten Fällen von
jungen Menschen initiiert wurden. Der Weg in die Selbstständigkeit ist eine
verzweifelte Reaktion auf die Ohnmacht der Regierungen, die nach wie vor keine
wirkungsvollen Lösungen für die jungen Menschen haben. Anstatt
Jugendarbeitslosigkeit als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, verlagern sie das
Problem auf das Individuum und fordern jugendliche Arbeitslose regelrecht dazu auf,
ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen.
Und was soll die EU jetzt machen?
„Ich habe drei Master und fünf Praktika gemacht. Ich will endlich arbeiten und Geld
verdienen!“
Die EU muss diese Ohnmacht überwinden. Mit der europäischen Jugendgarantie hat
sie einen ersten Schritt getan, jungen Menschen wieder Perspektiven zu eröffnen. Die
„Garantie“ soll Jugendlichen nach viermonatiger Arbeitslosigkeit die Möglichkeit auf
einen Ausbildungsplatz, eine Weiterbildung, ein Praktikum oder einen Job geben.
Die Finanzierung ist derzeit allerdings fraglich. Die 8 Milliarden Euro, die aus dem
EU Budget zur Verfügung gestellt werden, reichen nach ExpertInnenschätzungen
keinesfalls, um das Problem wirklich erfolgreich zu bekämpfen. Aufgrund der
beträchtlichen Zahlen von jungen Menschen ohne Erwerbsarbeit – vor allem in
Südeuropa – werden von der ILO mindestens 21 Milliarden Euro gefordert, um die
Jugendgarantie erfolgreich umzusetzen. Zudem steht die Altersgrenze in der Kritik.
Viele junge Menschen brauchen eine Förderung auch über das 25te Lebensjahr
hinaus. Viele Studierende würden beispielsweise von den Beschäftigungsmaßnahmen
aufgrund ihres Alters ausgeschlossen werden, stehen aber genauso vor der
Herausforderung ihren Weg ins Berufsleben zu finden. Außerdem sind auch Praktika
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Teil der Vereinbarungen, von denen viele junge Arbeitslose aber bereits unzählige
absolviert haben. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass durch die
Austeritätspolitik der letzten Jahre genau die Strukturen geschwächt wurden, die
jungen Menschen bei den Übergängen zwischen Studium/Schule und Beruf unter die
Arme greifen sollen. Die Jugendbehörden und öffentlichen Verwaltungen wurden
massiv rationalisiert und tausende Berufsberater sind entlassen. Jungen Menschen,
die auf dem Arbeitsmarkt unerfahren sind, müssen aber die Möglichkeiten aufgezeigt
werden, wie sie den Einstieg finden. Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten müssen
aktiv angeboten werden und es muss Beschäftigungsanreize geben, Schulabschlüsse
nachzuholen.
Die Politik verlangt von den jungen Menschen mehr Flexibilität und Mobilität. Wenn
es um Bewegungsfreiheit geht, ist vor allem die EU in der Pflicht. Die Mobilität muss
aber eine Chance und kein Zwang sein. Denn die Perspektiven mobiler Jugendlicher
werden von der sogenannten Portabilität sozialer Rechte - der
ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit – eingeschränkt, denn das bedeutet auch für junge
Menschen eine mögliche „Prekarisierungs- und Existenzfalle“. Die Praxis zeigt leider,
dass entsandte Beschäftigte in besonderem Maße von Lohn- und Sozialdumping
betroffen sind. Was aber, wenn es keine wirklich Alternative für junge Menschen gibt
und sie ins Ausland gehen müssen? Es wird Geld in die Hand genommen, um gleich
ganz auszuwandern. Die Investitionen erhöhen den Druck enorm, denn man muss
nun im anderen Land kurzfristig erfolgreich bei der Jobsuche sein, was wiederum das
Risiko der Ausbeutung verstärkt. Denn ohne Sprachkenntnisse und dem Wissen über
gesetzliche Regelungen des jeweiligen Landes sind die jungen Menschen einer
besonders schutzlosen Situation ausgesetzt.
Die Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen und auch der Europäischen Union liegt
darin, die Eingliederung junger ArbeitsmigrantInnen zu unterstützen und
Aufklärungsarbeit zu leisten. Mit der neuen Entsenderichtlinie wurde die Ausbeutung
der Beschäftigten nicht endgültig eingedämmt. Es braucht daher mehr denn je
verbindliche nationale und europäische Regeln, die Lohn- und Sozialdumping und
den Missbrauch der Dienstleistungsrichtlinie verhindern. Zudem wird es Zeit, den
Niedriglohnsektor effektiv zu regulieren und es wird Zeit für einen europaweiten
Mindestlohn, um ein Lohndumping – wie es gerade von Deutschland in Europa
betrieben wird – zu verhindern.
Über diese Fragen zum Schutz vor Ausbeutung von jungen Beschäftigten im Ausland
macht sich das Europatriates-Konzept von Peter Hartz und der SHS Foundation nur
äußerst begrenzt Gedanken (vorgestellt im Juni 2014). Peter Hartz´s EuropatriatesKonzept liest sich wie ein Arbeitsvermittlungskonzept für ganz Europa mit hohen
Zielen. Im Grunde geht es dabei um die individuelle Förderung und die temporäre
Vermittlung in andere Länder von über 18jährigen, arbeitslosen Jugendlichen.
Mittels der sogenannten „Talentdiagose“ würden Fähigkeiten, Fertigkeiten und
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Interessen des jungen Menschen ermittelt und ein persönlicher Entwicklungsplan
erstellt. Parallel dazu soll ein sogenannter „Beschäftigungsradar“ herausfinden, in
welchen Ländern, welchen Regionen und welchen Branchen
Beschäftigungspotentiale am Arbeitsmarkt ausfindig zu machen sind. Das Ziel des
Programms ist es, dass Jugendliche für einen befristeten Zeitraum im Gastland
Berufserfahrung sammeln, die ihnen im eigenen Land später helfen soll, einen Job zu
finden. Hartz´ Expertenrunde beziffert für das Programm das notwendige Volumen
auf etwa 215 Milliarden Euro. Allein in Deutschland wären nach dieser Rechnung
13,52 Milliarden Euro nötig, um die Arbeitslosigkeit der Unter-25-Jährigen zu
beseitigen. Für die Finanzierung werden bestehende öffentliche Förderprogramme
und die Unterstützung aus dem Europäischen Investmentbank Fonds eingeplant. Mit
diesen Geldern soll eine Ausbildung finanziert werden, die sonst so nicht zustande
käme. Unklar bleibt dabei, woher die Betreuungs- und Vermittlungsstrukturen
kommen sollen und welche Personengruppen die vorgeschaltete, strukturiere
Auswahl in den Fokus für den Erfolg des Konzeptes nimmt und welche auch
weiterhin vorm europäischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben.
Was können wir tun?
„Mehr politischer Druck in ganz Europa – sowohl aus den Parlamenten als auch
von der Straße – ist nötig.“
Politisch wird sich nur etwas ändern, wenn wir von den weit verbreiteten
Individualisierungstendenzen des Problems wegkommen. Diese Krise und ihre
sozialen und ökonomischen Auswirkungen sind keine Naturkatastrophe, vor der
junge Menschen einsam verzweifeln müssen. Sowohl die Krise als auch die falsche
Austeritätspolitik sind von Menschen gemacht und damit auch überwindbar. Es sind
falsche politische Entscheidungen getroffen worden – von der absoluten
Deregulierung der Finanzmärkte bis hin zur Prekarisierung weiter
Bevölkerungsschichten in der Arbeitsmarktpolitik -, die nicht weiter kopiert und
vorangetrieben werden sollten. Mehr als die Hälfte aller Stellen, die junge
Beschäftigte seit 2008 verloren haben, waren befristet. Flexibilisierung ist also keine
nachhaltige Antwort, um auf gravierende Schwankungen am Arbeitsmarkt
vorbereitet zu sein. Es braucht politischen Druck, um die fehlgeleitete Politik in
vielen Bereichen wieder auf den richtigen Weg zu bringen und die sozialen Rechte
der EuropäerInnen wieder zu stärken anstatt sie zu unterminieren. Ein soziales
Europa ist ein Europa der starken ArbeitnehmerInnenrechte.
Die europäischen Jugendorganisationen und allen voran die Gewerkschaftsjugend
nehmen hier eine absolut zentrale Rolle ein. Es geht um die Mitbestimmung bei der
Umsetzung der Jugendgarantie; es geht um den Kampf für gute Ausbildung und
Praktika; es geht um menschenwürdige Arbeit für alle jungen Menschen und eine
nachhaltige Beschäftigungspolitik. Und es braucht die Diskussionen, auch zu einer
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europäischen Arbeitslosenversicherung, seien es Debatten in den Institutionen als
auch Aktionen auf der Straße. Jungen Menschen sollte mehr politische
Verantwortung übertragen werden. Sie brauchen endlich Unterstützung – jetzt.
Autorinnen: Terry Reintke, geboren 1987 in Gelsenkirchen, Mitglied des
Europäischen Parlaments für Bündnis 90/Die Grünen, Martina Hartung,
ehemalige Präsidentin der UNI-Europa Jugend
Das beklaute Gemeinwesen (Kolumne)
von Robert Misik
Gabriel Zucman, Forschungskollege von Thomas Piketty, hat erstmals seriös die
Kosten von Vermögensflucht berechnet: 6 Billionen Euro sind undeklariert,
mindestens 130 Milliarden kostet das jährlich die Staaten. Dabei könnte man
Steueroasen wie die Schweiz und Luxemburg leicht trockenlegen.
Unter den Reichen bricht die Panik aus. Ab 2017 will sich das Gros der Industrie- und
Schwellenländer gegenseitig über die Kapitalerträge ausländischer Kunden
informieren. Aber schon jetzt, nach den spektakulären Fällen Zumwinkel, Schwarzer
und Hoeneß, wird vielen Schwarzgeld-Besitzern das Pflaster zu heiß. In kleinen
Päckchen oder ganzen Kofferraumladungen schmuggeln sie ihr Geld heim,
beispielsweise aus der Schweiz. 2013 haben deutsche Zöllner die Rekordsumme von
573 Millionen Euro sichergestellt. Wer hohe Geldbeträge, und sei es nur einige
tausend Euro bei sich trägt, zumal in druckfrischen Scheinen, womöglich auch keinen
triftigen Grund für einen Schweiz-Aufenthalt nennen kann, der wird vom Zoll bei
seinem Wohnsitzfinanzamt gemeldet.
Die Finanzplätze, die sich mit ihrem Bankgeheimnis und vielerlei Tricks auf
Steuervermeidung spezialisiert haben, schaden den anderen Staaten gleich auf
vierfache Weise:
Erstens bieten sie reichen Privatleuten eine Möglichkeit, ihr Geld steuerschonend zu
verstecken.
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Zweitens sind sie dadurch hauptverantwortlich dafür, dass auch in den "normalen
Staaten" Kapitalerträge meist deutlich geringer besteuert werden als andere
Einkommensarten und Erbschaftssteuern reduziert oder ganz abgeschafft wurden als Anreiz an die Reichen, ihr Geld doch im eigenen Land zu lassen.
Drittens bieten sie multinationalen Unternehmen die Möglichkeit, ihre Gewinne
durch kreative Buchführung in den Steuervermeidungs-Ländern anfallen zu lassen,
wo nur eine niedrige oder gar keine Körperschaftssteuer anfällt.
Und viertens zwingen sie die anderen Länder damit, ihre eigenen entsprechenden
Steuersätze zu reduzieren.
Ist damit jetzt also bald Schluss, weil die Superreichen die Angst in den Knochen
steckt, sie könnten erwischt werden?
"Nein, dafür ist sehr viel mehr Druck notwendig", meint Gabriel Zucman. Ich habe
ihn telefonisch zwischen zwei Lectures in seinem Büro in der London School of
Economics (LSE) erwischt. "Es reicht nicht, wenn man die Personen und Banken, die
davon profitieren, einfach höflich um Kooperation bittet." Der französische Ökonom,
27, ist ein Jungstar seines Metiers, ein enger Mitarbeiter von Thomas Piketty, dem
neuen Pop-Star-Ökonomen. Zucman forscht in Berkeley und unterrichtet an der LSE.
Und wie Piketty ist er zu allererst einmal eine Art Datenforensiker der Ökonomie, ein
detailversessener Empiriker, der Zahlen zusammenträgt und hinterher daraus seine
Schlüsse zieht. Er hat die verlässlichsten Daten über das Ausmaß und die Struktur
der globalen Steuervermeidung gesammelt. Sein Buch "Steueroasen. Wo der
Wohlstand der Nationen versteckt wird", erschien gerade im Suhrkamp-Verlag.[1]
Zucmans Berechnungsmethoden sind komplex, aber im Kern lassen sie sich so
vereinfachen: Aus der Erfahrung weiß man, dass reiche Leute ihr Geld vorwiegend in
Wertpapieren wie Anleihen oder Aktien anlegen. Damit halten sie Eigentum an
irgendwelchen über den Globus verstreuten Werten. Bei einem Großteil der
Vermögenswerte weiß man, dass sie in amerikanischen, deutschen, französischen
oder sonstigem Eigentum sind. Aber die Summe von Vermögen und
Zahlungsverpflichtungen geht global nicht auf - was eigentlich nicht sein kann. Es
klafft eine Lücke, was heißt, ein Teil der Eigentümerschaft ist vollends verschleiert.
Auf Basis dieser Datensätze schätzt Zucman, dass global acht Prozent der privaten
Finanzvermögen in Steueroasen angelegt sind. "In der Europäischen Union ist der
Anteil mit annähernd zwölf Prozent noch höher", erklärt er. Knapp sechs Billionen
Euro sind derzeit undeklariert auf der Flucht, was den Staaten Steuerausfälle von 130
Milliarden Euro beschert. "Überwältigend" seien die Berechnungen, das bescheinigt
Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman Zucmans Arbeit.
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Die neuen Wilden und die alten Werte
"Die neuen Pariser Wilden meinen es ernst", schrieb die "Zeit" unlängst mit Hinblick
auf Zucman und Piketty. Es zeige sich, dass Piketty kein Einzelfall ist, sondern Teil
einer Schule junger Ökonomen, die gemeinsam im Stakkato beginnen ihre Studien
öffentlichkeitswirksam zu platzieren um damit den globalen ökonomischen und
wirtschaftspolitischen Diskurs in eine neue Richtung zu manövrieren.
Der „wilde“ Forscher zerpflückt auch das Urteil, dass dem traditionellen
Schwarzgeldhafen Schweiz durch Steueroasen wie Luxemburg, die Kanalinseln, die
Jungferninseln, Hongkong, Singapur oder Fluchtgelddestinationen in der Karibik
"Konkurrenz" gemacht würde. Es ist eher anders: Die verschiedenen
Fluchtgelddestinationen werden kreativ und individuell angepasst kombiniert. Und
davon profitieren nur die wirklich Superreichen. Die können, im Unterschied zu
kleinen Schwarzgeldtätern wie Alice Schwarzer, ihr Geld weiter in Sicherheit bringen.
Das funktioniert ganz einfach und wird immer wieder an die neuen Gesetzeslagen
angepasst.
Die Kunden haben beispielsweise in der Schweiz ihr Konto. Darüber kaufen sie dann
Anteile eines Fonds in beispielsweise Luxemburg. Und schon ist das Geld nicht mehr
in der Schweiz. Heute befinden sich rund 30 Prozent der Offshore-Vermögen in der
Schweiz, die restlichen 70 Prozent (rund 4000 Milliarden Euro) in anderen
Steuerparadiesen. Von 2009 bis 2013 stieg laut Zucmans Berechnungen allerdings
die Gesamtsumme der in der Schweiz verwalteten Vermögen von Devisenausländern
um 14 Prozent - von einem Austrocknen der Steueroasen kann also kaum die Rede
sein. Dass die Angst die Superreichen also zur Legalisierung ihrer Vermögen treiben
würde wird von den Daten jedenfalls nicht bestätigt. "Ich wäre der erste, der das zur
Kenntnis nehmen würde, denn es würde sich in den Zahlen zeigen, dass schon die
jetzigen Maßnahmen wirken. Aber das ist bisher nicht zu erkennen", sagt Zucman.
Der zweite Trick, mit dem die Steueroasen ihr Geschäftsmodell verfeinern,
funktioniert folgendermaßen: Da sich die EU-Richtlinien zur Vermeidung von
Steuerflucht auf natürliche Personen beschränken - also auf Private mit dem
legendären anonymen Nummernkonto in der Schweiz -, nicht aber juristische
Personen umfassen, wird für die betuchten Kunden einfach eine Briefkastenfirma
gegründet, sei es in Luxemburg, auf den Kanalinseln oder sonst wo. Das kostet ein
paar hundert Euro Gebühr und dauert wenige Minuten. Schon fällt nicht einmal
mehr eine Quellensteuer auf Zinsgewinne an. Heute werden über 60 Prozent aller
Konten in der Schweiz von solchen Briefkastenfirmen gehalten.
Die dritte Variante im Steuervermeidungsspiel ist der völlig legale Betrug durch
große multinationale Unternehmen, wie Apple, Amazon, Google oder Starbucks. Sie
verlegen ihre Firmenzentralen in Länder wie Luxemburg, in denen sie ihren
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Körperschaftssteuersatz faktisch selbst bestimmen können. Und dann führen sie
firmenintern alchemistische Verrechnungssysteme ein, deren Illustration
kunstpreisverdächtig ist. Obwohl die großen Gewinne der Firmen in Deutschland,
Frankreich und anderswo erwirtschaftet werden, fallen durch diese fantasievolle
Buchhaltung überhaupt keine Gewinne mehr an. Das machen die Konzerne so, dass
die Luxemburger Zentrale den Dependancen ausgedachte Preise für Lizenzen, die
Benutzung des Logos oder den Gebrauch des Markennamens in Rechnung stellt. Die
Kosten für diese "immateriellen Werte" betragen - welch ein Zufall! - ziemlich
genauso viel, wie die betreffende Firma an Gewinn erwirtschaftet. So fallen alle
Gewinne in Körperschaftssteuer-Paradiesen an. Amazon zahlt somit trotz eines
Umsatzes von 8,7 Milliarden Euro in Deutschland gerade einmal 3,2 Millionen
Steuern. Wieviel dieses „Spiel“ global kostet, ist, so Zucman, "schwer abzuschätzen,
aber der Schaden ist sicherlich ein Mehrfaches dessen, was die private Steuerflucht
verursacht". Wenn man das Doppelte annimmt, ist man sicherlich auf der sicheren
Seite. Zucman: "Wir dürfen ja auch nicht vergessen: Diese Praktiken sind völlig legal,
im Unterschied zur privaten Steuerflucht und -hinterziehung."
Der Schaden und Pläne der Neuregelung
Das Problem der „internen Verrechnung“ wird im Zeitalter immaterieller Werte
immer drückender. Wenn beispielsweise ein Unternehmen seiner lokalen Filiale für
eine Banane 300 Euro in Rechnung stellt, ist eigentlich jedem Steuerprüfer klar, dass
das ein getürkter Verrechnungspreis ist. Aber für Logos, Marken, Lizenzen und
ähnliches gibt es keinen Markt. Firmen können dann intern verrechnen, was sie
wollen. Das gilt auch für Patente, etwa in der Pharmaindustrie. Der Schaden für die
Volkswirtschaften aus all diesen Operationen summiert sich global auf 130 Milliarden
Euro. Das sind Steuerausfälle, die fast den Ausgaben des Staates Österreich in einem
Jahr entsprechen.
All das reißt nicht nur tiefe Löcher in die Staatshaushalte und untergräbt die
Steuergerechtigkeit, es verzerrt auch den kapitalistischen Wettbewerb. Die
Steuerprivilegien sind nichts anderes als Subventionen für Multis auf Kosten anderer
großer oder mittelgroßer Unternehmen. Deswegen ist jetzt auch die EU-Kommission
aktiv geworden und hat ein Verfahren gegen Luxemburg, aber auch gegen Irland und
die Niederlande wegen Wettbewerbsverzerrung eröffnet. Auf 30 Milliarden Euro
insgesamt schätzt Zucman die Kosten der Steuervermeidung durch Konzerne und
durch die Steuerflucht der Reichen für Deutschland.
Die bis jetzt geplanten Neuregelungen werden aber kaum etwas an dem Problem
ändern, da ist sich Zucman sicher. Die Schweizer Banken werden ein paar
Privatanleger über die Klinge springen lassen, aber den großen Investoren dafür
umso sicherere Konstruktionen anbieten. Wer auf das Wohlwollen betrügerischer
Banker setzt, der ist naiv, glaubt Zucman. Und auch Luxemburg, das eigentlich kein
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Land mehr ist, sondern eine Plattform der globalen Finanzindustrie, werde von
seinem Geschäftmodell nicht so leicht abrücken.
Auf die Schweiz könne jedoch massiver Druck über Strafzölle ausgeübt werden. Diese
wären übrigens auch im Rahmen des WTO-Freihandelsabkommens legal, sofern
Zölle exakt den Schaden ausgleichen, der durch die Steuerflucht produziert wird.
Nach Zucmans Berechnungen würde dieser Wert bei Strafzöllen von 30 Prozent auf
Schweizer Produkte liegen. Und er ist überzeugt: Schon die Drohung würde
ausreichen, sofern sie nur glaubwürdig ist. Zucman: "Die USA haben alle Gewinne,
die in die Schweiz transformiert wurden, mit einer Strafsteuer belegt und den
Schweizer Banken Strafzahlungen aufgebrummt. Das hat gewirkt. Die EU müsse
ähnlich entschlossen sein."
Freilich: Manche der Steueroasen sind Mitglied der EU, wie Luxemburg und die
Kanalinseln, die zu Großbritannien gehören. Die EU kann schwer einem
Mitgliedsland mit Strafzöllen und Handelskrieg drohen, schon aus realpolitischen
Gründen nicht. Auch wenn heute jedem klar sein müsste, wie hoch der Schaden ist,
der durch den Unternehmenssteuer-Wettlauf nach unten verursacht wird - so dreht
sich die Abwärtsspirale munter weiter. Erst unlängst gab die portugiesische
Regierung bekannt, den Körperschaftssteuersatz von 25 auf 19 Prozent zu reduzieren.
Sie begründete die Senkung damit, dass der Steuersatz gleichauf mit dem Polens und
Tschechiens liegen müsse, um Investoren anzuwerben.
Zucman hat aber auch ein paar gute Nachrichten: Würde man mit massivem Druck
gegen jene Länder vorgehen, die die Beihilfe zur - illegalen - Steuerhinterziehung zu
ihrem Geschäftsmodell machten, so würden es die Steueroasen wohl nicht auf einen
Showdown ankommen lassen, da sie von der Steuerflucht keineswegs dramatisch
profitieren. Ihr Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Schaden der anderen Länder,
die gleichzeitig angesichts dramatisch gestiegener Schuldenstände das Geld
brauchen. Ist ja auch logisch: Die Steuervermeider gehen ja gerade in die Oasen, weil
dort keine oder kaum Steuern erhoben werden. Die Schweizer Banken haben einen
Nutzen in Form der Gebühren, die sie kassieren, der Schweizer Staat aber kaum. Nur
wenig mehr als drei Prozent tragen die Steuerflucht-Gewinne zum BIP der Schweiz
bei. "Das ist ein beachtlicher, aber kein lebenswichtiger Beitrag", urteilt der Forscher.
"Entgegen verbreiteten Vorstellungen lebt die Schweiz nicht von der
Schattenfinanzwirtschaft."
Ähnliches gilt für Luxemburg: Es profitiert in Maßen von den zehntausenden
Bankern, die jeden Morgen in das kleine Land strömen und abends wieder
heimfahren - auch wenn die Banken kaum Unternehmenssteuern zahlen, die
Beschäftigten zahlen doch Lohn- und Einkommenssteuer. Aber die normalen
Luxemburger haben wenig von dem Geschäftsmodell. Ihre Wohlfahrt hat sich in den
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vergangenen Jahren eher verschlechtert. Die Ungleichheit hat dramatisch
zugenommen.
Der fehlende politische Wille
Mit entschiedenem Druck könnten die großen Volkswirtschaften der Welt die
Steueroasen leicht trockenlegen, ist Zucman überzeugt. Denn die Steueroasen sind
ökonomisch bedeutsam, machtpolitisch aber Zwerge. Und er hat auch ein paar
Vorschläge, wie künftig alle neuen Schlupflöcher geschlossen werden könnten: zum
Beispiel die Einrichtung eines globalen Vermögenskatasters, sodass von jedem
Vermögenstitel bekannt ist, wer der Eigentümer ist. Das klingt utopisch, ist es aber
nicht. Die Daten sind längst vorhanden, nur eben nicht synchronisiert. Mit etwas
mehr als ein paar Mausklicks ließe sich das machen.
Ein weiterer Vorschlag: Eine globale Körperschaftssteuerregelung für multinational
operierende Unternehmen, durch die kreative interne Verrechnungen verhindert
werden, ohne dass die Staaten gezwungen sind, deswegen gleich alle den gleichen
Steuersatz zu erheben. Technisch ist das alles keine große Kunst und erfordert auch
keineswegs eine einheitliche Normierung aller Steuersätze. Nein, man müsse sich nur
auf eine gemeinsame Berechnungsmethode einigen, die dann jedem Land seinen
Anteil an der Gewinnerwirtschaftung eines Multis zuweist, bei dem eben alle
Faktoren berücksichtigt werden: Wo wird geforscht? Wo wird konsumiert? Wo wird
produziert? Dann könnte immer noch jedes Land für sich entscheiden, welchen
Steuersatz es einhebt. Ist das realpolitisch unmöglich? "Ach, ich bin durchaus
optimistisch", sagt Zucman. Letztlich ist alles nur eine Frage des politischen Willens.
Literatur/Quellen:
[1] Gabriel Zucman: Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird.
Suhrkamp-Verlag, 2014. 120 Seiten, 12,- €
Autor: Robert Misik, Österreichischer Publizist und Journalist, geboren am 3. Januar
1966 in Wien
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German Organizing (Buchrezension)
von Thomas Greven
Rezension über: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die
Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip
Beteiligung, Hamburg: VSA.
Nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem Konzept und der Praxis des USamerikanisch inspirierten „Organizing“ versucht die IG Metall nun die
Deutungshoheit über Organizing in Deutschland zu erlangen und mit „German
Organizing“ (S. 22, S. 68 etc.) quasi eine Marke zu prägen. Sie greift dafür auf die
vom Vorsitzenden Detlef Wetzel seit 2005 in NRW unternommenen eigenen
Erneuerungsversuche zurück, die im Untertitel des Buches mit dem „Prinzip
Beteiligung“ aufgerufen werden. Es ist verständlich und wird nicht nur in diesem
Buch immer wieder betont, dass Organizing nicht ohne weiteres in jedem Land gleich
umgesetzt werden kann; denn die rechtlichen, kulturellen und politischen
Institutionen und die organisatorischen Gegebenheiten sind zu verschieden. Insofern
leuchtet die Qualifizierung „German Organizing“ ein, auch wenn man über den
Anglizismus schmunzeln mag. Das anfängliche Abwarten und die Verbindung des
Konzeptes mit den eigenen Reformanstrengungen könnte sich also für die IG Metall
gelohnt haben. Zumindest sind die Rahmenbedingungen gut und die Beobachtung
der Vorreiterorganisation Ver.di in diesem Feld konnte Irr- oder wenigstens
Umwege, wie Anlehnungen an US-Konzepte in der Ausbildung, verhindern. Die
Resultate werden sich jedoch erst in der Zukunft zeigen, aber die in diesem Buch
dokumentierte Kombination aus Programmatik und Zwischenbilanz, angereichert
mit Erfahrungsberichten von außerhalb (der IG Metall und Deutschlands), gibt schon
jetzt Gelegenheit zu einer vorläufigen Bewertung.
Durchaus programmatisch propagiert Wetzel einen neuen Betriebsbegriff entlang
von Wertschöpfungsketten sowie eine neue internationale Anschlussfähigkeit der
Gewerkschaftsarbeit (S. 21) und betont, dass „German Organizing“ mehr sein muss
als Leuchtturmprojekte, nämlich eine systematische Veränderung der
gewerkschaftlichen Praxis mit dem Ziel einer „Kollektivität zur Selbstlösung mit
Unterstützung der IG Metall“ (S. 26). Die traditionellen Stärken der deutschen
Industriellen Beziehungen sind auch hierfür Grundlage. Es ist wichtig, dies zu
betonen, weil die mit Organizing verbundene Aktivierung der Beschäftigten ja
durchaus Unruhe in die sozialpartnerschaftlichen Arrangements bringt. Hier wie im
gesamten Buch kommt aber zu kurz, dass die notwendige Balance zwischen
Institutionalisierung und Mobilisierung noch gefunden werden muss, genauso wie
die Balance zwischen Service/Stellvertretung und Beteiligung/Selbstvertretung.
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Chancen und Risiken
Im Papier zur „mitgliederorientierten Offensivstrategie“ von 2008, die hier
dokumentiert wird, heißt es: „Wo tradierte Aushandlungsmechanismen infrage
gestellt werden, kann nur die eigene betriebliche Stärke, ausgedrückt in einem
hohen Organisationsgrad, zumutbare Kompromisse und Erfolge erzielen“ (S. 51).
Will man das deutsche System der Industriellen Beziehungen bewahren und stärken,
dann fehlt hier allerdings ein Wort; es müsste „zunächst nur“ heißen. Und wenn die
Erneuerung der geschwächten institutionellen Arrangements tatsächlich gelänge,
stellte sich dann aber nicht wiederum die Frage, wie in einem solch stabilen System
die erneute Verknöcherung verhindert werden kann? Selbstverständlich ist dies den
Strategen der IG Metall klar, sie haben ihren Robert Michels gelesen; die neu
gewonnene betriebspolitische Stärke soll die Basis des gewerkschaftlichen Handelns
erneuern, nicht Institutionen ersetzen – doch man läse gerne eine grundsätzlichere
Auseinandersetzung, die noch am ehesten Heiner Dribbusch anbietet (S. 114ff).
Die Autoren des Ressorts Strategische Erschließungsprojekte der IG Metall schreiben
die Risiken der Beteiligungsstrategie dagegen klein: „Handelt es sich wirklich um
etwas anderes als den ganz normalen Willensbildungsprozess von demokratisch
verfassten Organisationen?“ (S. 84) Die Antwort ist vor allem dann Nein, wenn die
im Organizing entwickelten Strukturen („Aktivenkreise“) in die traditionellen
Vertretungsstrukturen überführt werden. Wie wird dann aber mittel- und langfristig
die Mobilisierungsfähigkeit bewahrt? Diese Institutionen hatten diese ja oft genug
verloren! Aktuell überwiegt wohl die Beteiligungsbegeisterung, denn Organizing
erhöhe die „Input-Legitimität“ (S. 87). Dies ist gut verständlich, aber es darf nicht aus
dem Blick geraten, dass im Zuge der Globalisierung vor allem auch die globalen
Institutionen verändert werden müssen, weil sonst angesichts der
Unterbietungskonkurrenz alle Beteiligung wenig nützt.
Interpretationen
Nicht alle Beiträge halten das Niveau; insbesondere der Organizing-Guru Tom
Woodruff enttäuscht analytisch (und nicht nur bezüglich Deutschlands und Europas)
mit wenig strukturierten und arg idealistischen Ausführungen. Die Fußnote der
Herausgeber zur angeblich fehlenden gesetzlichen Rentenversicherung in den USA
(S. 45) – Social Security ist mittlerweile fast achtzig Jahre alt – zeigt eine Schwäche
nicht nur des Buches, sondern der ganzen deutschen Organizing-Debatte, wenn es
um den transnationalen Lernprozess und seine Schwierigkeiten geht: Die
amerikanischen Bedingungen sind oft nicht ausreichend verstanden (wie umgekehrt
den Amerikanern meist die Kenntnis der deutschen industriellen Beziehungen fehlt).
Offensichtlichstes Beispiel: Immer wieder schreiben deutsche Autoren vom USOrganizing, als wäre es eine jüngere Innovation. Tatsächlich gab es amerikanische
Gewerkschaften nie ohne Organizing. Bei der Adaption der Konzepte und der
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Definition eines eigenen Begriffs von Organizing hat man durchaus Freiheiten, wenn
es allerdings zum organisationspolitisch motivierten „cherry-picking“ kommt, d.h.
wenn z.B. absichtlich institutionelle und kulturelle Voraussetzungen bestimmter
Praxen verschwiegen werden, kann die Übertragung nicht gelingen. Das wird gerade
an dem für den Diskurs der IG Metall so wichtigen Begriff „Beteiligung“ deutlich. Die
durchaus wichtige SEIU-Kampagne Justice for Janitors zur Wiederherstellung (!) der
gewerkschaftlichen Organisierung von Reinigungskräften wird bisweilen dargestellt
und diskutiert, als ob man den Film „Bread and Roses“, den der britische Regisseur
Ken Loach über sie drehte, oder SEIU-Sprech über „Emanzipation“ etc. für bare
Münze nehmen könnte (S. 55ff). Dies, wie auch die teils recht unreflektierte
Bezugnahme auf die Community Organizing-Prinzipien von Saul Alinsky („Tue
niemals für ein Mitglied, was es selbst tun kann“), verdeckt aber doch nur die
schwierige Problematik, eine tragfähige Balance von
Service/Stellvertretung/Institutionalisierung und
Beteiligung/Selbstvertretung/Mobilisierung finden zu müssen. Zum einen lassen sich
Kampagnen nicht basisdemokratisch führen – der Begriff ist nicht zufällig ein
militärischer – und zum anderen sind die allermeisten Menschen, auch die
Mitglieder von Gewerkschaften, dringend daran interessiert, sich vertreten zu lassen.
Die SPD hat in Deutschland im aussichtslosen Wahlkampf gegen Mutter Merkel
erkennen müssen, dass die meisten Wähler keine allzu große Lust auf Politik haben.
Selbstverständlich redet hier niemand einem Betriebssyndikalismus das Wort und es
besteht auch keine akute Gefahr einer nur instrumentellen „Beteiligung“ – der
Versuch, eine Neuausrichtung des „Verhältnis[ses] von Stell- und Selbstvertretung“
(S. 61) zugunsten letzterer und zugunsten einer größeren „ownership“ der Mitglieder
in Bezug auf „ihre“ Gewerkschaft zu erreichen, ist ernst zu nehmen. Doch eine
systematische, erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit dem Problem, eine
nachhaltige Balance zu finden, steht noch aus. Es ist mehr von Nöten, als den
„Übergang vom Kampagnen- in den Alltagsmodus“ (S. 126) zu bewerkstelligen, denn
die traditionellen Strukturen reichen nicht mehr aus.
Kampagnen
Die Diskussion konkreter Kampagnen fokussiert auf die weitgehend erfolgreichen
Kampagnen im Windanlagenbau (S. 92ff; S. 119ff); die abgebrochene Kampagne im
Kfz-Gewerbe bleibt dagegen bis auf eine Fußnote bei Dribbusch (S. 99) unerwähnt.
Vielleicht ist die Bemerkung, dass Kampagnen in „Branchen mit sehr vielen Kleinund Mittelbetrieben … ohne organisationsinterne Quersubventionierung kaum
möglich“ sind (S. 112). Weitere Gründe ihres Scheiterns werden aber nicht diskutiert.
In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Auseinandersetzung mit den
organisationsinternen Aspekten von Kampagnen, jenseits des kulturell oder politisch
bedingten Widerstands gegen spezifische Innovationen. Kampagnen sind nämlich
immer auch nach innen zu führen; für sie muss intern politische Unterstützung
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mobilisiert werden. Politische Entscheidungen jenseits von strategischen
Erwägungen spielen eine wichtige Rolle. Am ehesten gibt hier Schwetz einen
Einblick, der darauf hinweist, dass die notwendige ehrliche Analyse der eigenen
Kräfte leicht „aus dem Blickfeld geraten“ kann (S. 208-9). Die Konsequenz davon,
dass die strategische Recherche in der Kampagnenvorbereitung auch diesbezüglich
„reinen Wein einschenk[t]“ (S. 213) kann dann eben auch dazu führen, auch etwas,
dass politisch wichtig ist, einfach nicht zu machen!
Eine „Innenperspektive“ der Kampagne im Windanlagenbau, merkwürdigerweise
präsentiert von Journalisten, konstatiert, dass diese die „Negativspirale aus
mangelnder gewerkschaftlicher Stärke, fehlenden Erfolgen und sinkender
Attraktivität“ (S. 98) durchbrechen konnte. Dabei wurde ein Methodenbaukasten
verwendet, der sehr nah an dem ist, was auch in den USA und bei ver.di verwendet
wird (strategische Recherche, externe Organizer, Einzelgespräche, Aktivenkreis,
Betriebslandkarte, kollektive Aktionen): „[D]ie Unterschiede zum US-Kontext haben
sich bei Lichte betrachtet als eher gering erwiesen, wenn es darum geht, Bedürfnisse
von Beschäftigten zu verstehen, zu kollektiven Themen zu machen und in betriebliche
politische Praxis zu übersetzen, die etwas verbessert“ (S. 88). Bei einem zentralen
institutionellen Anpassungsproblem, den Betriebsräten und ihrer Rolle im
Organizing-Prozess, sind systematische Fortschritte gemacht worden (S. 88, 121f,
127ff). Der Konflikt wird als unausweichlich erkannt: „Das Spannungsverhältnis
[zwischen den durch Organizing entstehenden Aktivenkreisen und den existierenden
Strukturen] muss ausgehalten und immer wieder neu verhandelt werden“ (S. 114).
Eine wichtige Erkenntnis ist wohl, dass der Vermittlungserfolg zwischen Organizern
und Betriebsräten stark von einzelnen Personen abhängt (vgl. z.B. S. 127ff, S. 137, S.
141: „[D]ie CGM-Mitgliedschaft des Vorsitzenden stellte sich nicht als hinderlich
heraus“). Eine systematische Untersuchung der Gründe, warum einzelne Betriebsräte
die Organizer unterstützen und andere nicht, steht noch aus, genauso wie eine
Untersuchung von erfolgreichen Problemlösungsstrategien. Am Ende bleibt die
wichtige Erkenntnis, dass Organizing für die Organisation Konsequenzen hat: „Die
Entscheidungsfindung wird komplexer und Spielräume der zentralen
Verhandlungsgremien werden tendenziell eingeengt, da engagierte Mitglieder in der
Regel auch anspruchsvoller und kritischer werden“ (S. 117). Dies sind schwierige
Nachrichten für die ohnehin schon überlasteten Gewerkschaftssekretäre und
Betriebsräte, zumal „[d]ie Hauptarbeit der Organisierung in der Fläche […] bei den
betrieblichen und örtlichen Gewerkschaftsstrukturen liegen“ wird (S. 112). Angesichts
dieser Konstellation ist es wenig überraschend, dass die im Band formulierte
Selbstkritik darauf hinausläuft, dass zu wenige Ressourcen bereitgestellt wurden, und
dass es einige selbstschützende Bemerkungen gibt, sprich Warnungen vor zu hohen
Erwartungen in Bezug auf Mitgliederwachstum: „Organizing ist sicher nicht das
Allheilmittel der numerischen Mitgliederfrage“ (S. 89, vgl. auch S. 111). Auch die
strategische Recherche sichert sich ab; sie ist kein Zaubermittel gegen feindliche
Unternehmen (S. 212).
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Strategien
Überwiegend werden allerdings die Potenziale der neuen Strategien betont.
Kampagnen müssen z.B. nicht immer groß und teuer sein, es gibt eine Bandbreite
von Maßnahmen und Hebeln (Leverage), um das „Machtungleichgewicht zwischen
der Belegschaft und dem Unternehmen auszugleichen“ (S. 200f.). So kann den neuen
Unternehmensstrategien, die hier in Fallbeispielen vorgestellt werden (S. 139ff, S.
171ff) und die auf die Verhinderung von Betriebsratswahlen abzielen, damit begegnet
werden, in dem der Blick für die Schwächen der Unternehmen geöffnet wird, die für
Druckmaßnahmen genutzt werden können. Noch wird dieses Element im Kontext
der deutschen Sozialpartnerschaft kritisch gesehen, aber es ist wohl unausweichlich,
dass die Gewerkschaften ihr kämpferisches Repertoire gegen die deutsche Form von
„union busting“ erweitern.
Die meisten IG Metall-externen Beiträge im Sammelband sind zu kurz, um mehr als
Schlaglichter auf andere Erfahrungen zu werfen. Man lernt z.B., dass in den USA die
strategische Recherche inzwischen ein spezialisiertes Unterfangen ist, mit vielen
hundert Experten – der Komplexität des globalen Kapitalismus angemessen (S.
216ff)! Jenseits des „German Organizing“ gibt es sogar noch einen „hessischen Weg“
des Organizing (die Amazon-Kampagne von ver.di in Bad Hersfeld, S. 260ff). Das
Besondere erschließt sich hier nicht, wohl aber eine realistische Gewichtung von
professioneller Steuerung gegenüber Beteiligung (S. 266). Es gibt weitere
Positivbeispiele systematischer Organizing-Arbeit, bei der IG BAU
(Gebäudereinigerkampagne, S.269ff), bei der Gewerkschaft Bau-Holz in Österreich
(S. 292ff), bei der UNIA in der Schweiz (S. 302ff) und Berichte über
vielversprechende Anfänge im Baltikum (S. 283ff).
Michael Crosby, ein Organizing-Vordenker aus Australien in Diensten des USDachverbands Change to Win, widmet sich Fallstudien zu den Niederlanden, Irland
und Großbritannien (S. 225ff). Zwei wichtige Erkenntnisse sind, dass US-inspirierte
Autoren und Strategen den Burn-out der Organizer in Kauf nehmen und dass sie die
Balance von Institutionalisierung und Mobilisierung nicht ausreichend im Blick
haben. Dort wo Organizing amerikanisch angeleitet und/oder verstanden wird,
herrscht ein romantisches Bild von Kämpfern für Gerechtigkeit vor, deren eigene
Belange zurückgestellt werden müssen. Sprich: Wohnen im Motel statt Zeit mit der
Familie. Dies führt zwangsläufig zu Burnout-Phänomenen wie man sie seit langem
aus den USA kennt. Angesichts dieser Haltung überrascht dann auch eine Art
„Vertreter-Sprache“ bei Crosby fast nicht mehr: „Ebenso wichtig ist, dass sehr viele
Hauptamtliche auf die Kampagne [von UNITE] großartig reagierten. Sie waren
einfach leidenschaftlich gern erfolgreich“ (S. 256). Am Ende bleibt jedoch wichtig
und richtig, dass Organizing und Kampagnen als „Vorläufer einer anderen Art von
Gewerkschaft“ gesehen werden müssen (S. 258), auch wenn diese noch nicht im
Detail zu erkennen ist.
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Dem Buch liegt eine CD-Rom mit einem Organizing-Handbuch bei, die aber wohl
nicht als Anleitung zum Selbermachen zu verstehen ist. Mit OrKa (Organisierung &
Kampagnen) sei nur ein bundesweit aktives Ausbildungs- und Beratungsnetzwerk
genannt (http://www.orka-web.de/).
Autor: Dr. Thomas Greven, Privatdozent für Politikwissenschaft an der FU Berlin
NACHGEFRAGT bei Heidrun Abel – Das
Urheberrecht im digitalen Zeitalter (Interview)
von Kai Lindemann
Das Urheberrecht war früher das Arbeitsfeld von spezialisierten Juristen, die
Kreative, Verlage und betroffene Firmen in der komplizierten Materie berieten. Im
Zeitalter der Digitalisierung, indem das „geistige Eigentum“ blitzschnell,
kostengünstig und in guter Qualität kopiert und via Internet weltweit verbreitet
werden kann, sind fast alle Menschen täglich mit den nicht minder komplizierten
Fragen des Urheberrechts konfrontiert. Wir brauchen eine neue Trennung zwischen
kommerzieller und privater Verwertung im Internet, sagt Heidrun Abel,
Vorsitzende des ver.di Bezirks Köln, im Interview mit der GEGENBLENDE.
GEGENBLENDE: Hat der scheinbar unbegrenzte Zugriff auf urheberrechtlich
geschützte Werke im Internet Auswirkungen auf unser Verständnis vom Original?
Abel: Gehen wir vom Begriff Original aus, also dem „Ursprung” eines Werkes, sehen
wir uns im Netz eigentlich nur Vervielfältigungen gegenüber. Das „Original” ist nicht
greifbar. Wenn ich es von der einen Plattform in einen anderen Zusammenhang
weitergebe, entferne ich es ja nicht, sondern kopiere es ein weiteres Mal. Deshalb
liegt das „Problem” in der einfachen und schnellen Verfügbarkeit in Kombination mit
den fehlenden Kenntnissen oder Hinweisen zum richtigen Umgang mit
urheberrechtlich geschützten Werken.
GEGENBLENDE: Verschwimmen die Grenzen zwischen UrheberInnen und
Nutzern?
Abel: Die Grenzen verschwimmen nicht. Es kann nicht darum gehen, die
NutzerInnen gegen die Urheber auszuspielen, nur um von der eigentlichen Tatsache
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abzulenken, dass die UrheberInnen Anspruch auf eine angemessene Vergütung
haben. Dabei wird zwischen Privatkopie und kommerzieller Nutzung unterschieden.
Außerhalb des Internets werden die UrheberInnen über Abgaben auf Geräte und
Datenträger anteilig vergütet. Ein entsprechendes Modell für das Internet steht noch
aus.
GEGENBLENDE: Der Einfluss auf die Nutzung und Verbreitung ihrer Werke wird
für die UrheberInnen zunehmend schwerer. Ganz abgesehen von einer
angemessenen Vergütung. Ist ein einheitliches Modell möglich?
Abel: Ein einheitliches Modell ist nicht sinnvoll, weil es unterschiedliche
Anforderungen für die verschiedenen Nutzungsgruppen gibt. Für professionelle
Nutzer gibt es ja jetzt schon funktionierende Regelungen der Vergütung. Es bleibt die
Frage, wie es für private Nutzer ersichtlich wird, dass ihr Verhalten zu einer
kostenpflichtigen Nutzung führt und wie diese dann unkompliziert errechnet und
vergütet werden kann. Zurzeit werden diese Probleme der privaten Nutzer gerne mit
einer angeblichen Beschränkung der professionellen Nutzer durch das bestehende
Urheberrecht vermischt. Doch dass man für erhaltene Leistungen bezahlen muss, ist
schließlich ein marktwirtschaftlicher Konsens. Es braucht vor allem den politischen
Willen Berechnungsmodelle auf der Grundlage des bestehenden Urheberrechts
durchzusetzen.
GEGENBLENDE: Bieten die neuen Gewohnheiten nicht auch neue Chancen der
Vermarktung für die Kreativen?
Abel: Jeder kann über E-publishing, youtube und andere "freie" Plattformen seine
Werke im Internet veröffentlichen und damit bekannt machen, d.h. man kann sich
relativ günstig und schnell präsentieren und damit für sich werben. Für eine
angemessene Vergütung muss urheberrechtlicher Schutz gewährleistet sein und es
muss transparente Abrechnungsmodelle geben.
GEGENBLENDE: Wenn qualitativ gute Informationen im Netz kostenpflichtig
werden – wie kann da die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit wenig Geld
gewährleistet werden?
Abel: Die finanzielle Ausstattung im Bildungs- und Kulturbereich muss so sein, dass
auch die kostenpflichtigen Informationen aus dem Netz genauso erworben und
bezahlt werden wie z.B. Printmedien und kostenlos genutzt werden können. Darüber
hinaus gibt es noch kostenlose Informationsquellen wie Wikipedia, wo AutorInnen
ihr geistiges Eigentum kostenfrei zur Verfügung stellen. Das entlässt den Staat nicht
aus seiner Verpflichtung den Zugang zu Bildung und Wissen für alle gleichermaßen
zu gewährleisten. Bildung und Wissen dürfen nicht kommerziellen Interessen
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überlassen werden.
GEGENBLENDE: Was kann und muss die Politik tun, um die Struktur des
Urheberrechts an das Digitale Zeitalter anzupassen?
Abel: Zunächst muss die Politik den Willen haben, die Nutzungsrechte anzupassen,
ohne die Rechte der Urheber zu beschneiden. Im Koalitionsvertrag ab Seite 133 kann
man einiges zu den Positionen der Großen Koalition zum Urheberrecht lesen. Wir
werden es aufmerksam beobachten und kommentieren, wie die Umsetzung
vorangetrieben wird. Feststellen kann man allerdings bei der Lektüre, dass eine klare
Unterscheidung der verschiedenen Nutzergruppen von Urheberrechten nach
privaten Nutzern und wirtschaftlichen Verwertern fehlt.
GEGENBLENDE: Wie positioniert sich die Gewerkschaft ver.di?
Abel: Mit der Forderung, das Urheberrecht nicht tot zu reden, sondern für die
wirtschaftlichen und privaten Nutzungen differenzierte Berechnungsmodelle zu
entwickeln, die den Anforderungen des digitalen Zeitalters entsprechen. Darüber
hinaus organisieren wir die Freien und Selbstständigen, die als Urheber tätig sind.
Und wir bieten unseren Mitgliedern Beratung und Rechtsschutz auch in der
Durchsetzung ihrer Ansprüche an.
GEGENBLENDE: Vielen Dank!
Autor: Kai Lindemann, geboren 1968 in Bremen, verantwortlicher Redakteur des
Debattenmagazins GEGENBLENDE
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Die schöne neue Shareconomy und ihre
Schattenseiten
von Elisabeth Voß
Auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig wurde Anfang September 2014 über
Strategien und Wege anderen Wirtschaftens angesichts von Ressourcenknappheit
und Klimakatastrophe diskutiert. Die Heinrich Böll Stiftung hatte zur Konferenz ein
Themenheft „Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen“[1] herausgebracht.
Es „erzählt Geschichten eines anderen, bürgergetragenen Wirtschaftens, einer
Wirtschaft der Solidarität und Selbstbestimmung“[2]. Dabei wird deutlich, dass
immer mehr Menschen wenigstens im Kleinen versuchen, Elemente einer
Postwachstumsökonomie umzusetzen. Urbane Gärten, Offene Werkstätten,
alternative Bildungseinrichtungen und viele andere selbstorganisierte Projekte
entwickeln immer mehr soziale und technologische Innovationen[3]. In diesen
Zusammenhängen ist oft von „Sharing“ (Teilen) und auch „Glück“ die Rede. Annette
Jensen und Ute Scheub bezeichnen dieses neue Wirtschaften im Titel ihres neuen
Buchs als „Glücksökonomie. Wer teilt hat mehr vom Leben“[4]. Es geht um einen
Wertewandel, weg vom Materiellen, hin zu Fragen von Gemeinschaftlichkeit und
Lebensglück. Schon der Heilige Sankt Martin teilte seinen Mantel mit einem Bettler.
Der neue Trend zum Teilen oder „Sharing“ hat mit Wohltätigkeit nichts zu tun.
Geteilt wird untereinander, unter Gleichen, Peer to Peer: Digitale Inhalte werden
weitergeben, materielle Dinge getauscht und gemeinsam genutzt und Projekte
werden gemeinsam finanziert (Crowdfunding). Die Zusammenarbeit in der SharingWelt wird häufig als „Kollaboration“ bezeichnet[5].
Digitale Inhalte teilen
Das Teilen steht in der Bedienungsanleitung vieler Websites ganz oben. Wer sich im
Internet bewegt, teilt Meldungen, Bilder, Fotos (oft lustig retuschiert) und vieles
andere in digitalem Format mit anderen. Auch Wissen und Erfahrungen werden
gerne geteilt: Amazon-NutzerInnen verfassen Kundenrezensionen über Produkte
jeder Art, Reisende berichten über ihre Urlaubsziele, beschreiben und bewerten
Hotels und Touristikanbieter. Es gibt wohl keine Produkte oder Leistungen, die nicht
in irgendwelchen Internetportalen beurteilt und miteinander verglichen werden.
Jede und jeder kann sich einbringen, kann – mehr oder weniger anonym und ohne
dafür bezahlt zu werden – das eigene Urteil abgeben. Bewertet werden nicht nur
Autos, Haushaltsgeräte, Bücher, Reisen, ÄrztInnen und ProfessorInnen, sondern
ebenso diese Bewertungen selbst[6]. So fragt zum Beispiel Amazon: „War diese
Rezension für sie hilfreich?“ Wer in diesem Spiel aktiv ist und gute Bewertungen
einheimst, kann sich nach und nach Reputation erwerben.
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Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia hat gedruckte Lexika wie den Brockhaus
überflüssig gemacht. Zum Wissen der Welt tragen unzählige AutorInnen bei, die
engagiert und unentgeltlich dafür sorgen, dass dieses Wissen stetig wächst und
aktuell bleibt. An Schulen und Universitäten gilt Wikipedia mittlerweile als
zuverlässige und zitierfähige Quelle, JournalistInnen dient es zum schnellen
Faktencheck. Bei allem Respekt vor den Leistungen derjenigen, die zu diesem
gemeinschaftlichen Projekt beitragen, ist bei genauerem Hinsehen jedoch Skepsis
angesagt. So dokumentiert der Bonner Journalist Marvin Oppong in einer Studie der
Otto Brenner Stiftung (OBS)[7], wie bewusst in Wikipedia-Beiträge eingefügte Fehler
anstandslos das interne Qualitätscontrolling passierten, und anschließend ungeprüft
selbst von renommierten Medien wiedergegeben wurden.[8]
Aber nicht nur Falschmeldungen, sondern auch gezielte Eingriffe von Lobbyisten
trüben das Bild der angeblich so neutralen Informationen in Wikipedia. Die genannte
OBS-Studie belegt, wie kritische Berichte über Unternehmen wie IG Farben, RWE,
BASF und andere geschönt, gleich ganze Passagen gelöscht oder PR-Inhalte eingefügt
wurden. In Wikipedia-internen Diskussionen um Änderungen an Artikeln setzen sich
oft diejenigen mit dem längeren Atem durch, die so viel Zeit in ihr Engagement
stecken können, dass sich die Frage geradezu aufdrängt, auf wessen Gehaltsliste sie
stehen. Für einige Editoren lässt sich anhand ihrer IP-Adresse nachvollziehen, für
welche Stiftung oder welches Unternehmen sie agieren. Zweifellos ist Wikipedia zu
einem Machtfaktor geworden. Der Kölner Publizist Werner Rügemer bezweifelt
deren Objektivität, denn: „Die 'freie Enzyklopädie' liegt in den Händen des
Privatkapitals.“[9]
Gegenstände teilen
Carsharing ist schon lange ein lukratives Geschäft. Daneben entstehen Peer-to-PeerModelle wie zum Beispiel Nachbarschaftsauto, in denen Menschen sich gegenseitig
ihre Autos leihen. Dieses Prinzip, NutzerInnen eine internetbasierte Möglichkeit des
Austauschs untereinander anzubieten, ist auch das Geschäftsmodell von AirBnB, das
eine Plattform zur Zimmer- und Wohnungsvermittlung gegen Servicegebühren zur
Verfügung stellt. Auch das ursprünglich nichtkommerzielle, weltweite
Gastfreundschaftsnetzwerk Couchsurfing ist mittlerweile ein gewinnorientiertes
Unternehmen geworden, das mit den Daten der NutzerInnen handelt[10].
Das Teilen oder die gemeinschaftliche Nutzung von Dingen wird auch als
Kollaborativer Konsum (Kurzform: KoKonsum) bezeichnet. Vermittelt über digitale
Plattformen können Gegenstände des Alltags wie Haushaltsgeräte, Werkzeuge,
Fotoapparate, Bücher, DVDs und vieles mehr verliehen, verschenkt, getauscht oder
gegen Entgelt abgegeben werden. Das Portal frents – ein Wortspiel aus friends
(Freunde) und rent (mieten) – wirbt mit dem Slogan „Leihen und Verleihen unter
Freunden und Nachbarn“. Es ist ein Referenzprojekt der Internetagentur Sherpatec,
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die laut eigener Website Standorte in München, Berlin, Zürich und demnächst auch
in Hongkong hat. Ihr Geschäftsführer Carl Raphael Mahir ist ebenfalls
Geschäftsführer der frents GmbH.
Sharing-Dienste machen Gewinne, auch wenn sie für NutzerInnen kostenlos sind,
indem sie sogenannte „Leads“ generieren, Datenspuren, die von den Usern selbst
gelegt werden und für Marketingzwecke verwendet werden. Bei der Registrierung
oder beim Eintrag in einen Newsletter geben Menschen oft mehr über sich preis, als
sie denken. Wer hat sich nicht schon gewundert, dass beim Surfen im Internet oft
Werbung angezeigt wird, die genau das anbietet, was man selbst gerade gesucht oder
eingekauft hat? Jede Bewegung im Internet wird beobachtet, gespeichert,
ausgewertet. Mit ihren Datenschutzvereinbarungen sichern sich Online-Anbieter
meist umfangreiche Rechte.
In der taz-Beilage zur „Sharing City Berlin Week“ im Juni 2014 antwortet der USamerikanische Kulturwissenschaftler Charles Eisenstein auf die Frage, was es
bedeutet, „wenn Großkonzerne Millionen in die Share Economy investieren“,
entlarvend: „Man kann Geld machen in der Share-Economy. Google hat dadurch viel
Geld verdient, aber die traditionellen Medien haben noch mehr verloren. Sie ist Teil
des Degrowth“.[11] Dazu passt die Einschätzung der Unternehmensberatung
Accenture, dass „'Shareconomy' immer mehr die Strategie erfolgreicher Konzerne
(prägt). … Wer 'Shareconomy' für eine kurzlebige Modeerscheinung hält, liegt völlig
falsch.“[12]
Gemeinsam finanzieren
Beim Crowdfunding wird ein Vorhaben durch viele GeldgeberInnen finanziert. Auf
Betterplace sammeln soziale Projekte Spenden in Form von Geld oder auch Zeit. Bei
Startnext, VisionBakery und anderen werben vor allem künstlerische Projekte um
Sponsoren. Diese bekommen ein kleines oder größeres Dankeschön, je nach Höhe
ihres Geldgeschenks.
Auch Kredite können online in der Crowd gesammelt werden, von Privatpersonen
zum Beispiel bei auxmoney, von mittelständischen Unternehmen bei finmar. Die
KreditgeberInnen erhalten Zinsen und bekommen ihr Geld nach der vereinbarten
Laufzeit zurück, wenn alles gut geht. Risikokapital können Startups zum Beispiel bei
Seedmatch einwerben. Das gesammelte Geld wird bei den meisten
Crowdfundingorganisationen nur dann ausgezahlt, wenn es eine vorher festgelegte
Marge erreicht. Kommt nicht genug zusammen, erhalten die Sponsoren ihr Geld
zurück. Es kommt also sehr darauf an, sich möglichst gut zu verkaufen und das
eigene Vorhaben breit zu bewerben, um in der Konkurrenz zu gewinnen.
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Zusammenarbeiten?
In vielen kleinen, selbstverwalteten Projekten arbeiten die Beteiligten meist auf
gleicher Augenhöhe zusammen und treffen gemeinsame Entscheidungen. Daraus
entstanden die ersten online-betriebenen Tauschbörsen. Ganz anders bei heutigen
Shareconomy-Firmen, in denen eine machtvolle Zentrale das Geschäft steuert.
Aktuell drängt das US-amerikanische Unternehmen Uber auf den deutschen Markt
und bietet Personenbeförderungsdienste an. Per Smartphone-App bringt UBER
Menschen mit und ohne Auto zusammen. Die Mitfahrenden bezahlen, die Fahrenden
haben keinerlei Rechte, nicht einmal einen vertraglichen Anspruch auf Bezahlung.
Zudem riskieren sie ihre KFZ-Versicherung, wenn diese nur für die private
Autonutzung abgeschlossen wurde. Finanziert von institutionellen Anlegern, Google,
Goldman Sachs und anderen stellt UBER einen Angriff globaler Konzerne auf lokale
Taxiunternehmen dar.
Wie digitale Plattformen zur Vermittlung billiger Arbeitskräfte eingesetzt werden
können, ist bei CleanAgents, Helpling und Book A Tiger zu beobachten. Diese bieten
professionelle Reinigungskräfte zu Dumpingpreisen zwischen 12 und 15 Euro an. Wer
die Aufträge annimmt, muss selbstständig und auf eigenes Risiko arbeiten, ein
Gewerbe anmelden und von dem Arbeitsentgelt auf eigene Kosten für die soziale
Absicherung aufkommen. Mit Teilen unter Gleichen hat das nichts mehr zu tun, eher
erinnert es an eine prekarisierte Form der Zeitarbeit.
Wer teilt mit wem?
Das Teilen in der Shareconomy funktioniert über Apps, die jederzeit mit dem
Smartphone abrufbar sind. Statt ressourcenintensives Wachstum zu verhindern,
verursacht diese Praxis einen hohen Energieverbrauch. Die Überwachung durch
Konzerne und Geheimdienste gibt den vielen Kontakten und
Informationsmöglichkeiten einen bitteren Beigeschmack. Dinge gemeinsam zu
nutzen, ändert nichts daran, dass es sich um Produkte handelt, die unter
umweltschädigenden und ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurden. Das
Teilen bleibt auf die Ebene der Konsumption, des Ge- oder Verbrauchs beschränkt.
Ob und in welchem Maße eine Veränderung des Konsumverhaltens überhaupt
Einfluss auf die Produktion nehmen kann, ist umstritten. Der sogenannte ReboundEffekt kann Einsparungen schnell zunichtemachen, wenn Produkte durch Teilen
stärker genutzt und die freiwerdenden finanziellen Mittel zum Erwerb anderer
Konsumgüter verwendet werden.
Ähnlich wie die VertreterInnen eines gesundheits- und umweltbewussten Lifestyle
(Lohas)[13] sind auch die idealistisch motivierten PropagandistInnen des Sharing
überwiegend in der Mittelschicht anzutreffen. Viele von ihnen verstehen sich
ausdrücklich als unpolitisch, wollen einfach machen, aktiv sein, die Welt zum
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Besseren verändern, ohne Missstände und Ungerechtigkeiten zu kritisieren. So
bleiben diese Innovativen und Kreativen unter sich, gefangen in digitalen
Scheinwelten, deren schöne Begriffe längst zum Marketingsprech von Konzernen
geworden sind. Digitale Unternehmen der Shareconomy sind Businessmodelle der
Zukunft, die sich immer mehr Lebensbereiche einverleiben. Selbst Nachbarschaften
werden online organisiert, in den USA von Nextdoor, in Berlin Friedrichshain und
Prenzlauer Berg durch Polly & Bob: „Wir wollen die Nachbarschaften dieser Welt
vertrauender, teilender und verbundener machen.“[14] Es ist sicher nichts dagegen
einzuwenden, dass sich NachbarInnen bei Spieleabenden oder Kulturveranstaltungen
kennen lernen. Jedoch unterscheiden sich solche Sozialunternehmen grundlegend
von Bürgerinitiativen, die gemeinsame politische Anliegen vertreten. Soziale
Ungleichheit oder gar Fragen nach der politischen Macht kommen in der schönen
Welt des Teilens nicht vor, auch wenn oft von einer Transformation der Wirtschaft
und Gesellschaft die Rede ist.
Was aussieht wie ein soziales Netzwerk und behauptet, der Erfüllung von
Bedürfnissen zu dienen, entpuppt sich oft als Geschäftsmodell, bei dem diejenigen,
denen die digitalen Infrastrukturen gehören und die Angebot und Nachfrage
zusammenführen, bei jeder Transaktion profitieren. Die Risiken tragen allein die
NutzerInnen dieser Dienste. Sie haben weder Arbeitnehmer- noch
Verbraucherrechte, ihre Daten werden in unkontrollierbarem Umfang verwertet. Den
Global Players ist schon jetzt mit nationalen Gesetzen und Regulierungen kaum
beizukommen. Wenn das TTIP eingeführt wird, können sie noch schrankenloser
agieren.
Microsoft-Gründer Bill Gates startete 2010 gemeinsam mit dem Investor Warren
Buffet die Kampagne „The Giving Pledge“, das Versprechen, zu geben: Milliardäre
verpflichten sich – moralisch, nicht rechtlich bindend – mindestens die Hälfte ihres
Vermögens für einen guten Zweck herzugeben. Wohin dieses Geld fließt und wann,
das entscheidet jedes Giving Pledge-Mitglied für sich. Solche Philanthropie ändert
nichts an den Ungerechtigkeiten der globalen Weltwirtschaft, sondern stabilisiert
vielmehr die herrschenden Verhältnisse.
Statt dem Hype des Teilens zu erliegen, kommt es darauf an genau hinzuschauen und
die Akteure und ihre Interessen kritisch zu hinterfragen. Zwischen Teilen und
Umverteilen liegen Welten.
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Literatur/Quellen:
[1]böll Thema: Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen, Das Magazin der
Heinrich-Böll-Stiftung, Ausgabe 1 2014:
http://leipzig.degrowth.org/de/2014/06/die-okonomien-des-gemeinsamen-einbeitrag-der-heinrich-boll-stiftung-zur-degrowth-konferenz/#more-36019
[2]Barbara Unmüßig im Editorial von „Die Ökonomien des Gemeinsamen“, Seite 1.
[3]Viele Projektbeispiele und kritische Reflektionen finden sich in der Broschüre:
Nachhaltigkeit erleben! Eine Reise durch eine andere Welt. Herausgeber:
Projekthaus Potsdam, 2014: http://www.projekthaus-potsdam.de/projekte-deDE/oekologie-de-DE/bildung-fuer-nachhaltigeentwicklung/#BNE_Brosch%C3%BCre
[4]Annette Jensen,Ute Scheub: Glücksökonomie. Wer teilt hat mehr vom Leben,
oekom Verlag, München, 2014: http://www.gluecksoekonomie.net
[5]„Kollaboration“ definiert der Duden als eine „gegen die Interessen des eigenen
Landes gerichtete Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner, mit der
Besatzungsmacht“: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/kollaboration. Die
Verwendung des Begriffs in Sharing-Zusammenhängen orientiert sich an der
englischen Bedeutung des Begriffs „collaboration“ = „Zusammenarbeit“.
[6]Diese kulturelle Verankerung des Bewertens und Vergleichens wird von der
Bertelsmann-Stiftung seit Jahren mit fast religiösem Eifer propagiert.
[7]Marvin Oppong: Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visir von
Unternehmen. OBS Arbeitsheft 76, Neufassung 2014: https://www.otto-brennershop.de/publikationen/obs-arbeitshefte/shop/verdeckte-pr-in-wikipedia-ah76.html
[8]So bekam Karl-Theodor zu Guttenberg zu seinen vielen Vornamen auch noch
einen Wilhelm dazu, der Berliner Karl-Marx-Allee wurde der Spitzname „Stalins
Badezimmer“ angedichtet, siehe OBS-Arbeitsheft, Seite 34ff
[9]Werner Rügemer: Das „Wissen der Menschheit“ zwischen Naivität und Fälschung.
Wie Wikipedia die Wahrheitsfrage ausblendet. Neue Rheinische Zeitung, 02.04.2014:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20188
[10]Couchsurfing bietet seine Dienste unentgeltlich an, sichert sich jedoch mit seinen
Nutzungsbedingungen das Recht zur uneingeschränkten Verfügung über die Daten
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seiner KundInnen. Dies verstößt gegen das deutsches Datenschutzrecht, allerdings
sitzt die Firma in den USA.
[11]taz-Beilage vom 30.05.2014 „Sharing City Berlin – von der geteilten Stadt zur
teilenden Stadt“: http://www.leilaberlin.de/fileadmin/pdf/presse_TAZ_ouishare_summit_magazine_2014.pdf
[12]Accenture: Insights, Ausgabe 1, 2013, Editorial, Seite 2:
http://www.accenture.com/Microsites/basleswitzerland/Documents/PDF/Accenture-Insights_2013-Ausgabe-21-02.PDF
[13]LOHAS = Lifestyle Of Health And Sustainability. Zur Kritk daran vgl. Kathrin
Hartmann: Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos
vereinnahmt, Karl Blessing Verlag, München, 2. Aufl. 2009: http://www.ende-dermaerchenstunde.de/
[14]Website Polly & Bob, Neue Nachbarschaft: http://blog.pollyandbob.com/newneighborhood/?lang=de
Autorin: Elisabeth Voß, freiberufliche Betriebswirtin und Publizistin, lebt in Berlin
Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive vom
13.-21. Jahrhundert
von Andrea Komlosy
In unserer Gesellschaft wird der Sinn und Wert des Lebens und somit soziale
Teilhabe maßgeblich über Arbeit hergestellt. Was aber verstehen wir unter Arbeit?
Unser heutiges Verständnis von Arbeit stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts:
Damals wurde Arbeit in Gesetzen und Verordnungen als geregelte Erwerbstätigkeit
festgeschrieben. Erwerbsarbeit berechtigte nicht nur zu Entgelt, sondern auch zu
Sozialleistungen. Wer keine Erwerbsarbeit hatte, war arm und abhängig von
Angehörigen, die für den Unterhalt sorgten. Wenn es keine Familie gab, war man
abhängig von Armenunterstützung. Alle anderen Tätigkeiten, die dem nun
vorherrschenden, kodifizierten Bild der Arbeit nicht entsprachen, wurden somit zur
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Nicht-Arbeit. Dies schlug sich auch in der Sprache nieder: „Arbeiten Sie?“, wird in
aller Regel nur jemand positiv beantworten, der über Erwerbsarbeit verfügt.
Die Verengung des Arbeitsbegriffs auf regulierte, mit sozialer Absicherung
verbundene Erwerbsarbeit ist Ausdruck eines eurozentrischen Blicks. Auf agrarische,
nicht-industrialisierte Gesellschaften, in denen Subsistenzlandwirtschaft, allerlei
informelle Formen des Sich-Durchbringens sowie unterbezahlte Tätigkeiten
überwiegen, trifft dieser Blick nicht zu. Das liegt auch daran, weil dieser neue Blick
ein männlicher ist. Frauen, die im Haushalt und in der Familienwirtschaft arbeiten,
fallen aus dem neuen Arbeitsbegriff heraus. Dies gilt jetzt für alle unbezahlten
Tätigkeiten, unabhängig vom Geschlecht. Die Entwertung der unbezahlten
Frauenarbeit wirkt sich auch auf die Bewertung der bezahlten Frauenarbeit aus, die
oft als Zuverdienst angesehen wird. Leisten Frauen professionelle Versorgungs- und
Pflegedienste, erwartet man auch dort „Arbeit aus Liebe“, die geringer entlohnt
werden kann, weil sie Frauen auf den Leib geschrieben ist.
Unbezahlte Arbeit
Den un- und unterbezahlt Arbeitenden ist die Entwertung ihrer Tätigkeiten
gemeinsam. Sie werden nicht von der kapitalistischen Aneignung ihrer
Arbeitsleistung verschont. Diese erfolgt indirekt über die Beschäftigung des
Lohnarbeiters, denn dieser kann ohne unbezahlte Haus- und Sorgearbeit in der
Familie nicht existieren. Während er Geld nach Hause bringt, transferiert er die
unbezahlte Arbeitsleistung der Familienangehörigen zum Unternehmer, der somit
nicht nur Mehrwert aus der bezahlten Arbeit des Lohnarbeiters, sondern auch
Transferwert aus der unbezahlten Arbeit der Familienangehörigen schöpft. Dies trifft
auch für Lohnarbeiterinnen zu. Bezahlte und unbezahlte Arbeiten können auch in
ein- und derselben Person kombiniert werden: morgens Hausfrau, tagsüber
Lohnarbeiterin, abends Ehefrau und Mutter.
Über den indirekten Zugriff auf die unbezahlte Arbeit im Familienhaushalt hinaus
wird unbezahlte Arbeit über Wertschöpfungsketten angeeignet. Durch die
Verlagerung einzelner Fertigungsschritte an ArbeiterInnen, die an
Billiglohnstandorten tätig sind, können Kosten gesenkt werden. Warum aber kann
am low end der Wertschöpfungskette so kostengünstig produziert werden? Einerseits
aufgrund von niedrigen Steuern und Anreizen der Regierungen im
Standortwettbewerb, andererseits weil die ArbeiterInnen, um mit den niedrigen
Löhnen und Sozialleistungen überhaupt überleben zu können, unbezahlte
Versorgungsarbeit ihrer Familienangehörigen aktivieren, die sie auch im Fall von
Arbeitsplatzverlust, Erkrankung oder im Alter auffangen. Ein ähnlicher
Mechanismus der Aneignung unbezahlter Familienarbeit tritt bei
ArbeitsmigrantInnen in Kraft: erstens wird deren Arbeitskraft von der Familie im
Herkunftsland hergestellt, das solcherart durch Brain drain und Care drain
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geschwächt wird, andererseits greifen sie regelmäßig auf die Leistungen der
heimatlichen Haushalte zurück, die als Sicherheits- und Versorgungsnetz dienen. Die
monetären Rücküberweisungen können die Bereitstellungen aus den Heimatländern
in keiner Weise aufwiegen.
Erwerbsarbeit – eine europäische Erfindung
Der eurozentrische Arbeitsbegriff hat im 20. Jahrhundert eine Universalisierung
erfahren. Alles misst sich am Vorbild der geregelten, gesicherten Erwerbsarbeit, die
in den alten Industrieländern stark ausgeweitet und zum Inbegriff des
„Normalarbeitsverhältnisses“ wurde. Frauen forderten die gleichberechtigte
Teilhabe, Entwicklungsländer strebten sie im Rahmen nachholender
Industrialisierung an. Trotz der Ausweitung kommodifizierter Arbeit hat eine
Verallgemeinerung nicht stattgefunden. Es entstanden immer wieder neue
unterbezahlte Arbeitsverhältnisse, und die unbezahlte Arbeit verschob sich vom
materiellen in den immateriellen Bereich. In Entwicklungsländern bleibt die mit der
Ausweitung von Lohnarbeit verbundene Hoffnung auf soziale Absicherung unerfüllt.
Schließlich hat der Strukturbruch der 1970er Jahre, der die Verlagerung der
industriellen Massenproduktion aus den alten Industrieländern in Newly
Industrializing Countries (NIC) im globalen Süden, aber auch in Osteuropa ausgelöst
hat, die für selbstverständlich gehaltenen Rechte und Sicherheiten der europäischen
ArbeiterInnenklasse in Frage gestellt. Die neoliberale Deregulierung und
Flexibilisierung im Zuge der Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten führte
in vielen Branchen zu einer Angleichung nach unten.
Die neue globalisierte Arbeitswelt hat mit dem alten „Normalarbeitsverhältnis“ nichts
mehr zu tun. Um die Veränderungen verstehen zu können, macht es keinen Sinn, den
erwerbsorientierten, eurozentrischen, männlich-proletarischen Arbeitsbegriff
aufrechtzuerhalten. Wie – mit Ausnahme der europäischen Wohlfahrtsstaaten im
Zeitraum zwischen ca. 1880 und 1980 – weltweit üblich, koexistieren heute überall,
innerhalb und zwischen den Staaten, bezahlte und unbezahlte, regulierte und
ungeregelte, freie und unfreie, formelle und informelle Arbeitsverhältnisse. Es lässt
sich in der langfristigen Entwicklung keine Tendenz zu zunehmender Formalisierung
und sozialer Absicherung ausmachen. Vielmehr zeichnet sich die Arbeitswelt durch
die Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse aus, die über
persönliche und familiäre Kombinationen, Güter- und Migrationsketten kombiniert
und so dem Werttransfer unterzogen werden, der an den high ends, den Zentralen
der globalen Wertschöpfungsketten angeeignet wird. Un- und unterbezahlte,
ungesicherte, prekäre Arbeit sind, anders als bürgerliche und marxistische
Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert aufgrund von Entwicklungstendenzen in den
westlichen Zentren vermuteten, keine Relikte aus vorkapitalistischen Zeiten, die mit
zunehmender Kommodifizierung und Kapitalisierung verschwinden würden, sondern
immanente Bestandteile des globalen Kapitalismus. Sie werden im zyklischen Verlauf
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sowie in den regionalen und überregionalen Zusammensetzungen unterschiedlich
miteinander kombiniert und ermöglichen so die weitere Kapitalakkumulation.
Ein Rückblick auf Arbeit
Der Rückblick in die Herausbildung und Veränderung von Arbeitsbegriffen und
Arbeitsverhältnissen in der Geschichte erweist sich als unerlässlich, um ein
Verständnis für Arbeit im gegenwärtigen globalen Kapitalismus zu erlangen. Dabei
müssen alle Formen von Arbeit gleichermaßen in den Blick genommen werden. In
sechs Zeitabschnitten können die Veränderungen illustriert werden:
Das Jahr 1250 steht für die Verdichtung des Austauschs von Gütern des täglichen
Bedarfs im Zusammenhang mit der Herausbildung eines eurasischen Weltsystems.
Die Impulse aus Asien begünstigten in Europa die Urbanisierung und die
Herausbildung des spezialisierten Handwerks und dessen Organisation in Zünften.
Im städtischen Handwerk begann sich ein werkzeug- und qualitätsorientierter
Arbeitsbegriff zu entwickeln, der sich von der Mühsal im Haus und in der
Landwirtschaft abhob.
Das Jahr 1500 steht für das westeuropäische Ausgreifen auf amerikanische
Plantagen und Bergwerke. Die Arbeit, die Indigene und Sklaven zur Erwirtschaftung
von Rohstoffen verausgabten, floss in das westeuropäische Gewerbe ein, das sich auf
Fertigwaren konzentrierte. Auch innerhalb von Europa begann sich eine
Arbeitsteilung zwischen westlichen Gewerberegionen und osteuropäischen
Agrarregionen herauszubilden, die Waldprodukte, Marinebedarfsgüter und
Nahrungsmittel zulieferten. Im globalen Kontext waren die Kompetenzzentren der
gewerblichen Produktion jedoch in West-, Süd- und Ostasien angesiedelt.
Europäische Handelskompagnien und ihre Regierungen setzten alles daran, am
innerasiatischen Handel mit gewerblichen Artikeln zu partizipieren. Sie verwendeten
dafür Silber, das ihnen aus der Plünderung der amerikanischen Minen zur Verfügung
stand.
Um 1700 trat in der gewerblichen Produktion neben die häusliche Selbstversorgung
der Dörfer und die städtischen Zunfthandwerker das von Händlern betriebene
Verlagswesen: Diese Händler beschränkten sich nicht auf Gewerbewaren, die vor Ort
gefertigt wurden, sondern sie verbanden die ländlichen Produzenten durch ihre
Aufträge in einer von ihnen kontrollierten Arbeitsteilung und eröffneten damit
Wertschöpfungsketten klein- und großräumiger Reichweite. Die asiatische
Handwerkskunst stand nach wie vor an der Weltspitze, indische Baumwolltextilien
gelangten über die britische East India Company auf europäische, afrikanische und
amerikanische Märkte. Afrikanische Sklavenhändler nahmen indische Textilien in
Zahlung, amerikanische Plantagensklaven trugen Kleidung aus indischen
Baumwollstoffen. Die diversen, lokal bestehenden Arbeitsverhältnisse wurden einer
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ungleichen internationalen, unter westeuropäischer Ägide stehenden Arbeitsteilung
einverleibt.
Um 1800 verschob sich mit der industriellen Revolution die Kontrolle über die
globalen Güterketten in jene westeuropäischen Regionen, die die gewerbliche
Produktion in Fabriken mit mechanischem Antrieb zentralisierten. Mit der
Mechanisierung verlagerte sich die Lohnarbeit von Haus und Werkstatt in die Fabrik:
Dies trug zu einer gänzlich neuen Erfahrung von Arbeit bei. Für Arbeiter bedeutete
Fabrikarbeit, auf ein Lohneinkommen angewiesen zu sein. Aus der
Ausbeutungserfahrung resultierten Anstrengungen, die Löhne und
Arbeitsbedingungen zu verbessern. Für Unternehmer war die Arbeitskraft ein reiner
Kostenfaktor, der durch die Aneignung der in der Lohnarbeit geschaffenen Werte die
Kapitalakkumulation ermöglichte. Die Arbeit, die im Haus verblieb und sowohl zum
familiären Überleben als auch zur betrieblichen Wertschöpfung beitrug, wurde nicht
als Arbeit wahrgenommen. Trotz der antagonistischen Positionen waren Lohnarbeit
und Kapital eng aneinander gebunden.
Erst um 1900 trat die Verengung des Arbeitsbegriffs auf außerhäusliche
Erwerbsarbeit ihren globalen Siegeszug an. Indem der neue, auf moderne Lohnarbeit
beschränkte Arbeitsbegriff weltweit Eingang in die Gesetzeswerke, die Planvorgaben
der Regierungen und die Forderungslisten der ArbeiterInnenbewegung fand,
eroberte er sich einen, den Diskurs des 20. Jahrhunderts bestimmenden Platz. Global
gesehen war für die Mehrheit der Arbeiterinnen die Kombination bezahlter mit
ungesicherten und unbezahlten Arbeitsverhältnissen jedoch weiterhin vorhanden.
Als die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, mit der die Krise der industriellen
Massenproduktion seit den 1980er Jahren in Angriff genommen wurde, das
klassische „Normalarbeitsverhältnis“ auch in den entwickelten Industrieländern in
den Hintergrund drängte, hat sich der Diskurs über Arbeit wieder weit geöffnet.
Eingespielte Muster, Bilder und Begriffe gelten nicht länger. Dies hilft den
zunehmend global agierenden Unternehmern, die arbeitsrechtlichen Standards und
sozialpolitischen Sicherheiten – die vormals mit Sozialdemokratie und
Sozialpartnerschaft in Westeuropa und den kommunistischen Parteien in Osteuropa
etabliert wurden – wieder zurückzudrängen. Die Gewerkschaften und
ArbeiterInnenparteien stehen nun vor großen Herausforderungen. Während der
Zusammenbruch des realen Sozialismus und die Öffnung Chinas die soziale Frage
diskreditiert und tabuisiert haben, melden sich die weltweit Ausgebeuteten und
Prekarisierten wieder zu Wort. Um 2010 ist es deshalb mehr als angebracht, für die
Debatten um die Zukunft der Arbeit eine neue konzeptionelle Grundlage zu
entwickeln.
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Weitere Anregungen für die Debatte um den Arbeitsbegriff gibt es in:
ARBEIT. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert
http://www.mediashop.at/typolight/index.php/buecher/items/andrea-komlosy--arbeit
Das Buch will Grundlagen für das Verständnis und die Debatte von Arbeit im
globalen Kapitalismus zur Verfügung stellen. Ein systematischer Teil bietet
Konzepte, Begriffe, Arbeitsdiskurse, sprachliche Entwicklungen sowie Vorschläge
für neue Analysekategorien, die der Vielfalt, Kombination und Aneignung
unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse gerecht werden. In einem zweiten Teil werden
ausgehend von Zentraleuropa die über Handel, Güterketten und Migration
vermittelte Kombination von Arbeitsverhältnissen auf örtlicher, überregionaler und
großräumiger Ebene exemplarisch aufgezeigt.
Autorin: Prof. Dr. Andrea Komlosy, geboren 1957, Universitätsprofessorin am
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien
Der zweifelhafte Exporterfolg der
Bundesrepublik – Ursachen und Gründe
von Stefan Beck
Im Verlauf der Krise mehrten sich die Beiträge, welche die anhaltenden Export- bzw.
Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik kritisch betrachten. Der
Nobelpreisträger Paul Krugman, die US-Regierung, der Internationale
Währungsfond und die Europäische Kommission äußerten diesbezüglich Bedenken.
Dagegen weisen deutsche Wirtschafts- und Medienvertreter und ebenso die
Bundesregierung regelmäßig alle entsprechenden Vorwürfe kategorisch zurück und
präsentieren im Gegenteil die Exportüberschüsse gerne als vorbildhaft.
Die Fronten scheinen klar. Auf der einen Seite werden die deutschen Überschüsse
und die dahinterstehenden Politiken vor allem nach dem Jahr 2000 als
mitverantwortlich für die internationalen Leistungs- und
Zahlungsbilanzungleichgewichte angesehen. Die mitunter als „beggar-myneighbour“-Strategie bezeichneten Politiken gingen auf Kosten anderer Länder und
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förderten Krisentendenzen. Auf der anderen Seite werden in Deutschland die
Überschüsse als Leistungs- und Qualitätsnachweis betrachtet und die Verantwortung
für bestehende Handelsungleichgewichte den Defizitländern bzw. deren
Wirtschaftspolitik zugeschrieben.
Im Folgenden soll nicht nur der Frage nach den transnationalen Implikationen der
deutschen Exportüberschüsse nachgegangen werden. Darüber hinaus wird die These
vertreten, dass die Überschüsse mittlerweile mindestens ebenso unvorteilhaft für die
binnenwirtschaftliche Entwicklung und mitverantwortlich für die relative
Wachstumsschwäche und zunehmende Ungleichheit seit den 1980er Jahren sind.
Trifft letzteres zu, so ist insbesondere aus Sicht der Beschäftigten und
Gewerkschaften zu fragen, wie diese Form eines Merkantilismus in der Politischen
Ökonomie der Bundesrepublik institutionalisiert ist, reproduziert wird und
gegebenenfalls überwunden werden könnte. Hierzu soll auf die historische
Entwicklung und den Wandel des bundesrepublikanischen Merkantilismus
eingegangen werden.
Vom fordistischen zum kompetitiven Merkantilismus
In der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik sind Exportüberschüsse kein
exklusives Phänomen der jüngsten Vergangenheit, sondern avancierten bereits in
den 1950er Jahren zu einem bevorzugten Erklärungselement des deutschen
„Wirtschaftswunders“. Doch während die Überschüsse bis in die siebziger Jahre
hinein mit relativ hohen Wachstumsraten einher gingen, klafften in Deutschland seit
den achtziger Jahren und im Vergleich zu ähnlich entwickelten OECD-Ländern
außenwirtschaftlicher Erfolg und binnenwirtschaftliches Wachstum zunehmend
auseinander. Diese Entwicklung wirft verschiedene Fragen auf. Zum einen, wie lässt
sich der Wandel zwischen den 70er und 80er Jahren ökonomisch erklären und
welche Rolle kommt dabei den Exportüberschüssen zu? Zum anderen, welche
Bedeutung kam und kommt der ausgeprägten Exportorientierung im Kontext des so
genannten Modell Deutschland zu und weshalb ist diese nach wie vor prägend,
obwohl der binnenwirtschaftliche Erfolg dieser Strategie zunehmend fragwürdig
geworden ist?
Die Herausbildung der Exportstärke und -orientierung in den 50er Jahren war eine
Folge des Zusammentreffens verschiedener internationaler und nationaler Faktoren.
Nach dem Anschub der deutschen Exporte infolge des Koreakrieges war es
insbesondere die Weltwirtschaftsordnung von Bretton Woods, die vor allem durch
fixe Wechselkurse und Kapitalverkehrsbeschränkungen binnenwirtschaftlich
expansive Strategien und eine Ausweitung des internationalen Handels begünstigte.
Die wachsende internationale Nachfrage traf dabei auf ein industrielles und
produktionsorganisatorisches Spezialisierungsmuster der deutschen Wirtschaft, das
sich seit dem 19ten Jahrhundert herausgebildet hatte und nun durch die Dynamik
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der Exportsektoren noch verstärkt wurde. Setzte sich einerseits das fordistische
Produktionsmodell in Deutschland nur partiell durch, so profitierte Westdeutschland
zugleich über die Exporte von der fordistischen Wachstumsdynamik anderer Länder.
Die Exportstärke basierte allerdings nicht allein auf den Formen einer diversifizierten
Qualitätsproduktion. Zugleich sicherten eine anhaltende Unterbewertung der DMark, die Schwächung der Arbeiterbewegung und das Zurückbleiben der Löhne
während des Nationalsozialismus sowie schließlich die Charakteristika der
industriellen Beziehungen die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft.
Zum einen ermöglichte die duale Struktur der industriellen Beziehungen einen
Korporatismus, in dem Lohnforderungen gegen Formen der betrieblichen
Partizipation getauscht wurden, und zum anderen erfüllte die Lohnführerschaft der
IG Metall eine Art Scharnierfunktion. Die IG Metall hatte nicht nur aufgrund ihrer
starken Basis im Exportsektor ein Interesse an einer moderaten, d.h. die
Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährdenden Lohn- und Preisentwicklung, sie war auch
groß genug, um ggf. geldpolitische Gegenreaktionen der Bundesbank zu provozieren.
Das den fordistischen Merkantilismus kennzeichnende dynamische Zusammenspiel
zwischen Exporten und binnenwirtschaftlicher Dynamik geriet jedoch in den
siebziger Jahren unter wachsenden Druck von innen und außen. Im Inland war es die
– nach Preiserhöhungen der Arbeitgeber – einsetzende Inflation, die die
korporatistischen Beziehungen belastete und die Bundesbank – erst recht nach den
massiven Ölpreissteigerungen – zu einem restriktiveren Kurs bewegte. Zugleich
brach mit der Krise des Fordismus die internationale Nachfrage ein und mit dem
Übergang zu flexiblen Wechselkursen geriet die D-Mark unter wachsenden
Aufwertungsdruck. Weiter verstärkt wurde die restriktive, stabilitätsorientierte
Geldpolitik der Bundesbank schließlich durch die wachsende internationale
Konkurrenz zwischen den Leitwährungen, wodurch deren
Vermögenssicherungsfunktion in den Vordergrund rückte. Die restriktive Geldpolitik
trug nicht nur zum Ansteigen der Arbeitslosigkeit und der staatlichen Verschuldung,
sondern ebenso zur Durchsetzung angebotsorientierter Politiken und der
konservativ-liberalen Wende 1982 bei. Poltisch geschwächte Gewerkschaften und
staatliche Ausgabenbeschränkungen verstärkten in den 80er Jahren die
Lohnzurückhaltung und brachten die Bundesrepublik zwischenzeitlich an den Rand
einer Deflation, während neoliberale Politikvorstellungen und die „geistigmoralische“ Wende zu einer zunehmenden sozial- und arbeitsmarktpolitischen
Entsolidarisierung beitrugen. Im Übergang zum kompetitiven Merkantilismus nahm
nicht nur die internationale Währungs- und Warenkonkurrenz zu, der
Wettbewerbsgedanke wurde auch auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche von
der Bereitstellung öffentlicher Güter bis hin zum Arbeitsmarkt und konkurrierenden
Individuen ausgeweitet. Steuerungsgrößen waren nun nicht mehr
makroökonomische Größen, z.B. die Nachfrage, sondern die Angebotsbedingungen
und das individuelle Vermögen.
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Ungleichheit und Wettbewerbskorporatismus im kompetitiven
Merkantilismus
Der intensivierte internationale Wettbewerb und eine aufgewertet D-Mark führten
nicht zu einem Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, wie es in der
„Standortdebatte“ oft proklamiert wird, wohl aber zu einem höheren zu leistenden
„Preis“ und einer Umverteilung der Lasten, die mit der Aufrechterhaltung der
Exportüberschüsse verbunden waren. Die Anteilsverluste auf dem Weltmarkt hielten
sich in Grenzen und während der 90er und 2000er Jahre fanden z.B. der
Maschinenbau oder die Autoindustrie zu alter Stärke zurück. Zugleich sank aufgrund
moderater Lohnabschlüsse und arbeitsmarktpolitischer Deregulierungen seit den
80er Jahren langfristig – bei steigender Belastung der Löhne durch Steuern und
Abgaben – die Lohnquote und die vormals positive Lohndrift wurde bis auf wenige
Ausnahmen durchgängig negativ. Die Einkommensungleichheit, atypische
Beschäftigungsformen und der Niedriglohnsektor hielten sich bis in die 90er Jahre
noch in Grenzen, doch dann wuchsen sie im Gefolge der rot-grünen Arbeitsmarktund Sozialreformen dramatisch an.
Dieser deutsche Merkantilismus wurde außenwirtschaftlich durch die europäische
Integration (Absatzmarkt, stabile Währung, reale Unterbewertung) begünstigt, so
waren es binnenwirtschaftlich die deutsche Wiedervereinigung und die sozial- und
arbeitsmarktpolitischen Reformen, die wesentlich zur Entfaltung des kompetitiven
Merkantilismus beitrugen. Die mit dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche
einsetzende Dezentralisierung der industriellen Beziehungen nahm im Gefolge der
Wiedervereinigung erheblich zu. In Ostdeutschland, dem neuen arbeitspolitischen
Experimentierfeld, und später auch in Westdeutschland führten die aggressivere
Tarifpolitik der Arbeitgeber mit der Einführung von Öffnungs- und Härtefallklauseln
und der zunehmenden Verbandsflucht zu einem massiven Rückgang der
Tarifbindung und einer Zunahme von Firmen-Tarifverträgen. Die Folge war jedoch
nicht ein tarifpolitischer Wildwuchs mit unkontrollierten Arbeitskämpfen, sondern
vielmehr die Herausbildung hierarchisch ausdifferenzierter Formen eines
Wettbewerbskorporatismus. An der Spitze der Hierarchie stehen größere,
gewerkschaftlich organisierte Unternehmen des Exportsektors, die geschrumpfte
Spielräume für Preisaufschläge auf dem Weltmarkt entweder über den Abbau
tariflicher Leistungen zu Lasten der Nicht-Kernbelegschaften oder über Kostendruck
auf die Vorleistungsproduzenten oder ausgelagerte Produktionsbereiche abwälzen.
Eine weitere Strategie der Kompensation wurden schließlich auch
Steuervermeidungsstrategien auf Kosten der Steuerzahler. Die kleinen, oft
binnenmarktorientierten Unternehmen haben angesichts schwacher
Inlandsnachfrage und sehr niedriger Inflationsraten wesentlich geringere
Spielräume, Kostensteigerungen über die Preise weiterzugeben. In der Mitte der
Hierarchie befinden sich dann v.a. mittelständische Unternehmen mit Betriebsräten,
die im Gegenzug zu begrenzten Mitspracherechten und Beschäftigungszusagen bereit
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sind, sich betriebskorporatistisch auf Lohn- und Arbeitszeitzugeständnisse
einzulassen. Unten in der Hierarchie befinden sich schließlich überwiegend kleine
und unorganisierte Betriebe (in gewerkschaftlich schlecht organisierten
Dienstleistungsbranchen auch größere Unternehmen) mit niedrigen Löhnen und
zunehmend unsicheren oder prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die rot-grünen
Reformen komplettierten letztlich diese Hierarchie am unteren Ende durch die
Ausweitung atypischer Beschäftigungsformen und die Instrumentalisierung der
Arbeitslosigkeit bzw. der politisch weitgehend ohnmächtigen Arbeitslosen, wodurch
der Druck auf das allgemeine Lohnniveau nochmals erhöht wurde.
Die ökonomischen und sozialen Konsequenzen des kompetitiven
Merkantilismus
Das langfristige Zurückbleiben der Löhne bzw. die Nicht-Ausschöpfung des
verteilungs- und inflationsneutralen Spielraumes haben nicht nur zu einem im
internationalen Vergleich deutlich geringeren Anstieg der Lohnstückkosten und
somit zu einer Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen,
sondern auch die binnenwirtschaftliche Nachfrage spürbar geschwächt. Mittlerweile
liegt eine Reihe ökonomischer Untersuchungen vor, die zu dem Ergebnis kommen,
dass die deutsche Wirtschaft nach wie vor lohngetrieben ist und sich somit die
Umverteilung zu Lasten der Löhne langfristig negativ auf Wachstum und
Beschäftigung auswirken (vgl. z.B. Stockhammer/Hein/Grafl 2007;
Joebges/Schmalzbauer/Zwiener 2009).
Gleichzeitig sind aber auch die positiven Impulse der Exportüberschüsse zunehmend
schwächer geworden. Die materiellen Vorteile, die sich für die Beschäftigten aus der
Exportorientierung ergeben, korrelieren positiv mit dem gewerkschaftlichen
Organisationsgrad, während umgekehrt jedoch die entsprechenden
Kernbelegschaften und die Lohndrift relativ geschrumpft sind, so dass die
Multiplikatoreffekte des Exports auf die inländische Konsumnachfrage limitiert sind.
Entsprechend bildet sich ein zyklisches Muster auf niedrigem Wachstumsniveau
heraus, bei dem die Gewerkschaften nur im Gefolge boomender Exporte höhere
Abschlüsse durchsetzen können. Weiter unten in der Hierarchie wiederum
verschärfen die fehlenden Wachstumsimpulse in einer Art kompetitivem Null-, wenn
nicht gar Negativsummenspiel den Druck und die Bereitschaft in einen
Unterbietungswettbewerb einzutreten. Die merkantilistische Ausrichtung
reproduziert damit letztlich die Bedingungen, welche die Akteure veranlassen, sich
dem entsprechend zu verhalten.
Die Reproduktion des deutschen Exporterfolgs wird aber nicht nur mit den Einbußen
der gering-verdienenden Beschäftigten und einer zunehmenden Ungleichverteilung
erkauft. Das Pendant zu einer durch Lohn- und Konsumverzicht erhöhten
Wettbewerbsfähigkeit ist auch ein Zurückbleiben der Importnachfrage, wodurch die
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Absatzmöglichkeiten anderer Länder begrenzt und diese zugleich unter preislichen
Anpassungsdruck gesetzt werden, der dort wiederum auf die Löhne und die
Sozialpolitik abgewälzt wird. Da aufholende Ökonomien mit einem niedrigerem
Durchschnittseinkommen in der Regel ein höheres Lohnwachstum aufweisen, dass
nicht immer durch entsprechende Produktivitätszuwächse kompensiert werden
kann, wachsen die Ungleichgewichte nahezu zwangsläufig mit der Konsequenz, dass
diese Länder früher oder später in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geraten. Kommt es
schließlich zu einer schweren Krise, wie zuletzt in Europa, zahlen vor allem die
Lohnabhängigen und die sozial schwächsten Haushalte die Zeche. In den
Krisenländern durch Lohnkürzungen, Austeritätspolitiken und einen Abbau sozialer
Leistungen und in Deutschland einmal durch den Lohnverzicht, der zunächst die
Überschüsse gefördert hat, und ein zweites Mal – als Steuer- und Abgabenzahler –
durch die Kompensation der Vermögensbesitzer, deren Ansprüche gegenüber den
Krisenländern an Wert verloren haben. Der kompetitive Merkantilismus lässt sich
kaum mehr als nationalökonomische Wachstumsstrategie begreifen, sondern bildet
vielmehr ein Vehikel der transnationalen Umverteilung von den Lohnabhängigen
und Einkommensschwachen hin zu den Vermögensbesitzern und Kapitaleinkommen.
Literatur/Quellen:
Beck, Stefan (2014) Vom fordistischen zum kompetitiven Merkantilismus. Die
Exportorientierung der Bundesrepublik Deutschland, unter: http://www.metropolisverlag.de/Vom-Fordistischen-zum-Kompetitiven-Merkantilismus/1074/book.do
Joebges, H./Schmalzbauer, A./Zwiener, R. (2009): Der Preis für den
Exportweltmeister Deutschland: Reallohnrückgang und geringes
Wirtschaftswachstum, IMK Studies, Nr. 4/2009, Düsseldorf.
Stockhammer, E./Hein, E./Grafl, L. (2007): Globalization and the effects of changes
in functional income distribution on aggregate demand in Germany; Working Paper,
114, Institut für Volkswirtschaftstheorie und -politik, WU Vienna University of
Economics and Business, Vienna, http://epub.wu.ac.at/1104/1/document.pdf
Autor: Stefan Beck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel
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„Einfache Dienstleistungen“ in der
Wertschöpfungskette
von Philipp Staab
Noch nie waren in der Bundesrepublik so viele Menschen erwerbstätig wie heute.
Nach Jahren der Lohnzurückhaltung, schmerzhaften Einschnitten im Netz
wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist der
kranke Mann Europas gesundet. Therapien sind freilich selten frei von
Nebenwirkungen. Der Boom am Arbeitsmarkt ist teuer erkauft. 8,4 Millionen
Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor zu Stundenlöhnen von unter 9,30.[1] Im
Gefolge schwacher Tarifabschlüsse, sozialer Entsicherung und der nachhaltigen
Prekarisierung von Arbeit „explodiert“ derzeit die Ungleichheit in der
Bundesrepublik.[2] Diese Entwicklung geht allerdings nicht nur auf arbeitsmarktund sozialpolitische Maßnahmen zurück. Sie ereignet sich im Kontext eines
strukturellen Wandels der Arbeitsgesellschaft weg von einer primär industriellen, hin
zu einer auf Dienstleistungen basierenden Wertschöpfung. Ein solcher Prozess prägt
die Gesellschaften der OECD-Welt im Allgemeinen. Man sollte sich von der
bemerkenswerten Stabilität des industriellen Kerns in der Bundesrepublik nicht
täuschen lassen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten auch in
Deutschland in Dienstleistungsberufen.[3]
Ungleichheit in der Dienstleistungsgesellschaft
Privilegien sind in der Dienstleistungsgesellschaft sehr ungleich verteilt. Der
industrielle Kern ist solide, die Dienstklassen[4] – Ingenieure, Anwälte, Ärzte,
Designer, etc… – werden immer mehr und verdienen auch besser.[5] Vom Rande der
Arbeitsgesellschaft betrachtet, aus der Perspektive der industriellen Leiharbeit oder
aus der Warte der zahlreichen schlechtbezahlten Dienstleistungsjobs der Gegenwart,
sieht die Sache ganz anders aus. Vor allem die „einfachen“ Dienstleistungen sind
arbeitspolitisch isoliert. Die dort Beschäftigten haben das historische Erbe der
proletarischen Lagen am Arbeitsmarkt angetreten, sammeln sich aber nicht mehr
unter dem Dach großer Industriebetriebe, machen kaum Erfahrungen arbeitsteiliger
Sozialintegration. „Einfache“ Dienstleistungsarbeit ist kundenorientiert. Sie erfolgt
dezentral: Die Reinigungskraft kommt nach Hause oder ins Büro, das Paket wird bis
zur Haustür gebracht, ein Supermarkt ist immer um die Ecke. „Einfache“
Industriearbeit war Männerarbeit. Sorge, Säubern und Service werden dagegen auch
am Arbeitsmarkt mehrheitlich von Frauen erbracht. Weite Teile des Einzelhandels,
Reinigung, Facility Management, Gebäudeservices, Post- und Paketdienste, aber
teilweise auch Pflegeberufe sind zum Sammelbecken für Rationalisierungs- und
Zertifikationsverlierer, für Neuankömmlinge auf dem Arbeitsmarkt und für jene
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Kinder der alten Industriearbeiterschaft geworden, denen kein sozialer Aufstieg
gelungen ist.
Wissensarbeiter und die Beschäftigten der „einfachen“ Dienste nehmen sehr
unterschiedliche Machtpositionen am Arbeitsmarkt ein. Die hochqualifizierten
Dienstklassen sind oft an den industriellen Kern der Arbeitsgesellschaft gebunden
(Planung, Entwicklung, Design etc.), können daher von dessen enormer Produktivität
und kollektivrechtlichen Regulierung profitieren. Es handelt sich um hochgebildete
Spezialisten, die in der Regel auch eine individuelle Verhandlungsmacht besitzen.
Dies schlägt sich in ihren vergleichsweise hohen Gehältern und Rentenerwartungen
nieder. [6] Ganz anders die „einfachen“ Dienste, die, konservativ gerechnet, ca. 11%
der Arbeitnehmerschaft in der Bundesrepublik versammeln.[7] Sie haben die
geringste gewerkschaftliche Organisationsdichte aller Arbeitsmarktsegmente[8] und
sind häufig betriebsratsfreie Zonen[9], arbeiten aber häufig in unverzichtbaren
Segmenten der Wertschöpfungsketten. Den Aufstieg der Wissensarbeiter erleben die
Beschäftigten der „einfachen“ Dienste vor allem als ungleichen Kampf um knappe
Ressourcen. Sie sitzen nicht an den vollen Trögen der Industrie, können auch nicht
mit Bildungszertifikaten punkten. Die „einfachen“ Dienste sind daher häufig das erste
Opfer systematischen Kostendrucks. Wenn beispielsweise in einem Krankenhaus die
Löhne der Ärzte oder in einem Pflegeheim die Gehälter der examinierten Kräfte
steigen, das Budget der Einrichtung aber weitgehend unverändert bleibt, dann muss
an anderer Stelle gespart werden. „Einfache“ Dienstleistungsarbeit steht daher unter
erheblichem Rationalisierungsdruck.
Rationalisierung „einfacher“ Dienstleistungsarbeit
Der theoretischen Debatte der 1970er und 1980er Jahre um Dienstleistungsarbeit
zufolge, versucht sich das Management dabei an der Quadratur des Kreises. Denn
Dienstleistungsarbeit wurde seinerzeit als relativ rationalisierungsresistent erachtet.
Sie sollte vor allem in direkter Interaktion mit dem Kunden erfolgen, was jede
technische Beschleunigung oder Automatisierung unmöglich mache. Von dieser
Vorstellung muss man sich zweifelsfrei verabschieden. Tatsächlich sind die
„einfachen“ Dienste seit Jahren ein Experimentierfeld der Automatisierung. Es geht
dabei vor allem um die Übertragung komplexer, häufig im Ursprung interaktiver
Tätigkeiten, auf den Kunden selbst: Die Selbstkassiererkassen bei IKEA sparen
menschliche Arbeitskraft ein, da eine Angestellte zugleich mehrere Kassen betreuen
kann, deren adäquate Bedienung durch den Kunden sie nur mehr überwachen muss.
Das System Amazon, um ein weiteres augenscheinliches Beispiel zu nennen,
funktioniert auf der Seite des Kundenkontakts vor allem über die Substitution von
Beratungsarbeit durch die „Konsumarbeit“ des Kunden selbst: Er sucht sein Produkt
online ohne persönliche Beratung aus, liest und verfasst Rezensionen über erworbene
Produkte, wird also auch noch zum Berater anderer Klienten des Unternehmens.
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Für die Beschäftigten der „einfachen“ Dienste sind diese technischen Maßnahmen
allerdings nur ein möglicher und keinesfalls zwingender Rahmen für die
Rationalisierung ihres Arbeitsprozesses. Auch wo das technische Outsourcing auf den
Kunden weniger prägnant ausgeprägt ist, beispielsweise im stationären Einzelhandel,
wird vom Kundenkontakt zunehmend Abstand genommen: In
Lebensmitteldiscountern, bei Zara, Kik oder McDonalds geht es nicht mehr um
Beratung. Diese ist den Beschäftigten sogar offiziell untersagt oder es wird erwartet,
dass die Angestellten nach vorgegebenen Interaktionsskripten handeln, deren Ziel
die Minimierung der Interaktionssequenzen mit dem Kunden ist. Es zeigt sich hier
der Versuch, Arbeitsabläufe zu standardisieren. Standardisierung prägt auch jene
Bereiche „einfacher“ Dienstleistungsarbeit, bei denen es nicht um die Tilgung von
Kundeninteraktionen aus dem Arbeitsprozess geht. In Post- und Paketdiensten
werden beispielsweise Touren angeglichen, so dass Zusteller disponibel auf
unterschiedlichen Routen eingesetzt werden können. In der Reinigungsbranche
werden komplexe Aufgaben, wie das Reinigen von Fenstern offiziell aus dem
Aufgabenprofil der Beschäftigten gestrichen, um dem Kunden ein günstigeres
Angebot unterbreiten zu können. Standardisierung ist allerdings nur einer von drei
zusammenhängenden Zugriffen auf den Arbeitsprozess. Nach der Tilgung
komplexerer Aufgaben aus dem Arbeitsprozess oder ihrer Übertragung auf den
Kunden setzt in der Regel ein Universalisierungsprozess ein. Für die übrigbleibenden
„einfachen“ Aufgaben sind nun alle Beschäftigten gleichermaßen zuständig.
Arbeitskraft wird auf diese Weise disponibler. Die Beschäftigten sind nicht mehr an
ein spezifisches Aufgabenprofil gebunden, sondern wechseln nun permanent die
Tätigkeitsbereiche. Der Schwatz mit der Stammkundin an der Kasse fällt aus, weil die
„Kassiererin“ sich sogleich auf den Weg ins Lager macht um Waren im Verkaufsraum
aufzufüllen. Der dritte Zugriff auf den Arbeitsprozess erfolgt in Form seiner
Verdichtung. Mehr und mehr Aufgaben müssen von den Beschäftigten innerhalb
konstant bleibender Zeitintervalle erledigt werden.
Die Rationalisierung des „Shopfloors“ hat handfeste Folgen.
Standardisierungsmaßnahmen führen formale Professionalisierungsversuche ad
absurdum, weil Arbeit an Komplexität verliert. Sie setzen eine
Dequalifizierungsdynamik in Gang, die sich in den realisierbaren Löhnen
niederschlägt: Ist die Glasreinigung nur noch eine Tätigkeit, die neben anderen
ausgeübt wird, oder bildet das Kassieren nur noch eine von vielen verschiedenen
Aufgaben einer Supermarktangestellten, so argumentieren viele Unternehmen, dass
dafür auch keine tätigkeitsspezifische tarifliche Eingruppierung mehr zu
veranschlagen ist. Rationalisierung zeitigt damit den paradoxen Effekt, den
Beschäftigten mehr Aufgaben aufzubürden, sie dafür aber schlechter zu entlohnen.
Die praktisch und formalrechtlich radikalste Zuspitzung
des Rationalisierungsprozess findet sich vermutlich im Gesundheitswesen: Viele
große Kliniken haben in den vergangenen Jahren Servicegesellschaften gegründet. In
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diese Tochterunternehmen wird zuweilen ein Drittel der Belegschaft ausgegliedert.
Wen es trifft, bestimmt sich anhand systematischer Rationalisierungsgrenzen: Wer
noch mit Menschen als Kunden zu tun hat, ist in der Regel vor Ausgliederung sicher.
Alle Tätigkeiten unterhalb dieser Rationalisierungsschwelle – Reinigung,
Bettenmanagement, Fahr- Hol- und Bringdienste, Kantinenbetrieb, Sterilisation,
Pförtner-, Wach- und Schließdienst - fallen aus den Haustarifverträgen heraus. Von
tariflichen Auflagen befreit, wird in diesen Tochterunternehmen anschließend die
Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Aufgabenbereichen intensiviert: Auf der
Basis von Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung steigt nicht nur der
Arbeitsdruck, sondern den Tätigkeitsprofilen wird jede Spezifik genommen. Wer
heute putzt, kann morgen in der Großküche stehen und übermorgen Betten schieben.
Eingestellt werden nur noch sogenannte „Servicekräfte“, die Prototypen tertiärer
Einfacharbeit, die auch von keinem Branchentarifvertrag mehr erfasst werden.
Für die konkrete Arbeitserfahrung der Beschäftigten haben Standardisierung,
Universalisierung und Verdichtung gravierende Konsequenzen. Die physischen
Anforderungen, die die Beschäftigten zu bewältigen haben, steigen systematisch.
Standardisierung und Zeitdruck tilgen jene Aufgaben aus dem Arbeitsprozess, die
Autonomie, Anerkennung und ein wenig Kontemplation versprechen – den Plausch
des Postboten am Gartenzaun, den Austausch mit den Kolleginnen im Pausenraum.
Der Tag ist übervoll mit „einfachen“ Tätigkeiten, die sich in ganz unterschiedlichen
Arbeitskontexten letzten Endes doch ähneln: Heben, Schieben, Räumen, Tragen,
Säubern prägen den Arbeitsalltag der Raumpflegerin, ebenso wie jenen des
Paketboten oder der Servicekraft im Supermarkt. Die Beschäftigten sind hier nicht
als Subjekte, sondern als Körper gefragt. Ihre physischen Grenzen werden
systematisch ausgereizt durch den Zwang, sich ständig neuen Aufgaben zu widmen
(Universalisierung) und dies in immer schnellerer Taktung (Verdichtung). Vor allem
Arbeitsverdichtung wird bis zu einem Punkt getrieben, an dem Arbeitnehmerinnen
nur noch die Wahl bleibt, welche ihnen übertragenen Aufgaben einstweilen
vernachlässigt werden können und welche Tätigkeiten sofort erledigt werden müssen.
Nach ihrer täglichen Praxis und den dafür notwendigen Fähigkeiten gefragt, geben
viele Beschäftigte daher zu Protokoll, dass „Pfusch“ ein integraler Bestandteil ihrer
Arbeit sei.
Kontrolle ohne Technik
Die Servicekraft ist die paradigmatische Zuspitzung der Rationalisierung „einfacher“
Dienstleistungsarbeit. Sie kann als gewandelter Wiedergänger einer klassischen Figur
industrieller Arbeitswelten betrachtet werden, dem Industriearbeiter unter den
Bedingungen hochgradiger Taylorisierung: Beide sind im Zeichen eines
standardisierten Arbeitsprozesses maximal einsetzbar und daher auch maximal
ersetzbar. Allerdings war der Industriearbeiter des Taylorismus eine Art Appendix
der Maschine. Technik gab die Arbeitsgeschwindigkeit vor. Pfusch war
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ausgeschlossen, weil Technik Kontrolle sicherte. In den „einfachen“ Diensten liegt die
Sache ganz anders. Direkte Prozesskontrolle wird hier nicht durch Technik gesichert.
Zugleich klingt der allgegenwärtige Pfusch in den Ohren des Managements freilich
nicht wie der Ruf nach Entlastung, sondern wie ein Schrei nach Kontrolle.
Ohne Technik wird Kontrolle in den „einfachen“ Diensten über personengebundene
Macht umgesetzt. Vorarbeiter, Truppführer, Depot- und Filialleitungen besetzen die
Schlüsselposition betrieblicher Herrschaft. Mit der konkreten Kontrolle des
Arbeitsprozesses sind sie allerdings in der Regel überfordert. Sie versuchen daher,
Beschäftigte der ausführenden Ebene für die Übernahme von Kontrollaufgaben zu
gewinnen. Die Überwachung von Kolleginnen schlägt sich in der Regel nicht in
formalen Beförderungen nieder. Allerdings wird Denunziation im Arbeitsalltag mit
kleineren Privilegien vergolten – den besten Touren, Reinigungsgebieten und
Arbeitszeiten oder mit außerplanmäßigen Raucherpausen. Der systematische Effekt
dieser Vermachtung der Arbeitssituation ist die Spaltung der Belegschaften in
Rationalisierungsgewinner und – verlierer. Wenige sichern sich karge Vorteile auf
Kosten der Mehrheit der Beschäftigten. Diese Logik des „Teile und herrsche“ spaltet
die Belegschaften systematisch. Die Logik interessengeleiteter Kooperation und
kollektiven Handelns ist kein Teil der Alltagserfahrungen im
„Dienstleistungsproletariat“[10].
Arbeitserfahrung und Berufssozialisation: Eine neue Klientel
Die Gewerkschaften haben es in den „einfachen“ Diensten also mit einer neuen
Klientel zu tun. Die Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit ist gering, weil
diese immer einfacher und unspezifischer wird. Die Vermachtung der
Arbeitssituation spaltet die Belegschaften und behindert positive
Kooperationserfahrungen im Arbeitsalltag. Interessenpolitik steht vor einem
Paradox, das sich aus diesem Zuschnitt des Arbeitsprozesses ergibt: Einerseits wird
der Körper zum entscheidenden Faktor für sozialen Ausschluss, weil Rationalisierung
die physische Belastung der Beschäftigten systematisch verschärft. Andererseits ist
der körperliche Aufwand aber auch der einzige positive Bezugspunkt auf die Arbeit,
den viele Beschäftigte artikulieren. Nur physische Anstrengung bietet in den
„einfachen“ Diensten die Erfahrung diffuser Selbstwirksamkeit und innerer Größe.
Will man die Leute abholen, wo sie stehen, wird es daher zum einen um den Kampf
gegen die Rationalisierung des Arbeitsprozess gehen müssen. Zum anderen könnte
der Körper als bedeutungsvolle Kategorie des Stolzes in einen größeren
gesellschaftlichen Kontext gestellt werden. Ein Wissen um die Notwendigkeit der
eigenen Position im Prozess gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wie es die
Industriearbeit bis heute auszeichnet, ist dem Dienstleistungsproletariat fremd. Der
entscheidende Kniff für die nachhaltige Unterstützung von Selbstorganisation wäre,
auf Seiten der Beschäftigten überhaupt erst ein Funktionsbewusstsein zu fördern, ein
Wissen um die eigene gesellschaftliche Bedeutung.
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Jüngste Veröffentlichung des Autors zum Thema:
Staab, Philipp (2014): Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg
Literatur/Quellen:
[1] Kalina, Thorsten/ Weinkopf, Claudia (2014): Niedriglohnbeschäftigung 2012 und
was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 verändern könnte, Quelle:
http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2014/report2014-02.pdf
[2] Wehler, Hans-Ulrich (2013): Die Explosion der Ungleichheit. Ein Problem von
Macht und Herrschaft, in: Blätter Blätter für deutsche und internationale Politik,
4/2013, S. 47-56
[3] Bahl, Friederike/Staab, Philipp (2010): Das Dienstleistungsproletariat. Theorie
auf kaltem Entzug, in: Mittelweg 36, 19 (2010), 6, S. 66-93
[4] Der Begriff „Dienstklasse“ bezeichnet innerhalb der internationalen
Sozialstrukturanalyse all jene Berufsgruppen, die in hochqualifizierten
Dienstleistungsberufen tätig sind. Dies betrifft sowohl administrative Tätigkeiten, wie
auch technische und sozio-kulturelle Berufe (vgl. Oesch 2006: Redrawing the Class
Map. Stratification and Institutions in Britain, Germany, Sweden and Switzerland.
Basingstoke). “Dienstklasse” und “Wissensarbeiter” werden im vorliegenden Text als
Synonyme gebraucht.
[5] Oesch, Daniel/ Rodriguez Menes, Jorge (2011): Upgrading or polarization?
Occupational change in Britain, Germany, Spain and Switzerland, 1990-2008. SocioEconomic Review 9(3), S. 1-29
[6] Oesch, Daniel (2006): Redrawing the Class Map. Stratification and Institutions in
Britain, Germany, Sweden and Switzerland. Basingstoke
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Artus, Ingrid (2006): Betriebe ohne Betriebsrat. Informelle Interessenvertretung
in Unternehmen, Frankfurt a.M./ New York
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[10] Staab, Philipp (2014): Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg; Bahl,
Friederike/Staab, Philipp (2010): Das Dienstleistungsproletariat. Theorie auf kaltem
Entzug, in: Mittelweg 36, 19 (2010), 6, S. 66-93
Autor: Dr. Philipp Staab, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und
Lehrbeauftragter an der Universität Kassel
Die französischen Sozialisten zwischen
Programmatik, Popularität und Hartz IV
von Bernard Schmid
Sieger sehen anders aus. Am Dienstagabend, den 16. September stand es fest:
Frankreichs Premierminister bleibt im Amt, nachdem in der Nationalversammlung
269 Abgeordnete für und 244 gegen den alt-neuen Regierungschef gestimmt hatten.
Es wurde damit gerechnet, dass er sein Amt behält, denn bei solchen Voten zählen
nur die abgegeben Ja- und Nein-Stimmen, Enthaltungen gehen nicht in die
Auszählung mit ein. Das Kabinett wurde Ende August umgebildet, wodurch eine neue
Abstimmung im „Unterhaus“ des französischen Parlaments erforderlich wurde. Zum
ersten Mal seit 1962 erhielt dabei ein Premierminister nur eine relative und nicht
eine absolute Mehrheit. 32 sozialdemokratische Abgeordnete haben sich der Stimme
enthalten, trotz des massiven Drucks ihrer Parteivorderen, die unter anderem damit
gedroht hatten, wer bei der Abstimmung ausschere, müsse folgerichtig auch die
Fraktion verlassen, und werde bei kommenden Wahlen nicht wieder aufgestellt.
Das Umfragetief
Man muss keinem Aberglauben anhängen, um zu der Einschätzung zu kommen, dass
die Zahl 13 für François Hollande Unglück bedeutet. 13 Prozent, das ist der
augenblickliche Popularitätswert des französischen Staatspräsidenten. Der Wert
wurde zuerst durch das rechtskonservative Wochenmagazin Figaro am vergangenen
Wochenende des 06./07. September 14 publik und kurz darauf durch sämtliche
Umfrageinstitute bestätigt. Das Ergebnis ist kein „Ausreißer“, es spiegelt vielmehr
einen langanhaltenden Trend in vielen Umfragen zur Regierungspolitik wieder.
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Bereits die Amtsvorgänger Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy erlebten Tiefswerte
an Popularität mit 16 Prozent und 20 Prozent, jedoch erst im letzten Amtsjahr.
Hollande hat allerdings noch drei Jahre vor sich.
Auch die Umfragewerte von Premierminister Manuel Valls, der im April 2014 mit
einem „Macherimage“ antrat, sind inzwischen von ca. 60 Prozent auf 20 bis 30
Prozent (je nach Institut) gesunken. Es ist offensichtlich, dass die französische
Regierungspolitik von der Wahlbevölkerung abgestraft wird, und nicht nur
irgendeine eine repräsentative Persönlichkeit. Eigentlich ist es auch kein Wunder,
schließlich wurde der sozialistische Präsident im Jahr 2012 als linke Alternative
gewählt, um eine sozialere und bürgerrechtsorientierte Politik im Gegensatz zu
seinem Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy zu verfolgen. Jetzt im Jahr 2014 steht er der
Wirtschafts- und Sozialpolitik des zuvor regierenden Bürgerblocks in nichts nach.
Die rechte Opposition attackiert trotzdem die Regierung, allerdings auf dem Feld der
„moralischen Werte“, wie man im Vorjahr bei den Massenprotesten gegen die
Homosexuellenehe sehen konnte. Ein Teil der französischen Rechten hängt noch
immer der historischen Sichtweise an, dass ein Sozialist an der Regierung
grundsätzlich illegitim sei und einer natur- oder gottgegebenen „moralischen
Ordnung“ widersprechen würde. Die Linke wiederum ist wenig begeistert, dass die
„eigene“ Regierung auf vielen Feldern schlicht die Politik der Gegenseite betreibt.
Sozialdemokraten auf Wirtschaftskurs
Seit Hollandes Premierministers Valls Anfang der letzten Augustwoche seine
Regierung umbildete, ist ein strammer sozialdemokratischer Rechtskurs angesagt.
Die Kabinettsumbildung diente dazu, den kritischen Wirtschaftsminister Arnaud
Montebourg zu entfernen. Mit ihm gingen auch der Schulminister Benoît Hamon, ein
früherer Wortführer des linken Parteiflügels, und Kulturministerin Aurélie Filippetti.
Die Satiresendung Les Guignols de l’info auf dem TV-Sender Canal+ spottete
daraufhin wochenlang über ein umgebildetes Kabinett, das sie nur noch mit dem
Adjektiv „rechts“ (de droite) belegte. In einer Episode der Polit-Puppensendung, die
seit 1988 fast täglich ausgestrahlt wird, wendet sich Hollande mit der bangen Frage
an Premierminister Valls: „Wie konnten sich nur linke Minister einschleichen?“
Antwort: „Nun, sie hatten einen Trick drauf, sie hatten sich Krawatten umgehängt!“
Die frisch umgebildete Regierung entzündete sogleich ein Feuerwerk
wirtschaftspolitischer Ankündigungen. Der neue, erst 36jährige Wirtschaftsminister
Emmanuel Macron - ehemals Geschäftsbanker, feierte seinen Einstand mit einem
Angriff auf die im Jahr 2000 durch die damalige sozialdemokratische Regierung
durchgeführte Arbeitszeitverkürzung. Die 35-Stunden-Woche sei viel zu starr und
müsse aufgeweicht werden, verkündete er und übernahm dadurch einen im
vergangenen Jahrzehnt durch Wirtschaftsliberale ständig wiederholten Topos.
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Eigentlich beinhaltet das Gesetz nur einen verpflichtenden Maßstab für die reguläre
Arbeitszeit im Jahreszyklus und lässt deshalb sowohl „flexible“ und stark variierende
Arbeitszeiten innerhalb des Jahres, als auch über die Obergrenze hinausgehende
Überstunden, zu.
Emmanuel Macron hat sich selbst ziemlich in die Nesseln gesetzt, als er am 17.
September die Arbeiterinnen des Schlachtereibetriebs Gad in der Bretagne – deren
Arbeitsplätze bedroht sind – in einem Radiointerview als „Analphabetinnen“
titulierte. Die Äußerung fiel im Kontext einer Interviewpassage, in welcher der
Minister eine Vereinfachung von Verwaltungsprozeduren forderte, um den
Führerschein zu verbilligen, schließlich sollten die Arbeiterinnen auch in 100
Kilometer Entfernung nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten suchen können.
Später musste Macron schnellstmöglich wieder zurückrudern. Er kündigte noch am
selben Tag an, sich zu entschuldigen und alsbald die Arbeiterinnen von Gad zu
besuchen.
Auch der Arbeitsminister François Rebsamen beweist sein Problembewusstsein. Er
hat zwar in den letzten Monaten trotz wiederholter Ankündigungen nicht die
Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Jedoch verkündete er Ende August, dass die
angeblich zu Sozialbetrug neigenden Erwerbslosen endlich Kontrollen unterzogen
würden. Wer keine Anstrengungen zur Stellensuche nachweisen kann, dem oder der
droht der vorübergehende Entzug der Leistungen aus der Arbeitslosenkasse. Ein
entsprechender Kontrollmechanismus wird seit einem Jahr in vier französischen
Départements ausprobiert. Sechs Prozent der kontrollierten Erwerbslosen verloren
dabei ihre Bezüge für 14 Tage. Es geht nun darum, eine Verallgemeinerung des
erprobten Verfahrens anzustreben.
In der sozialistischen Partei protestierten viele Mitglieder gegen diesen Kurs. Selbst
Parteichef Jean-Christophe Cambadélis, beileibe kein Linker, äußerte sich
entsprechend. Am Rande der Sommeruniversität in La Rochelle spottete Minister
Rebsamen über seinen Parteivorsitzenden, dieser „kenne die Welt der Unternehmen
nicht“ und habe „in seinem Leben noch nie gearbeitet“ (zitiert nach der
Wochenzeitung Le Canard enchaîné). Rebsamen selbst war allerdings nie etwas
Anderes als Berufspolitiker.
Sozialer Kahlschlag?
Zu den weiteren ersten Maßnahmen des teilweise neuen Kabinetts gehört auch die
Aufhebung des Mietspiegels, den die bis März 2014 amtierende grüne
Wohnungsministerin Cécile Duflot eingeführt hatte. Damit wurde eine
Mietpreisbindung eingeführt, mit der die explodierenden Mietkosten zumindest ein
Stück weit eingedämmt werden sollten. Valls erklärte sie zum Hindernis für den
Wohnungsbau und setzt nun stattdessen auf wirtschaftsliberale Rezepte wie
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Steuergeschenke für Investoren. Lediglich in der Hauptstadt Paris soll der
Mietspiegel „probeweise“ beibehalten werden. Martine Aubry, Bürgermeisterin von
Lille - einer der teuersten Städte Frankreichs - protestierte öffentlichkeitswirksam
gegen die Abschaffung und erreichte damit, dass der Mietspiegel nun auch in Lille
weiterhin gilt. Ursprünglich hatte das Gesetz von Cécile Duflot einen Mietspiegel in
28 bis 35 Ballungsräumen mit „angespanntem Wohnungsmarkt“ einführen sollen.
Die Regierung könnte aber noch mit weiteren „Reform“-vorhaben auf Widerstand
stoßen: zum Beispiel mit der gesetzlichen Erleichterung von Sonntagsarbeit, der
Abschaffung der bislang alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen der Arbeitsgerichte
oder mit der Aussetzung der Verpflichtung zur Einrichtung von Betriebsräten in
Unternehmen mit wachsender Mitarbeiterzahl. Nicht wenige der sozialistischen
Parteimitglieder ballen längst die Fäuste in der Tasche über die Politik von Manuel
Valls, der als Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur bei der Urabstimmung
2011 nur 5,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte.
In La Rochelle weigerte sich der Ordnerdienst der Partei den Premierminister Valls
zu schützen und bei seinem Auftritt wurde er beim Wort „Unternehmen“ mächtig
ausgepfiffen. Denn kurz zuvor hatte Manuel Valls eine Ansprache bei der
Sommeruniversität des Arbeitgeberverbands MEDEF im Pariser Umland gehalten.
Dort proklamierte er seine „Liebe für die Unternehmen“. Die MEDEF-Delegierten
hatten Valls daraufhin stehende Ovationen gegeben. In seiner eigenen Partei wird
diese offene Kumpanei nicht gern gesehen.
Der Vorsitzende des regierungsnahen, zweitstärksten Gewerkschaftsdachverbands
CFDT (nach der CGT), Laurent Berger, war nach den Pfiffen „entsetzt“, schließlich
hätte man das Privatkapital als freundlich zu behandelnden Dialogpartner schätzen
gelernt. Allerdings hat selbst die CFDT gegen die geplanten verschärften Kontrollen
für Erwerbslose protestiert. Diese Ankündigung geht auch ihr zu weit.
Notverordnungsregime
Die neue französische Regierung will nun zum Teil mit Notverordnungen regieren,
wie Premier Valls ankündigte. Es handelt sich bei diesen ordonnances um Texte mit
Gesetzeskraft, über die jedoch nicht im Parlament debattiert und abgestimmt wird,
sondern deren Inhalt durch die Regierung im Alleingang und ohne Diskussion mit
den Abgeordneten festgelegt wird. Die Rolle des Parlaments beschränkt sich bei
dieser Prozedur darauf, durch ein Bevollmächtigungsgesetz vorab dem Kabinett eine
Generalermächtigung zum Erlass solcher Verordnungen zu erteilen. Unpopuläre
Regierungen, die soziale Einschnitte planen, greifen mitunter auf dieses besondere
Gesetzgebungsverfahren zurück, seitdem die Verfassung der Fünften Republik es
zugelassen hat. Es ist jedoch fundamental undemokratisch.
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Als einzigen Trost versprach Jean-Marie Le Guen, Minister für parlamentarische
Angelegenheiten, die Pläne zur Ausweitung der Sonntagsarbeit würden nicht per
Notverordnung durchgedrückt. Ein schwacher Trost, zumal er dieses Vorgehen bei
vielen anderen Themen offen lässt.
Die CGT, der stärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, ruft unterdessen zu
einem sozialen Protest- und Aktionstag am 16. Oktober dieses Jahres auf.
Autor: Dr. Bernard Schmid, geboren 1971 in Süddeutschland, Jurist bei einer NGO
zur Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung in Paris
Die Arbeitswelt im Wandel
von Rainer Fattmann
In der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund können auf einer Fläche von
zweieinhalb Fußballfeldern vielfältige Aspekte vergangener, gegenwärtiger und
zukünftiger Arbeitswelten an zahlreichen Exponaten und mit vielen
Experimentierstationen erkundet werden. Die DASA ist schon von ihrem Standort für
eine Ausstellung rund um die Arbeitswelt geradezu prädestiniert. Sie liegt direkt am
Ruhrschnellweg in unmittelbarer Nähe zu einer ganzen Reihe von
Industriedenkmälern im Revier. Sie wurde 1993 als Deutsche
Arbeitsschutzausstellung eröffnet und ist Teil der Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin. Die Ausstellung lenkt den Blick auf die Arbeitsumgebungen der
Menschen und thematisiert die Belastungen, denen sie ausgesetzt sind. Mit dieser
Ausrichtung knüpft sie an eine über 100jährige Ausstellungstradition zum Thema
Arbeitsschutz an. Bereits im Juni 1903 eröffnete in Berlin-Charlottenburg die
„Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt und Unfallschutz“, mit der das Thema
Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz mit großem Erfolg in der
Öffentlichkeit platziert werden konnte.
Mit der Dortmunder Ausstellung sollen die Besucherinnen und Besucher für
konkrete Gefahren und Belastungen am Arbeitsplatz sensibilisiert und mit
praxisnahen Lösungen für ein besseres Arbeiten konfrontiert werden. Zu den
körperlichen Belastungen zählen Lärm, Hitze und Staub, aber auch psychische
Stressfaktoren. Diese auf den eigentlichen Arbeitsschutz gerichtete Fokussierung der
Schau ist in den letzten Jahren zu Gunsten einer breiteren Perspektive erweitert
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worden. Jetzt stehen die Auswirkungen der Arbeitswelt nicht mehr allein unter dem
Gesichtspunkt ihrer belastenden Aspekte im Mittelpunkt. Geblieben ist jedoch der
konkrete Blick auf den Menschen.
Die Ausstellungseinheiten
Das weitläufige Ausstellungsgelände umfasst die folgenden thematischen Stationen:
Der Eingangsbereich führt in die Welt der Arbeit ein und thematisiert grundlegende
Begriffe und Rahmenbedingungen des Arbeitsschutzes. Daran anschließend
beschäftigen sich die Ausstellungseinheiten mit so unterschiedlichen Gebieten des
Arbeitslebens wie Bildschirmarbeit und der klassischen Fabrikarbeit in der
Textilindustrie. Aber auch mit der Arbeit im Hoch- und Tiefbau, der Eisen- und
Stahlindustrie, im Transportwesen, in der Energiewirtschaft und in den Heil- und
Pflegeberufen. Ein eigener Ausstellungsbereich ist den Gefahrstoffen am Arbeitsplatz
und damit dem klassischen Aktionsfeld des Arbeitsschutzes gewidmet. Eine weitere
Einheit beschäftigt sich mit dem Kampf für eine bessere Arbeitswelt und der Rolle
der Gewerkschaften, was allerdings noch etwas stiefmütterlich daher kommt. Noch
im Aufbau befindet sich die Ausstellungseinheit über die Arbeitswelt von morgen, in
dem die DASA die Chancen und Risiken künftiger Arbeitsgestaltung im
Spannungsfeld digitaler Fremd- und Selbstbestimmung zu präsentieren plant. Einen
Kontrapunkt setzt schließlich die als „Lebensraum Arbeitswelt“ betitelte
Ausstellungseinheit. Ein botanischer Garten voller Farne zeigt den Menschen als Teil
der Natur. Stationen zum Ausprobieren und Mitmachen rücken das Individuum und
seine Sinne und Potentiale in den Mittelpunkt – an den Menschen, so die Botschaft
der Ausstellungsmacher, sollten Technik und Arbeitswelt angepasst sein und nicht
umgekehrt.
Die Belastungen der Arbeitswelt hautnah erleben
Eines der Hauptanliegen der Ausstellungsmacher ist es, die mit den verschiedenen
Arbeitswelten verbundenen Belastungen dem Besucher erfahrbar zu machen. Man
kann sich in einen Lärmtunnel begeben und erfahren, wie stressig
Industriegeräusche etwa für Stahlarbeiter sind. Welche Gefahren im Transportwesen
und in der Logistik lauern, wird durch verschiedene Simulationen verdeutlicht, zum
Beispiel mit der Fahrt durch ein Warenlager, in dem Regale umkippen und sich
Stolperfallen befinden. In der Leitwarte des VEW-Kraftwerks „Westfalen“ lässt sich
ein Störfall im Jahr 1969 nachempfinden, einerseits ist die schnelle Reaktion
gefordert und andererseits spürt man, wie sich das monotone Warten an den
Überwachungsschirmen auf die Psyche der Beschäftigten auswirkt.
Ein besonderes Erlebnis bietet die Einfahrt „unter Tage“, hier ist eine komplette
Tunnelbaustelle nachgebaut. Welchen seelischen und körperlichen Belastungen
gerade die Beschäftigten in den Pflegeberufen ausgesetzt sind und wie sich die Arbeit
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für das Pflegepersonal erleichtern ließe, erfährt das Publikum ebenfalls. Zugleich
eröffnet die DASA den Besuchern die Möglichkeit, die eigene Gesundheit zu testen
und den Zustand der eigenen Rückenmuskulatur, der Sehschärfe oder des
Herzrhythmus zu ermitteln.
Ob Industrieroboter, Elektronenmikroskop, Tunnelbaustelle, Flugsimulator,
Gabelstapler, Webstuhl, Dampfmaschine oder Tiefbauschacht: Viele der Exponate
können in ihrer Funktion besichtigt, begangen, benutzt oder selbst ausprobiert
werden. Um in den Genuss einer fachgerechten Vorführung zu kommen, empfiehlt es
sich dabei in den verschiedenen Bereichen an die jeweiligen Mitarbeiter zu wenden,
durch deren Informationen oft die eigentlichen Intentionen für den Arbeitsschutz
deutlich werden und letztlich die Präsentationsphilosophie der DASA erkenntlich
wird. Die Texte zu den einzelnen Exponaten sind hingegen eher minimalistisch
gehalten und nicht selten überarbeitungsbedürftig. Hier rächt es sich, dass auch die
DASA, wie viele öffentliche Kultureinrichtungen, finanziell an der kurzen Leine
gehalten wird.
Insgesamt jedoch stellt sich die DASA-Schau als facettenreiche Fundgrube zu den
verschiedensten Aspekten der Arbeitswelt dar, die nicht nur Erwachsene, sondern
gerade auch Jugendliche und Kinder anspricht. Ein Besuch lohnt sich allemal.
Orientierungsschwache Zeitgenossen wie der Autor sollten sich vorab mit den
örtlichen Gegebenheiten vertraut machen.
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Freitag
9:00 - 17:00 Uhr
Samstag und Sonntag
10:00 - 18:00 Uhr
Eintritt:
Erwachsene 5,- EUR
Ermäßigt 3,- EUR
Familien 10,- EUR
Kinder bis einschl. 5. Lebensjahr frei
http://www.dasa-dortmund.de/startseite/
Autor: Dr. Rainer Fattmann, Historiker und selbständiger wissenschaftlicher
Publizist
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Staatsvolk und Marktvolk im entgrenzten
Kapitalismus – Ein Essay zur Streeck-Debatte
von Lutz Wingert
„Ich habe nie gesagt, die Austerität sei vorüber“, erklärte jüngst der neue EUKommissionspräsident Jean-Claude Junker mit Blick auf die taumelnden EuroStaaten.[1] Proteste hat das nicht ausgelöst. Die direkt Betroffenen in Ländern wie
Griechenland, Spanien, Portugal oder Irland sind erschöpft von ihren folgenlosen
Einsprüchen, sind mit den schwindenden Ersparnissen ihrer familiären Netzwerke
konfrontiert oder mit der geplanten Auswanderung nach Brasilien, England, Angola,
Deutschland oder der Schweiz beschäftigt. Die Anleger, Bankaktionäre und
Investoren nicht nur der portugiesischen Banco Espirito Santo wissen nunmehr, dass
auch in der EU der Staat immer für sie da sein wird. Und einem Architekten der
spanischen Austeritätspolitik winkt 2015 als Dankeschön der lukrative Posten als
Euro-Gruppenchef: Luis de Guindos, dem Wirtschaftsminister und ehemaligen
Präsidenten des iberischen Zweiges der Lehman Brothers Bank. Wer bei all dem
immer noch anklagend von einer Krise unseres Wirtschaften oder gar des
Kapitalismus und von einer Krise der Demokratie spricht, dem fehlt es an
Abgeklärtheit. Er vergisst den „Sinn von Krisen“ im Kapitalismus, nämlich
„Übertreibungen zu korrigieren, Schwächen aufzudecken und zu sanieren ... [sowie,
L.W.] ökonomisch nicht überlebensfähige Strukturen zu zerstören“.[2]
Demokratischer Kapitalismus und Krise
Wolfgang Streeck hält solche Abgeklärtheiten für Beschwichtigungen. Er lässt in
seinem ebenso leidenschaftlichen wie schlüssig durchargumentierten Buch Gekaufte
Zeit nicht davon ab, von einer „vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus“ zu
sprechen. Mit „demokratischem Kapitalismus“ ist ein Kapitalismus gemeint, der von
demokratisch verabredeten Gesetzen eingehegt wird. Solche Gesetze sind
beispielsweise sozialstaatliche Leistungsgesetze, die die gemeinsamen Früchte von
privaten Investitionsentscheidungen und kooperativer Arbeit etwas umverteilen.
Oder Arbeitsschutzgesetze, die einschränken, „was geht“ und was nicht. Auch
Lenkungssteuern gehören hier her. Sie beeinflussen über die Sprache der Kosten die
wirtschaftlichen Entscheidungen von Wenigen im vermeintlichen Interesse von
Vielen. Streeck spricht von einer „Krise des demokratischen Kapitalismus“ und auch
von einer „Krise kapitalistischer Demokratien“ (S. 34). Seit dem Zusammenbruch der
Lehman Brothers Bank im September 2008 geht vielen das Wort „Kapitalismus“
wieder leichter von den Lippen. Trotz dieser üblich gewordenen Rede vom
„Kapitalismus“ sollte man sich vergegenwärtigen, was mit diesem Wort neben
wirtschaftlicher Besitzsucht, Gründergeist und Eigentümermacht noch gemeint ist.
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Unter „Kapitalismus“ sei hier nur so viel verstanden: nämlich der Name für die
Tätigkeit der Investition von Geld auf Märkten, um mehr Geld zu machen. Etwas
genauer beschrieben ist eine kapitalistische Wirtschaftsform (1) der preisbildende
Umgang mit Ressourcen, die für knapp gehalten werden. Tätigkeiten wie abbauen,
lagern, transferieren, verarbeiten, veredeln, umwandeln, handeln, horten, tauschen,
teilen usw. sind Formen eines solchen Ressourcenumganges. Der ist (2) im
Kapitalismus charakteristischerweise mit dem Investieren von Kapital verbunden.
Das Investieren hat die Funktion, mehr Geld zu machen. Dabei erfolgen (3) die
Investitionen auf Märkten, also in einem preisbildenden Wettbewerb um
Tauschgelegenheiten. Diese Investitionen vollziehen sich (4) in der
(privat)rechtlichen Form von Verträgen. Die Verträge können ihrerseits den Status
von Ressourcen annehmen und damit zum Gegenstand eines investiven Umgangs
werden; sie können zum Beispiel gehandelt werden.
Dementsprechend könnte man sagen: Eine Krise des Kapitalismus besteht darin,
dass das Wirtschaften nicht mehr den Zweck erfüllen kann, ein gewinnbringendes
Investieren von Kapital zu sein. Es wird zunehmend unwahrscheinlicher, durch das
Investieren mehr Geld zu machen. Dem widerspricht offensichtlich ein Faktum, das
von Streeck eindrücklich hervorgehoben wird: die hohe Verschuldung vieler Staaten.
Denn den staatlichen Schulden stehen ja unter anderem hohe Privatvermögen
gegenüber, die weltweit zirkulieren, die zum Teil jedenfalls durch Investitionen
erwirtschaftet werden und die eben auch in Staatsanleihen angelegt werden. Streeck
weiß natürlich um diese Entsprechung von öffentlichen Schulden und privaten
Vermögen. Wo genau sieht er dann die Krise des Kapitalismus?
Streeck erkennt eine „dreifache Krise“, in der sich heute der „Kapitalismus der
reichen demokratischen Gesellschaften“ befindet: ein(e) Bankenkrise, ein(e) Krise
der Staatsfinanzen und ein(e) Krise der ‚Realökonomie‘“ (S. 29). Bei der Bankenkrise
hat er vor allem die gestörte Kreditfunktion im Blick, bei der Krise der stofflichen
Güterwirtschaft die hohen Arbeitslosenraten und die stagnierenden oder
schrumpfenden Wirtschaftsleistungen. Demnach besteht für Streeck die Krise des
Kapitalismus in der dauerhaften Gefährdung von Marktfunktionen und nicht darin,
dass das Prinzip beeinträchtigt ist, durch Investieren von Kapital mehr Geld zu
machen.
Die Krise der Demokratie im Kapitalismus
„Die Krise des demokratischen Kapitalismus“ hat aber nicht nur eine wirtschaftliche,
sondern auch eine politische Bedeutung. Die Demokratie im Kapitalismus entfernt
sich dauerhaft weit von ihrem Ideal. Die demokratische Politik einer einbeziehenden
Bürgerschaft wird massiv geschwächt. Eine solche Bürgerschaft besteht aus
annähernd tatsächlich gleichberechtigten Bürgern, unter denen auch die
Verpflichtung zu Gegenseitigkeit und zu Solidarität zählt. Sie mischt sich in
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Marktprozesse mit dem Ziel ein, gleiche Lebenschancen zu sichern. Diese Fähigkeit
zur Einmischung schwindet immer mehr.
Nach Streeck verlieren die Demokratien der OECD-Staaten seit Ende der 1970er
Jahre zunehmend ihre Interventionsfähigkeit auch deshalb, weil die Sphäre der
Ökonomie von der demokratischen Politik abgeschirmt wird (S. 133). Er tauft
deshalb den abschirmenden Akteur „Konsolidierungsstaat“ (S. 141). Damit ist nicht
bloß ein Staat gemeint, dessen Haushalt so ausgeglichen ist, dass er in keine
Schuldenspirale gerät, die im Staatsbankrott enden kann. Der „Konsolidierungsstaat“
steht für eine Neuordnung des Verhältnisses von politischer Demokratie und
Wirtschaft. Mit dieser Neuordnung soll der Einfluss neutralisiert werden, den eine
demokratische Politik auf die Regeln, Muster und Ergebnisse der kapitalistischen
Wirtschaft haben kann. Die Neuordnung markiert eine Krise der Demokratie, die
einmal mehr zu einer marktkonformen Demokratie verkümmert.
Staatsvolk und Marktvolk
Streeck sieht etwas Neuartiges in der Demokratiekrise seit Ende der 1970er Jahre. Es
gibt ein gefestigteres sachliches Fundament und eine neue soziale Basis für diese
marktkonforme Demokratie. Das sachliche Fundament ist laut Streeck eine massiv
gestärkte Option von Kapitaleigentümern, aus dem Sanktionsbereich eines
politischen Gemeinwesens abzuwandern. Neben modernsten Techniken der
Kommunikation, des Transports und der Logistik sowie politisch geschaffenen
Steueroasen gehören „liquider gewordene Märkte“ (S. 118) zu den Ursachen für die
gesteigerte Macht von Eigentümern, ihre Interessen durch eine
Abwanderungsdrohung durchzusetzen.
Die neue soziale Basis für die Abschirmung der Ökonomie von der demokratischen
Politik im Konsolidierungsstaat ist das Marktvolk. Streeck nennt es eine zweite
„Referenzgruppe“ von „Anspruchsträgern und Ermächtigungsgebern“ (S. 117) im
demokratischen Staat. (Die erste Bezugsgruppe bildet das „Staatsvolk“ oder besser:
die Bürgerschaft.)
Ein Marktvolk besteht aus Gläubigern und Investoren, also aus Kapitalbesitzern. Ein
Staatsvolk besteht aus Bürgern, also aus Mitgliedern einer Bürgerschaft.
(Staats)Bürger haben politische Beteiligungsrechte im Staat und gehen bisweilen auf
die Straße. Gläubiger haben Forderungen gegen den Staat und ziehen bisweilen vor
Gericht. Bürger in einer Demokratie machen sich über Wahlen und die öffentliche
Meinung bemerkbar. Gläubiger machen sich über Käufe/Verkäufe von Staatsanleihen
und über Zinssätze bemerkbar. Die Haltungen von Bürgern schwanken zwischen
Loyalität und Protest. Die Haltungen von Gläubigern bewegen sich zwischen
Vertrauen und Kapitalabzug. Bürger eines Staatsvolkes leben in einem Land mit
nationalstaatlichen Grenzen, mit einer Geschichte und sind Teil eines Wir, dem sich
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auch die Frage stellt: Was ist gut für alle zusammen? Investoren pendeln
grenzüberschreitend zwischen Handelsplätzen mit Gerichtsständen und sind mit der
Frage konfrontiert: Was ist gut für mein Geld oder das Geld meiner Kunden?
Streeck behauptet kein Entweder – Oder: Entweder ist man ein politischer Bürger
oder ein Wirtschaftsbürger in der Rolle eines Anlegers oder Gläubigers. Gleichwohl
unterscheiden sich die Mitglieder eines Marktvolkes einerseits und eines Staatsvolkes
andererseits in den Einstellungen, in ihren sozialen Beziehungen und in der Art von
Gründen, die sie im Handeln beachten sollten.
Demokratischer Staat, Konsolidierungsstaat und die Grenzen des
Marktvolkes
Die Bildung des Marktvolkes als einer zweiten maßgeblichen Referenzgruppe des
Staates verändert nach Streeck das Verhältnis von Demokratie und marktförmiger
Wirtschaft. Aber sie lässt die Bürgerschaft für den Staat nicht unwichtig werden.
Allerdings ist das Staatsvolk nicht bloß für einen demokratischen Reststaat, zum
Beispiel in Gestalt seiner Parlamente maßgeblich. Es bleibt auch für den
Konsolidierungsstaat wichtig. Das liegt an einer Handlungsgrenze des Marktvolkes.
Das Marktvolk kann bestimmte, systemrelevante Kollektivgüter nicht bereitstellen.
So gibt es durchaus Funktionen der Finanzmärkte, deren Erfüllung für alle gut ist:
zum Beispiel die Aufgabe der Kapitalallokation, der Risikostreuung sowie einer
informativen Bewertung von wirtschaftlichen Unternehmungen. Die Bewahrung
eines in diesem Sinn funktionierenden Finanzmarktes liegt durchaus im kollektiven
Interesse. Doch dieses Kollektivgut können die Akteure auf diesem Markt nicht
bereitstellen. Die krisendämpfende oder gar krisenvermeidende Selbstregulation der
Finanzmärkte hat weder 1997 in der Asienkrise noch 2008 stattgefunden und findet
auch heute nicht statt. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Banken und
Versicherungen die erforderliche Eigenkapitalerhöhung von 25% und mehr weder
anstoßen noch akzeptieren; oder dass gravierende Schuldenschnitte bei
Bankaktionären und Anleihegläubigern anders als Rentenschnitte beim Staatsvolk
Tabu sind. Man denke an die Begrenzung ihrer Haftung in der EU-Bankenunion auf
8 % der Bilanzsumme bei einer zusammenbrechenden Bank. Die fehlende
Selbstregulation wird auch daran ersichtlich, dass das Marktvolk zu keiner
ausreichenden, solidarischen Risikoteilung in Form von gemeinsamen
Haftungsfonds in der Lage ist. Die Energieriesen Vattenfall, Électricité de France
oder RWE sorgen für keine ausreichende Versicherung gegen atomare Unfälle und
für den Rückbau ihrer Anlagen. Sie tun das wohl auch deshalb nicht, weil ihre
Marktvolkgenossen bei den Versicherungsgesellschaften solche Risiken nicht
schadensdeckend versichern wollen. Und der deutsche nationale
Bankenrettungsfonds hat seit 2011 gerade einmal die Hälfte der vorgesehen
Einzahlungen erhalten.
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Die fehlende Selbstregulation und Kollektivgutproduktion des Marktvolkes
entspringt aber nicht bloß einem Unwillen, sondern auch einer Unfähigkeit. Die
Mitglieder eines Marktvolkes haben nach innen keine Wir-Perspektive. Denn sie
führen ihre individuellen Handlungen auf dem Markt nicht als Beiträge zu der
gemeinsamen Handlung eines Kollektivs aus. So wie die Angehörigen einer Firma das
tun oder wie die individuellen Mitglieder eines Orchesters, beispielsweise des FC
Bayern München, die zusammen groß aufspielen. Die Einnahme einer WirPerspektive auf dem Markt bringt den einzelnen Mitgliedern des Marktvolkes nichts
ein. Denn wer zu dem kollektiven Gut eines funktionierenden Finanzmarktes
beiträgt, verschafft sich im Wettbewerb mit anderen Marktteilnehmern keinen
Vorteil. Es gibt also eine Grenze, die dem Handeln des Marktvolkes wegen seiner
typischen Art des Handelns auf Märkten gezogen ist. Sie zeigt sich besonders deutlich
daran, dass die Mitglieder des Marktvolkes in der Krise der Finanzmärkte auf die
Ressourcen des Steuerstaates zum Erhalt der Märkte und ihrer Vermögen
angewiesen sind. Diese Ressourcen sind klingende Münze für sie. Aber die
Steuergelder hängen von der Loyalität der Bürger des Steuerstaates zu ihrem
politischen Gemeinwesen ab. Der Konsolidierungsstaat braucht das Staatsvolk.
Diese Angewiesenheit zeigt sich auch in der Verteilung von Verantwortung bei der
Krisenbewältigung. Nicht Bankaktionäre und Gläubiger spanischer, portugiesischer,
griechischer oder irischer Banken stehen in der Verantwortung; und auch nicht die
wohlhabenden Bürger dieser Länder, die von ihrem Gemeinwesen offensichtlich
besonders profitieren. Vielmehr werden summarisch („holistisch“) und ungeachtet
ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen Stärke Spanier, Griechen, Portugiesen und
Iren zur Verantwortung gezogen. Entsprechend wird in diesem, wie Streeck es nennt,
„holistisch-nationalistischen Weltbild der internationalen Finanzdiplomatie“ (S.
137/FN 51) die Hilfe für die Eigentümer, Anleger und Staatskassen als eine Pflicht der
Solidarität von Nationen dargestellt; und zwar vorzugsweise die Solidaritätspflicht
des summarisch reichen Nordens mit dem summarisch armen Süden. Die
vergleichende EZB-Studie vom 8. April 2013 zur Vermögensverteilung in den EULändern hat zwar mit dieser Alexis-Sorbas-Folklore von „den“ armen Südeuropäern
aufgeräumt. Aber es ist Brüssel und den EU-gläubigen Meinungsmachern gelungen,
diese Studie aus der großen Erzählung Europas herauszuhalten.
Es fügt sich in dieses Bild von den nationalen Verantwortlichkeiten gut ein, dass seit
2008 die UBS in der Schweiz, die AIG in den USA, die Royal Bank of Scotland in
Großbritannien oder die Anglo Irish Bank in Irland ihre Hilferufe nicht an den
Weltbankenverband oder an ihre Haftungsfonds, sondern an „ihre“ nationalen
Regierungen gerichtet haben. Offensichtlich trauen die Anwälte des Marktvolkes den
Nationalstaaten im Zeitalter des entgrenzten Kapitalismus immer noch so viel
Souveränität zu, systemrelevante Krisen wirksam zu bekämpfen.
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Wer Streeck eine nostalgische Verklärung des Nationalstaates im entgrenzten
Kapitalismus vorwirft, sollte dieses Faktum der Angewiesenheit auf den Nationalstaat
nicht aus dem Blick verlieren.
Das zweifelhafte Europa der Kritiker
Kritiker von Streeck wie Jakob Tanner, Hauke Brunkhorst, Jürgen Habermas oder
Christoph Deutschmann erheben genau diesen Vorwurf. Sie setzen deshalb bei der
Demokratie ungerührt auf mehr Europa und weniger Nationalstaat. [3] Dabei spielen
sie zunächst die Globalisierungskarte gegen Streeck aus: Die wirtschaftliche
Globalisierung, also die räumliche Ausdehnung und die Vernetzung von
Produktionsketten und Handelsaktivitäten entzieht das Marktvolk zunehmend dem
Einflussbereich des Nationalstaates und damit auch seiner Demokratie. Der zweite
Zug besteht dann in der politiktheoretischen Beglaubigung schon gebildeter neuer
EU-Institutionen vom Fiskalpakt über den ESM bis hin zu einer Bankenunion. In
einem dritten Schritt wird dann eine nachholende Demokratisierung europäischer
Institutionen gefordert.
Bei diesem dritten Schritt fällt auf, dass auf der europäischen Ebene die ökonomische
Macht des Marktvolkes plötzlich verschwunden ist. Jedenfalls werden die politischen
Kräfte nicht namhaft gemacht, die diesen Schritt der nachholenden
Demokratisierung befördern könnten. Empirisch ist nicht anzunehmen, dass das
Personal einer autoritären Brüsseler Exekutive und die bestehenden politischen
Fraktionen der europäischen Eliten „mehr Demokratie wagen“ werden. Sie hatten
nämlich schon viele Jahrzehnte Zeit dafür. Darüber hinaus wird auf der Ebene des
dritten Schritts so getan, als ob nur institutionelle Phantasie für demokratische
Institutionen vonnöten sei und nicht auch die schlichte Brechung von ökonomischer
Macht; einer Macht, wie sie sich allein in der wöchentlichen Dauerpräsenz von 2000
hauptberuflichen Lobbyisten der Bankenbranche in Brüssel zeigt oder darin, dass
Wall Street Firmen wie Oliver Wyman oder Blackrock die Expertisen für die EZB in
bestimmten Bereichen ausarbeiten.[4]Kann man im Ernst daran glauben, dass ein
EU-Handelskommissar (Karel de Gucht), der 1,2 Millionen Euro Gewinn mit
Börsengeschäften erzielte, seinen Golfpartnern mit einer effektiven
Finanztransaktionssteuer die Laune verderben wird?[5]
Im zweiten Schritt, also in dem, was in der phrasenhaften Sprache von
Europapolitikern „vertiefte Integration“ heißt, wird der Vorschlag vorgetragen, die
Währungsunion der Eurozone durch eine politische Union zu vervollständigen. Auch
dabei wird ein Sachverhalt vernachlässigt: Machtgeschützte Regeln, die Institutionen
ausmachen, erhalten ihre Bedeutung wesentlich durch ihren Einführungskontext. Die
konkreten Institutionen einer politischen Union wie ein europäisches Steuersystem,
ein einheitliches Arbeitsrecht und uniforme Sozialstandards werden von dem Geist
dieser Währungsunion bestimmt, also von dem Ziel, die Transaktionskosten
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ökonomischer Akteure zu senken, sowie Menschen und Gesellschaften rücksichtslos
den Vorgaben einer Wettbewerbsordnung für Marktvölker ideologisch und
organisatorisch anzupassen. Dafür sprechen zum Beispiel die bereits etablierten
Regeln im ESM oder im Fiskalpakt sowie die geplanten Freihandelsabkommen der
EU mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP). Kein Gedanke wird in diesen
Abkommen an einen Schutz der Investitionen von Arbeitnehmern vor
renditegetriebenen Betriebsschließungen verschwendet; also an den Schutz von
persönlichen Bildungsausgaben und an den Schutz der seelischen und körperlichen
Energien, die die Menschen in die eigene Arbeitsfähigkeit investieren.
Die Entwicklung einer transnationalen Politik im Dienst der Demokratie wird von
Streeck als Ziel gar nicht verworfen. Nur, die elitenfreundlichen Anhänger einer
vertieften EU-Integration verharmlosen die Schwierigkeit einer solchen Politik. Denn
sie tun einfach so, als könnten die politischen Steuerungsmittel mit der Entgrenzung
des Kapitalismus beliebig weit nachwachsen, dass also der Globalisierung des
Wirtschaftens die Globalisierung der demokratischen Politik (mit GovernanceModellen) nachfolgen kann. Es ist, als ob die politischen Feuerwehrleitern mit den
ökonomischen Wolkenkratzern mitwachsen könnten. Das ist sehr zweifelhaft. Denn
die Globalisierung des Wirtschaftens bedeutet die Ausdehnung sehr spezifischer
Kooperationszusammenhänge auf Märkten. Ihnen entspricht eben nicht eine
Globalisierung jener mehrdimensionalen Handlungszusammenhänge, die das soziale
Leben von Menschen ausmachen. Genau diese Lebenszusammenhänge müssten aber
eine transnationale, demokratische Politik entsprechend der wirtschaftlichen
Globalisierung tragen. Die Weltgesellschaft gibt es nicht, es sei denn, man
verwechselt sie mit den uniformen Transitzonen der internationalen Flughäfen. Wir
kommen nicht darum herum, mit Streeck zu fragen, „wie die Globalisierung so
(zugeschnitten) oder auch, horribile dictu, zurückgeschnitten werden kann, dass sie
mit demokratisch-egalitärer Politik vereinbar ist“.[6] Mit dieser Frage ist theoretisch
wie politisch das Für und Wider von Grenzen, ausschließlich verstanden als
Unterbrecher von Kausalketten, auf die Tagesordnung gesetzt.
Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrages zu einem Forum über
Wolfgang Streecks Buch Gekaufte Zeit im Journal of Modern European History 12
(2014), Heft 1, S. 61-70.
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Literatur/Quellen:
[1] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.2014, S.2: „Die Rückkehr des
Protagonisten“.
[2] Werner Plumpe, Der Staat, die Krise und die Spekulanten, in: Westend. Neue
Zeitschrift für Sozialforschung Heft 1/2 (2012), S. 16.
[3] J. Tanner, „Nationale Demokratie als politisches Leitfossil“, in Journal of Modern
European History/Zeitschrift für moderne europäische Geschichte, Vol. 12/ 2014,
S.71-79. – H. Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas, Berlin 2014. - J. Habermas,
Demokratie oder Kapitalismus?, in: ders., Im Sog der Technokratie, Berlin 2013, S.
138-157. - Christoph Deutschmann, Warum tranken die Pferde nicht?, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 9. 2013, N 4. H.
[4] Vgl. Financial Times Deutschland vom 3.4. 2012: „Der Hase und der Igel“.
Handelsblatt vom 29.8.2014, S. 30: „Draghis Plan B“.
[5] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9.11.2013, S. 7: „De Gucht in Bedrängnis“.
[6] W. Streeck, Vom DM-Nationalismus zum Euro-Patriotismus. Eine Replik auf
Jürgen Habermas, in Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (2013), S. 90.
Autor: Prof. Dr. Lutz Wingert, geboren 1958, Professor für Philosophie an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
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Die Wahl in Schweden: Rückkehr zur
„sozialdemokratischen Normalität“?
von Joachim Kasten
Die gesellschaftliche Entwicklung Schwedens wurde seit dem Amtsantritt des
ermordeten Regierungschefs Olof Palme im Oktober 1969, in 28 von 45 Jahren durch
sozialdemokratische Politiker geprägt. Die Wahlniederlage von Göran Persson im
September 2006 bedeutete die bisher längste Unterbrechung dieser Traditionslinie.
Am 14. September gingen die Schweden erneut zur Wahl. Das wichtigste Ergebnis
war: Es gibt einen rot-grünen Regierungswechsel. War es aber wirklich ein
sozialdemokratischer Wahlsieg? Die Antwort darauf ist nach wie vor gespalten. Ja,
weil der ehemalige Vorsitzende der Metallarbeitergewerkschaft Stefan Löfven
Ministerpräsident des Königreiches wird. Nein, weil bei einem Anstieg der Stimmen
um 0,5 auf 31,2 Prozent bei gleichzeitigen Verlusten für die grüne „Miljöpartiet“
(Umweltpartei) um 0,5 auf nur 6,8 Prozent, kaum von einer überzeugenden erneuten
Hinwendung zu den Sozialdemokraten die Rede sein kann.
Die Abwahl der bürgerlichen Allianz
Richtig ist indessen aber auch, dass die bisherige Vier-Parteien-Regierung der
bürgerlichen Allianz das Vertrauen der Wähler verloren hat. Davon zeugen nicht
zuletzt die erheblichen Verluste für die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten
Fredrik Reinfeldt von fast sieben Prozent. Seine Enttäuschung darüber führte noch
am Wahlabend zum sofortigen Rücktritt. Den Parteivorsitz der konservativen
„Moderaterna“ wird er im kommenden Frühjahr niederlegen.
Aber auch die Feststellung, dass die Parteien im rechten Spektrum des schwedischen
Reichstags das Vertrauen der Wähler verloren haben, ist eine Wahrheit mit
Variationen. Dies gilt nur, wenn man die eigentlichen Wahlsieger - die
rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) - ausblendet. Ihr Stimmenanteil
wuchs um ganze 7,2 Prozent auf eine Fraktionsgröße von nunmehr 12,9 Prozent. Die
arithmetische Mehrheit im Stockholmer „Riksdag“ liegt somit - wie auch schon zuvor
- rechts von der Mitte.
Die Rolle der gestärkten Rechtspopulisten
Nun haben, wie Stefan Löfven bereits im Wahlkampf warnte, die Rechtsradikalen in
neun von zehn Fällen mit der Allianzregierung gestimmt, dennoch scheinen sich
weitergehende Befürchtungen, dass die Partei zum Zünglein an der Waage für die
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Wahl zum Ministerpräsidenten wird, aktuell nicht zu bestätigen. Ein Grund dafür ist,
dass viele Funktionäre der rechtspopulistischen SD unter den demokratischen
Parteien als politischer Paria gelten. Im Gegensatz zu der ebenfalls
rechtspopulistischen deutschen AfD, gingen die „Svergedemokraterna“ ursprünglich
aus dem neonazistischen und radikal ausländerfeindlichen Milieu in Schweden
hervor. Wie lange ihr Status als parlamentarische „Schmuddelkinder“ erhalten bleibt,
ist allerdings eine offene Frage.
Sucht man nach Ursachen für den Erfolg der rechten Populisten in Schweden ergibt
sich dennoch eine Parallele zur Bundesrepublik. In einem Artikel der größten
Tageszeitung des Landes - „Dagens Nyheter“ - analysiert der Politikwissenschaftler
Ulf Bjereld, dass sich die „moderate“ Partei unter Fredrik Reinfeldt zur politischen
Mitte entwickelt hätte und somit im rechten äußeren Spektrum ein Vakuum
entstanden sei. Vergleichbare Einschätzungen zirkulieren in der deutschen Debatte
über die Merkel-CDU und die zunehmenden Erfolge der AfD.
Wie geht es in Schweden weiter?
Klar scheint, dass es keine bruchlose Rückkehr zur sozialdemokratischen Dominanz
der Zeiten von Palme, Carlsson oder Persson geben wird. Auch diese Partei- und
Regierungschefs hatten oft keine eigene Majorität im Reichstag. Dennoch führten sie
immer reine sozialdemokratische Kabinette. Parlamentarische Mehrheiten erzielte
man mittels Absprachen mit bürgerlich-liberalen Parteien. Im äußersten Notfall galt,
dass die frühere kommunistische Partei (heute „Linke“) niemals eine
„Arbeiterregierung“ stürzen würde.
Als Partei im 30-Prozent-Spektrum hat sich die Situation für die sozialdemokratische
SAP nicht nur quantitativ verändert. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt seiner
Kandidatur trug Stefan Löfven diesem Umstand Rechnung, indem er von der grünen
„Miljöpartiet“ als „natürlichem Zusammenarbeitspartner“ sprach. Es werden also
demnächst grüne Minister auf der Regierungsbank ihre Premiere geben, was für
schwedische Sozialdemokraten ungewohnt ist.
Auch die ebenfalls theoretisch mögliche Alternative einer Rot-rot-grünen Regierung
mit der Linkspartei ergäbe in der Addition von zusätzlichen 5,7 Prozent an Sitzen
noch keine Mehrheit. Außerdem ist Stefan Löfven bei den Wählern im Wort, die
Linken nicht mit ins Boot für eine Regierungsbildung zu holen. Der Hintergrund für
diese Entscheidung ist nach dem Politologen Ulf Bjereld, dass es für die zukünftige
sozialdemokratisch geführte Regierung schwieriger würde, zu Übereinkünften mit
der liberalen Volkspartei und der Zentrumspartei zu kommen.
Ob und welche Parteien aus dem bürgerlichen Lager zu Mehrheitsbeschaffern der
Rot-grünen Minoritätsregierung herangezogen werden können, wird derzeit in
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Stockholm noch ausgelotet. Zur ersten Belastbarkeitsprüfung gehört nicht nur die
Wahl Stefan Löfvens zum Regierungschef sondern weit mehr die Vorlage und
Abstimmung über den Haushalt des Landes.
Stabile parlamentarische Verhältnisse für Schweden ergäben sich allenfalls aus einer
großen Koalition zwischen SAP und „Moderaterna“. Dabei handelt es sich aber nur
um eine numerisch stimmige Variante. In der gesamten Geschichte demokratischer
Wahlen traten beide Parteien bisher als absolute Konkurrenten auf, die mit
kontroversen Wertorientierungen um die Gestaltungsmacht in der Politik rangen.
Daran zu rütteln, wäre in Schweden ein absoluter Tabubruch.
Politikwechsel
Was verändert sich nach der achtjährigen bürgerlich-konservativen
Regierungsperiode in Schweden? Zu dieser Frage sprach GEGENBLENDE mit Eric
Sundström. Er arbeitet als politischer Chefredakteur bei der Web-Zeitung der
sozialdemokratischen Denkfabrik “Arena“ und leitete früher die SAPMitgliederzeitung „Aktuellt i Politiken“. Als kommende Hauptaufgabe einer
sozialdemokratisch geführten Regierung nennt er insbesondere Reformen zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie eine Stärkung der Arbeitslosen und
Sozialversicherungsreformen. „Die unter den bürgerlichen Regierungsjahren
geschwächte soziale Sicherheit muss erneut gestärkt werden“, erklärt Eric
Sundström. Dazu zählt insbesondere die Schaffung von Jobs für die gut 400.000
Arbeitslosen des Landes.
Außerdem wurde das traditionelle nordische Modell eines solidarisch organisierten
Wohlfahrtstaates von der Allianzregierung ausgehöhlt. Bereits im Wahlkampf hatte
Stefan Löfven harte Kritik an misslungenen Reformen wie der Zulassung von
privatem Risikokapitals im Bereich von Pflegeeinrichtungen sowie bei
Bildungsträgern geübt. Eric Sundström erinnert in diesem Zusammenhang an den
Pisa-Schock, den das Land in diesem Jahr verdauen musste. Diese Probleme will
Stefan Löfven angehen und dabei steht er vor der Herausforderung, dass ein grüner
Regierungspartner ebenfalls Ansprüche stellen wird.
Das Lieblingsprojekt des designierten Ministerpräsidenten ist die sog.
Neuindustrialisierung. Darunter versteht er einerseits die Aufgabe, die
Konkurrenzfähigkeit der klassischen Industrien zu verbessern und gleichzeitig neue
Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor zu erschließen. Stefan Löfven wird sich dabei
an den grünen Forderungen einer langfristig nachhaltigen Wirtschaft orientieren und
sie sozial-gerecht ausbalancieren. Ein Wachstumsprogramm, gestützt auf
Innovationen im Klima- und Energiebereich wird somit Teil der rot-grünen
Regierungsagenda sein.
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In diesem frühen Stadium des Regierungswechsels ist es allerdings Eric Sundström
zu folge noch problematisch sichere Zukunftsprognosen zu geben. Richtig ist, dass
eine Rückkehr zum traditionellen schwedischen Sozialstaatsmodell nach einigen
fehlgeschlagenen Reformen angestrebt wird. Konkrete Schritte für deren
Finanzierung sind indessen auch abhängig von Verhandlungsresultaten mit Parteien
aus dem sogenannten bürgerlichen Block.
Im Reichstag würde eine relative Mehrheit für den rot-grünen Haushaltsvorschlag
die zukünftige Reformarbeit einleiten. Sollten aber die Rechtspopulisten nicht nur für
ihren eigenen Antrag stimmen, sondern auch ein Votum für den Bürgerblock
abgeben, wird es schwierig. Im schlimmsten Fall stünde die rot-grüne Premiere in
Schweden auf Messers Schneide. Noch vor Weihnachten könnten Reformdebatten
dann durch die Frage von Neuwahlen erstickt werden.
Autor: Joachim Kasten, Lehrer an der Handelsschule Holstenwall in Hamburg
Innovation braucht Führung und Beteiligung
von Ines Roth
Innovationen für eine nachhaltige Wirtschaftsstrategie, also keine reinen Konzepte
zur Kostensenkung, werden zunehmend wichtig, gerade in Hinblick auf die
Digitalisierung und Globalisierung. Doch wie kann die Entwicklung von
Innovationen in den Betrieben und Verwaltungen vorangetrieben werden? Neben
dem grundsätzlichen Willen der Unternehmensleitung, Innovationen zu fördern und
der Bereitschaft, auch entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen,
bedarf es einer offenen, vertrauensvollen und teamorientierten Betriebskultur, die es
den Beschäftigten erst ermöglicht, neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren. Die
Führungskräfte spielen dabei eine entscheidende Rolle. Tatsächlich zeigen die
Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers jedoch, dass es in der Praxis nur
wenigen Unternehmen gelingt, eine entsprechende Führungskultur zu etablieren
(Roth 2013; Müller 2014).
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Das ver.di-Innovationsbarometer gibt mittels einer Befragung unter
Aufsichtsräten, Betriebs- und Personalratsvorsitzenden regelmäßig Auskunft
über die Innovationstätigkeit im deutschen Dienstleistungssektor. Seit der
ersten Befragung 2005 nimmt die Zahl der Teilnehmenden stetig zu. An der
aktuellen Umfrage, die Ende 2013 durchgeführt wurde, haben sich mehr als
1.000 Mitbestimmungsträger/innen beteiligt. Ihr thematischer Schwerpunkt
liegt auf „Innovationsfähigkeit und Weiterbildung“ (Roth 2013; des Weiteren
Müller 2014). Die Berichte sind unter http://innovation-gutearbeit.verdi.de/innovation/innovationsbarometer abrufbar.
Die betriebliche Innovationstätigkeit wird zu wenig durch eine
entsprechende Führungskultur unterstützt
Innovationen sind Aufgabe des Managements, „weil Führungskräfte wesentliche
Rahmenbedingungen für das Handeln ihrer Mitarbeiter(innen) setzen und
gleichzeitig zentrale Kulturträger sind (vgl. Sackmann / Bertelsmannstiftung 2004:
37f; Jost, 2003: 26ff). […] Führungsaufgaben gewinnen einen
innovationsförderlichen Charakter nicht nur über die Schaffung von Strukturen,
sondern auch über die interaktive Gestaltung von Arbeitsbeziehungen, d.h. über
Informations- und Kommunikationsstrukturen sowie Motivierungsleistungen“
(Anlauft et al. 2007, S. 141). Innovationsförderliche Führung zeichnet sich vor allem
durch einen vertrauensvollen, wertschätzenden Umgang mit den Mitarbeitern, durch
das Zugeständnis großer Autonomie und eine starke fachliche und soziale
Einbindung der Beschäftigten aus (vgl. Gebert 2002; Frey et al. 2006).
Die Ergebnisse des aktuellen ver.di-Innovationsbarometers stützen aber eher den
Eindruck einer „unternehmenskulturellen Diaspora“ wie sie Anlauft et al. (2007, S.
141) für deutsche Unternehmen konstatieren. So stimmen lediglich 47% der
Befragten der Aussage zu, im Unternehmen herrsche eine Kultur des gegenseitigen
Vertrauens zwischen Beschäftigten und ihren unmittelbar Vorgesetzten (vgl. Abb. 1).
Gefragt nach dem Vertrauensverhältnis zwischen Geschäftsleitung und Beschäftigten
liegt dieser Anteil mit 22% sogar noch deutlich niedriger. Vertrauen ist jedoch die
Voraussetzung einer ganzen Reihe von Erfolgsfaktoren bei der Schaffung von
Innovationen wie beispielsweise das Gewähren und die Nutzung von Handlungs- und
Entscheidungsspielräumen, die Generierung von Wissen und der konstruktiv
kritische Dialog (Reick et al. 2007). In Anbetracht des mangelnden Vertrauens zur
Führung in vielen Unternehmen ist es daher kaum verwunderlich, dass es lediglich
35% der Befragten zufolge möglich ist, konstruktive Kritik gegenüber Vorgesetzten zu
äußern ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.
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Abbildung 1
Auch die Delegation von Aufgaben, inklusive der jeweiligen Vollmachten und
Ressourcen, gründet in hohem Maße auf gegenseitigem Vertrauen: die Vorgesetzten
müssen sich sicher sein, dass die Spielräume von den Beschäftigten in ihrem Sinne
genutzt werden, während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Fehlschlägen und
Schwierigkeiten in der Aufgabenbewältigung auf Verständnis und Unterstützung bei
den Führungskräften angewiesen sind (Gebert 2002). Die Voraussetzungen für
Kooperation und Partizipation zu schaffen, und damit für eine förderliche
Innovationskultur, sind ebenfalls wesentliche Führungsaufgaben, jedoch – wie die
Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers zeigen – ist deren Erfüllung in den
Dienstleistungsunternehmen nicht immer gegeben. So meinen lediglich 30% der
Befragten, die Führungskräfte pflegten einen kooperativen, beteiligungsorientierten
Führungsstil (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2
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Die unzureichende Beteiligungsorientierung zeigt sich in vielen Unternehmen auch
darin, dass lediglich 37% der befragten Interessenvertreter/innen zufolge eine
teamorientierte Arbeitsorganisation im Unternehmen durch die Führungskräfte
unterstützt wird. Wobei sich die Situation bei Beschäftigten, die in betriebliche
Innovationsprozesse eingebunden sind, etwas positiver darstellt (vgl. Abb. 3). Zudem
verfügen lediglich 17% der Beschäftigten in ihren Aufgabenbereichen über
ausreichende Handlungs- und Entscheidungsspielräume, um neue Ideen entwickeln
und ausprobieren zu können. Erwartungsgemäß ist dieser Anteil mit Blick auf die
Beschäftigten im Innovationsprozess mit 51% merklich höher.
Abbildung 3
Die Ergebnisse des Innovationsbarometers legen nahe, dass sich nur wenige
Unternehmen um proaktives Engagement in der Belegschaft zur Förderung der
betrieblichen Innovationspotenziale bemühen. So haben lediglich 36% der Befragten
den Eindruck, das mittlere Management ermutige die Beschäftigten dazu, sich in den
Innovationsprozess einzubringen, bei der Unternehmensleitung sehen dies 42% (vgl.
Abb. 4). Den Eindruck, die Eigeninitiative der Beschäftigten werde durch das mittlere
Management geschätzt und gefördert, teilen 35% der Befragten, hinsichtlich der
Unternehmensleitung liegt dieser Anteil bei 38%.
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Abbbildung 4
Nachlassende Innovationstätigkeit im Dienstleistungssektor
Diese und weitere Ergebnisse des aktuellen ver.di-Innovationsbarometers weisen
darauf hin, dass die Führungs- und Unternehmenskultur in vielen
Dienstleistungsunternehmen (noch) nicht umfassend an innovationsförderlichen
Kriterien ausgerichtet sind. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass die
Innovationsaktivität im Dienstleistungssektor in den vergangenen zwei Jahren nicht
zugenommen hat, sondern sogar leicht rückläufig war (vgl. Abb. 5).
Abbildung 5
So ist der Anteil der Unternehmen, in denen in den vergangenen zwei Jahren keine
Innovationen stattgefunden haben, von 12% auf 15% gestiegen. Entsprechend
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weniger Unternehmen können eine inkrementelle und / oder eine Sprunginnovation
vorweisen.
Im Hinblick auf die große volkswirtschaftliche Bedeutung von Dienstleistungen, die
in entwickelten Ländern in der Regel über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
erwirtschaften (Dreher et al. 2011), sollte dieser Befund zu denken geben. Nicht
zuletzt sind Innovationen für die Unternehmen angesichts der zunehmenden
Wettbewerbsintensität im Dienstleistungssektor überlebenswichtig (vgl. Richter /
Thiele 2007), gerade auch in gesättigten Märkten.
Fazit
In Anbetracht der aktuellen Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers ist es
dringend erforderlich, mehr in Dienstleistungsinnovationen zu investieren – nicht
nur finanzielle Mittel, sondern vor allem auch mehr Engagement, um ein
entsprechendes betriebliches Umfeld zu schaffen. Die Menschen bleiben im
Innovationsgeschehen Dreh- und Angelpunkt (vgl. Roth/Müller 2013). Sie brauchen
die Zeit und die Möglichkeit, kreativ zu sein; und ihre Arbeit muss stärker
wertgeschätzt werden – kurz: sie brauchen Gute Arbeit. Die Führungskräfte haben
hierbei zentrale Aufgaben zu erfüllen. Sie haben Einfluss auf die Gestaltung der
Arbeitsprozesse und den sozialen Umgang am Arbeitsplatz. Ihr Handeln muss – soll
es erfolgreich sein – in eine entsprechende Unternehmenskultur eingebettet sein.
Diese entscheidet wesentlich mit darüber, wie gut es gelingt, in den Unternehmen
Innovationskraft zu entfalten: „zahlreiche empirische Analysen fehlgeschlagener
Innovationsprojekte in den 80er Jahren belegen, dass diese [die
Unternehmenskultur, Anm. der Autorin] den wichtigsten Einflussfaktor der
Innovation bildet (Kieser 1986). Sie wirkt sich wesentlich auf die Effizienz
betrieblicher Abläufe aus und steht in engem Zusammenhang mit der
Innovationskraft von Unternehmen“ (Reick et al. 2007, S. 52).
Aber auch die weit verbreitete Ablehnung des Managements, betriebliche
Interessenvertretungen an diesen Prozessen partizipieren zu lassen, kann sich
hemmend auf die Innovationsfähigkeit im Dienstleistungssektor auswirken. Hier
unterstützt Ver.di die betrieblichen Interessenvertretungen, denn ohne ihr
engagiertes Eingreifen sind soziale Innovationen in den Betrieben und Verwaltungen
schwer zu verankern. Diesbezüglich leisten Weiterbildungskonzepte wertvolle Hilfe
wie bspw. das vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO)
erarbeitete und im Rahmen eines von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten
Projekts, das in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen aus den
ver.di-Fachbereichen Handel, Finanzen und Verkehr entwickelt wurde
(Bienzeisler/Klemisch 2014; vgl. Beckmann/Müller 2014). Ein weiteres ver.diProjekt zur Qualifizierung von Interessenvertretungen trägt den Titel „Innovationsund Weiterbildungspartnerschaft zur Förderung der Qualifizierung von
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Beschäftigten“ in den Telekom-Servicegesellschaften und der IT-Branche und wird in
Kooperation mit Input Consulting, Fraunhofer IAO (IWP-Telekom: www.iwp-tk.de)
und dem ISF München (IWP-IT: www.iwp-it.de) umgesetzt. Die Projekte werden im
Rahmen der Sozialpartnerschaftsrichtlinie (http://www.initiative-weiter-bilden.de/)
gefördert und aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanziert. Ziel dieser Projekte ist
die Qualifizierung der Beschäftigten, Betriebsräte und gewerkschaftlichen
Vertreter/innen zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in der Arbeitswelt.
Literatur/Quellen:
Anlauft, W. / Holm, R. / Wirner, G. (2007): Zur Gestaltung innovationsförderlicher
Unternehmenskultur. In: Doleschal, R. / Nolte, B. / Pläster, I. (Hrsg.): Innovationen
systematisch gestalten. Beiträge zum Innovationskongress 2006, Schriftenreihe des
KOM, Fachhochschule Lippe und Höxter, Nr. 1, Lemgo, S. 138-144.
Beckmann, M./ Müller, N.: Dienstleistungsinnovationen gestalten – eine
Handlungsanleitung für betriebliche Interessenvertretungen, In: Zeitschrift Gute
Arbeit, 26. Jahrgang, Heft 10/2014 (im Erscheinen)
Bienzeisler, Bernd/Klemisch, Michaela (2014): Dienstleistungsinnovationen –
betriebliche Zukunft mitgestalten. Ein Workshop-Konzept, Hans-Böckler-Stiftung,
Düsseldorf (im Erscheinen).
Dreher, S. / Stock-Homburg, R. / Zacharias, N. (2011): Dienstleistungsinnovationen.
Bedeutung, Herausforderungen und Perspektiven. In: Bruhn, M. / Hadwich, K.
(Hrsg.): Dienstleistungsproduktivität, Innovationsentwicklung, Internationalität,
Mitarbeiterperspektive. Band 2, Wiesbaden, S. 36-57.
Frey, D. / Traut-Mattausch, E. / Greitemeyer, T. / Streicher, B. (2006): Psychologie
der Innovationen in Organisationen, München: Roman-Herzog-Institut.
Gebert, D. (2002): Führung und Innovation, Stuttgart.
Kieser, A. (1986): Unternehmenskultur und Innovation. In: Staudt, E. (Hrsg.): Das
Management von Innovationen, Frankfurt am Main.
Jost, H. R. (2003): Wie weiche Faktoren zu harten Fakten werden, Zürich.
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September/Oktober 2014
Müller, N. (2014): Unzureichende Qualifizierung und hohe Arbeitsintensität weniger Innovationen. In: Zeitschrift Gute Arbeit, 26. Jahrgang, Heft 6/2014, S. 3739
Reick, C. / Kober, D. / Weiser, A. / Kastner, M. (2007): Innovationskatalysator
Vertrauen. Die Förderung von Innovation durch Vertrauen am Beispiel eines
Software-Unternehmens. In: Doleschal, R. / Nolte, B. / Pläster, I. (Hrsg.):
Innovationen systematisch gestalten. Beiträge zum Innovationskongress 2006,
Schriftenreihe des KOM, Fachhochschule Lippe und Höxter, Nr. 1, Lemgo, S. 51-56.
Richter, A. / Thiele, M. (2007): Was unterscheidet innovative von nicht innovativen
Dienstleistungen? Ein Überblick zum aktuellen Stand der Forschung. In: Schmidt, K.
/ Gleich, R. / Richter, A. (Hrsg.): Innovationsmanagement in der Serviceindustrie.
Grundlagen, Praxisbeispiele und Perspektiven, Freiburg, S. 47-72.
Roth, I. / Müller, N. (2013): Einleitung, in: ver.di (Hrsg.):
Dienstleistungsinnovationen: offen, sozial, nachhaltig, Berlin, S. 5-7,
http://innovation-gute-arbeit.verdi.de/innovation/dienstleistungsinnovationen
Roth, I. (2014): Lernkultur und Innovationsmanagement im Dienstleistungssektor.
Ausgewählte Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers 2013,
http://innovation-gute-arbeit.verdi.de/innovation/innovationsbarometer
Sackmann, S. / Bertelsmannstiftung (2004): Erfolgsfaktor Unternehmenskultur,
Wiesbaden.
Autorin: Ines Roth, geboren 1976, Wissenschaftliche Beraterin bei Input Consulting
in Stuttgart
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Postdemokratie und die Erosion wirtschaftlicher
Bürgerrechte
von Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey
Colin Crouch geht in seiner Diagnose der „Postdemokratie“ davon aus, dass die
Verfahren der Demokratie zwar formal intakt bleiben, aber informell ausgehöhlt
werden. Die politischen Entscheidungen werden von der Legitimation der Bürger
entkoppelt und stattdessen durch Experten, ökonomische Eliten und ihre Interessen
dominiert (Crouch 2008). Bisherige Untersuchungen von Crouchs Diagnose
beschränkten sich primär auf das politische Feld. Aber auch in den Industriellen
Beziehungen und der betrieblichen Mitbestimmung lassen sich Formen der
Postdemokratisierung ausmachen. Das heißt nicht, dass die betriebliche
Mitbestimmung ihre Funktion als Interessenvertretung der Beschäftigten zur Gänze
verliert. Aber sie erodiert endogen – getrieben von der neuen
Unternehmenssteuerung im Finanzmarktkapitalismus und dem Wandel der
industriellen Staatsbürgerrechte.
Erosionen in den Industriellen Beziehungen
Schon länger kriselt die Stabilität des Gesamtsystems der Industriellen Beziehungen,
ablesbar etwa an der sinkenden Flächentarifbindung oder an seinem Kernelement:
der Mitbestimmung. 2011 wurden nur noch 44 Prozent der Beschäftigten in den
Privatunternehmen West- und 36 Prozent Ostdeutschlands von einem Betriebsrat
vertreten (vgl. Abbildung 1).
Abb. 1
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Die Zonen ohne gesetzlich abgesicherte Mitbestimmung wachsen vor allem in den
neuen Industrien, aber auch in traditionellen Bereichen und im Dienstleistungssektor
kontinuierlich, mit anderen Worten: Die Reichweite der institutionalisierten
demokratischen Mitbestimmung schwindet.
Der vorliegende Beitrag untersucht, wie sich der demokratische Gehalt der
Mitbestimmung in den Zonen der institutionalisierten Mitbestimmung – dort also,
wo Betriebsratsgremien vorhanden sind – verändert hat. Wir zeigen, dass sich
bezüglich der Mitbestimmung trotz formaler Stabilität der Institutionen – und hier
besteht die Analogie zum Postdemokratietheorem – eine Erosion sowie eine
Fragmentierung der demokratischen Mitbestimmungsstrukturen feststellen lassen.
Industrielle Bürgerrechte und Mitbestimmung
Staatsbürgerrechte sind ein Produkt der Moderne und des modernen Nationalstaats.
Der englische Soziologe T. H. Marshall diagnostizierte in seinem klassischen Beitrag
„Staatsbürgerrechte und soziale Klassen“ schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die
Herausbildung von sogenannten sozialen Staatsbürgerrechten. Diese garantieren
jedem Bürger, jedem Mitglied der Gesellschaft „ein Mindestmaß an wirtschaftlicher
Wohlfahrt und Sicherheit“ (Marshall 1992, S. 74). Soziale Bürgerechte im
Wohlfahrtsstaat waren für Marshall das gesellschaftliche Element, welches das
Spannungsverhältnis zwischen der politischen Gleichheit der Bürger im
demokratischen Staat und der sozialen Ungleichheit der Marktvergesellschaftung
integrativ zusammenführen konnte.
„Unter der Hand“ (Müller-Jentsch 2008, S. 18) führte Marshall noch den Begriff der
industriellen/wirtschaftlichen Bürgerrechte ein. Diese greifen am gleichen Punkt wie
die sozialen Bürgerrechte: am Spannungsverhältnis zwischen der demokratischen
Gleichheit der Bürger und ihrer ökonomischen Ungleichheit. Wirtschaftliche
Bürgerrechte bieten Schutz vor illegitimen hierarchischen und politischen
Unterordnungen. Unter industriellen Bürgerrechten werden die individuellen, aber
vor allem die Kollektivrechte von Arbeitnehmern in der ökonomischen Sphäre
zusammengefasst. Wie die anderen Bürgerrechte können sie sowohl ein legaler
Status, eine gesetzliche Regelung aber auch ein Set von Konventionen und Praktiken
sein, die selbst normativ geteilte Inhalte haben. Sie reichen von den klassischen
Arbeitnehmerrechten wie der Koalitionsfreiheit über die Möglichkeit zur
Partizipation bis hin zum Grad der Dekommodifizierung der Ware Arbeitskraft, z. B.
durch die gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifnormen. Auch das
über den Arbeitsvertrag geregelte Beschäftigungsverhältnis unterliegt in diesem
Sinne den industriellen Bürgerrechten: hierunter fallen das Recht auf Sicherheit am
Arbeitsplatz durch Gesundheitsschutz, der Kündigungsschutz, das Recht auf Urlaub
und Erholung, ein soziales Minimum im Krankheitsfall und natürlich das Recht auf
eine autonome Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen.
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Industrielle Bürgerrechte sind folglich von ihrer Natur aus „hybrider“ als die anderen
Formen der Staatsbürgerrechte. Sie gründen sich weniger auf einen Bürgerstatus des
Individuums, sondern sind Kollektivrechte der Arbeiterschaft, die aus dem Konflikt
der Gewerkschaften mit Arbeitgebern, ihren Verbänden und Staat erlangt wurden. In
Deutschland werden die industriellen Bürgerrechte etwa durch direkte
Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten, die Tarifautonomie, die Etablierung der
Institution der Betriebsräte sowie die Unternehmensmitbestimmung verkörpert. Die
Betriebsräte sind ein Bindeglied zu überbetrieblichen demokratischen Institutionen
(wie dem Tarifvertragswesen und den Aufsichtsräten), zielen aber auch in ihrer
Praxis stets auf „die Anerkennung des Betriebsrats als autonomes und gleichwertiges
Vertretungsorgan“, die „zugleich ein Kampf um die Anerkennung des vollwertigen
betrieblichen Bürgerstatus der Belegschaft ist“ (Kotthoff 1994, S. 179). Der
Betriebsrat repräsentiert als demokratisch legitimierte Institution alle Beschäftigten,
er wird von ihnen „gebildet, gewählt und kontrolliert“ (Müller-Jentsch 2008, S. 181182). Durch die Teilnahme an Entscheidungsprozessen in einzelnen Themengebieten,
die ohne seine Teilhabe einseitig dominiert würden, schränkt der mitbestimmende
Betriebsrat die Macht des Unternehmers ein.
Postdemokratisierung und die Erosion wirtschaftlicher Bürgerrechte im
Betrieb
Bereits gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben Reformen eingesetzt, die in den
entwickelten Wohlfahrtsstaaten die Marktprinzipien gegenüber den Bürgerrechten
wieder aufwerteten. Mit dem Jahrtausendwechsel dominieren mittlerweile
Diagnosen von einer allgemeinen Erosion der (sozialen) Staatsbürgerschaft (Joppke
2007, 2010). Die gewandelten Unternehmensstrategien im Finanzmarktkapitalismus
stellen die eigentlichen Treiber des Wandels der industriellen Staatsbürgerrechte dar.
Die Tendenz zur Erosion der Mitbestimmung vollzieht sich vor dem Hintergrund der
„Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Streeck 2013), in der die Finanzmärkte
eine dominante Rolle eingenommen haben.
Der Betrieb als räumlich und arbeitspolitisch kohärente Einheit verlor dabei seine
Leitbildfunktion. Seine Grenzen sind nicht mehr durch die Fabrikmauern definiert,
sondern er wandelt sich zu einer fragmentierten Fabrik mit differenzierten Systemen
der Wertschöpfung (Durand 2007), die aus einer Vielzahl halbautonomer ProfitCenter, eigenständiger Betriebsstätten mit unterschiedlichen Tarif- und
Mitbestimmungsbedingungen und vor allem heterogener und in zunehmendem
Maße prekärer Beschäftigungsverhältnisse besteht. Dies erlaubt es dem Management,
eine Vielzahl von Risiken auf Vertragspartner und Beschäftige zu externalisieren und
mitbestimmungspolitische Hemmnisse zu umgehen (am Beispiel Leiharbeit vgl.
Holst et al. 2009).
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Zudem folgen kapitalmarktorientierte Unternehmen mittlerweile einer
Personalpolitik der „unteren Linie“: Das Stammpersonal wird nicht mehr am
zyklischen Durchschnitt (Personalpolitik der „mittleren Linie“) ausgerichtet, sondern
orientiert sich am Personalbedarf der Kapazitätsuntergrenze des Unternehmens. Die
Stammkräfte besetzten in dieser Personalpolitik alle qualifikatorischen
Schlüsselpositionen, während man bereits für den Normalbetrieb Fremdpersonal –
vor allem Leiharbeiter – beschäftigen muss. Die Leiharbeit erfährt somit einen
Funktionswandel: Sie wird nicht mehr zum kurzfristigen Ausgleich von Personalund Auftragsschwankungen genutzt, sondern als permanentes Element der
Personalplanung „strategisch eingesetzt“ (Holst et al. 2009).
Indem sich die Einheit der früheren Belegschaft schrittweise zu einem Flickenteppich
unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse in einer Wertschöpfungskette oder der
auf einem Betriebsgelände Erwerbstätigen wandelt, modifiziert sich auch der demos
der betrieblichen Mitbestimmung. Während Leiharbeiter, wie später diskutiert wird,
noch über gewisse Mitbestimmungs- und Vertretungsrechte verfügen, ist der
Werkvertrag ein Kaufvertrag nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und
unterliegt nicht der Betriebsverfassung (bzw. nur der des
Werkvertragsunternehmens). Sozial- und Unfallversicherung, Kündigungs- und
Mutterschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und nicht zuletzt die
Mitbestimmungsrechte werden durch Werkverträge ganz oder teilweise umgangen
(Nienhüser/Baumhus 2002).
Die Erosion der Mitbestimmung durch den strategischen Einsatz von Leiharbeit
kommt gewissermaßen durch die Hintertür der betrieblichen Steuerung, denn der
Gesetzgeber hatte bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) von
2001 eine Konsolidierung, ja teilweise sogar eine Stärkung der Mitbestimmung
vorgesehen. Für Klein- und Mittelbetriebe gab es ein vereinfachtes Wahlverfahren,
konzernübergreifende Betriebsratsgründungen wurden erleichtert, auch die Zahl der
Mandate und Freistellungen wurde maßvoll erhöht. Zwar wurden die
Mitbestimmungsrechte kaum gestärkt, aber die Ressourcen der Betriebsräte
wenigstens konsolidiert, mitunter sogar leicht ausgeweitet (Däubler 2001;
Brinkmann/Speidel 2006).
Die industriellen Bürgerrechte erodieren nun im Prozess der
Unternehmenssteuerung im Finanzmarktkapitalismus auf zwei Weisen und werden
dadurch zu einem Faktor der Postdemokratisierung in den Industriellen
Beziehungen: (1) unmittelbar in der rechtlichen und betrieblichen Stellung des
Leiharbeiters und in der Folge davon (2) in den Mitbestimmungsressourcen über die
Regulierung des relevanten demos.
(1) Der Leiharbeiter ist gekennzeichnet durch immense Statusunterschiede in Fragen
der Entgelte gegenüber den Stammkräften, die in einem Normalarbeitsverhältnis
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sind. Er ist lediglich ein betriebliches Sachmittel und kann sich aufgrund seiner
häufig prekären Lebenslage und seiner relativen Desintegration von der
Stammbelegschaft sowie den Mobilitätserfordernissen sehr schwierig kollektiv
organisieren. Durch die Aufhebung der Beschränkung der Überlassungsdauer und
des Synchronisationsverbots im Zuge der Agenda 2010 wurde der in der Realität
ohnehin schwache Kündigungsschutz für Leiharbeiter weiter geschwächt und der
quasi-permanente Einsatz von Leiharbeitern ermöglicht, was in den Folgejahren zu
einem starken Anstieg der Leiharbeit führte. Dadurch wurde auch ermöglicht, dass
Leiharbeiter häufig nicht mehr nur die Tätigkeiten der Randbelegschaft, sondern tief
integriert in den Produktionsprozess die gleichen Tätigkeiten wie die festangestellten
Beschäftigten ausführen. In der Novellierung des BetrVG von 2001 wurden die
Partizipationsrechte von Nicht-Vollzeit- Beschäftigen zwar gestärkt, sie wurden den
Vollzeitkräften mit kleinen Einschränkungen gleichgestellt und nach einem halben
Jahr Betriebszugehörigkeit erhielten auch sie das passive Wahlrecht. Andere
Beschäftige im Betrieb – vor allem Leiharbeiter – bleiben aber nur halbe
Betriebsbürger, da sie formalrechtlich im Verleihbetrieb angestellt sind. Nur wer ein
Beschäftigter des Betriebes ist, ist auch ein mit vollen Rechten und Ressourcen
ausgestatteter Betriebsbürger. Leiharbeiter erhielten im novellierten BetrVG zwar das
aktive Wahlrecht im Entleihbetrieb (nach drei Monaten Betriebszugehörigkeit), aber
nicht das passive. Sie konnten also Repräsentanten wählen, aber selbst keine
demokratischen Funktionen ausüben. Es handelt sich beim Leiharbeiter nach der
Kategorisierung von Lockwood um eine „staatsbürgerliche Exklusion“ (Lockwood
2000, S.164-165). Mit anderen Worten: Auch wenn es in den letzten Jahren eine
qualitativ wirksame Reregulierung der Leiharbeit gegeben hat, so bleibt der
Leiharbeiter ein Betriebsbürger zweiter Klasse. Dies würde – in anderen
Akzentuierungen und im Kontext unterschiedlicher rechtlicher Bedingungen auch für
andere Formen prekärer Beschäftigung gelten.
(2) Der demos des Betriebes war lange Zeit durch die Organisationsmitgliedschaft
präzise geregelt. Durch die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse im
Finanzmarktkapitalismus erhält der demos jedoch eine neue
mitbestimmungspolitische Bedeutung. Relevant ist der dem BetrVG
zugrundeliegende Betriebs- und Arbeitnehmerbegriff: Wer ein Angehöriger des
Betriebs bzw. wer der für die Bemessung der Ressourcen ausschlaggebende demos
ist. Obwohl Leiharbeiter wie die Stammkräfte in den Betriebsablauf eingebunden und
weisungsgebunden sind, gehörten sie bis zum Urteil des Bundesarbeitsgerichtes
(BAG) vom 13.03.2013 nicht zum demos des Betriebs, der zur Bemessung der
Mandate und Freistellungen hinzugezogen wird (7 ABR 53/02, DB 2003, 2128), da
sie juristisch nicht als Arbeitnehmer des Einsatzbetriebs gezählt wurden. In fast der
Hälfte aller Fälle werden Leiharbeiter nicht in die Wählerverzeichnisse
mitaufgenommen. Damit führt der strategische Einsatz von Leiharbeit in vielen
Fällen zu einer Vertretungslücke bzw. zu einem Mandatsmanko und
Freistellungsmanko. In fast einem Viertel der untersuchten Betriebe waren sowohl
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die Mandate wie auch die Freistellungen geringer, als sie gewesen wären, wenn man
statt Leiharbeitern unbefristete Beschäftige eingestellt hätte. Auf der anderen Seite
erfahren die Betriebsräte einen gestiegenen Aufwand bei häufig gesunkenen
Ressourcen durch die Zunahme von prekärer Beschäftigung (ausführlich:
Brinkmann/Nachtwey 2013). Als Faustregel, so zeigten unsere Untersuchungen,
konnte man jedoch festhalten: Wenn die Gewerkschaften im Betrieb stark organisiert
und aktiv waren und die Betriebsräte häufiger Konflikte mit dem Management
eingingen, dann war die Vertretungslücke weniger groß.
Perspektiven
Zwar folgte auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) in den letzten Jahren dem
Liberalisierungstrend in den Industriellen Beziehungen, wenn auch gebremst
(Rehder 2011), jedoch traf es zuletzt eine Reihe von regulierenden Entscheidungen
bezüglich der Leiharbeit. Am 13.03.2013 (7 ABR/6911) entschied es, dass
Leiharbeiter bei der Bemessung des relevanten demos in Zukunft berücksichtig
werden müssen. Damit schränkt das BAG die postdemokratische Tendenz des
strategischen Einsatzes von Leiharbeit in vielen Betrieben ein. Allerdings wurde die
hybride industrielle Bürgerschaft der Leiharbeiter nur zur Hälfte korrigiert. Das
passive Wahlrecht erhalten sie auch bei einem permanenten Einsatz im
Verleihbetrieb nicht. Dass die novellierte Berücksichtigung von Leiharbeitern bei den
Betriebsratswahlen 2014 zu einer Stärkung der Betriebsratsgremien geführt hat, gilt
als sicher, aber das Ausmaß ist noch unbekannt.
Es ist allerdings zu befürchten, dass Leiharbeit in Zukunft noch stärker durch
Werkverträge ersetzt und zunehmend als Instrument der Flexibilisierung und
Externalisierung von Risiken eingesetzt wird (Klein-Schneider u. Beutler 2013).
Nachdem es den Gewerkschaften seit 2010 immer stärker gelungen ist, große
Bereiche der Leiharbeit durch sogenannte „Besservereinbarungen“ sowie durch
tarifliche Anstrengungen zu verteuern, rückt jüngst der Werkvertrag in den Fokus der
Arbeitgeber Von Experten und Branchenvertretern wird eine Substituierung der
Leiharbeit durch Werkverträge bereits forciert. Ebenso wie die Leiharbeit ist der
Werkvertrag zwar kein neues Element der betrieblichen Steuerung, aber hier sind die
Auswirkungen für die Mitbestimmung teilweise noch größer als bei der Leiharbeit.
Der Druck auf die wirtschaftlichen Bürgerrechte hält an, dies wird eine der zentralen
Herausforderungen für die Gewerkschaften in den nächsten Jahren bleiben.
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Literatur/Quellen:
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Industrielle Bürgerrechte, in: Politische Vierteljahresschrift 54 (3), S. 506-533.
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Auswirkungen atypischer Beschäftigung auf die betriebliche Mitbestimmung, in:
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Rehder, Britta (2011): Rechtsprechung als Politik. Der Beitrag des
Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland,
Frankfurt/New York.
Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen
Kapitalismus. Berlin.
Autoren: Prof. Dr. Ulrich Brinkmann, geboren 1967, Professor für
Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt , Dr. Oliver
Nachtwey, geboren 1975, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie
der TU Darmstadt
Zwei Jahre nach dem Brand der Textilfabrik in
Karatschi
von Thomas Seibert
Pakistans „Industrial 9/11“ – ein Reisebericht
Mohammed Hanif ist in Karatschi kein Unbekannter. Im Stil eines bekannten
Bollywood-Stars gekleidet, ist der junge Tänzer schon im Fernsehen aufgetreten.
Aber seinen Lebensunterhalt verdient auch er durch Akkordarbeit in einer der
zahllosen Textilfabriken in Pakistan. Hanif war Näher bei Ali Enterprises – bis zu
jenem 11. September 2012, an dem in der Fabrik ein Brand ausbrach und 255
Arbeiterinnen und Arbeiter starben. Das war Pakistans „Industrial Nine/Eleven“.
Zwei Jahre später kann Hanif noch sehr genau erklären, wie das Gebäude aufgebaut
und die Produktion organisiert war. Ruhig berichtet er, wie er in der Flucht vor den
Flammen einen Außenventilator aus der Wand trat und dadurch eine Öffnung ins
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Freie schaffen konnte. Zehn Menschen hat er durch das Loch abseilen und retten
können, bevor er selbst ohnmächtig wurde und in die Tiefe stürzte. Vielfache
Knochenbrüche waren die Folge, manche Nervenbahnen sind dauerhaft beschädigt
und die Lunge so angegriffen, dass seine Schilderung der Ereignisses immer wieder
durch Hustenanfälle unterbrochen wird.
Hanif ist eines von 50 Ali Enterprises-Opfern, die wir Anfang September im
Tagungsraum eines Hotels der pakistanischen Millionen-Metropole Karatschi treffen.
Sie gehören der Selbstorganisation der Überlebenden und Hinterbliebenen an, die
sich „Baldia Factory Fire Affectees Association“ nennt. Wir – das sind der
pakistanische Anwalt Faisal Sidiqqi, zwei Berliner Anwältinnen des European Center
for Constitutional und Human Rights (ECCHR) und ich für medico international. Das
Treffen dient der Vorbereitung einer Klage gegen den deutschen Discounter KiK, der
am verhängnisvollen 11. September bei Ali Enterprises Kleidungsstücke fertigen ließ.
Selbst nach Katastrophen wie dieser ist es schwierig bis unmöglich, die
internationalen Auftraggeber juristisch haftbar zu machen. Die Unternehmen
schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, mit der Folge, dass letztlich keines
belangt wird. Trotz öffentlichen Drucks hat KiK bislang bloß lächerliche Summen an
die Überlebenden und Hinterbliebenen gezahlt, auf freiwilliger Basis: gegen einen
Anspruch auf substanzielle Entschädigung wehrt sich das Unternehmen nach
Kräften. Vor wenigen Wochen ist die vorerst letzte Verhandlungsrunde mit KiK
gescheitert. Der Anwalt Faisal Sidiqqi kehrte ohne Ergebnis nach Pakistan zurück.
Karamat Ali, Geschäftsführer der medico-Partnerorganisation PILER und
Verhandlungsführer der Opfer, war erst gar nicht nach Berlin geflogen. Nun soll der
Klageweg beschritten werden. In diesem Fall ist das keineswegs aussichtslos, weil
KiK der mutmaßlich einzige Auftraggeber von Ali Enterprises war. Deshalb
versuchen die Opfer im Schulterschluss mit medico und Partnern aus Deutschland
und Pakistan etwas noch nicht Dagewesenes: ein deutsches Unternehmen vor
deutschen Gerichten für eine Katastrophe in einer ins Ausland verlagerten
Produktion haftbar zu machen. Es könnte ein Präzedenzfall werden.
Wie Mohammad Hanif erzählen auch die anderen Überlebenden und
Hinterbliebenen von ihren Schicksalen. Sie rufen die Namen ihrer Mütter, Väter,
Geschwister und Kinder in Erinnerung, die diesen Tag nicht überlebt haben,
berichten von eigenen Verletzungen, Verstümmelungen und Traumatisierungen. Sie
sind froh, dass die Erlebnisse jedes Einzelnen protokolliert werden – obwohl sie
wissen, dass aufgrund der Prozessbedingungen nur drei oder vier von ihnen die Klage
werden einreichen können. Mit Interviews wollen wir herausfinden, wer als Kläger
oder Zeuge in Betracht kommt. Allen Anwesenden ist bewusst, dass die Klage sehr
lange dauern wird und ihr Ausgang ungewiss ist. Doch niemandem geht es nur um
sich. Immer wieder fallen Sätze wie „Ich möchte helfen für Gerechtigkeit zu sorgen.“
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Oder: „Für mich wird sich nichts mehr ändern. Aber ich will, dass anderen nicht
dasselbe passiert.“
Tatsächlich gelingt es reibungslos, sich auf eine Handvoll potenzieller Kläger zu
einigen, drei Männer und zwei Frauen. Eine von ihnen ist Saheeda Katoon. Sie war
schon vor dem 11. September Witwe, verlor beim Brand ihren Sohn Ejaz Ahmad, lebt
von zwei kleinen, zeitlich befristeten Pensionen. Mit den Tränen kämpfend erzählt
sie, dass ihr Sohn sie einst hätte begraben sollen, dass sie jetzt nicht weiß, ob
überhaupt jemand an ihrem Grab stehen wird. Sie schläft kaum und kocht nicht
mehr, ernährt sich von Brot, von Keksen, etwas Obst. Am Ende der zwei Tage hat die
Klage Gesichter und Geschichten bekommen, Einzelfälle, die für viele andere stehen.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum KiK inzwischen um einen neues Gespräch
gebeten hat. Der Druck auf einen Profiteur der globalen Ausbeutung wächst.
Korangi: Depression Colony
Dass sich bisher nichts geändert hat, erleben wir bei unseren nächsten Stationen.
Kollegen der Gesundheitsorganisation HANDS, des ältesten medico-Partners in
Pakistan, fahren uns in die Bhitai Colony in Korangi, einem Stadtteil Karatschis, wo
die Hilfsorganisation ein psychosoziales Gemeindeprojekt begonnen hat. Die
HANDS-Aktivistinnen Laldin Balal und Asia Majid nennen die Gegend „Depression
Colony“. Wir sehen, in welchen Verhältnissen die Arbeiterinnen und Arbeiter des
Weltmarktes leben – und welches alltägliche Elend sie an die Werkbänke treibt.
Tatsächlich gilt ein Job in einer der Textilfabriken als Hauptgewinn. Die meisten hier
sind Tagelöhner oder gänzlich ohne Einkommen. Nur die großen Straßen sind
asphaltiert, die Seitenachsen trotz der Hitze mit stinkenden Pfützen übersäht. „Die
Trinkwasserversorgung ist katastrophal, weil sich Frischwasser und Abwasser
mischen“, sagt Asia. Viele leiden an Durchfall und Erbrechen, an Hepatitis und
Malaria. „Neben der Armut ist das schlimmste die Aussichtslosigkeit der
Tagelöhnerei und die Angst vor dem Jobverlust“, ergänzt Laldin. Am Anfang des
Projekts wurden Frauen aus der Colony zu „Marvi Workers“ ausgebildet – zu
Gemeindeschwestern mit paramedizinischen und psychosozialen Grundkenntnissen.
Jede Marvi betreut eine Gruppe von bis zu 15 Frauen und organisiert regelmäßige
Treffen. „Die Mühsal und die Angst machen die Familien kaputt, viele Männer
prügeln, die Frauen versuchen alles zusammenzuhalten. Die Jungen baden das aus,
nehmen Opium, Alkohol und andere Drogen.“ Hält eine Frau das nicht mehr aus,
bringt eine Marvi sie zu einer kleinen Klinik. Deren Leiterin Fizza Yasmeen erklärt
uns: „Wir leisten hier Nothilfe, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Situation
ändern – das können wir nicht. Fragen wir die Leute, was sie brauchen, lautet die
Antwort: Jobs, mehr Jobs, bessere Jobs.“
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Faisalabad: Sector Satwan
Bessere Jobs? Welche Arbeitsbedingungen hier selbstverständlich sind, wissen die
Kollegen des medico-Partners NTUF, sei es in den Textilfabriken in Karatschi, sei es
in den Webereien in Faisalabad im Nordwesten nahe der indischen Grenze, wo die
Stoffe hergestellt werden. Mit Nasir Mansoor, dem Generalsekretär der
Gewerkschaft, reise ich nach Satwan, einem der 29 „Sektoren“ des Industriegürtels
von Faisalabad. Die Szenerie in den Fabriken erinnert an den
Manchesterkapitalismus vor 100 Jahren in Europa. Im Höllenlärm der dunklen
Hallen rattern auf engstem Raum 60 uralte, vom Rost zerfressene Webstühle.
Luftfilter gibt es nicht, zentimeterhoch häufen sich die Baumwollfasern. Die Arbeiter
drängen sich um die Maschinen und hetzen durch die schmalen Gänge, stets in der
Gefahr, irgendwo anzustoßen, hängenzubleiben oder ins rasende Getriebe und
Gestänge zu geraten.
Am Ende unseres Wegs treffen wir Gewerkschaftsaktivisten des Labour Qaumi
Movement (LQM), der vor kurzem erst gegründeten „Volksbewegung der Arbeit“.
NTUF und LQM haben sich gesucht und gefunden: Die einen sind an neuen
Methoden des Organisierens interessiert, die anderen an Verbindungen über
Faisalabad hinaus. Der Fabrikbrand des „Industrial 9/11“ hat sie zusammengeführt:
„Was in Karatschi die Brände sind“, sagt Ashfaq Budd, Gründer des LQM, „sind bei
uns die Unfälle am Webstuhl.“
Workers of the World, unite!
Zurück in Karatschi beraten wir uns noch einmal mit den Kollegen der NTUF, von
PILER und dem Anwalt Siddiqi. Schon bei der Ankunft hatten wir ihnen die englische
Übersetzung eines Aufrufs gezeigt, den wir in Deutschland zum 11. September
veröffentlichen wollten, dem zweiten Jahrestag des Brandes. Seine Initiatoren sind
die Vorsitzenden des DGB, ver.dis und der IG Metall, Reiner Hoffmann, Frank
Bsirske und Detlef Wetzel. Mit ihnen zeichnen Abgeordnete des Bundestags,
Wissenschaftlerinnen, Schauspieler und Schriftsteller. Zu Beginn wird knapp der
„Industrial 9/11“ in Erinnerung gerufen. In der Mitte des Texts nennen die drei
Gewerkschaftsvorsitzenden die politische Forderung, die uns zusammen bringt: „Die
Kolleginnen und Kollegen an den Nähmaschinen in Südasien und Südostasien
brauchen eine angemessene und faire Entschädigung, bessere Arbeitsbedingungen
und eine anerkannte gewerkschaftliche Vertretung.“ Dann aber wechselt die
Perspektive. „Wir alle“, so heißt es im folgenden Satz, „brauchen ein deutlich
verschärftes Haftungsrecht, das deutsche Unternehmen auch im Ausland auf
Arbeitssicherheit, bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung des Arbeitsrechts
verpflichtet.“ Der Wechsel vom „sie dort“ zum „wir hier“ ist entscheidend:
durchgesetzt werden kann das nie allein in Asien, sondern nur dann, wenn auch in
Europa und Deutschland dafür gestritten wird. Dazu gehört, dass der Aufruf bei der
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politischen Forderung nicht Halt macht, sondern zu Spenden aufruft: zu einem
Fonds für medizinische Hilfe, zur Finanzierung des Prozesses gegen KiK – und zum
Kauf eines Gewerkschaftshauses für die NTUF, das in Karatschis Stadtteil Gulshan
entstehen wird. Die Spendensammlung soll KiK nicht entlasten, im Gegenteil: Wer
spendet, wird auch bereit sein, am Fortgang des gemeinsamen Kampfes
teilzunehmen.
Als der DGB, ver.di, die IG Metall und medico den Aufruf kurz nach unserer
Rückkehr an die deutschen Medien leiten, hat er seine Erstveröffentlichung schon
hinter sich. Nasir Mansoor, Karamat Ali und Faisal Siddiqi haben ihn da bereits den
pakistanischen Medien präsentiert, im „Press Club“ von Karatschi, untergebracht in
einem im Kolonialstil errichteten Bau in der Mitte der Millionen-Metropole. Ihr
Vorsprung resultiert aus dem Zeitunterschied: die Pakistani sind uns in dieser
Hinsicht drei Stunden voraus. „Das Problem klären wir aus dem Stand“, schreibt mir
Karamat, „für alles andere brauchen wir etwas länger!“
Spenden für das Gewerkschaftshaus in Karatschi
Stichwort: Gewerkschaftshaus Karatschi
medico international
Spendenkonto 1800
Frankfurter Sparkasse
BLZ 500 502 01
IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00
Autor: Dr. Thomas Seibert, Mitarbeiter von Medico International
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Kleine Finanzblasenkunde
von Tomasz Konicz
Über die krisenhafte Verflechtung von Finanzmarktspekulationen und
realwirtschaftlicher Konjunkturentwicklung
Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass selbst die übelsten Auswüchse des
finanzmarktgetriebenen Neoliberalismus von dessen Apologeten mit einem Verweis
auf die menschliche Natur gerechtfertigt werden. Und was nicht alles der
unabänderlichen „Natur“ des Menschen entspringen soll: Das auf kurzfristige Profite
setzende Shareholder-Value-Prinzip soll Ausdruck seiner unermesslichen Gier sein.
Die beständig ansteigende Kluft zwischen Arm und Reich gilt der neoliberalen
Ideologie zufolge als Ausdruck der unterschiedlichen individuellen Züge. Der
ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, hat dieser
„Naturalisierung“ neoliberaler Zumutungen in einem Interview mit dem Wall Street
Journal Deutschland eine weitere Facette hinzugefügt. Laut Greenspan, in dessen 19jähriger Amtszeit (1987 bis 2006) die historisch bespiellose Expansion der globalen
Finanzmärkte stattfand, ist auch eine Finanzmarktblase nur Ausdruck natürlicher
menschlicher Dispositionen: „Blasen ergeben sich aus der unveränderlichen
menschlichen Natur,“ erklärte Greenspan unter Verweis auf die Tatsache, dass die
Weltwirtschaft inzwischen „von Blase zu Blase läuft,“ wie es das WSJ formulierte. Eine
„längere, stabile Konjunktur mit niedriger Inflation“ bilde demnach „die notwendige
als auch die hinreichende Bedingung für das Auftauchen einer Blase“.
Wenn dem so wäre, dann hätte die Menschheit bis in die 80er Jahre des 20.
Jahrhunderts ihre Reproduktion in einer widernatürlichen Wirtschaftsverfassung
vollzogen. Insbesondere die Ära der keynesianischen Nachkriegsprosperität war durch
das Ausbleiben größerer „natürlicher“ Finanzmarktblasen gekennzeichnet. Die
Finanzmarktzyklen mit spekulationsbefeuerter Boomphase und darauf folgendem
Crash etablierten sich erst mit der Durchsetzung des Neoliberalismus unter Ronald
Reagan und Margaret Thatcher in den 80er Jahren.
Kurzer historischer Überblick
Die krisenhafte finanzielle Expansion bildet das Kernelement des neoliberalen
Kapitalismus. Der Börsen-Crash am 19. Oktober 1987, in dessen Verlauf der USLeitindex Dow Jones um 22,6 Prozent binnen eines Tages abstürzte, war der erste
Schock des neuen Zeitalters. Es war der stärkste Tageseinbruch in der Geschichte des
Dow Jones, dem bald Kurseinbrüche in Australien, Hongkong und London folgten. In
Japan bildete sich in dieser Zeit die erste gigantische Immobilienblase heraus, die 1990
platzte und das japanische „Wirtschaftswunder“ beendete. Das Land versank in der
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folgenden sogenannten „verlorenen Dekade“ in einer hartnäckigen Deflation, die mit
einem steigenden Schuldenberg, konjunktureller Stagnation und einer schleichenden
Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einherging.
Die Asien-Krise verwüstete dann ab 1997 die Volkswirtschaften vieler
südostasiatischer „Tiger-Länder“, deren Währungen unter den Folgen platzender
Kreditblasen auf den Devisenmärkten zusammenbrachen. Indonesien, Südkorea und
Thailand waren von ihr besonders betroffen. Aber auch Malaysia, die Philippinen und
Singapur litten unter den Folgen. In der Tendenz nahmen die Spekulationsblasen
immer größere Dimensionen an. Die erste große Finanzmarktblase in globalem
Maßstab bildete die sogenannte Dot-Com-Blase zur Jahrtausendwende. Angefacht
vom Siegeszug der Internet-Technologien, entbrannte in den meisten
Industrieländern eine regelrechte Investitionsmanie, bei der Tausende dubioser Startups mit Milliardenbeträgen überhäuft wurden und erstmals große Teile der
Mittelklasse am Aktienboom partizipieren wollten. Yahoo erreichte dabei kurzfristig
einen höheren Börsenwert als der damalige deutsch-amerikanische Industriekonzern
Daimler-Chrysler. Der auf Hightech-Werte fokussierte Aktienindex NASDAQ stieg von
knapp 1000 Zählern in 1995 auf rund 5000 im März 2000 – um dann nach dem
obligatorischen Platzen der Blase binnen zweier Jahre auf weniger als 1500 Zähler
abzustürzen.
Nach dem gescheiterten Traum von der „New Economy“ baute sich langsam eine
gigantische Immobilienblase auf, die bekanntlich im Jahr 2008 platzte. Neben den
USA, dem Zentrum dieser Spekulationsdynamik, wurden auch viele Länder Europas
davon ergriffen: Spanien, Großbritannien und Irland sind die bekanntesten Beispiele.
Aber auch in Teilen Osteuropas - dem Baltikum, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und
sogar der Ukraine - stiegen kurzfristige Schuldenblasen auf. Die Globalisierung dieser
gigantischen transatlantischen Blasenbildung erfolgte über „innovative“
Finanzprodukte wie die berüchtigten Collateralized Debt Obligation (CDO), in denen
faule Hypotheken oder Kredite „verbrieft“ und auf den Weltfinanzmärkten gehandelt
wurden. Deswegen führte das Platzen dieser „globalisierten“ Immobilienblasen ab
2007 das gesamte Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds. Auch Finanzinstitute
aus Ländern wie der Bundesrepublik, die keine Immobilienblase ausgebildet hatten,
gerieten aufgrund der CDOs in ihren Bilanzen ebenfalls in die Schieflage.
Die Weltwirtschaft hat noch immer mit den Auswirkungen dieser Weltfinanzkrise und
des darauf folgenden globalen Konjunktureinbruchs - der nur durch massive staatliche
Konjunkturprogramme aufgefangen werden konnte - zu kämpfen. Und
selbstverständlich sind die Finanzmärkte erneut in einer spekulativen
Aufwärtsbewegung. Das US-Wirtschaftsportal Market-Watch beschreibt den
gespenstischen Charakter der gegenwärtigen Blasenbildung. Während der
Aktienbesitz innerhalb der erodierenden amerikanischen Mittelschicht rasch
zurückgehe, seien es wenige institutionelle Großanleger, die die Preise für Wertpapiere
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nun in die Höhe schnellen lassen. Dabei befinde sich der Aktienboom in keiner
vernünftigen Relation zur durchwachsenen und bestenfalls stagnierenden,
realwirtschaftlichen Entwicklung. Der Auftrieb der Aktienpreise sei durch die
Krisenmaßnahmen der Geldpolitik ausgelöst worden, mit denen die Folgen der
geplatzten Immobilienblase bekämpft wurden. Die Notenbank habe in Reaktion auf
den Konjunktureinbruch die Wirtschaft „mit Geld in niemals zuvor gesehenen
Ausmaß“ überflutet, sodass deren Bilanz sich auf 4,3 Billionen US-Dollar vervierfachte.
Diese Geldschwemme sorge zusammen mit dem historisch niedrigen Zinsniveau
dafür, dass Aktien nicht aufgrund einer ökonomischen Erholung attraktiv wurden,
sondern weil sie die letzte Option für profitable Investitionen darstellten. MarketWatch beschreibt weiterhin die aktuelle Liquiditätsblase, in der die Weltfinanzmärkte
verfangen sind. Die Maßnahmen der Geldpolitik (Negativzinsen und Geldschwemme),
mit denen die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der kollabierten Immobilienblase
abgemildert werden sollten, legten somit die Grundlage für die gegenwärtige
Spekulationsdynamik.
Die Spekulationsblase als Konjunkturmotor
Es stellt sich damit die Frage, wie sich ein dermaßen instabiles und tendenziell
selbstzerstörerisches „Wirtschaftssystem“ etablieren konnte. Wieso eilt die
Weltwirtschaft offensichtlich von „Blase zu Blase,“ sodass ein Alan Greenspan dieses
Krisenphänomen zum Ausdruck der „menschlichen Natur“ erklären muss?
Entscheidend ist hier die Aufstiegsphase einer Spekulationsblase, die mit einer
enormen konjunkturellen Belebung einhergeht. Die Finanzmarktspekulation fungiert
als Konjunkturmotor, der die reale Wirtschaft antreibt - immer um den Preis eines
späteren Einbruchs. Nirgends wurde dies offensichtlicher als bei der Immobilienblase.
Der globale Finanzmarkthandel mit CDOs ging ja mit dem Bau und der Sanierung von
Immobilien einher, wodurch enorme konjunkturelle Effekte entstanden. Die
Bauwirtschaft avancierte in Ländern wie den USA, Spanien oder Irland zum
wichtigsten Konjunkturmotor, während die Ausstattung der neuen Häuser die
Nachfrage nach Einrichtungsgegenständen der „Weißen Ware“ (wie Möbel,
Elektronik, etc.) in die Höhe schnellen ließ. In Spanien, Großbritannien oder Irland
herrschte
auf
dem
Höhepunkt
der
Blasenbildung
eine
regelrechte
Arbeitskräfteknappheit, sodass dort Hunderttausende von Wanderarbeitern aus
Osteuropa ein Auskommen fanden.
Ähnlich verhielt es sich mit der Blasenbildung in der „New Economy“, wo ja tatsächlich
Investitionen in den entsprechenden infrastrukturellen Ausbau der IT-Technologien
getätigt wurden und der Aufbau der später zusammenbrechenden IT-Unternehmen zu
Jobwachstum und höherer Nachfrage führte. Zudem hat die breite Beteiligung der
Mittelschichten am damaligen Börsenboom zu einem Konsumrausch geführt, da die
steigenden Aktienkurse zum Konsum auf Pump verführten und deren Verschuldung
vorantrieben. Die Aktienbesitzer rechneten sich reich. Niemand konnte dies
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Phänomen besser erklären als Alan Greenspan: „Historische Belege lassen den Schluss
zu, dass drei bis vier Cent von jedem Dollar, der an zusätzlichem Reichtum auf den
Aktienmärkten entsteht, in zusätzlichen Konsumausgaben münden.“ Selbst die
gegenwärtige Liquiditätsblase wirkte in der Entstehung stimulierend auf die
Weltwirtschaft. Der kurzfristige Boom der Schwellenländer, der nach der
Ankündigung der US-Zinswende im Frühjahr 2014 sein Ende fand, war gerade auf die
Politik des „billigen Geldes“ der Fed zurückzuführen. Niedrige Renditen in den Zentren
des kapitalistischen Weltsystems trieben anlagesuchendes Kapital in dessen
Peripherie, wo es abermals kreditfinanzierte Konjunkturschübe auslöste.
Das Muster ist mit steigender Intensität immer dasselbe: Dem spekulationsbefeuerten
Wirtschaftsaufschwung folgt der Crash, wobei die geldpolitischen Maßnahmen zur
Bekämpfung der Folgen wieder die Grundlage für eine abermalige Blasenbildung
verursachen. Die Geldpolitik löscht das Feuer der Spekulation mit Benzin. Ein Beispiel
mag das illustrieren: Um die Folgen der geplatzten Dot-Com-Blase zu mildern, senkte
Greenspan die Leitzinsen massiv ab: Zwischen 2002 und 2005 verharrte der USLeitzins unter der Marke von zwei Prozent, wobei die Fed diesen nach den
Terroranschlägen vom 9.11.2001 sogar für über ein Jahr auf ein Prozent senkte. Diese
für die damaligen Verhältnisse beispiellos expansive Geldpolitik führte zu der
Immobilienblase, da viele US-Bürger billige Kredite aufnehmen konnten, um Häuser
zu erwerben.
Generell entwickelte sich der Finanzmarktsektor in den letzten Jahrzehnten zu einem
der global wichtigsten Konjunkturtreiber, auch deswegen, weil der Finanzsektor
mitunter viele überbezahlte neue Jobs im Spekulationsgeschäft schaffte. Letztlich ist
es aber der Kredit (die wichtigste „Ware“ der Finanzbranche), der die Grundlage des
finanzmarktgetriebenen Wachstums bildete. Jede geplatzte Blase hinterlässt
Schuldenberge, die in deren Aufstiegsphase in Form von Krediten bzw. Investitionen
konjunkturbelebend wirken. Neoliberalismus und Verschuldung sind zwei Seiten einer
Medaille, denn die finanzmarktvermittelte Kreditaufnahme avancierte zum zentralen
Wachstumsmotor. Salopp gesagt: Heute läuft alles auf Pump. Ironischerweise waren
es von Geldwertstabilität und Haushaltskonsolidierung besessene neoliberale
Politiker, die den Startschuss für die größte Verschuldungsorgie in der gut
fünfhundertjährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems gaben. Das, was die
Neoliberalen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Endeffekt vollbrachten, war
eine bloße Privatisierung des keynesianischen „Deficit Spending“, das zuvor Staaten
zur Rezessionsabwehr anwendeten.
Blasenbildung und die Strukturkrise der Arbeitsgesellschaft
Die Genese des Finanzmarktkapitalismus wird im Blick auf die frühen 80er deutlich.
Die Fed musste unter Greenspans Vorgänger Volcker „eine riesige Inflationswelle
bekämpfen und hat das auch geschafft, aber darauf folgte ein starker
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Konjunktureinbruch“, erinnerte sich der ehemalige Fed-Chef Greenspan. Die
Bekämpfung der Inflation wurde durch eine massive Leitzinserhöhung erreicht, die zur
Wirtschaftskrise und mittelfristig zur weitgehenden Deindustrialisierung der USA
führte. Doch zugleich machte das hohe Zinsniveau die Vereinigten Staaten für
anlagesuchendes Kapital interessant. Die Kapitalzuflüsse in die USA, die mit der
Hochzinspolitik Volckers initiiert wurden, bildeten die Initialzündung des
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Die „riesige Inflationswelle“, von der
Greenspan sprach, war eine Folge der schweren Strukturkrise, in der sich viele
Industriegesellschaften in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts befanden. Diese Ära
der Stagflation wurde durch die Erschöpfung des Wachstumspotenzials nach dem
Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die zunehmende Rationalisierung in der Industrie,
einhergehend mit Massenarbeitslosigkeit, tat ihr übriges. Der „fordistischen“ Industrie
fehlte ein neuer Leitsektor, der wiederum massenhaft Arbeitsplätze für diejenigen
Lohnabhängigen schaffen würde, die aufgrund gesättigter Märkte und zunehmender
Automatisierung aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen wurden.
Wie lösten die neoliberalen Politiker und Ökonomen nun diese strukturelle Krise? Sie
machten die Finanzbranche zu einem „Leitsektor“, der die Weltwirtschaft im
zunehmenden Ausmaß auf einem immer schneller wachsenden und immer labileren
Schuldenberg zusteuern ließ. Wer will, der kann darin eine wirtschaftspolitische
Spitzenleistung sehen. Die Diskussion über die Krisenfolgen – einer tiefgreifenden
Veränderung der Arbeitsgesellschaft - war in den 80er Jahren viel stärker ausgeprägt
als heutzutage, obwohl der kometenhafte Aufstieg der Finanzmärkte und die damit
einhergehende prekäre Stabilisierung der Weltwirtschaft die damaligen Skeptiker
schnell mundtot machte. Angesichts der absurden Dimensionen, in die der
Schuldenturmbau auf den Finanzmärkten inzwischen vorgerückt ist, wäre eine
Wiederbelebung dieses offenen Diskurses gerade im gewerkschaftlichen Umfeld von
höchster Dringlichkeit.
Autor: Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, freier Journalist
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Das Freihandelsabkommen zwischen der
Schweiz und China
von Zoltan Doka und Vasco Pedrina
Die Rolle der Gewerkschaften
Nach 4 Jahren Verhandlungen hat die Schweiz als zweites Land in Europa ein
Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen. Es ist am 1. Juli 2014 in Kraft
getreten1 und deshalb von besonderer Bedeutung, weil es für China der Testlauf für
weitere Abkommen mit europäischen Ländern ist. Gerade wegen dieses
Präzedenzfalls war der ganze Aushandlungsprozess von politischen Kontroversen
begleitet.
Schon zu Anfang ist es NGOs und den Gewerkschaften gelungen, die schweizerische
Verhandlungsdelegation zu verpflichten, ein „Nachhaltigkeitskapitel“ mit
Bestimmungen zu Menschen- und Arbeitsrechten als auch ökologischen Standards
einzufügen. Lange war es für die Schweiz ein Tabu, Handel und Verpflichtungen mit
solchen Standards in Abkommen zu verbinden. Erst im Jahr 2010 begann ein
Umdenken in Folge internationaler Trends2.
Nachhaltigkeitsbestimmungen im Freihandelsabkommen: ein
umstrittenes Ergebnis
Der Arbeitgeberverband Swiss Business und das politisch rechte Lager wollten
unbedingt den privilegierten Zugang zum riesigen chinesischen Markt, auch um
Konkurrenten aus den EU-Ländern auszustechen. Dass es sich in China um einen
Einparteienstaat handelt, der Menschen- und Arbeitsrechte mit Füßen tritt, spielte
für sie eine untergeordnete Rolle. Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die
Ausklammerung des substantiellen Nachhaltigkeitskapitels führte zu
Unterschriftensammlungen und Aktionen, die nicht wirkungslos waren, jedoch zu
einem umstrittenen Resultat führten, welches einen Keil zwischen NGOs und
Gewerkschaften schlug. In der Bewertung des Verhandlungsresultats ging es
letztendlich um die Einschätzung, ob das Glas halb voll oder halb leer war.
Maßgebend für das „Nein“ der NGOs waren die fehlenden klaren Verpflichtungen zur
Einhaltung der Menschen- und Minderheitsrechte sowie aller 8 ILO-Grundnormen.
Die Gewerkschaften waren auch sehr enttäuscht, dass der Verweis auf die universelle
Erklärung über die Menschenrechte nicht explizit im Abkommen aufgenommen
wurde. Immerhin verweist die Präambel auf das im Jahr 2007 zwischen der Schweiz
und China abgeschlossene Verständigungsprotokoll zum sogenannten
„Menschenrechtsdialog“. Zudem bestätigen die beiden Seiten ihre Verpflichtungen,
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die UNO-Charta einzuhalten, welche die Grundlage für die verschiedenen in der
Folge ausgearbeiteten UN-Menschenrechtsinstrumente ist. Beide Länder verpflichten
sich auch die ILO-Grundnormen zu respektieren, die sie ratifiziert haben. Das
Hauptproblem liegt dabei darin, dass China – im Gegensatz zur Schweiz – nur 4 der
8 ILO-Grundnormen ratifiziert hat. Die Normen zur Koalitionsfreiheit und zum
Verbot der Zwangsarbeit wurden nicht ratifiziert. Immerhin gibt es im Abkommen
einen Verweis auf die Verpflichtungen der beiden Parteien, die sich aus ihrer ILOMitgliedschaft und aus den bedeutenden ILO-Erklärungen zu den Arbeitsrechten und
über die soziale Gerechtigkeit ergeben. Beide Erklärungen legen großes Gewicht auf
die Einhaltung aller 8 Grundnormen.
Auszüge aus dem „Abkommen über die Zusammenarbeit in Arbeits- und
Beschäftigungsfragen CH-China“
Artikel 2
1. Die Vertragsparteien bekräftigen die Pflichten Chinas und der Schweiz als
Mitglieder der IAO, einschliesslich ihrer Verpflichtungen gemäss der
Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit
und ihre Folgemassnahmen.
3. Die Vertragsparteien erinnern an die sich aus der Mitgliedschaft Chinas
und der Schweiz in der IAO ergebenden Pflichten, die von ihnen ratifizierten
IAO-Übereinkommen wirksam umzusetzen.
4. Die Vertragsparteien bekräftigen die Erklärung der IAO über soziale
Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung,
Artikel 3
1. Die Vertragsparteien bekräftigen die Bedeutung der Zusammenarbeit für
eine weitere Verbesserung ihrer jeweiligen Arbeitsstandards und -praktiken
im Einklang mit ihren innerstaatlichen arbeitspolitischen Zielen und gemäss
den in den anwendbaren IAO-Übereinkommen festgelegten Verpflichtungen.
2. Zur Verwirklichung dieses Ziels vereinbaren die Vertragsparteien, dass die
Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, einschliesslich der
administrativen und technischen Zusammenarbeit und des Aufbaus von
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Kapazitäten, im Rahmen des bilateralen Verständigungsprotokolls vom 15.
Juni 2011 zwischen dem Ministerium für Humanressourcen und soziale
Sicherheit der Volksrepublik China und dem Eidgenössischen
Volkswirtschaftsdepartement der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
die Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen stattfinden soll.
Das zähneknirschende und nicht unumstrittene „kritische JA“ der Gewerkschaften zu
diesem Abkommen erklärt sich aus der Überzeugung


einerseits, dass eine Politik der wirtschaftlichen Öffnung besser ist als eine
Politik der Abschottung gegenüber China; um dieses Land dazu zu bringen,
mit der Zeit einen Kurswechsel in Menschen- und Arbeitrechtsfragen
vorzunehmen
andererseits, dass die ausgehandelten Nachhaltigkeitsbestimmungen (China
hat in keinem anderen Freihandelsabkommen – auch nicht mit Neuseeland –
soviel konzediert) einen besseren Hebel liefern, um beide Länder unter Druck
zu setzen, damit Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen bekämpft werden,
als ohne Abkommen.
Die Arbeitsplatzargumente haben bei der Positionierung der Gewerkschaften eine
untergeordnete Rolle gespielt; auch weil die zwei Volkswirtschaften sehr
komplementär sind und wenig vom Wettbewerb zu befürchten haben.
Als Überwachungsmechanismus ist im Abkommen ein 3-stufiges Modell genannt,
das auch für die Einhaltung der Nachhaltigkeitsbestimmungen zum Zuge kommen
soll. Es werden von beiden Seiten „Kontaktstellen“ geschaffen, an die Fragen und
Klagen gerichtet werden können. Auf dieser ersten – technischen – Stufe versuchen
die Verantwortlichen dieser Kontaktstellen eine Klärung herbeizuführen. Bei
andauerndem Dissens wird sich – in einer zweiten technischen Stufe - der
„Gemischte Ausschuss“ treffen, der aus Diplomaten und Experten besteht. Auf einer
dritten politischen Ebene wirken die Ministertreffen, die normalerweise alle zwei
Jahre stattfinden.
Ein solcher Überwachungsmechanismus ist relativ schwach, weil echte
Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Das gilt jedoch für alle Freihandelsabkommen,
welche die Schweiz allein oder im Rahmen der EFTA (European Free Trade
Association), bisher ausgehandelt hat; und das gilt auch für die
Freihandelsabkommen der meisten anderen Länder. NGOs und Gewerkschaften
hatten anlässlich dieses politischen Prozesses Folgendes gefordert:
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

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die Schaffung eines Begleit- und Überwachungsorgans mit Vertretern der
Sozialpartner, der NGO und der Umweltorganisationen für alle
Freihandelsabkommen mit einem Nachhaltigkeitskapitel,
die Schaffung eines verwaltungsinternen Aufsichtsmechanismus für
Nachhaltigkeitsbestimmungen aller Freihandelsabkommen und
Investitionsschutzabkommen, in welchem alle involvierten Regierungsstellen
vertreten sein sollen. Dieser Mechanismus sollte Beobachtungen und
Meldungen aus den jeweiligen Partnerländern sowie aus der Zivilgesellschaft
sammeln, vertiefen, beurteilen und dann zu zielgerichteten Handlungen
führen.
Der gemeinsame Druck der NGOs und der Gewerkschaften hat diesbezüglich
immerhin dazu geführt, dass


Sozialpartner und NGO regelmässig zur effektiven Umsetzung der
Nachhaltigkeitsbestimmungen im Rahmen von bestehenden
Bundeskommissionen konsultiert werden,
die Regierung sich verpflichtet hat, dem Parlament darüber jährlich Bericht zu
erstatten.
Im Rahmen einer laufenden Diskussion in der EFTA zur Rolle der Zivilgesellschaft
bei der Überwachung der Abkommen („The role of civil society in the monitoring of
FTAs’“) versuchen die Gewerkschaften generell, die Regierungen der 4 beteiligten
Länder (Norwegen, Island, Lichtenstein, Schweiz) für eine weitergehende Lösung zu
gewinnen.
Gewerkschaftliche China-Kampagne für Arbeitsrechte
Ob dieses Abkommen wirklich ein Hebel im Kampf für Menschen- und Arbeitrechte
in China werden kann, wird sich in Zukunft zeigen. Viel hängt vom Engagement der
Zivilgesellschaft ab. Diesbezüglich hat die Gewerkschaft Unia zusammen mit der ihr
nahestehenden Entwicklungsorganisation Solidar Suisse einen interessanten Ansatz
für Aktionen und Kampagnen gewählt, mit dem doppelten Ziel, sowohl einen Beitrag
zur Durchsetzung der Arbeitsrechte in China zu liefern, als auch den
Solidaritätsgedanken in den eigenen Reihen und in der Öffentlichkeit zu fördern. Es
geht zuerst um die Unterstützung von Basisgruppen in China, die sich das Ziel gesetzt
haben, ArbeitnehmerInnen in ihrem Kampf für die Durchsetzung ihrer Rechte zu
unterstützen. Denn das chinesische Arbeitsgesetz bietet hierfür durchaus
Möglichkeiten, aber die Durchsetzung ist das eigentliche Problem. Im Rahmen dieses
Programmes werden sog. Grass-Root Organisationen unterstützt. Sie beraten und
begleiten ArbeitnehmerInnen, die Probleme mit Überstunden, Sozialversicherungen
und ihrer Gesundheit am Arbeitsplatz haben.
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Zweitens geht es in beiden Ländern um Kontakte zwischen
Arbeitnehmervertretungen der in China tätigen Schweizer Unternehmen (Filialen,
Joint Ventures). Ziel ist die Einhaltung der Arbeitsrechte durch die Förderung von
Tarifverträgen. Mit der kürzlich neu geschaffenen gesetzlichen Grundlage zur
Tarifpolitik sind die Rahmenbedingungen in China ein bisschen besser geworden. In
einigen Provinzen können durchaus Tarifverträge abgeschlossen werden. Eine
zentrale Frage zielt zweifellos auf die Beziehungen zu den offiziellen Gewerkschaften
der Konföderation ACFTU. Denn sie sind die einzig anerkannten Organisationen,
welche die Interessen der Arbeitnehmer vertreten dürfen. Kann man als Demokrat
und Verfechter der Menschenrechte mit solchen Organisationen zusammenarbeiten,
die keine demokratische Legitimation besitzen, oft gegen die Interessen der
Arbeitnehmer Stellung beziehen und die Teil des chinesischen Partei- und
Regierungsapparates sind? Eigentlich ist die Antwort „Nein“. Aber in der Praxis,
wenn man auf Betriebsebene eine rechtliche Legitimation erlangen will, muss man
sich je nachdem mit den VertreterInnen und den Strukturen des ACFTU vor Ort
auseinandersetzen; ohne unabhängige Arbeitnehmervertretungen aus sozialen
Bewegungen fallen zu lassen.
Drittens geht es um die Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz. Unter dem Motto
„Mein Kollege Li“ wollen die Unia und Solidar Suisse mit regionalen
Veranstaltungen, einem Film und Flyern die Gewerkschaftsmitglieder über die
Realitäten der Arbeitskämpfe in China heute und über Solidaritätsaktionen
informieren, um für Interesse und Beteiligung zu werben. Die Denunziation von
Missständen soll auch den Druck auf die Behörden in der Schweiz erhöhen, damit
Veränderungen in China in Gang gesetzt werden. Die Nachhaltigkeitsbestimmungen
des Freihandelsabkommens sollen dazu als Hebel benutzt werden. Gerade aufgrund
der Ängste in den eigenen Reihen ist es wichtig, die Botschaft zu vermitteln, dass
nicht die chinesischen ArbeiterInnen schuld an Lohndumping-Praktiken sind,
sondern die Firmen und Behörden. Es ist auch nicht hilfreich, wenn man China
pauschal aburteilt. Die Kampagne soll ein Teil breiter Bestrebungen gegen den Trend
zum „nationalen Rückzug“ sein, der sich in der Schweiz wie in manchen Ländern
Europa immer mehr bemerkbar macht, mit äußerst besorgniserregenden Folgen.
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Literatur/Quellen:
[1]Die folgenden drei Abkommen sind Teil des FHA CH-China
(http://www.seco.admin.ch/themen/00513/02655/02731/04118/index.html ):



Free Trade Agreement between the Swiss Confederation and the People’s
Republic of China (2014)
Agreement on Labour and Employment Cooperation between the Federal
Department of Economic Affairs, Education and Research of the Swiss
Confederation and the Ministry of Human Ressources and social Security of
the People’s Republic of China (2014)
Memorandum of Understanding regarding Cooperation on Labour and
Employment Issues (2011)
Im Rahmen dieses Memorandum lag der Fokus der Zusammenarbeit zwischen den
beiden Arbeitsministerien in den letzten Jahren im Erfahrungsaustausch zum Thema
„Arbeitsinspektorate“. Neu – auch auf unsere Anregung – soll das Thema „Gestaltung
der Sozialpartnerschaft“ in Zentrum stehen.
[2] ILO. „Social Dimensions of Free Trade Agreements”, International Institute for
Labour Studies, 2013
Autoren: Zoltan Doka, Stellvertretender Geschäftsleiter und Stabschef / Desk China
Program bei Solidar Suisse – Schweizer Arbeiterhilfswerk, Vasco Pedrina, geboren
am 28. Juni 1950, Vize-Präsident der internationalen Gewerkschaftsorganisation
BHI (Bau + Holzarbeiter Internationale)
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Die Märchentour von Uncle Jeremy
von Stefan Müller
Wie ein US-Autor uns die „Sharing Economy“ als Kapitalismuskritik
verkaufen will
Prolog
Fiktive Szene am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen. Wir befinden uns in der
Lufthansa-Business-Lounge. Auf ihren Flug nach Los Angeles warten der
frischgebackene Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Jaron Lanier, und
der Bestsellerautor Jeremy Rifkin. Es dauert eine Weile, bis beide von ihren
leuchtenden Ipads aufblicken, doch dann erkennen sie sich. Rifkin: „Hi Jaron,
Gratulation zum Preis!“. Lanier: „Jeremy, mein Bruder, danke! Den hättest du wohl
auch gerne bekommen...“. Rifkin: „Wir können ja teilen“. Beide lachen. Rifkin weiter:
„Naja, die Deutschen kannst du mit einer guten Portion Kapitalismuskritik immer
um den Finger wickeln“. Lanier: „Jaja, und sie nehmen ja alles immer so todernst“.
Rifkin: „Guck mal, da drüben in der Holzklasse nach Paris, ist das nicht dieser
Piketty?“. Lanier: „Lass uns schnell boarden, hab' keine Lust auf Smalltalk mit
diesem Typen“. Beide stellen sich schnell in der Schlange an. Thomas Piketty hat sie
gar nicht wahrgenommen.
Popstar Rifkin
Kapitalismuskritik kommt gut an im Jahr 7 nach dem Zusammenbruch der LehmanBrothers-Bank. Internetkritik ebenfalls im Jahr 1 nach dem NSA-Abhörskandal. Das
wissen die beiden amerikanischen Autoren Jeremy Rifkin und Jaron Lanier. Als
intellektueller Popstar tourte Rifkin im September für eine ganze Woche lang durch
Berlin. Bei Vorträgen, in Fernsehdiskussionen und in Interviews hat er immer die
gleiche Botschaft im Gepäck: unser Wirtschaftsmodell funktioniere nicht mehr, weil
die Menschen lieber teilen statt besitzen wollen. Klingt progressiv und ist die
Zusammenfassung aus immerhin 525 Seiten Analyse mit dem Titel „ Die NullGrenzkosten-Gesellschaft“. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut
(Commons) und der Rückzug des Kapitalismus“.
Rifkins Vorlage
Auch wenn Rifkin seine Thesen so ausbreitet, als hätte er sie selbst ersonnen, muss
zunächst auf die akademische Vorarbeit des amerikanischen Juraprofessors Yochai
Benkler (Harvard Law School) aus dem Jahr 2006 verwiesen werden. Benkler stellt
in dem Buch „The Wealth of Networks“ die Hypothese auf, dass eine Kultur, in der
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Informationen frei getauscht werden, sich als ökonomisch effizienter erweisen könnte
als eine, in der Innovationen durch Patente und Urheberrechte erschwert werden. In
den Produktionsweisen der Informationsökonomie, die auf kollektivem Lernen und
Teilen von Wissen („Information-Sharing“) beruhen, sieht er eine dritte Art der
ökonomischen Produktion neben Märkten und zentraler Planwirtschaft.
Keine Creative Commons
Benkler ist dabei konsequent, er schreibt nicht nur über die „Commons“, also die
moderne Variante der „Allmende“, er hat sein Buch auch unter der CreativeCommons-Lizenz (cc) veröffentlicht – zum kostenfreien Download sowie als frei
verfügbare Onlineversion. Diese Konsequenz erscheint zwingend, wenn man sich mit
Themen wie Open Source, Gemeingütern oder der Kultur des Teilens beschäftigt.
Rifkin allerdings spricht zwar in seinen Vorträgen über die Segnungen von freien
Universitätskursen („Open University“) oder freier Software, er hat sein aktuelles
Buch aber in einem konventionellen Verlag veröffentlicht, ohne jede zusätzliche
Option des freien Downloads unter cc-Lizenz. Er teilt nicht. Kann man den Mann vor
diesem Hintergrund überhaupt ernst nehmen?
Der Fall Uber
Während Popstar Rifkin durch die deutsche Hauptstadt tourt, läuft parallel eine
öffentliche Diskussion zur Frage, ob Taxibetriebe die private Konkurrenz durch das
US-Unternehmen Uber und deren Geschäftsmodell dulden müssen. In seinem Buch
über „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ kommt Uber nicht vor. Aber in einem
Beitrag für die US-Ausgabe der „Huffington Post“ bezeichnete Rifkin das
Unternehmen Uber (finanziert u.a. durch Risikokapital bzw. venture capital von
Google und Goldman Sachs) als „Carsharing-Service“ - einen Trend, den er
grundsätzlich als unterstützenswert findet im Sinne der Sharing Economy. Rifkin
sagte dazu in der Berliner American Academy: „Junge Leute werden Uber überall in
deutschen Städten einfach kopieren und ihre eigenen Dienste gründen“. In der
Süddeutschen Zeitung ergänzt Rifkin, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die
Menschen, die heute für Uber fahren keine Lust mehr haben, einen Teil ihres Geldes
in die USA zu überweisen“. Ansonsten: Thema beendet.
Aber da genau wird es spannend. Denn Uber ist gewissermaßen der Testfall für die
Thesen von Rifkin. Das ist auch bei seinem Auftritt in der ZDF-Talkshow von
Maybritt Illner deutlich geworden. Auch dort verwies er auf die „lokalen
Kooperativen“, die den Fahrdienstvermittler Uber demnächst ersetzen würden. Die
Philosophie von Startup-Gurus wie den Samwer-Brüdern („Zalando“, „Rocket
Internet“) funktioniert jedoch genau entgegengesetzt: sie haben in den vergangenen
Jahren oft amerikanische Ideen für Deutschland adaptiert (Alando; StudiVZ) und
kurze Zeit später an die Originalfirmen wie Ebay oder Facebook verkauft – für hohe
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Millionenbeträge. Uber ist bereits jetzt so hoch kapitalisiert - der Wert des
Unternehmens wird auf mindestens 17 Milliarden Dollar geschätzt – dass man die
Übernahme von deutschen Kopien aus der Portokasse zahlen könnte.
Läuft sich da schon jemand warm?
Ein deutsches Pendant zu Uber existiert bereits unter dem Namen „Wundercar“. Im
ZDF verteidigte Firmengründer Gunnar Froh das Prinzip der Share-Economy – sie
sei nicht mehr aufzuhalten. Die Menschen hätten inzwischen eigentlich alles – nun
ginge es nur noch darum, neue Erlebnisse, Beziehungen und Geschichten zu finden
oder Umwelt und Ressourcen zu schonen. Und über Carsharing, Mitwohnzentralen
und Tauschbörsen sei genau dies möglich. Startup-Rhetorik eines Gründers, der
genau weiß, wie man Wundercar für eine millionenschwere Übernahme durch Uber
warmlaufen lässt.
In der Wirtschaftswoche warnte Chefreporter Dieter Schnaas in seiner Kolumne
„Tauchsieder“: „Bei der "Share Economy" handelt es sich um eine distributive
Weiterentwicklung des Kapitalismus, ja, vielleicht sogar seine Vollendung: Der
Plattform-Kapitalismus unterläuft die Kontroll- und Ordnungsmacht des (Steuer)Staates und der Gewerkschaften, indem er Ichlinge zu 'Prosumenten' vernetzt, also
zu Menschen, die sich aus freien Stücken als Produzenten und Konsumenten
begegnen und austauschen“.
Bei Maybritt Illner hätte in diesem Zusammenhang das Aufeinandertreffen zwischen
Jeremy Rifkin und der Gewerkschafterin Leni Breymaier (ver.di-Vorsitzende in
Baden Württemberg) interessant werden können. Aber dazu war die Aura des USSoziologen zu positiv besetzt. Er redete auch in dieser Talkshow permanent von einer
„Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ - nebulös, aber schillernd. Dabei könnte man ihn
schon auf den Begriff „Sharing Economy“ festnageln: „Teil-Wirtschaft“. In seinem
Berliner Vortrag sprach er sogar von einer „Migration des Arbeitens“ in Richtung
einer „sozialen Wirtschaft“ – etliche Worthülsen, die wie aus dem Märchenbuch
klingen.
Noch einmal Dieter Schnaas von der Wirtschaftswoche: „Die 'Share Economy' ist kein
deskriptiver, sondern ein normativer Begriff. Weshalb man nur in aller Vorsicht und
Distanz von ihm Gebrauch machen sollte. 'Share-Economy' ist ein
wirtschaftspolitisches Programm, eine Agenda interessierter Kreise - eine Ideologie“.
Beim Märchenonkel
Leni Breymaier konnte sich natürlich im ZDF nicht auf die Ebene „Märchenonkel“
begeben. Sie betonte, dass Gesellschaft und Politik nun die Aufgabe hätten, die
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digitale Zukunft „klug" zu gestalten. Bisher sehe sie die Entwicklungen in Bezug auf
den Arbeitsmarkt eher kritisch. Dass es nun beispielsweise die App-gestützte
Taxikonkurrenz "Uber" gebe, daran wäre vor zwei, drei Jahren nicht zu denken
gewesen. Ein Ende des Kapitalismus durch solche Sharingangebote von
Monopolisten, die meist rund 20 Prozent Provision für die Nutzung ihrer Plattformen
erhielten, sah Breymaier nicht. Ziel müsse es sein, auch in Zukunft die verbleibende
Arbeit gerecht aufzuteilen, um jedem die Teilhabe an der Produktivität zu
gewährleisten. Klingt plausibel aber nicht unbedingt sexy.
Da hatte Rifkin noch gar nicht über seine Lieblingsthese gesprochen, die von den
3-D-Druckern, die in wenigen Jahren schon Autos fertigen könnten – natürlich
nahezu ohne Grenzkosten. Wer die 3-D-Drucker wiederum herstellen soll und zu
welchen Kosten, dazu schweigt sich Rifkin aus - weil es nicht in sein Konzept passt.
Auch die Kritik an Datenschutzthemen und Netzneutralität sieht er zwar als Problem
an („Das wird ein Hauptstreitpunkt der nächsten 40 Jahre“), aber Konzerne wie
Google oder Facebook solle man nicht verdammen, sondern als „Utilitys“ betrachten.
Sozusagen als notwendige Übel für die gute Welt des „Internets der Dinge“.
Die taz fragte Jeremy Rifkin in diesem Zusammenhang: Sollte man also Firmen wie
Facebook und Google lieber zerschlagen? Rifkin: „Nein, regulieren. Schauen Sie,
momentan wiederholt sich die Geschichte der ersten Fabriken. Auch da waren die
Arbeiter von der Gnade der Fabrikeigentümer abhängig – bis sie begannen, überall
auf der Welt Gewerkschaften zu gründen. Angesichts von Firmen wie Facebook oder
Twitter brauchen wir eine globale Kontrollinstanz. Diese Firmen haben Commons
geschaffen, mit denen wir andere Industrien zerschlagen, aber sie wollen eben auch
Daten monopolisieren. Sie wirken wie weltweit tätige soziale Monopole – und wir
brauchen also eine globale Kontrollinstanz, um die Konzerne im Sinne eines
gesellschaftlichen Nutzens zu regulieren. Es ist kaum vorstellbar, dass nicht
irgendjemand hervortritt und reagiert. Zu glauben, die gesamte Menschheit bleibt
still, ist lächerlich. Sie werden globale Kooperativen sehen, die die Interessen der
Menschen vertreten, deren Daten verwendet werden. Das wird passieren“. Big Data,
noch so ein Schlagwort. Und interessant auch, dass Rifkin in seiner Antwort, aber
auch im Buch die Gewerkschaften stets als retrospektive Kraft würdigt. Fairer Lohn
und der Kampf dafür – das gab es mal früher.
Woher kommen dann die Drohnen?
Es war Zufall, aber in der gleichen Woche der Rifkin-Berlin-Tour diskutierte auch ein
ver.di-Kongress über Arbeitswelt, Selbstbestimmung und Demokratie im digitalen
Zeitalter. Und natürlich auch über Big Data, den NSA-Skandal und Uber. Der Geist
von Rifkin schwebte zwar nicht über der ver.di-Zentrale, aber seine Thesen waren in
diesen Tagen allgegenwärtig in der Hauptstadt. Dazu dann noch Überschriften wie
„Der Kapitalismus hat sich zu Tode gesiegt“ (Süddeutsche Zeitung) und die steile
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These, die Menschen hätten ihr Interesse an Eigentum verloren – stattdessen teilten
und tauschten sie. Der Soziologe Harald Welzer staunte in der Zeit: „Wie man 500
Seiten über den Kapitalismus und seine Vor- und Nachgeschichte schreiben kann,
ohne auch nur ein einziges Mal auf den Stoffwechsel einzugehen, den Lebewesen zum
Existieren brauchen, ist allerdings spektakulär“. In Rifkins Welt komme
wahrscheinlich das Bier genauso aus dem 3-D-Drucker wie Kartoffeln und seltene
Erden“. Welzer lakonisch: „Kommen denn auch die Panzer, Drohnen und
Überwachungsapparaturen aus dem 3-D-Drucker?“.
Constanze Kurz vom Chaos Computer Club kennt sich mit der Materie aus. Auf dem
Digitalisierungskongress von ver.di rief sie dazu auf, die Techniken auch in „unserem
Sinn zu nutzen und nicht den Neoliberalen zu überlassen“. In den Worten von Jaron
Lanier, dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: „Wenn wir mit
der Share Economy einerseits den Schutz, den Gewerkschaften bieten, aushebeln (…),
wer wird sich dann um die Bedürftigen kümmern?“. Das hat Lanier in seiner
Dankesrede in Frankfurt gesagt und hinzugefügt, die Share Economy biete nur die
Echtzeit-Vorteile von informellen oder Schattenwirtschaften, wie man sie bisher nur
in Entwicklungsländern, vor allem in Slums, gefunden habe. Lanier: „Jetzt haben wir
sie in die entwickelte Welt importiert, und junge Menschen lieben sie, weil das Gefühl
des Teilens so sympathisch ist. Doch die Menschen bleiben nicht für immer jung“.
Es sei ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Economy, wie Jeremy Rifkin in seinem
Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus,
eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläute, in der Teilen mehr
Wert hätte als Besitzen, schreibt der Berliner Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han.
Im Gegenteil: Die Sharing-Economy führe letzten Endes zu einer
Totalkommerzialisierung des Lebens.
Epilog
Flughafen Los Angeles. Jaron Lanier und Jeremy Rifkin treffen sich beim
Gepäckband. Rifkin: „Jaron, was machst du heute noch?“. Lanier: „Werde vom
Microsoft-VIP-Firmenshuttle abgeholt! Und du?“. Rifkin: „Muß mich erstmal von
Berlin erholen, die Deutschen waren so anstrengend. Fliege morgen weiter nach
Hongkong“. Lanier: „Was heißt denn Teilen auf chinesisch?“. Beide lachen.
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Literatur/Quellen:
Jeremy Rifkin: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge,
kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Campus Verlag,
Frankfurt am Main 2014, S. 528, geb. 27,- €.
Byun-Chul Han: Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
(Essayband). S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014
Zur Illner-Sendung:
http://www.zdf.de/maybrit-illner/jeremy-rifikin-und-die-shareconomy-macht-dasinternet-unsere-jobs-kaputt-34911510.html
Autor: Stefan Müller, Journalist und Moderator bei WDR und hr
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