Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Soziale Teilhabe und Demokratie Impressum Deutscher Gewerkschaftsbund Debattenmagazin GEGENBLENDE, Redaktion: Dr. Kai Lindemann/Redaktionsassistenz: Martina Hesse Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin Telefon +49 (0) 30 24 060 757, E-Mail [email protected] Hinweis: Die GEGENBLENDE-pdf-Version enthält keine ausführlichen Autorenprofile, Bilder und Kommentare. Diese sind auf der Homepage www.gegenblende.de einsehbar. © Deutscher Gewerkschaftsbund GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Inhaltsverzeichnis Seite Editorial ......................................................................................................................... 4 Matthäuseffekt und Teufelskreis – zum Problem von Inklusion und Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften ................................................................ 5 von Martin Kronauer Stop talking – act now! ................................................................................................ 20 von Terry Reintke, Martina Hartung Das beklaute Gemeinwesen (Kolumne) ...................................................................... 24 von Robert Misik German Organizing (Buchrezension) ......................................................................... 30 von Thomas Greven NACHGEFRAGT bei Heidrun Abel – Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter (Interview) .................................................................................................... 35 von Kai Lindemann Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten ............................................ 38 von Elisabeth Voß Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive vom 13.-21. Jahrhundert ........................ 44 von Andrea Komlosy Der zweifelhafte Exporterfolg der Bundesrepublik – Ursachen und Gründe ............ 49 von Stefan Beck „Einfache Dienstleistungen“ in der Wertschöpfungskette ......................................... 55 von Philipp Staab www.gegenblende.de Seite 2 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die französischen Sozialisten zwischen Programmatik, Popularität und Hartz IV ........................................................................................................................61 von Bernard Schmid Die Arbeitswelt im Wandel .......................................................................................... 65 von Rainer Fattmann Staatsvolk und Marktvolk im entgrenzten Kapitalismus – Ein Essay zur Streeck-Debatte ........................................................................................................... 68 von Lutz Wingert Die Wahl in Schweden: Rückkehr zur „sozialdemokratischen Normalität“? ............ 76 von Joachim Kasten Innovation braucht Führung und Beteiligung ............................................................ 79 von Ines Roth Postdemokratie und die Erosion wirtschaftlicher Bürgerrechte ................................ 87 von Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey Zwei Jahre nach dem Brand der Textilfabrik in Karatschi ......................................... 94 von Thomas Seibert Kleine Finanzblasenkunde .......................................................................................... 99 von Tomasz Konicz Das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China ................................. 104 von Zoltan Doka und Vasco Pedrina Die Märchentour von Uncle Jeremy .......................................................................... 110 von Stefan Müller www.gegenblende.de Seite 3 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Editorial Soziale Ausgrenzung und demokratische Teilhabe sind eng miteinander verbunden. Die Schwerpunktbeiträge in der Ausgabe 29 behandeln dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven. Zudem beinhaltet sie Beiträge zu den aktuellen Themen Share Economy, Streeck-Debatte, Exportweltmeister Deutschland und Freihandelsabkommen. Viel Spaß bei der Lektüre der pdf-Ausgabe wünscht Kai Lindemann www.gegenblende.de Seite 4 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Matthäuseffekt und Teufelskreis – zum Problem von Inklusion und Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften von Martin Kronauer In den Gesellschaften Europas breiten sich die soziale Entsicherung und Exklusion von Lohnabhängigen aus[1]. Neue Spaltungslinien brechen auf, die die Fundamente demokratischen Zusammenlebens zerstören.[2] Um Exklusion verstehen zu können, ist es unverzichtbar, sich über zwei zentrale Aspekte des Problems Rechenschaft abzulegen: über die Mehrdimensionalität und den Prozesscharakter von Inklusion und Exklusion. Wer gesellschaftlich „inkludiert“ ist, der ist dies in aller Regel nicht nur in einer, sondern in allen relevanten Dimensionen; wer hat, dem wird gegeben – der Matthäuseffekt also.[3] Umgekehrt gilt aber: wessen „Inklusion“ in einer zentralen Dimension brüchig wird, der kann in der Regel nur bedingt und vor allem nicht über lange Zeit hinweg Ressourcen aus den anderen Dimensionen mobilisieren. Er oder sie steht in der Gefahr, dass Ausgrenzungsprozesse von einer Dimension auf die anderen überspringen und sich zu einem Teufelskreis verstärken. Woher aber rühren die Stabilität von Inklusion auf der einen Seite und die destruktive Dynamik von Exklusion auf der anderen Seite? Für Niklas Luhmann stellte sich das Problem folgendermaßen dar: Wie kann es sein, dass Gesellschaften, die nicht durch ein einheitliches Zentrum zusammengehalten werden und die die Personen nur über ihre unterschiedlichen Funktions- oder Publikumsrollen inkludieren, Teufelskreise der Exklusion hervorbringen, die sich über die Grenzen der Funktionssysteme hinweg verstärken? Eine plausible Antwort konnte er nicht geben, da er davon ausging, dass die Funktionssysteme eigentlich durch „Interdependenzunterbrechung“ gegeneinander hinreichend abgeschottet seien.[4] Selbst in der deutschen Soziologie, die sich seit langem mehrheitlich davon verabschiedet hat, den Kapitalismus auf den Begriff bringen zu wollen, setzt sich mittlerweile die Erkenntnis durch, dass, wer von Exklusion und ihrer Mehrdimensionalität reden will, nicht über den Kapitalismus schweigen darf. Wer die innere Beziehung zwischen den Matthäuseffekten der Inklusion und den Teufelskreisen der Exklusion begreifen möchte, wird an den „alten“ Kern kapitalistischer Herrschaft, die Lohnarbeitsverhältnisse, herangehen müssen. www.gegenblende.de Seite 5 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Das Inklusionsproblem und die „Mehrdimensionalität“ kapitalistischer Gesellschaften „Kapitalistische Gesellschaften“ unterscheiden sich von anderen Gesellschaftsformationen zumindest in zweierlei Hinsicht: durch die zentrale, direkte wie indirekte Bedeutung der Lohnarbeit für die Sicherung des Lebensunterhalts der Einzelnen und die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums; damit zugleich durch das Prinzip der Akkumulation von Kapital - der Verwertung von Kapital um seiner selbst willen - als wesentliche Triebkraft der Nutzung der Arbeitskraft (oder aber auch ihrer Nicht-Nutzung). Das Problem von Inklusion und Exklusion stellt sich aber nicht erst in kapitalistischen Gesellschaften, auch wenn es dort besondere Formen annimmt. Auch in vorkapitalistischen Gesellschaften spielten die Verteilung der Arbeit, die Verteilung ihrer Erzeugnisse und die Aufteilung der verwandtschaftlichen Rechte und Pflichten eine wesentliche Rolle für die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen. Der Übergang zur kapitalistischen „Moderne“ bedeutete einen wesentlichen historischen Einschnitt. Spätestens seit der staatlichen Durchsetzung von Arbeitsmärkten im frühen 19. Jahrhundert wird die Auseinandersetzung darüber geführt, wie weit die Regelung der Verteilung der Arbeit, ihrer Bedingungen und Erzeugnisse Märkten überlassen werden kann und darf, und was dies für die soziale Absicherung bedeutet. Erst in kapitalistisch verfassten Gesellschaften stellte sich das Problem der Inklusion als gesellschaftliches Problem. Denn erst mit der Ablösung der auf Privateigentum beruhenden Marktökonomie von Staat, Familie, Religion, erst mit der Verstädterung und dem Bedeutungsverlust der Haushalte für die soziale Absicherung des Familienverbands, erst mit der räumlichen und zeitlichen Aufspaltung von öffentlicher Arbeits- und privater Lebenssphäre unter dem Diktat der Lohnarbeit konstituierte sich die moderne Gesellschaft. Unter solchen Bedingungen mussten Integration und Inklusion zum Thema werden – als „systemische Integration“ von Staatsorganen, Rechtssystem, kapitalistischer Ökonomie, Familienverbänden; als „soziale Integration“ (oder Inklusion) von Individuen und Klassen, beide zunächst in den Formen und Grenzen von Nationalstaaten. Für die Soziologie, die sich als Wissenschaft dieser neuen Ära verstand, war Integration von Anfang an ein wesentliches Thema. Marx und die ihm folgenden marxistischen Theoretiker lehnten hingegen den bürgerlichen Konservatismus der Soziologen ab und scherten sich um Fragen der Integration und Inklusion aus guten Gründen nicht – wollten sie doch die kapitalistischen Verhältnisse, in denen „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[5], aus den Angeln heben. www.gegenblende.de Seite 6 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 In einer kritischen, sozialistischen Perspektive wird das Problem der Inklusion in kapitalistischen Gesellschaften erst rund sechzig Jahre nach Marx aufgeworfen. Als Karl Polanyi 1944 sein epochales Werk „The Great Transformation“[6] veröffentlichte, herrschte in Deutschland noch der Nationalsozialismus und trieb der Zweite Weltkrieg auf die Entscheidung zu. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte 1929 und die folgende wirtschaftliche Depression waren nicht in revolutionäre Aufstände gemündet, sondern in autoritäre und faschistische Bewegungen. Polanyi heute zu lesen, ist nach der tiefen Finanzmarktkrise von 2008 und ihren Folgen von beklemmender Aktualität. Er zeigt im historischen Rückblick in aller theoretischen Schärfe auf, dass eine Gesellschaft, die Arbeit, Land und Geld als Waren wie alle anderen behandelt, die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zerstören muss. Massenelend, Ausplünderung und Erschöpfung natürlicher Lebensgrundlagen, periodische Zusammenbrüche von Handel und Unternehmen wären die Folgen. Im historischen Kontext von Faschismus und Weltkrieg, mit dem sich Polanyi auseinanderzusetzen hatte, tritt ein Widerspruch zutage, den Marx in dieser Weise nicht im Blick hatte. Entwickelte, das heißt, kapitalistische Marktwirtschaften setzen voraus, dass Arbeit, Land und Geld zu Waren werden, zugleich aber durch gesellschaftliche Regelungen auch wieder dem Markt entzogen, vor ihm geschützt werden. Ohne „Selbstschutz der Gesellschaft“[7] vor den Märkten (und der auf Märkten notwendigerweise sich bildenden Marktmacht) sind auch kapitalistische Gesellschaften nicht überlebensfähig. Polanyi spricht vom „Selbstschutz der Gesellschaft“, nicht von „Inklusion“. Wenn er aber beschreibt, wie eine vor dem Markt ungeschützte Gesellschaft aussehen müsste, schildert er soziale Ausgrenzungen in ihren drastischsten Formen: „Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt oder auch nur des Umfangs und der Anwendung der Kaufkraft, zuließe, dann würde das zur Zerstörung der Gesellschaft führen. Die angebliche Ware ‚Arbeitskraft‘ kann nicht herumgeschoben, unterschiedslos eingesetzt oder auch nur ungenutzt gelassen werden, ohne damit den Einzelnen, den Träger dieser spezifischen Ware, zu beeinträchtigen. Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychische und moralische Ganzheit ‚Mensch‘ verfügen, der mit dem Etikett ‚Arbeitskraft‘ versehen ist. Menschen, die man auf diese Weise des Schutzmantels der kulturspezifischen Institutionen beraubte, würden an den Folgen gesellschaftlichen Ausgesetztseins zugrunde gehen…“[8]. „Gesellschaftliches Ausgesetztsein“ – in nichts anderem besteht der Kern von Exklusion. Worin aber besteht der „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen“? Ob kapitalistische Gesellschaften den ihnen immanenten Widerspruch, Arbeit, Geld und www.gegenblende.de Seite 7 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Land zur Ware machen, deren Gebrauch als Waren aber sogleich wieder einschränken zu müssen, überhaupt bewältigen können, ist eine historisch offene Frage. Erst recht gibt es keinerlei Gewissheit dafür, dass die institutionellen Formen, in denen der Widerspruch angegangen werden mag, demokratische Institutionen sein müssen. Polanyi hatte den Faschismus und den Nationalsozialismus als Antworten seiner Zeit auf den Marktliberalismus vor Augen. Wer könnte ausschließen, dass heute, wo Demokratien längst in ihrer sozialen Substanz ausgehöhlt sind[9], Auswege aus den Krisen wieder in offen autoritären, gar faschistischen Regimen und mit Kriegen um knappe Ressourcen gesucht werden? In jedem Fall werden die „Schutzmäntel kulturspezifischer Institutionen“ in ihren unterschiedlichen Gestalten immer nur in historischen Auseinandersetzungen fabriziert - löchrig sind sie in der Regel. In kapitalistischen Gesellschaften geht es dabei immer um die Frage, wie weit Märkte und Marktmacht über die Verteilung und Nutzung der Arbeitskraft, über die Bedingungen der Arbeit und die Verteilung ihrer Ergebnisse entscheiden. Matthäuseffekt der Inklusion und Teufelskreis der Exklusion im gegenwärtigen Kapitalismus Auf der Grundlage der bisher angestellten Überlegungen lassen sich nun die eingangs gestellten Fragen angehen, die die Mehrdimensionalität von Inklusion und Exklusion betreffen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich in dem Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg in den Nord- und kontinentaleuropäischen Ländern institutionelle Arrangements herausgebildet haben, die in einem historisch bis dahin unbekannten Maße, wenn auch in unterschiedlichen Formen, eine Inklusion der Lohnabhängigen in die jeweiligen kapitalistischen Gesellschaften bewirkten. Diese Arrangements werden seit den 1980er Jahren wieder brüchig und von institutionellen Veränderungen abgelöst, die Exklusionsprozesse anstoßen und in Gang halten.[10] Dies führt zunächst zu der Frage, wie die Gesellschaften das Inklusionsproblem – wenn auch nur vorübergehend und noch immer unvollkommen – entschärft haben. Ungeachtet der nationalen Unterschiede waren in der Regel alle drei wesentlichen Inklusionsdimensionen im Spiel: Arbeit, die Umverteilung der Produkte der Arbeit und soziale Beziehungen. Inklusion wurde vorangetrieben: 1. durch eine relative Vollbeschäftigung, das heißt zunächst die Vollbeschäftigung der männlichen Lohnabhängigen. Der Arbeitsmarkt gewährleistete eine Inklusion in die gesellschaftlich anerkannte Arbeitsteilung, somit in einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status. www.gegenblende.de Seite 8 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 2. durch die Ausweitung des Bürgerstatus von persönlichen und politischen Rechten auf soziale Rechte. Soziale Rechte zielten auf die Gewährleistung eines kulturell angemessenen Mindeststandards an materieller Wohlfahrt und sozialer Absicherung, somit gesellschaftlicher Teilhabe. Soziale Rechte wirkten in Richtung einer „Dekommodifizierung“, einer Lockerung der Marktabhängigkeit. 3. trug die Inklusion durch die Ausweitung sozialer Rechte und einen expandierenden Arbeitsmarkt dazu bei, dass auf der Ebene sozialer Beziehungen individuelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume erweitert wurden. Die ökonomischen Abhängigkeiten vom Familienverband wurden weiter gelockert, soziale Kontrollen und Verpflichtungen in diesem Zusammenhang ebenfalls. Diese sehr schematische Skizze lässt all die wichtigen nationalen Differenzierungen bewusst außer Betracht, die in der breiten Literatur über unterschiedliche Typen von Wohlfahrtsstaaten behandelt werden. Sie setzt sich darüber hinaus selbstverständlich dem Vorwurf aus, die Kehrseiten des Inklusionsschubs nach dem Zweiten Weltkrieg zu vernachlässigen – die Rigidität der Arbeitsverhältnisse in den Unternehmen der „fordistischen“ Massenproduktion zum Beispiel; die in die Sozialgesetzgebung eingeschriebenen sozialen Ungleichheiten der Geschlechter; die Begrenzung der Reichweite von (weniger sozialen als politischen) Rechten auf Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern; die fortbestehenden Klassenverhältnisse und die vielfach autoritären Strukturen der politischen Systeme. Die Einwände sind sehr berechtigt. Der springende Punkt ist hier aber, was die verschiedenen Dimensionen der Inklusion voneinander unterscheidet und was sie gleichwohl verbindet. Alle drei Instanzen leisten Unterschiedliches. Soziale Rechte vermitteln gesellschaftliche Teilhabe durch Umverteilungen, die Marktversagen – etwa im Bereich sozialer Dienstleistungen – kompensieren. Erwerbsarbeit vermittelt Zugehörigkeit durch Einbindung in die gesellschaftlich anerkannte Arbeitsteilung. Soziale Nahbeziehungen vermitteln gesellschaftliche Zugehörigkeit durch Einbindung in Verhältnisse persönlicher Reziprozität und Solidarität. Alle drei Instanzen folgen unterschiedlichen Zuteilungslogiken. Soziale Rechte sind an einen Bürgerstatus geknüpft, Erwerbsarbeit ist abhängig vom Arbeitsmarkt, soziale Nahbeziehungen sind an Gelegenheiten und Vorlieben gebunden. Gleichwohl sind alle drei Instanzen trotz ihrer Eigenständigkeit miteinander verzahnt, stehen sie im Verhältnis einer nur relativen Eigenständigkeit zueinander. Dies zeigt sich im Matthäuseffekt der Inklusion und im Teufelskreis der Exklusion. Wie empirische Studien[11], die sich mit der Mehrdimensionalität von Inklusion und Exklusion beschäftigen, zeigen, wirken im Inklusionsbereich über die Dimensionen hinweg positive Verstärkereffekte. Wer stabil in das Erwerbsleben eingebunden ist, www.gegenblende.de Seite 9 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 genießt arbeitsrechtlichen Schutz, kann in breitem Umfang die durch soziale Rechte vermittelten Leistungen und Sicherheiten wahrnehmen und bewegt sich in Bekanntenkreisen, die ähnlich gut mit Ressourcen ausgestattet sind: Wer hat, dem wird gegeben. Im Gegensatz dazu gestaltet sich der Teufelskreis der Exklusion folgendermaßen: Wem etwas fehlt, dem wird noch mehr genommen. Brüchige oder gar abgebrochene Erwerbsverläufe gehen häufig einher mit steigendem Armutsrisiko, verengtem Zugang zu sozialen Dienstleistungen, der Ausbreitung von materieller Unsicherheit über die Biographie hinweg, dem sozialen Rückzug vieler Nahbeziehungen. Dies ist die Regel, von Abweichungen soll noch die Rede sein.[12] Teufelskreise der Exklusion entwickeln sich über die Zeit. Die relative Eigenständigkeit jeder Dimension kann dazu beitragen, dass die Ausgrenzungsbedrohung in einer Dimension durch Unterstützung in einer anderen zunächst kompensiert wird. Intakte Partnerschaften etwa wirken als stabilisierendes Gegengewicht während einer Arbeitslosigkeit. Arbeitslosenversicherungen schützen in den meisten Ländern zunächst vor Armut. Mit der Zeit aber erschöpfen sich die kompensierenden Ressourcen. Teufelskreise der Exklusion können sich im Raum verschärfen. Eine deutsche Studie hat gezeigt, dass die räumliche Konzentration von Armen und Arbeitslosen in bestimmten Straßen den Bezug von Sozialhilfeleistungen verlängert[13]. Entscheidend aber ist die Art der institutionellen Verbindung zwischen den verschiedenen Dimensionen der Inklusion. Sie zu identifizieren ist die Voraussetzung für politische Interventionen, die dazu beitragen können, dass Teufelskreise der Exklusion unterbrochen werden oder gar nicht erst anlaufen. Und damit komme ich zurück zum Problem der Inklusion in funktional mehrdimensionalen kapitalistischen Gesellschaften. Wie lässt sich erklären, dass die zentralen Dimensionen der Inklusion, die alle unterschiedlichen „Funktionssystemen“ angehören und die alle einer eigenen Logik folgen, dennoch ineinandergreifen und Matthäuseffekte der Inklusion oder auch Teufelskreise der Exklusion erzeugen? Christoph Deutschmann und Uwe Schimank haben in jüngerer Zeit Überlegungen vorgestellt, die uns eine Antwort näher bringen können.[14] Beide greifen den Gedanken des Primats der Ökonomie von Marx auf. Sie wollen wissen, wie sich dieses Primat gegenüber den anderen „Funktionssystemen“ bemerkbar macht. Das entscheidende Bindeglied sehen sie im Geld. Geld vermittelt die Abhängigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme von der Ökonomie. Über das Geld werden ökonomische Zwänge auf die anderen Bereiche übertragen. Schimank charakterisiert das Geld als Medium der „Systemintegration“ und „Sozialintegration“, www.gegenblende.de Seite 10 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Deutschmann als „universales Inklusionsmedium moderner Gesellschaften“. Von Geld hängen ihm zufolge die Möglichkeiten der Teilhabe an den Leistungen der unterschiedlichen Funktionssysteme ab. In Bezug auf das Problem von Inklusion und Exklusion greift allerdings die Rede vom Geld als „Inklusionsmedium“ zu kurz. Denn sie blendet weitgehend aus, was Marx und Polanyi ins Zentrum der Analyse gerückt hatten: die gesellschaftliche Formbestimmung des Geldes als Kapital und die beherrschende Rolle, die dieses auf der Grundlage der Lohnarbeit in der „Moderne“ ausübt. Deutschmann weist selbst darauf hin, dass die Ausbreitung des Geldes zum generalisierten „Inklusionsmedium“ historisch von der Durchsetzung und Verallgemeinerung der Lohnarbeit abhing. Erst indem „das menschliche Arbeitsvermögen dem direkten Zugriff des Geldes geöffnet wurde“, schreibt er, sei „dieses selbst damit in einer nie gekannten Weise aufgewertet“ worden[15]. Während Deutschmann das Lohnarbeitsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch an prominenter Stelle in seine Argumentation einführt, handelt Schimank die „marktförmige Nutzung der menschlichen Arbeitskraft“ lediglich in einer Fußnote ab.[16] Dies hat für seine Kapitalismuskritik weitreichende Konsequenzen. Sie reduziert sich auf das Problem der „intrasystemischen Instabilität der Wirtschaft“[17], ein Problem der „systemischen“ Steuerung über Märkte und Geld also. Dagegen gerät das in der „marktförmigen Nutzung der menschlichen Arbeitskraft“ enthaltene gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis aus dem Blick, in dem Polanyi die Destruktionskraft der Exklusion erkannte. Wenn aber die Lohnarbeit den Ursprung und Kern der „Aufwertung des Geldes“ bildet, muss auf die Lohnarbeit auch wieder das Augenmerk gerichtet werden, wenn es um den gesellschaftlichen Kern von Inklusion und Exklusion geht. Dies will ich abschließend zeigen. Im Zentrum der Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Inklusion – soziale Rechte, Arbeitsmarkt und Arbeitsteilung, soziale Nahbeziehungen – steht in kapitalistischen Gesellschaften die Ausgestaltung der Lohnarbeitsverhältnisse. Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis des Matthäuseffekts der Inklusion und des Teufelskreises der Exklusion. Die Komplementarität von Institutionen und der Selbstschutz der Gesellschaft Polanyi hatte auf einen zentralen Widerspruch kapitalistischer Gesellschaften hingewiesen: sie müssen die Arbeitskraft als Ware behandeln und sollen sie zugleich vor Marktabhängigkeit schützen. Dieser Widerspruch zeigt sich sowohl innerhalb der Dimensionen der Inklusion als auch in den institutionalisierten Verknüpfungen zwischen ihnen. www.gegenblende.de Seite 11 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 In Gesellschaften, die die Verteilung der Arbeit im Wesentlichen über Märkte organisieren, bedeutet der Zugang zu Erwerbsarbeit eine wichtige Voraussetzung von Inklusion. Diese stößt aber auf das Hindernis der ungleich verteilten Marktmacht zwischen Kapital und Arbeit und überhaupt zwischen denjenigen, die Arbeitsplätze zu vergeben haben und denen, die sie brauchen. Darüber hinaus stellt selbst die Einbindung in ein Lohnarbeitsverhältnis nicht sicher, dass das erzielte Einkommen einen kulturell angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Wohlfahrtsstaaten wiederum können umverteilen und damit Lebenschancen sichern helfen. Sie sind dafür jedoch auf Erträge aus Arbeits-und Kapitaleinkommen angewiesen, können aber kein soziales Recht auf Arbeit gewährleisten. Soziale Nahbeziehungen schließlich bedürfen, um tragfähig zu sein, materieller Ressourcen von Markt und Staat. An all den genannten kritischen Punkten kann Inklusion brüchig werden und können Exklusionsrisiken entstehen. Es hängt aber von den institutionalisierten Verknüpfungen zwischen den Dimensionen ab, ob die Risiken von einer zur anderen „überspringen“ und sich dadurch verschärfen, oder ob und wie lange sie durch Kompensationen aufgefangen werden. Diese Verknüpfungen unterscheiden sich in den einzelnen europäischen Ländern, wenn auch auf typische Weise. Matthäuseffekte der Inklusion zeigen sich vor allem in den Ländern, die sozialstaatliche Leistungen unmittelbar mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbinden. Wer sich hier in stabilen Beschäftigungsverhältnissen bewegt, die arbeitsrechtlich abgesichert sind, ist zusätzlich durch Sozialversicherungen geschützt, die aus den Beiträgen der Erwerbsarbeit finanziert werden. Insider des Erwerbssystems erfahren auf diese Weise eine doppelte Absicherung gegen Exklusionsrisiken. Die Institutionen des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherung ergänzen einander hier im Sinne einer Effizienzsteigerung. Gerade diese Form der Komplementarität hat aber ihre ausgrenzende Kehrseite. Sie setzt diejenigen, die in arbeitsrechtlich nicht gesicherten Arbeitsverhältnissen stehen oder gar zu den Außenseitern des Beschäftigungssystems gehören, umso stärker der Gefahr aus, in den Teufelskreis der Exklusion zu geraten. Brüchige Erwerbsbiographien ziehen reduzierte Ansprüche an die Sozialversicherungen nach sich, verschärfen somit die Marktabhängigkeit und das Risiko der Verarmung und belasten die sozialen Beziehungen. Deutschland ist ein charakteristischer Fall dieses Typs komplementärer Institutionen an der Nahtstelle von Sozialstaat und Lohnarbeitsverhältnis. Es weist im europäischen Vergleich besonders hohe Exklusionsrisiken bei Arbeitslosigkeit auf.[18] Matthäuseffekte der Inklusion und Teufelskreise der Exklusion entspringen hier ein und derselben institutionellen Verknüpfung und treiben die Lebensverhältnisse in der Gesellschaft weiter auseinander. In Deutschland ist das www.gegenblende.de Seite 12 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Lohnarbeitsverhältnis zudem in besonderer Weise mit dem Geschlechterverhältnis und den Haushaltsformen verbunden. Die vom Sozialstaat gestützte Abhängigkeit der Partnerinnen vom erwerbstätigen Partner erhöht die Ausgrenzungsrisiken für Frauen erheblich, wenn die Partnerschaft scheitert oder im Fall „unkonventioneller“ Haushaltsformen (bei Alleinerziehenden, in der Regel alleinerziehenden Müttern). Inklusion ist im Gegensatz zur Komplementarität der Effizienzsteigerung auf die Lockerung der Verbindungen zwischen Lohnarbeitsverhältnis und sozialstaatlichen Leistungen angewiesen. Oder allgemeiner formuliert: Die „Interdependenzunterbrechung“ zwischen den einzelnen „Funktionssystemen“, von der Luhmann glaubte, sie sei in „funktional differenzierten Gesellschaften“ bereits realisiert und würde Exklusionsprozesse verhindern, müssten in den kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart erst durchgesetzt, die Komplementarität der Institutionen, die Teufelskreise erzeugt, müsste erst durchbrochen werden, um die Gesellschaft vor den Märkten zu schützen. Eine bestimmte Form jener Lockerung findet sich noch immer in den skandinavischen Ländern. Sozialstaatliche Leistungen werden dort in stärkerem Maße durch Steuern finanziert und damit auf eine breitere Basis gestellt als in den Ländern mit Leistungssystemen, die durch Beiträge direkt an das Lohnarbeitsverhältnis gebunden sind. Dadurch erweitern sich die Möglichkeiten einer Inklusionspolitik, die den Arbeitsmarkt korrigiert. Dazu gehören eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik; hohe Lohnersatzleistungen gerade für diejenigen Arbeitslosen, die ihrer besonders bedürfen; eine Grundsicherung im Alter unabhängig von Erwerbsarbeit, die dazu beiträgt, einen kulturell angemessenen Lebensstandard über den Lebensverlauf zu gewährleisten. Solche institutionalisierten Politiken können Teufelskreise der Exklusion unterbrechen oder gar unterbinden. Deshalb lässt sich diese Form institutioneller Komplementarität als kompensatorische kennzeichnen. Der von Polanyi aufgezeigte Widerspruch ist aber auch damit nicht gelöst, sondern nur verschoben. Die breite Steuerbasis, auf der der relative starke Schutz vor Marktabhängigkeit in diesen Ländern beruht, ist auf eine hohe Erwerbsbeteiligung, somit eine Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses, somit eine Verallgemeinerung der Marktabhängigkeit angewiesen, die sie zugleich abmildern soll. Auch dieser Konflikt kann abgeschwächt werden durch den Ausbau eines öffentlichen Sektors, der gesellschaftlich notwendige Güter und Leistungen bereitstellt, ohne sich dem Diktat der Kapitalakkumulation zu unterwerfen. Schwindet allerdings die ökonomische Voraussetzung, der von den Unternehmen im privaten Sektor anvisierte Profit, oder die politische Voraussetzung, der Konsens über die Umverteilung, gerät auch dieser Ausgleichsmechanismus ins Stocken. Einschränkungen im Niveau und den Bedingungen sozialstaatlicher Leistungen in www.gegenblende.de Seite 13 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Schweden und Dänemark während des letzten Jahrzehnts weisen darauf hin, dass dies der Fall ist.[19] Der „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen“ weist mittlerweile in allen Ländern Europas immer größere Löcher auf. Durch sie hindurch zeigt sich offensichtlicher als je zuvor in den Zeiten der sozialstaatlichen Klassenkompromisse nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Herrschaft des Prinzips der Kapitalakkumulation über die Schicksale der Gesellschaften nicht gebrochen wurde. Die Rede von der Alternativlosigkeit der Bankenrettung, mit der die Regierungen Europas vor der Herrschaft der Finanzmärkte in die Knie gingen; die durch sie gerechtfertigte Umwandlung der Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise, die den Lohnabhängigen den Schutzmantel immer weiter zu entziehen droht, sprechen eine unmissverständliche Sprache der Macht.[20] Neu ist, dass sie keinerlei Verbrämung mehr zu bedürfen scheint. Wer würde es wagen, ohne sich völliger Lächerlichkeit preiszugeben, die Bankenrettung als Rettung der Freiheit zu deklarieren? Oder als Ausdruck des Fortschritts? Selten wurden die Zumutungen des Kapitalismus den Menschen so illusionslos und pragmatisch auferlegt. Dabei steigt in den europäischen Ländern auch innerhalb der Zonen der Inklusion stetig der Preis, den die Lohnabhängigen entrichten müssen, um Sicherheiten zu bewahren – in Gestalt von Arbeitsverdichtungen, fremdbestimmter Mobilitätsbereitschaft, Einkommenseinbußen. Gleichzeitig breiten sich die Zonen prekärer Arbeitsverhältnisse und mit ihnen prekärer Lebensverhältnisse aus. Gegenwehr wird blockiert durch die neuen Spaltungslinien entlang der Abstufungen von Inklusion und Exklusion innerhalb der europäischen Länder und zwischen diesen. Auch die „Wohlstandskonflikte“[21] haben in dieser neuartigen Gemengelage von Klassen- und Teilhabeungleichheiten ihren Ursprung.[22] Für Polanyi war es offenkundig, dass der Selbstschutz der Gesellschaft es erfordert, Arbeit, Land und Geld der Herrschaft der Märkte zu entziehen.[23] Auf dieser Grundlage wäre eine institutionelle Komplementarität denkbar, die sich grundlegend von den zuvor genannten Formen unterscheidet. Es wäre eine Komplementarität, die die jeweils eigenständige Bedeutung aller drei Inklusionsdimensionen für die Individuen anerkennen würde – die über Bürgerrechte vermittelte Teilhabe, den über die Arbeit vermittelten Status, die über soziale Nahbeziehungen vermittelte persönliche Reziprozität. Im Unterschied zur Komplementarität der Effizienzsteigerung und zur Komplementarität der Kompensation wäre es die Komplementarität einander im Ziel der Inklusion entsprechender Institutionen. Sie wäre die Voraussetzung dafür, dass die Individuen gemeinsam über ihr Leben und die Entwicklung der Gesellschaft entscheiden könnten. Eine solche institutionelle Verknüpfung ist derzeit nicht in Sicht. Alle Anzeichen weisen indessen in die entgegen gesetzte Richtung. Überall in Europa, wenn auch in www.gegenblende.de Seite 14 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 unterschiedlicher Intensität, wird die Marktabhängigkeit der Arbeit verstärkt und werden soziale Rechte immer enger an die Bedingung, Lohnarbeit zu leisten, geknüpft.[24] Solange dies geschieht, wird Inklusion mehr und mehr zum zweifelhaften Privileg und werden die Teufelskreise der Exklusion zunehmen. Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Artikels aus der Zeitschrift Mittelweg 36, April/Mai 2014. Literatur/Quellen: Amable, Bruno 2003. The diversity of modern capitalism. Oxford, New York: Oxford University Press. Begg, Ian; Muffels, Ruud J.A.; Tsagloglou, Panos 2002. “Conclusions: social exclusion at the crossroads of EU employment and inclusion policies”, in: Social exclusion in European welfare states, hrsg. v. Muffels, Ruud J. A.; Tsakloglou, Panos; Myes, David G., S. 308-339. Cheltenham, Northampton: Edward Elgar. 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Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp. www.gegenblende.de Seite 15 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Flecker, Jörg 2007. „Interne Flexibilisierung – von der Humanisierungsvermutung zum Risikobefund“, in: Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, 2. Auflage, hrsg. v. Kronauer, Martin; Linne, Gudrun, S. 73-93. Berlin: Edition Sigma. Gallie, Duncan; Paugam, Serge (Hrsg.) 2000a. Welfare regimes and the experience of unemployment in Europe. Oxford, New York: Oxford University Press. Gallie, Duncan; Paugam, Serge 2000b. “The social regulation of unemployment”, in: Welfare regimes and the experience of unemployment in Europe, hrsg. V. Gallie, Duncan; Paugam, Serge, S. 351-374. Oxford, New York: Oxford University Press. Groh-Samberg, Olaf 2009. Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hall, Peter A.; Soskice, David (Hrsg.) 2001. 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McCann, Dermot 2010: The political economy of the European Union. Cambridge, UK, Malden, USA: Polity Press. www.gegenblende.de Seite 16 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Merton, Robert K. [1968] 2010. „Der Matthäus-Effekt in der „Wissenschaft“, in: Sternstunden der Soziologie, hrsg. v. Neckel, Sighard; Mijić, Ana; von Scheve, Christian; Titton, Monica, S. 453-477. Frankfurt am Main, New York: Campus. Muffels, Ruud J. A.; Tsakloglou, Panos; Myes, David G. (Hrsg.) 2002. Social exclusion in European welfare states. Cheltenham, Northampton: Edward Elgar. Obinger, Herbert 2012. „Die Finanzkrise und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates”, in: Leviathan, 40, 3, S. 441-460. Paugam, Serge 2008. Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger Edition. Polanyi, Karl [1944] 1995. The Great Transformation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Schimank, Uwe 2009. „Die Moderne: eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie, 19, 3, S. 327-351. Streeck, Wolfgang 2011: Die Krisen des demokratischen Kapitalismus, in: Lettre International, 95, S. 7-13. Vogel, Berthold 2009. Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. Hamburg: Hamburger Edition. [1] Für wichtige Hinweise zum Text danke ich Hassan Givsan, Ulf Kadritzke, Ilse Schütte-Kronauer, Sigrid Betzelt und Stephan Lessenich. [2] Ausführlich hierzu Kronauer 2010. [3] Den „Matthäuseffekt“ hat Robert K. Merton in die Soziologie eingeführt und sich dabei auf das akademische Zitierwesen bezogen (Merton [1968] 2010). Im Folgenden greife ich den Gedanken „wer hat, dem wird gegeben“ auf, ich werde allerdings zeigen, dass er nur mit einer wesentlichen Einschränkung auf das Problem von Inklusion und Exklusion übertragen werden kann. [4] Vgl. Luhmann 1995, S. 149f; Luhmann 1997, S. 768f; kritisch hierzu Kronauer 2010, S. 127f. www.gegenblende.de Seite 17 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 [5] Marx [1844] 1970, S. 385. [6] Polanyi [1944] 1995 [7] Polanyi [1944] 1995, S. 182 [8] Ebenda, S. 108 [9] Dazu unter anderen Crouch 2008. [10] Siehe dazu Kronauer 2010, S. 93-117, 254-260. [11] Gallie/Paugam 2000; Muffels et al. 2002; Paugam 2008. [12] Zur Begriffsbestimmung und den Formen der Exklusion, insbesondere den Gleichzeitigkeiten des „Drinnen“ und „Draußen“ der Ausgrenzungen in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Kronauer 2010. [13] Farwick 2004. [14] Deutschmann 2009; Schimank 2009. Ausführlicher dazu Kronauer 2010, S. 241246. [15] Deutschmann 2009, S. 232. [16] Schimank 2009, S. 339 [17] Ebenda, S.338 [18] Die Verbindungen zwischen Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Isolation waren während der 1990er Jahre in Deutschland, Frankreich und im Vereinigten Königreich besonders stark ausgeprägt (Gallie/Paugam 2000b, S. 370). Deutschland und Frankreich gelten als Länder des „employment centered“ Wohlfahrtsstaatstyps, das Vereinigte Königreich als (im Hinblick auf Arbeitsmarkt und soziale Absicherung) „liberaler“ Wohlfahrtsstaat mit geringen Absicherungen gegen Marktabhängigkeit. Auf die in diesen Ländern besonders hohen Ausgrenzungsrisiken im Fall von Arbeitslosigkeit weisen auch Begg/Muffels/Tsakloglou 2002, S. 325 f. hin. [19] Vgl. für Dänemark Jørgensen 2009. www.gegenblende.de Seite 18 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 [20] „In der Zeit zwischen Oktober 2008 und Oktober 2011 hat die Europäische Kommission 4,5 Billionen (das sind 37 % des europäischen Bruttosozialprodukts und mehr als das sechsfache das Stammkapitals des ESM) in Staatshilfen für Finanzinstitutionen genehmigt. Bankenrettungen – die volkswirtschaftlich kostenträchtigen Externalitäten eines schlecht geregelten Bankensektors – sind eine wesentliche Ursache für die wachsende Verschuldung der Mehrheit hilfsbedürftiger Staaten in der Eurozone“ (Kumm 2012, S. 10). [21] Vogel 2009 [22] Ausgrenzungsrisiken sind sozialstrukturell ungleich verteilt, fallen gleichwohl nicht mit der Klassenlage zusammen. Angehörige der Mittelklassen sind noch immer weitgehend von Ausgrenzung verschont, nicht aber von begründeten Abstiegsängsten. Für viele Berufseinsteiger aus diesen Klassen ist der Übergang in berufliche Etablierung und die „Zone der Integration“ (Castel 2000, S. 13) schwieriger geworden. Auch ein tarifvertraglich abgesicherter Arbeiter in Vollzeitbeschäftigung bei der Automobilindustrie wird, nach seinen Teilhabemöglichkeiten, der „Zone der Integration“ angehören, im Unterschied zu dem in nächster Nähe mit denselben Arbeiten befassten Zeitarbeiter, dessen Arbeits- und Lebensverhältnisse prekär bleiben. Ausgrenzungsrisiken wiederum konzentrieren sich bei Angehörigen der Arbeiterschaft (Groh-Samberg 2009; Kronauer 2010, S. 257-260). [23] Polanyi [1944] 1995, S. 332 f. Hier führt er weiter aus, warum das Ende der Herrschaft der Märkte über Arbeit, Land und Geld, somit das Ende der „Marktgesellschaft“, nicht gleichbedeutend sein muss mit dem Ende aller anderen Märkte. [24] Vgl. hierzu Betzelt/Bothfeld 2011. Zu den Gründen und insbesondere dem Einfluss der europäischen Institutionen liegt mittlerweile eine Fülle von Literatur vor. Einen guten Überblick liefert McCann 2010. Autor: Prof. (em.) Dr. Martin Kronauer, Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin www.gegenblende.de Seite 19 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Stop talking – act now! von Terry Reintke, Martina Hartung Von Chancen und Enttäuschungen europäischer Arbeitsmarktpolitik für junge Menschen Nie hat Europa eine besser ausgebildete und besser vernetzte junge Generation gesehen als heute. Nie gab es mehr Chancen, jungen Menschen bei ihrem Einstieg ins Arbeitsleben die europäische Perspektive aufzuzeigen. Nie gab es ein größeres Potential von grenzüberschreitender Mobilität, die Europa einigt. Dennoch: In Griechenland sind mehr als 50% der Jugendlichen arbeitslos, in Deutschland arbeitet jeder dritte junge Mensch im Niedriglohnsektor, in Spanien leben in einigen Regionen mehr als 80% der Unter-30-Jährigen noch oder wieder bei ihren Eltern. Die traurige Rekordmarke von 50 % hatte Griechenland schon im November 2011 geknackt und 34 Monate später ist noch immer keine Veränderung für die Jugendlichen in Sicht. Seit dem Beschluss zu einer Jugendgarantie der Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union im November 2013 ist es verhältnismäßig ruhig geworden um die Debatte über Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Die europäische Wirtschaftskrise ist noch allgegenwärtig und die Erfahrungen beweisen immer wieder: Junge Menschen sind die ersten, die den Job verlieren und die Letzten, die einen Job finden. Sie konkurrieren mit Millionen anderen Jobsuchenden auf dem Arbeitsmarkt. Auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz befinden sie sich in einer besonders schwierigen Verhandlungsposition gegenüber den Unternehmen und so werden viele in Leiharbeit, Praktika oder völlig unterbezahlte Arbeitsverhältnisse gedrängt. Junge Menschen sehen sich mehr und mehr gezwungen „unter Wert“ zu verkaufen, um erstmal Berufserfahrung zu sammeln. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat im letzten Jahr bestätigt, dass Jugendliche bis um das Vierfache stärker von der Wirtschaftskrise betroffen sind als Erwachsene. Dabei fällt der Blick nicht nur auf die südlichen Krisenstaaten wie Spanien, Griechenland oder Italien, sondern ebenso auf die baltischen Länder. Auch in Kroatien ist die Jugendarbeitslosenquote ungebrochen hoch und liegt bei 42% (Quelle: Eurostat, Stand: Mai 2014). Die politisch forcierte Deregulierung der Arbeit brachte kurzfristig Aufwind für die Beschäftigungssituation von jungen Menschen, erweist sich aber im konjunkturellen Abschwung als Bumerang. www.gegenblende.de Seite 20 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Prekarisiert bis in die Fingerspitzen „In der einen Hälfte der Mitgliedsstaaten haben wir keinen Job und wohnen wieder bei unseren Eltern. In der andern Hälfte brauchen wir drei Jobs oder staatliche Hilfe, um unsere Wohnungen bezahlen zu können.“ Rosige Zeiten für junge Menschen in Europa? Pustekuchen. Junge Menschen, obwohl sie wohl am wenigsten zur Entstehung der Krise beigetragen haben, sind am stärksten von ihr betroffen. Ihre jahrelange Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung wird sich langfristig negativ auf ihr weiteres Leben auswirken. Die sogenannte NEET-Generation, meint „not in employment, education or training“, wächst stetig an auf inzwischen mehr als 7,5 Millionen Betroffene. Sie haben wenig Perspektiven und fragen deshalb zurecht: Was macht die Europäische Union eigentlich für uns? Deshalb gehen sie auf die Straße, fordern Gerechtigkeit und Respekt. Und vor allem fordern sie Beschäftigungsperspektiven. Unkreativ sind sie dabei nicht. In Griechenland beobachten wir derzeit eine wahre Blütezeit von kleinen Startups im Bereich von solidarischer Ökonomie, die in den meisten Fällen von jungen Menschen initiiert wurden. Der Weg in die Selbstständigkeit ist eine verzweifelte Reaktion auf die Ohnmacht der Regierungen, die nach wie vor keine wirkungsvollen Lösungen für die jungen Menschen haben. Anstatt Jugendarbeitslosigkeit als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, verlagern sie das Problem auf das Individuum und fordern jugendliche Arbeitslose regelrecht dazu auf, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Und was soll die EU jetzt machen? „Ich habe drei Master und fünf Praktika gemacht. Ich will endlich arbeiten und Geld verdienen!“ Die EU muss diese Ohnmacht überwinden. Mit der europäischen Jugendgarantie hat sie einen ersten Schritt getan, jungen Menschen wieder Perspektiven zu eröffnen. Die „Garantie“ soll Jugendlichen nach viermonatiger Arbeitslosigkeit die Möglichkeit auf einen Ausbildungsplatz, eine Weiterbildung, ein Praktikum oder einen Job geben. Die Finanzierung ist derzeit allerdings fraglich. Die 8 Milliarden Euro, die aus dem EU Budget zur Verfügung gestellt werden, reichen nach ExpertInnenschätzungen keinesfalls, um das Problem wirklich erfolgreich zu bekämpfen. Aufgrund der beträchtlichen Zahlen von jungen Menschen ohne Erwerbsarbeit – vor allem in Südeuropa – werden von der ILO mindestens 21 Milliarden Euro gefordert, um die Jugendgarantie erfolgreich umzusetzen. Zudem steht die Altersgrenze in der Kritik. Viele junge Menschen brauchen eine Förderung auch über das 25te Lebensjahr hinaus. Viele Studierende würden beispielsweise von den Beschäftigungsmaßnahmen aufgrund ihres Alters ausgeschlossen werden, stehen aber genauso vor der Herausforderung ihren Weg ins Berufsleben zu finden. Außerdem sind auch Praktika www.gegenblende.de Seite 21 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Teil der Vereinbarungen, von denen viele junge Arbeitslose aber bereits unzählige absolviert haben. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre genau die Strukturen geschwächt wurden, die jungen Menschen bei den Übergängen zwischen Studium/Schule und Beruf unter die Arme greifen sollen. Die Jugendbehörden und öffentlichen Verwaltungen wurden massiv rationalisiert und tausende Berufsberater sind entlassen. Jungen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt unerfahren sind, müssen aber die Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie sie den Einstieg finden. Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten müssen aktiv angeboten werden und es muss Beschäftigungsanreize geben, Schulabschlüsse nachzuholen. Die Politik verlangt von den jungen Menschen mehr Flexibilität und Mobilität. Wenn es um Bewegungsfreiheit geht, ist vor allem die EU in der Pflicht. Die Mobilität muss aber eine Chance und kein Zwang sein. Denn die Perspektiven mobiler Jugendlicher werden von der sogenannten Portabilität sozialer Rechte - der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit – eingeschränkt, denn das bedeutet auch für junge Menschen eine mögliche „Prekarisierungs- und Existenzfalle“. Die Praxis zeigt leider, dass entsandte Beschäftigte in besonderem Maße von Lohn- und Sozialdumping betroffen sind. Was aber, wenn es keine wirklich Alternative für junge Menschen gibt und sie ins Ausland gehen müssen? Es wird Geld in die Hand genommen, um gleich ganz auszuwandern. Die Investitionen erhöhen den Druck enorm, denn man muss nun im anderen Land kurzfristig erfolgreich bei der Jobsuche sein, was wiederum das Risiko der Ausbeutung verstärkt. Denn ohne Sprachkenntnisse und dem Wissen über gesetzliche Regelungen des jeweiligen Landes sind die jungen Menschen einer besonders schutzlosen Situation ausgesetzt. Die Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen und auch der Europäischen Union liegt darin, die Eingliederung junger ArbeitsmigrantInnen zu unterstützen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Mit der neuen Entsenderichtlinie wurde die Ausbeutung der Beschäftigten nicht endgültig eingedämmt. Es braucht daher mehr denn je verbindliche nationale und europäische Regeln, die Lohn- und Sozialdumping und den Missbrauch der Dienstleistungsrichtlinie verhindern. Zudem wird es Zeit, den Niedriglohnsektor effektiv zu regulieren und es wird Zeit für einen europaweiten Mindestlohn, um ein Lohndumping – wie es gerade von Deutschland in Europa betrieben wird – zu verhindern. Über diese Fragen zum Schutz vor Ausbeutung von jungen Beschäftigten im Ausland macht sich das Europatriates-Konzept von Peter Hartz und der SHS Foundation nur äußerst begrenzt Gedanken (vorgestellt im Juni 2014). Peter Hartz´s EuropatriatesKonzept liest sich wie ein Arbeitsvermittlungskonzept für ganz Europa mit hohen Zielen. Im Grunde geht es dabei um die individuelle Förderung und die temporäre Vermittlung in andere Länder von über 18jährigen, arbeitslosen Jugendlichen. Mittels der sogenannten „Talentdiagose“ würden Fähigkeiten, Fertigkeiten und www.gegenblende.de Seite 22 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Interessen des jungen Menschen ermittelt und ein persönlicher Entwicklungsplan erstellt. Parallel dazu soll ein sogenannter „Beschäftigungsradar“ herausfinden, in welchen Ländern, welchen Regionen und welchen Branchen Beschäftigungspotentiale am Arbeitsmarkt ausfindig zu machen sind. Das Ziel des Programms ist es, dass Jugendliche für einen befristeten Zeitraum im Gastland Berufserfahrung sammeln, die ihnen im eigenen Land später helfen soll, einen Job zu finden. Hartz´ Expertenrunde beziffert für das Programm das notwendige Volumen auf etwa 215 Milliarden Euro. Allein in Deutschland wären nach dieser Rechnung 13,52 Milliarden Euro nötig, um die Arbeitslosigkeit der Unter-25-Jährigen zu beseitigen. Für die Finanzierung werden bestehende öffentliche Förderprogramme und die Unterstützung aus dem Europäischen Investmentbank Fonds eingeplant. Mit diesen Geldern soll eine Ausbildung finanziert werden, die sonst so nicht zustande käme. Unklar bleibt dabei, woher die Betreuungs- und Vermittlungsstrukturen kommen sollen und welche Personengruppen die vorgeschaltete, strukturiere Auswahl in den Fokus für den Erfolg des Konzeptes nimmt und welche auch weiterhin vorm europäischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Was können wir tun? „Mehr politischer Druck in ganz Europa – sowohl aus den Parlamenten als auch von der Straße – ist nötig.“ Politisch wird sich nur etwas ändern, wenn wir von den weit verbreiteten Individualisierungstendenzen des Problems wegkommen. Diese Krise und ihre sozialen und ökonomischen Auswirkungen sind keine Naturkatastrophe, vor der junge Menschen einsam verzweifeln müssen. Sowohl die Krise als auch die falsche Austeritätspolitik sind von Menschen gemacht und damit auch überwindbar. Es sind falsche politische Entscheidungen getroffen worden – von der absoluten Deregulierung der Finanzmärkte bis hin zur Prekarisierung weiter Bevölkerungsschichten in der Arbeitsmarktpolitik -, die nicht weiter kopiert und vorangetrieben werden sollten. Mehr als die Hälfte aller Stellen, die junge Beschäftigte seit 2008 verloren haben, waren befristet. Flexibilisierung ist also keine nachhaltige Antwort, um auf gravierende Schwankungen am Arbeitsmarkt vorbereitet zu sein. Es braucht politischen Druck, um die fehlgeleitete Politik in vielen Bereichen wieder auf den richtigen Weg zu bringen und die sozialen Rechte der EuropäerInnen wieder zu stärken anstatt sie zu unterminieren. Ein soziales Europa ist ein Europa der starken ArbeitnehmerInnenrechte. Die europäischen Jugendorganisationen und allen voran die Gewerkschaftsjugend nehmen hier eine absolut zentrale Rolle ein. Es geht um die Mitbestimmung bei der Umsetzung der Jugendgarantie; es geht um den Kampf für gute Ausbildung und Praktika; es geht um menschenwürdige Arbeit für alle jungen Menschen und eine nachhaltige Beschäftigungspolitik. Und es braucht die Diskussionen, auch zu einer www.gegenblende.de Seite 23 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 europäischen Arbeitslosenversicherung, seien es Debatten in den Institutionen als auch Aktionen auf der Straße. Jungen Menschen sollte mehr politische Verantwortung übertragen werden. Sie brauchen endlich Unterstützung – jetzt. Autorinnen: Terry Reintke, geboren 1987 in Gelsenkirchen, Mitglied des Europäischen Parlaments für Bündnis 90/Die Grünen, Martina Hartung, ehemalige Präsidentin der UNI-Europa Jugend Das beklaute Gemeinwesen (Kolumne) von Robert Misik Gabriel Zucman, Forschungskollege von Thomas Piketty, hat erstmals seriös die Kosten von Vermögensflucht berechnet: 6 Billionen Euro sind undeklariert, mindestens 130 Milliarden kostet das jährlich die Staaten. Dabei könnte man Steueroasen wie die Schweiz und Luxemburg leicht trockenlegen. Unter den Reichen bricht die Panik aus. Ab 2017 will sich das Gros der Industrie- und Schwellenländer gegenseitig über die Kapitalerträge ausländischer Kunden informieren. Aber schon jetzt, nach den spektakulären Fällen Zumwinkel, Schwarzer und Hoeneß, wird vielen Schwarzgeld-Besitzern das Pflaster zu heiß. In kleinen Päckchen oder ganzen Kofferraumladungen schmuggeln sie ihr Geld heim, beispielsweise aus der Schweiz. 2013 haben deutsche Zöllner die Rekordsumme von 573 Millionen Euro sichergestellt. Wer hohe Geldbeträge, und sei es nur einige tausend Euro bei sich trägt, zumal in druckfrischen Scheinen, womöglich auch keinen triftigen Grund für einen Schweiz-Aufenthalt nennen kann, der wird vom Zoll bei seinem Wohnsitzfinanzamt gemeldet. Die Finanzplätze, die sich mit ihrem Bankgeheimnis und vielerlei Tricks auf Steuervermeidung spezialisiert haben, schaden den anderen Staaten gleich auf vierfache Weise: Erstens bieten sie reichen Privatleuten eine Möglichkeit, ihr Geld steuerschonend zu verstecken. www.gegenblende.de Seite 24 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Zweitens sind sie dadurch hauptverantwortlich dafür, dass auch in den "normalen Staaten" Kapitalerträge meist deutlich geringer besteuert werden als andere Einkommensarten und Erbschaftssteuern reduziert oder ganz abgeschafft wurden als Anreiz an die Reichen, ihr Geld doch im eigenen Land zu lassen. Drittens bieten sie multinationalen Unternehmen die Möglichkeit, ihre Gewinne durch kreative Buchführung in den Steuervermeidungs-Ländern anfallen zu lassen, wo nur eine niedrige oder gar keine Körperschaftssteuer anfällt. Und viertens zwingen sie die anderen Länder damit, ihre eigenen entsprechenden Steuersätze zu reduzieren. Ist damit jetzt also bald Schluss, weil die Superreichen die Angst in den Knochen steckt, sie könnten erwischt werden? "Nein, dafür ist sehr viel mehr Druck notwendig", meint Gabriel Zucman. Ich habe ihn telefonisch zwischen zwei Lectures in seinem Büro in der London School of Economics (LSE) erwischt. "Es reicht nicht, wenn man die Personen und Banken, die davon profitieren, einfach höflich um Kooperation bittet." Der französische Ökonom, 27, ist ein Jungstar seines Metiers, ein enger Mitarbeiter von Thomas Piketty, dem neuen Pop-Star-Ökonomen. Zucman forscht in Berkeley und unterrichtet an der LSE. Und wie Piketty ist er zu allererst einmal eine Art Datenforensiker der Ökonomie, ein detailversessener Empiriker, der Zahlen zusammenträgt und hinterher daraus seine Schlüsse zieht. Er hat die verlässlichsten Daten über das Ausmaß und die Struktur der globalen Steuervermeidung gesammelt. Sein Buch "Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird", erschien gerade im Suhrkamp-Verlag.[1] Zucmans Berechnungsmethoden sind komplex, aber im Kern lassen sie sich so vereinfachen: Aus der Erfahrung weiß man, dass reiche Leute ihr Geld vorwiegend in Wertpapieren wie Anleihen oder Aktien anlegen. Damit halten sie Eigentum an irgendwelchen über den Globus verstreuten Werten. Bei einem Großteil der Vermögenswerte weiß man, dass sie in amerikanischen, deutschen, französischen oder sonstigem Eigentum sind. Aber die Summe von Vermögen und Zahlungsverpflichtungen geht global nicht auf - was eigentlich nicht sein kann. Es klafft eine Lücke, was heißt, ein Teil der Eigentümerschaft ist vollends verschleiert. Auf Basis dieser Datensätze schätzt Zucman, dass global acht Prozent der privaten Finanzvermögen in Steueroasen angelegt sind. "In der Europäischen Union ist der Anteil mit annähernd zwölf Prozent noch höher", erklärt er. Knapp sechs Billionen Euro sind derzeit undeklariert auf der Flucht, was den Staaten Steuerausfälle von 130 Milliarden Euro beschert. "Überwältigend" seien die Berechnungen, das bescheinigt Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman Zucmans Arbeit. www.gegenblende.de Seite 25 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die neuen Wilden und die alten Werte "Die neuen Pariser Wilden meinen es ernst", schrieb die "Zeit" unlängst mit Hinblick auf Zucman und Piketty. Es zeige sich, dass Piketty kein Einzelfall ist, sondern Teil einer Schule junger Ökonomen, die gemeinsam im Stakkato beginnen ihre Studien öffentlichkeitswirksam zu platzieren um damit den globalen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Diskurs in eine neue Richtung zu manövrieren. Der „wilde“ Forscher zerpflückt auch das Urteil, dass dem traditionellen Schwarzgeldhafen Schweiz durch Steueroasen wie Luxemburg, die Kanalinseln, die Jungferninseln, Hongkong, Singapur oder Fluchtgelddestinationen in der Karibik "Konkurrenz" gemacht würde. Es ist eher anders: Die verschiedenen Fluchtgelddestinationen werden kreativ und individuell angepasst kombiniert. Und davon profitieren nur die wirklich Superreichen. Die können, im Unterschied zu kleinen Schwarzgeldtätern wie Alice Schwarzer, ihr Geld weiter in Sicherheit bringen. Das funktioniert ganz einfach und wird immer wieder an die neuen Gesetzeslagen angepasst. Die Kunden haben beispielsweise in der Schweiz ihr Konto. Darüber kaufen sie dann Anteile eines Fonds in beispielsweise Luxemburg. Und schon ist das Geld nicht mehr in der Schweiz. Heute befinden sich rund 30 Prozent der Offshore-Vermögen in der Schweiz, die restlichen 70 Prozent (rund 4000 Milliarden Euro) in anderen Steuerparadiesen. Von 2009 bis 2013 stieg laut Zucmans Berechnungen allerdings die Gesamtsumme der in der Schweiz verwalteten Vermögen von Devisenausländern um 14 Prozent - von einem Austrocknen der Steueroasen kann also kaum die Rede sein. Dass die Angst die Superreichen also zur Legalisierung ihrer Vermögen treiben würde wird von den Daten jedenfalls nicht bestätigt. "Ich wäre der erste, der das zur Kenntnis nehmen würde, denn es würde sich in den Zahlen zeigen, dass schon die jetzigen Maßnahmen wirken. Aber das ist bisher nicht zu erkennen", sagt Zucman. Der zweite Trick, mit dem die Steueroasen ihr Geschäftsmodell verfeinern, funktioniert folgendermaßen: Da sich die EU-Richtlinien zur Vermeidung von Steuerflucht auf natürliche Personen beschränken - also auf Private mit dem legendären anonymen Nummernkonto in der Schweiz -, nicht aber juristische Personen umfassen, wird für die betuchten Kunden einfach eine Briefkastenfirma gegründet, sei es in Luxemburg, auf den Kanalinseln oder sonst wo. Das kostet ein paar hundert Euro Gebühr und dauert wenige Minuten. Schon fällt nicht einmal mehr eine Quellensteuer auf Zinsgewinne an. Heute werden über 60 Prozent aller Konten in der Schweiz von solchen Briefkastenfirmen gehalten. Die dritte Variante im Steuervermeidungsspiel ist der völlig legale Betrug durch große multinationale Unternehmen, wie Apple, Amazon, Google oder Starbucks. Sie verlegen ihre Firmenzentralen in Länder wie Luxemburg, in denen sie ihren www.gegenblende.de Seite 26 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Körperschaftssteuersatz faktisch selbst bestimmen können. Und dann führen sie firmenintern alchemistische Verrechnungssysteme ein, deren Illustration kunstpreisverdächtig ist. Obwohl die großen Gewinne der Firmen in Deutschland, Frankreich und anderswo erwirtschaftet werden, fallen durch diese fantasievolle Buchhaltung überhaupt keine Gewinne mehr an. Das machen die Konzerne so, dass die Luxemburger Zentrale den Dependancen ausgedachte Preise für Lizenzen, die Benutzung des Logos oder den Gebrauch des Markennamens in Rechnung stellt. Die Kosten für diese "immateriellen Werte" betragen - welch ein Zufall! - ziemlich genauso viel, wie die betreffende Firma an Gewinn erwirtschaftet. So fallen alle Gewinne in Körperschaftssteuer-Paradiesen an. Amazon zahlt somit trotz eines Umsatzes von 8,7 Milliarden Euro in Deutschland gerade einmal 3,2 Millionen Steuern. Wieviel dieses „Spiel“ global kostet, ist, so Zucman, "schwer abzuschätzen, aber der Schaden ist sicherlich ein Mehrfaches dessen, was die private Steuerflucht verursacht". Wenn man das Doppelte annimmt, ist man sicherlich auf der sicheren Seite. Zucman: "Wir dürfen ja auch nicht vergessen: Diese Praktiken sind völlig legal, im Unterschied zur privaten Steuerflucht und -hinterziehung." Der Schaden und Pläne der Neuregelung Das Problem der „internen Verrechnung“ wird im Zeitalter immaterieller Werte immer drückender. Wenn beispielsweise ein Unternehmen seiner lokalen Filiale für eine Banane 300 Euro in Rechnung stellt, ist eigentlich jedem Steuerprüfer klar, dass das ein getürkter Verrechnungspreis ist. Aber für Logos, Marken, Lizenzen und ähnliches gibt es keinen Markt. Firmen können dann intern verrechnen, was sie wollen. Das gilt auch für Patente, etwa in der Pharmaindustrie. Der Schaden für die Volkswirtschaften aus all diesen Operationen summiert sich global auf 130 Milliarden Euro. Das sind Steuerausfälle, die fast den Ausgaben des Staates Österreich in einem Jahr entsprechen. All das reißt nicht nur tiefe Löcher in die Staatshaushalte und untergräbt die Steuergerechtigkeit, es verzerrt auch den kapitalistischen Wettbewerb. Die Steuerprivilegien sind nichts anderes als Subventionen für Multis auf Kosten anderer großer oder mittelgroßer Unternehmen. Deswegen ist jetzt auch die EU-Kommission aktiv geworden und hat ein Verfahren gegen Luxemburg, aber auch gegen Irland und die Niederlande wegen Wettbewerbsverzerrung eröffnet. Auf 30 Milliarden Euro insgesamt schätzt Zucman die Kosten der Steuervermeidung durch Konzerne und durch die Steuerflucht der Reichen für Deutschland. Die bis jetzt geplanten Neuregelungen werden aber kaum etwas an dem Problem ändern, da ist sich Zucman sicher. Die Schweizer Banken werden ein paar Privatanleger über die Klinge springen lassen, aber den großen Investoren dafür umso sicherere Konstruktionen anbieten. Wer auf das Wohlwollen betrügerischer Banker setzt, der ist naiv, glaubt Zucman. Und auch Luxemburg, das eigentlich kein www.gegenblende.de Seite 27 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Land mehr ist, sondern eine Plattform der globalen Finanzindustrie, werde von seinem Geschäftmodell nicht so leicht abrücken. Auf die Schweiz könne jedoch massiver Druck über Strafzölle ausgeübt werden. Diese wären übrigens auch im Rahmen des WTO-Freihandelsabkommens legal, sofern Zölle exakt den Schaden ausgleichen, der durch die Steuerflucht produziert wird. Nach Zucmans Berechnungen würde dieser Wert bei Strafzöllen von 30 Prozent auf Schweizer Produkte liegen. Und er ist überzeugt: Schon die Drohung würde ausreichen, sofern sie nur glaubwürdig ist. Zucman: "Die USA haben alle Gewinne, die in die Schweiz transformiert wurden, mit einer Strafsteuer belegt und den Schweizer Banken Strafzahlungen aufgebrummt. Das hat gewirkt. Die EU müsse ähnlich entschlossen sein." Freilich: Manche der Steueroasen sind Mitglied der EU, wie Luxemburg und die Kanalinseln, die zu Großbritannien gehören. Die EU kann schwer einem Mitgliedsland mit Strafzöllen und Handelskrieg drohen, schon aus realpolitischen Gründen nicht. Auch wenn heute jedem klar sein müsste, wie hoch der Schaden ist, der durch den Unternehmenssteuer-Wettlauf nach unten verursacht wird - so dreht sich die Abwärtsspirale munter weiter. Erst unlängst gab die portugiesische Regierung bekannt, den Körperschaftssteuersatz von 25 auf 19 Prozent zu reduzieren. Sie begründete die Senkung damit, dass der Steuersatz gleichauf mit dem Polens und Tschechiens liegen müsse, um Investoren anzuwerben. Zucman hat aber auch ein paar gute Nachrichten: Würde man mit massivem Druck gegen jene Länder vorgehen, die die Beihilfe zur - illegalen - Steuerhinterziehung zu ihrem Geschäftsmodell machten, so würden es die Steueroasen wohl nicht auf einen Showdown ankommen lassen, da sie von der Steuerflucht keineswegs dramatisch profitieren. Ihr Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Schaden der anderen Länder, die gleichzeitig angesichts dramatisch gestiegener Schuldenstände das Geld brauchen. Ist ja auch logisch: Die Steuervermeider gehen ja gerade in die Oasen, weil dort keine oder kaum Steuern erhoben werden. Die Schweizer Banken haben einen Nutzen in Form der Gebühren, die sie kassieren, der Schweizer Staat aber kaum. Nur wenig mehr als drei Prozent tragen die Steuerflucht-Gewinne zum BIP der Schweiz bei. "Das ist ein beachtlicher, aber kein lebenswichtiger Beitrag", urteilt der Forscher. "Entgegen verbreiteten Vorstellungen lebt die Schweiz nicht von der Schattenfinanzwirtschaft." Ähnliches gilt für Luxemburg: Es profitiert in Maßen von den zehntausenden Bankern, die jeden Morgen in das kleine Land strömen und abends wieder heimfahren - auch wenn die Banken kaum Unternehmenssteuern zahlen, die Beschäftigten zahlen doch Lohn- und Einkommenssteuer. Aber die normalen Luxemburger haben wenig von dem Geschäftsmodell. Ihre Wohlfahrt hat sich in den www.gegenblende.de Seite 28 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 vergangenen Jahren eher verschlechtert. Die Ungleichheit hat dramatisch zugenommen. Der fehlende politische Wille Mit entschiedenem Druck könnten die großen Volkswirtschaften der Welt die Steueroasen leicht trockenlegen, ist Zucman überzeugt. Denn die Steueroasen sind ökonomisch bedeutsam, machtpolitisch aber Zwerge. Und er hat auch ein paar Vorschläge, wie künftig alle neuen Schlupflöcher geschlossen werden könnten: zum Beispiel die Einrichtung eines globalen Vermögenskatasters, sodass von jedem Vermögenstitel bekannt ist, wer der Eigentümer ist. Das klingt utopisch, ist es aber nicht. Die Daten sind längst vorhanden, nur eben nicht synchronisiert. Mit etwas mehr als ein paar Mausklicks ließe sich das machen. Ein weiterer Vorschlag: Eine globale Körperschaftssteuerregelung für multinational operierende Unternehmen, durch die kreative interne Verrechnungen verhindert werden, ohne dass die Staaten gezwungen sind, deswegen gleich alle den gleichen Steuersatz zu erheben. Technisch ist das alles keine große Kunst und erfordert auch keineswegs eine einheitliche Normierung aller Steuersätze. Nein, man müsse sich nur auf eine gemeinsame Berechnungsmethode einigen, die dann jedem Land seinen Anteil an der Gewinnerwirtschaftung eines Multis zuweist, bei dem eben alle Faktoren berücksichtigt werden: Wo wird geforscht? Wo wird konsumiert? Wo wird produziert? Dann könnte immer noch jedes Land für sich entscheiden, welchen Steuersatz es einhebt. Ist das realpolitisch unmöglich? "Ach, ich bin durchaus optimistisch", sagt Zucman. Letztlich ist alles nur eine Frage des politischen Willens. Literatur/Quellen: [1] Gabriel Zucman: Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird. Suhrkamp-Verlag, 2014. 120 Seiten, 12,- € Autor: Robert Misik, Österreichischer Publizist und Journalist, geboren am 3. Januar 1966 in Wien www.gegenblende.de Seite 29 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 German Organizing (Buchrezension) von Thomas Greven Rezension über: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem Konzept und der Praxis des USamerikanisch inspirierten „Organizing“ versucht die IG Metall nun die Deutungshoheit über Organizing in Deutschland zu erlangen und mit „German Organizing“ (S. 22, S. 68 etc.) quasi eine Marke zu prägen. Sie greift dafür auf die vom Vorsitzenden Detlef Wetzel seit 2005 in NRW unternommenen eigenen Erneuerungsversuche zurück, die im Untertitel des Buches mit dem „Prinzip Beteiligung“ aufgerufen werden. Es ist verständlich und wird nicht nur in diesem Buch immer wieder betont, dass Organizing nicht ohne weiteres in jedem Land gleich umgesetzt werden kann; denn die rechtlichen, kulturellen und politischen Institutionen und die organisatorischen Gegebenheiten sind zu verschieden. Insofern leuchtet die Qualifizierung „German Organizing“ ein, auch wenn man über den Anglizismus schmunzeln mag. Das anfängliche Abwarten und die Verbindung des Konzeptes mit den eigenen Reformanstrengungen könnte sich also für die IG Metall gelohnt haben. Zumindest sind die Rahmenbedingungen gut und die Beobachtung der Vorreiterorganisation Ver.di in diesem Feld konnte Irr- oder wenigstens Umwege, wie Anlehnungen an US-Konzepte in der Ausbildung, verhindern. Die Resultate werden sich jedoch erst in der Zukunft zeigen, aber die in diesem Buch dokumentierte Kombination aus Programmatik und Zwischenbilanz, angereichert mit Erfahrungsberichten von außerhalb (der IG Metall und Deutschlands), gibt schon jetzt Gelegenheit zu einer vorläufigen Bewertung. Durchaus programmatisch propagiert Wetzel einen neuen Betriebsbegriff entlang von Wertschöpfungsketten sowie eine neue internationale Anschlussfähigkeit der Gewerkschaftsarbeit (S. 21) und betont, dass „German Organizing“ mehr sein muss als Leuchtturmprojekte, nämlich eine systematische Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis mit dem Ziel einer „Kollektivität zur Selbstlösung mit Unterstützung der IG Metall“ (S. 26). Die traditionellen Stärken der deutschen Industriellen Beziehungen sind auch hierfür Grundlage. Es ist wichtig, dies zu betonen, weil die mit Organizing verbundene Aktivierung der Beschäftigten ja durchaus Unruhe in die sozialpartnerschaftlichen Arrangements bringt. Hier wie im gesamten Buch kommt aber zu kurz, dass die notwendige Balance zwischen Institutionalisierung und Mobilisierung noch gefunden werden muss, genauso wie die Balance zwischen Service/Stellvertretung und Beteiligung/Selbstvertretung. www.gegenblende.de Seite 30 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Chancen und Risiken Im Papier zur „mitgliederorientierten Offensivstrategie“ von 2008, die hier dokumentiert wird, heißt es: „Wo tradierte Aushandlungsmechanismen infrage gestellt werden, kann nur die eigene betriebliche Stärke, ausgedrückt in einem hohen Organisationsgrad, zumutbare Kompromisse und Erfolge erzielen“ (S. 51). Will man das deutsche System der Industriellen Beziehungen bewahren und stärken, dann fehlt hier allerdings ein Wort; es müsste „zunächst nur“ heißen. Und wenn die Erneuerung der geschwächten institutionellen Arrangements tatsächlich gelänge, stellte sich dann aber nicht wiederum die Frage, wie in einem solch stabilen System die erneute Verknöcherung verhindert werden kann? Selbstverständlich ist dies den Strategen der IG Metall klar, sie haben ihren Robert Michels gelesen; die neu gewonnene betriebspolitische Stärke soll die Basis des gewerkschaftlichen Handelns erneuern, nicht Institutionen ersetzen – doch man läse gerne eine grundsätzlichere Auseinandersetzung, die noch am ehesten Heiner Dribbusch anbietet (S. 114ff). Die Autoren des Ressorts Strategische Erschließungsprojekte der IG Metall schreiben die Risiken der Beteiligungsstrategie dagegen klein: „Handelt es sich wirklich um etwas anderes als den ganz normalen Willensbildungsprozess von demokratisch verfassten Organisationen?“ (S. 84) Die Antwort ist vor allem dann Nein, wenn die im Organizing entwickelten Strukturen („Aktivenkreise“) in die traditionellen Vertretungsstrukturen überführt werden. Wie wird dann aber mittel- und langfristig die Mobilisierungsfähigkeit bewahrt? Diese Institutionen hatten diese ja oft genug verloren! Aktuell überwiegt wohl die Beteiligungsbegeisterung, denn Organizing erhöhe die „Input-Legitimität“ (S. 87). Dies ist gut verständlich, aber es darf nicht aus dem Blick geraten, dass im Zuge der Globalisierung vor allem auch die globalen Institutionen verändert werden müssen, weil sonst angesichts der Unterbietungskonkurrenz alle Beteiligung wenig nützt. Interpretationen Nicht alle Beiträge halten das Niveau; insbesondere der Organizing-Guru Tom Woodruff enttäuscht analytisch (und nicht nur bezüglich Deutschlands und Europas) mit wenig strukturierten und arg idealistischen Ausführungen. Die Fußnote der Herausgeber zur angeblich fehlenden gesetzlichen Rentenversicherung in den USA (S. 45) – Social Security ist mittlerweile fast achtzig Jahre alt – zeigt eine Schwäche nicht nur des Buches, sondern der ganzen deutschen Organizing-Debatte, wenn es um den transnationalen Lernprozess und seine Schwierigkeiten geht: Die amerikanischen Bedingungen sind oft nicht ausreichend verstanden (wie umgekehrt den Amerikanern meist die Kenntnis der deutschen industriellen Beziehungen fehlt). Offensichtlichstes Beispiel: Immer wieder schreiben deutsche Autoren vom USOrganizing, als wäre es eine jüngere Innovation. Tatsächlich gab es amerikanische Gewerkschaften nie ohne Organizing. Bei der Adaption der Konzepte und der www.gegenblende.de Seite 31 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Definition eines eigenen Begriffs von Organizing hat man durchaus Freiheiten, wenn es allerdings zum organisationspolitisch motivierten „cherry-picking“ kommt, d.h. wenn z.B. absichtlich institutionelle und kulturelle Voraussetzungen bestimmter Praxen verschwiegen werden, kann die Übertragung nicht gelingen. Das wird gerade an dem für den Diskurs der IG Metall so wichtigen Begriff „Beteiligung“ deutlich. Die durchaus wichtige SEIU-Kampagne Justice for Janitors zur Wiederherstellung (!) der gewerkschaftlichen Organisierung von Reinigungskräften wird bisweilen dargestellt und diskutiert, als ob man den Film „Bread and Roses“, den der britische Regisseur Ken Loach über sie drehte, oder SEIU-Sprech über „Emanzipation“ etc. für bare Münze nehmen könnte (S. 55ff). Dies, wie auch die teils recht unreflektierte Bezugnahme auf die Community Organizing-Prinzipien von Saul Alinsky („Tue niemals für ein Mitglied, was es selbst tun kann“), verdeckt aber doch nur die schwierige Problematik, eine tragfähige Balance von Service/Stellvertretung/Institutionalisierung und Beteiligung/Selbstvertretung/Mobilisierung finden zu müssen. Zum einen lassen sich Kampagnen nicht basisdemokratisch führen – der Begriff ist nicht zufällig ein militärischer – und zum anderen sind die allermeisten Menschen, auch die Mitglieder von Gewerkschaften, dringend daran interessiert, sich vertreten zu lassen. Die SPD hat in Deutschland im aussichtslosen Wahlkampf gegen Mutter Merkel erkennen müssen, dass die meisten Wähler keine allzu große Lust auf Politik haben. Selbstverständlich redet hier niemand einem Betriebssyndikalismus das Wort und es besteht auch keine akute Gefahr einer nur instrumentellen „Beteiligung“ – der Versuch, eine Neuausrichtung des „Verhältnis[ses] von Stell- und Selbstvertretung“ (S. 61) zugunsten letzterer und zugunsten einer größeren „ownership“ der Mitglieder in Bezug auf „ihre“ Gewerkschaft zu erreichen, ist ernst zu nehmen. Doch eine systematische, erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit dem Problem, eine nachhaltige Balance zu finden, steht noch aus. Es ist mehr von Nöten, als den „Übergang vom Kampagnen- in den Alltagsmodus“ (S. 126) zu bewerkstelligen, denn die traditionellen Strukturen reichen nicht mehr aus. Kampagnen Die Diskussion konkreter Kampagnen fokussiert auf die weitgehend erfolgreichen Kampagnen im Windanlagenbau (S. 92ff; S. 119ff); die abgebrochene Kampagne im Kfz-Gewerbe bleibt dagegen bis auf eine Fußnote bei Dribbusch (S. 99) unerwähnt. Vielleicht ist die Bemerkung, dass Kampagnen in „Branchen mit sehr vielen Kleinund Mittelbetrieben … ohne organisationsinterne Quersubventionierung kaum möglich“ sind (S. 112). Weitere Gründe ihres Scheiterns werden aber nicht diskutiert. In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Auseinandersetzung mit den organisationsinternen Aspekten von Kampagnen, jenseits des kulturell oder politisch bedingten Widerstands gegen spezifische Innovationen. Kampagnen sind nämlich immer auch nach innen zu führen; für sie muss intern politische Unterstützung www.gegenblende.de Seite 32 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 mobilisiert werden. Politische Entscheidungen jenseits von strategischen Erwägungen spielen eine wichtige Rolle. Am ehesten gibt hier Schwetz einen Einblick, der darauf hinweist, dass die notwendige ehrliche Analyse der eigenen Kräfte leicht „aus dem Blickfeld geraten“ kann (S. 208-9). Die Konsequenz davon, dass die strategische Recherche in der Kampagnenvorbereitung auch diesbezüglich „reinen Wein einschenk[t]“ (S. 213) kann dann eben auch dazu führen, auch etwas, dass politisch wichtig ist, einfach nicht zu machen! Eine „Innenperspektive“ der Kampagne im Windanlagenbau, merkwürdigerweise präsentiert von Journalisten, konstatiert, dass diese die „Negativspirale aus mangelnder gewerkschaftlicher Stärke, fehlenden Erfolgen und sinkender Attraktivität“ (S. 98) durchbrechen konnte. Dabei wurde ein Methodenbaukasten verwendet, der sehr nah an dem ist, was auch in den USA und bei ver.di verwendet wird (strategische Recherche, externe Organizer, Einzelgespräche, Aktivenkreis, Betriebslandkarte, kollektive Aktionen): „[D]ie Unterschiede zum US-Kontext haben sich bei Lichte betrachtet als eher gering erwiesen, wenn es darum geht, Bedürfnisse von Beschäftigten zu verstehen, zu kollektiven Themen zu machen und in betriebliche politische Praxis zu übersetzen, die etwas verbessert“ (S. 88). Bei einem zentralen institutionellen Anpassungsproblem, den Betriebsräten und ihrer Rolle im Organizing-Prozess, sind systematische Fortschritte gemacht worden (S. 88, 121f, 127ff). Der Konflikt wird als unausweichlich erkannt: „Das Spannungsverhältnis [zwischen den durch Organizing entstehenden Aktivenkreisen und den existierenden Strukturen] muss ausgehalten und immer wieder neu verhandelt werden“ (S. 114). Eine wichtige Erkenntnis ist wohl, dass der Vermittlungserfolg zwischen Organizern und Betriebsräten stark von einzelnen Personen abhängt (vgl. z.B. S. 127ff, S. 137, S. 141: „[D]ie CGM-Mitgliedschaft des Vorsitzenden stellte sich nicht als hinderlich heraus“). Eine systematische Untersuchung der Gründe, warum einzelne Betriebsräte die Organizer unterstützen und andere nicht, steht noch aus, genauso wie eine Untersuchung von erfolgreichen Problemlösungsstrategien. Am Ende bleibt die wichtige Erkenntnis, dass Organizing für die Organisation Konsequenzen hat: „Die Entscheidungsfindung wird komplexer und Spielräume der zentralen Verhandlungsgremien werden tendenziell eingeengt, da engagierte Mitglieder in der Regel auch anspruchsvoller und kritischer werden“ (S. 117). Dies sind schwierige Nachrichten für die ohnehin schon überlasteten Gewerkschaftssekretäre und Betriebsräte, zumal „[d]ie Hauptarbeit der Organisierung in der Fläche […] bei den betrieblichen und örtlichen Gewerkschaftsstrukturen liegen“ wird (S. 112). Angesichts dieser Konstellation ist es wenig überraschend, dass die im Band formulierte Selbstkritik darauf hinausläuft, dass zu wenige Ressourcen bereitgestellt wurden, und dass es einige selbstschützende Bemerkungen gibt, sprich Warnungen vor zu hohen Erwartungen in Bezug auf Mitgliederwachstum: „Organizing ist sicher nicht das Allheilmittel der numerischen Mitgliederfrage“ (S. 89, vgl. auch S. 111). Auch die strategische Recherche sichert sich ab; sie ist kein Zaubermittel gegen feindliche Unternehmen (S. 212). www.gegenblende.de Seite 33 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Strategien Überwiegend werden allerdings die Potenziale der neuen Strategien betont. Kampagnen müssen z.B. nicht immer groß und teuer sein, es gibt eine Bandbreite von Maßnahmen und Hebeln (Leverage), um das „Machtungleichgewicht zwischen der Belegschaft und dem Unternehmen auszugleichen“ (S. 200f.). So kann den neuen Unternehmensstrategien, die hier in Fallbeispielen vorgestellt werden (S. 139ff, S. 171ff) und die auf die Verhinderung von Betriebsratswahlen abzielen, damit begegnet werden, in dem der Blick für die Schwächen der Unternehmen geöffnet wird, die für Druckmaßnahmen genutzt werden können. Noch wird dieses Element im Kontext der deutschen Sozialpartnerschaft kritisch gesehen, aber es ist wohl unausweichlich, dass die Gewerkschaften ihr kämpferisches Repertoire gegen die deutsche Form von „union busting“ erweitern. Die meisten IG Metall-externen Beiträge im Sammelband sind zu kurz, um mehr als Schlaglichter auf andere Erfahrungen zu werfen. Man lernt z.B., dass in den USA die strategische Recherche inzwischen ein spezialisiertes Unterfangen ist, mit vielen hundert Experten – der Komplexität des globalen Kapitalismus angemessen (S. 216ff)! Jenseits des „German Organizing“ gibt es sogar noch einen „hessischen Weg“ des Organizing (die Amazon-Kampagne von ver.di in Bad Hersfeld, S. 260ff). Das Besondere erschließt sich hier nicht, wohl aber eine realistische Gewichtung von professioneller Steuerung gegenüber Beteiligung (S. 266). Es gibt weitere Positivbeispiele systematischer Organizing-Arbeit, bei der IG BAU (Gebäudereinigerkampagne, S.269ff), bei der Gewerkschaft Bau-Holz in Österreich (S. 292ff), bei der UNIA in der Schweiz (S. 302ff) und Berichte über vielversprechende Anfänge im Baltikum (S. 283ff). Michael Crosby, ein Organizing-Vordenker aus Australien in Diensten des USDachverbands Change to Win, widmet sich Fallstudien zu den Niederlanden, Irland und Großbritannien (S. 225ff). Zwei wichtige Erkenntnisse sind, dass US-inspirierte Autoren und Strategen den Burn-out der Organizer in Kauf nehmen und dass sie die Balance von Institutionalisierung und Mobilisierung nicht ausreichend im Blick haben. Dort wo Organizing amerikanisch angeleitet und/oder verstanden wird, herrscht ein romantisches Bild von Kämpfern für Gerechtigkeit vor, deren eigene Belange zurückgestellt werden müssen. Sprich: Wohnen im Motel statt Zeit mit der Familie. Dies führt zwangsläufig zu Burnout-Phänomenen wie man sie seit langem aus den USA kennt. Angesichts dieser Haltung überrascht dann auch eine Art „Vertreter-Sprache“ bei Crosby fast nicht mehr: „Ebenso wichtig ist, dass sehr viele Hauptamtliche auf die Kampagne [von UNITE] großartig reagierten. Sie waren einfach leidenschaftlich gern erfolgreich“ (S. 256). Am Ende bleibt jedoch wichtig und richtig, dass Organizing und Kampagnen als „Vorläufer einer anderen Art von Gewerkschaft“ gesehen werden müssen (S. 258), auch wenn diese noch nicht im Detail zu erkennen ist. www.gegenblende.de Seite 34 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Dem Buch liegt eine CD-Rom mit einem Organizing-Handbuch bei, die aber wohl nicht als Anleitung zum Selbermachen zu verstehen ist. Mit OrKa (Organisierung & Kampagnen) sei nur ein bundesweit aktives Ausbildungs- und Beratungsnetzwerk genannt (http://www.orka-web.de/). Autor: Dr. Thomas Greven, Privatdozent für Politikwissenschaft an der FU Berlin NACHGEFRAGT bei Heidrun Abel – Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter (Interview) von Kai Lindemann Das Urheberrecht war früher das Arbeitsfeld von spezialisierten Juristen, die Kreative, Verlage und betroffene Firmen in der komplizierten Materie berieten. Im Zeitalter der Digitalisierung, indem das „geistige Eigentum“ blitzschnell, kostengünstig und in guter Qualität kopiert und via Internet weltweit verbreitet werden kann, sind fast alle Menschen täglich mit den nicht minder komplizierten Fragen des Urheberrechts konfrontiert. Wir brauchen eine neue Trennung zwischen kommerzieller und privater Verwertung im Internet, sagt Heidrun Abel, Vorsitzende des ver.di Bezirks Köln, im Interview mit der GEGENBLENDE. GEGENBLENDE: Hat der scheinbar unbegrenzte Zugriff auf urheberrechtlich geschützte Werke im Internet Auswirkungen auf unser Verständnis vom Original? Abel: Gehen wir vom Begriff Original aus, also dem „Ursprung” eines Werkes, sehen wir uns im Netz eigentlich nur Vervielfältigungen gegenüber. Das „Original” ist nicht greifbar. Wenn ich es von der einen Plattform in einen anderen Zusammenhang weitergebe, entferne ich es ja nicht, sondern kopiere es ein weiteres Mal. Deshalb liegt das „Problem” in der einfachen und schnellen Verfügbarkeit in Kombination mit den fehlenden Kenntnissen oder Hinweisen zum richtigen Umgang mit urheberrechtlich geschützten Werken. GEGENBLENDE: Verschwimmen die Grenzen zwischen UrheberInnen und Nutzern? Abel: Die Grenzen verschwimmen nicht. Es kann nicht darum gehen, die NutzerInnen gegen die Urheber auszuspielen, nur um von der eigentlichen Tatsache www.gegenblende.de Seite 35 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 abzulenken, dass die UrheberInnen Anspruch auf eine angemessene Vergütung haben. Dabei wird zwischen Privatkopie und kommerzieller Nutzung unterschieden. Außerhalb des Internets werden die UrheberInnen über Abgaben auf Geräte und Datenträger anteilig vergütet. Ein entsprechendes Modell für das Internet steht noch aus. GEGENBLENDE: Der Einfluss auf die Nutzung und Verbreitung ihrer Werke wird für die UrheberInnen zunehmend schwerer. Ganz abgesehen von einer angemessenen Vergütung. Ist ein einheitliches Modell möglich? Abel: Ein einheitliches Modell ist nicht sinnvoll, weil es unterschiedliche Anforderungen für die verschiedenen Nutzungsgruppen gibt. Für professionelle Nutzer gibt es ja jetzt schon funktionierende Regelungen der Vergütung. Es bleibt die Frage, wie es für private Nutzer ersichtlich wird, dass ihr Verhalten zu einer kostenpflichtigen Nutzung führt und wie diese dann unkompliziert errechnet und vergütet werden kann. Zurzeit werden diese Probleme der privaten Nutzer gerne mit einer angeblichen Beschränkung der professionellen Nutzer durch das bestehende Urheberrecht vermischt. Doch dass man für erhaltene Leistungen bezahlen muss, ist schließlich ein marktwirtschaftlicher Konsens. Es braucht vor allem den politischen Willen Berechnungsmodelle auf der Grundlage des bestehenden Urheberrechts durchzusetzen. GEGENBLENDE: Bieten die neuen Gewohnheiten nicht auch neue Chancen der Vermarktung für die Kreativen? Abel: Jeder kann über E-publishing, youtube und andere "freie" Plattformen seine Werke im Internet veröffentlichen und damit bekannt machen, d.h. man kann sich relativ günstig und schnell präsentieren und damit für sich werben. Für eine angemessene Vergütung muss urheberrechtlicher Schutz gewährleistet sein und es muss transparente Abrechnungsmodelle geben. GEGENBLENDE: Wenn qualitativ gute Informationen im Netz kostenpflichtig werden – wie kann da die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit wenig Geld gewährleistet werden? Abel: Die finanzielle Ausstattung im Bildungs- und Kulturbereich muss so sein, dass auch die kostenpflichtigen Informationen aus dem Netz genauso erworben und bezahlt werden wie z.B. Printmedien und kostenlos genutzt werden können. Darüber hinaus gibt es noch kostenlose Informationsquellen wie Wikipedia, wo AutorInnen ihr geistiges Eigentum kostenfrei zur Verfügung stellen. Das entlässt den Staat nicht aus seiner Verpflichtung den Zugang zu Bildung und Wissen für alle gleichermaßen zu gewährleisten. Bildung und Wissen dürfen nicht kommerziellen Interessen www.gegenblende.de Seite 36 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 überlassen werden. GEGENBLENDE: Was kann und muss die Politik tun, um die Struktur des Urheberrechts an das Digitale Zeitalter anzupassen? Abel: Zunächst muss die Politik den Willen haben, die Nutzungsrechte anzupassen, ohne die Rechte der Urheber zu beschneiden. Im Koalitionsvertrag ab Seite 133 kann man einiges zu den Positionen der Großen Koalition zum Urheberrecht lesen. Wir werden es aufmerksam beobachten und kommentieren, wie die Umsetzung vorangetrieben wird. Feststellen kann man allerdings bei der Lektüre, dass eine klare Unterscheidung der verschiedenen Nutzergruppen von Urheberrechten nach privaten Nutzern und wirtschaftlichen Verwertern fehlt. GEGENBLENDE: Wie positioniert sich die Gewerkschaft ver.di? Abel: Mit der Forderung, das Urheberrecht nicht tot zu reden, sondern für die wirtschaftlichen und privaten Nutzungen differenzierte Berechnungsmodelle zu entwickeln, die den Anforderungen des digitalen Zeitalters entsprechen. Darüber hinaus organisieren wir die Freien und Selbstständigen, die als Urheber tätig sind. Und wir bieten unseren Mitgliedern Beratung und Rechtsschutz auch in der Durchsetzung ihrer Ansprüche an. GEGENBLENDE: Vielen Dank! Autor: Kai Lindemann, geboren 1968 in Bremen, verantwortlicher Redakteur des Debattenmagazins GEGENBLENDE www.gegenblende.de Seite 37 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten von Elisabeth Voß Auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig wurde Anfang September 2014 über Strategien und Wege anderen Wirtschaftens angesichts von Ressourcenknappheit und Klimakatastrophe diskutiert. Die Heinrich Böll Stiftung hatte zur Konferenz ein Themenheft „Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen“[1] herausgebracht. Es „erzählt Geschichten eines anderen, bürgergetragenen Wirtschaftens, einer Wirtschaft der Solidarität und Selbstbestimmung“[2]. Dabei wird deutlich, dass immer mehr Menschen wenigstens im Kleinen versuchen, Elemente einer Postwachstumsökonomie umzusetzen. Urbane Gärten, Offene Werkstätten, alternative Bildungseinrichtungen und viele andere selbstorganisierte Projekte entwickeln immer mehr soziale und technologische Innovationen[3]. In diesen Zusammenhängen ist oft von „Sharing“ (Teilen) und auch „Glück“ die Rede. Annette Jensen und Ute Scheub bezeichnen dieses neue Wirtschaften im Titel ihres neuen Buchs als „Glücksökonomie. Wer teilt hat mehr vom Leben“[4]. Es geht um einen Wertewandel, weg vom Materiellen, hin zu Fragen von Gemeinschaftlichkeit und Lebensglück. Schon der Heilige Sankt Martin teilte seinen Mantel mit einem Bettler. Der neue Trend zum Teilen oder „Sharing“ hat mit Wohltätigkeit nichts zu tun. Geteilt wird untereinander, unter Gleichen, Peer to Peer: Digitale Inhalte werden weitergeben, materielle Dinge getauscht und gemeinsam genutzt und Projekte werden gemeinsam finanziert (Crowdfunding). Die Zusammenarbeit in der SharingWelt wird häufig als „Kollaboration“ bezeichnet[5]. Digitale Inhalte teilen Das Teilen steht in der Bedienungsanleitung vieler Websites ganz oben. Wer sich im Internet bewegt, teilt Meldungen, Bilder, Fotos (oft lustig retuschiert) und vieles andere in digitalem Format mit anderen. Auch Wissen und Erfahrungen werden gerne geteilt: Amazon-NutzerInnen verfassen Kundenrezensionen über Produkte jeder Art, Reisende berichten über ihre Urlaubsziele, beschreiben und bewerten Hotels und Touristikanbieter. Es gibt wohl keine Produkte oder Leistungen, die nicht in irgendwelchen Internetportalen beurteilt und miteinander verglichen werden. Jede und jeder kann sich einbringen, kann – mehr oder weniger anonym und ohne dafür bezahlt zu werden – das eigene Urteil abgeben. Bewertet werden nicht nur Autos, Haushaltsgeräte, Bücher, Reisen, ÄrztInnen und ProfessorInnen, sondern ebenso diese Bewertungen selbst[6]. So fragt zum Beispiel Amazon: „War diese Rezension für sie hilfreich?“ Wer in diesem Spiel aktiv ist und gute Bewertungen einheimst, kann sich nach und nach Reputation erwerben. www.gegenblende.de Seite 38 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia hat gedruckte Lexika wie den Brockhaus überflüssig gemacht. Zum Wissen der Welt tragen unzählige AutorInnen bei, die engagiert und unentgeltlich dafür sorgen, dass dieses Wissen stetig wächst und aktuell bleibt. An Schulen und Universitäten gilt Wikipedia mittlerweile als zuverlässige und zitierfähige Quelle, JournalistInnen dient es zum schnellen Faktencheck. Bei allem Respekt vor den Leistungen derjenigen, die zu diesem gemeinschaftlichen Projekt beitragen, ist bei genauerem Hinsehen jedoch Skepsis angesagt. So dokumentiert der Bonner Journalist Marvin Oppong in einer Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS)[7], wie bewusst in Wikipedia-Beiträge eingefügte Fehler anstandslos das interne Qualitätscontrolling passierten, und anschließend ungeprüft selbst von renommierten Medien wiedergegeben wurden.[8] Aber nicht nur Falschmeldungen, sondern auch gezielte Eingriffe von Lobbyisten trüben das Bild der angeblich so neutralen Informationen in Wikipedia. Die genannte OBS-Studie belegt, wie kritische Berichte über Unternehmen wie IG Farben, RWE, BASF und andere geschönt, gleich ganze Passagen gelöscht oder PR-Inhalte eingefügt wurden. In Wikipedia-internen Diskussionen um Änderungen an Artikeln setzen sich oft diejenigen mit dem längeren Atem durch, die so viel Zeit in ihr Engagement stecken können, dass sich die Frage geradezu aufdrängt, auf wessen Gehaltsliste sie stehen. Für einige Editoren lässt sich anhand ihrer IP-Adresse nachvollziehen, für welche Stiftung oder welches Unternehmen sie agieren. Zweifellos ist Wikipedia zu einem Machtfaktor geworden. Der Kölner Publizist Werner Rügemer bezweifelt deren Objektivität, denn: „Die 'freie Enzyklopädie' liegt in den Händen des Privatkapitals.“[9] Gegenstände teilen Carsharing ist schon lange ein lukratives Geschäft. Daneben entstehen Peer-to-PeerModelle wie zum Beispiel Nachbarschaftsauto, in denen Menschen sich gegenseitig ihre Autos leihen. Dieses Prinzip, NutzerInnen eine internetbasierte Möglichkeit des Austauschs untereinander anzubieten, ist auch das Geschäftsmodell von AirBnB, das eine Plattform zur Zimmer- und Wohnungsvermittlung gegen Servicegebühren zur Verfügung stellt. Auch das ursprünglich nichtkommerzielle, weltweite Gastfreundschaftsnetzwerk Couchsurfing ist mittlerweile ein gewinnorientiertes Unternehmen geworden, das mit den Daten der NutzerInnen handelt[10]. Das Teilen oder die gemeinschaftliche Nutzung von Dingen wird auch als Kollaborativer Konsum (Kurzform: KoKonsum) bezeichnet. Vermittelt über digitale Plattformen können Gegenstände des Alltags wie Haushaltsgeräte, Werkzeuge, Fotoapparate, Bücher, DVDs und vieles mehr verliehen, verschenkt, getauscht oder gegen Entgelt abgegeben werden. Das Portal frents – ein Wortspiel aus friends (Freunde) und rent (mieten) – wirbt mit dem Slogan „Leihen und Verleihen unter Freunden und Nachbarn“. Es ist ein Referenzprojekt der Internetagentur Sherpatec, www.gegenblende.de Seite 39 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 die laut eigener Website Standorte in München, Berlin, Zürich und demnächst auch in Hongkong hat. Ihr Geschäftsführer Carl Raphael Mahir ist ebenfalls Geschäftsführer der frents GmbH. Sharing-Dienste machen Gewinne, auch wenn sie für NutzerInnen kostenlos sind, indem sie sogenannte „Leads“ generieren, Datenspuren, die von den Usern selbst gelegt werden und für Marketingzwecke verwendet werden. Bei der Registrierung oder beim Eintrag in einen Newsletter geben Menschen oft mehr über sich preis, als sie denken. Wer hat sich nicht schon gewundert, dass beim Surfen im Internet oft Werbung angezeigt wird, die genau das anbietet, was man selbst gerade gesucht oder eingekauft hat? Jede Bewegung im Internet wird beobachtet, gespeichert, ausgewertet. Mit ihren Datenschutzvereinbarungen sichern sich Online-Anbieter meist umfangreiche Rechte. In der taz-Beilage zur „Sharing City Berlin Week“ im Juni 2014 antwortet der USamerikanische Kulturwissenschaftler Charles Eisenstein auf die Frage, was es bedeutet, „wenn Großkonzerne Millionen in die Share Economy investieren“, entlarvend: „Man kann Geld machen in der Share-Economy. Google hat dadurch viel Geld verdient, aber die traditionellen Medien haben noch mehr verloren. Sie ist Teil des Degrowth“.[11] Dazu passt die Einschätzung der Unternehmensberatung Accenture, dass „'Shareconomy' immer mehr die Strategie erfolgreicher Konzerne (prägt). … Wer 'Shareconomy' für eine kurzlebige Modeerscheinung hält, liegt völlig falsch.“[12] Gemeinsam finanzieren Beim Crowdfunding wird ein Vorhaben durch viele GeldgeberInnen finanziert. Auf Betterplace sammeln soziale Projekte Spenden in Form von Geld oder auch Zeit. Bei Startnext, VisionBakery und anderen werben vor allem künstlerische Projekte um Sponsoren. Diese bekommen ein kleines oder größeres Dankeschön, je nach Höhe ihres Geldgeschenks. Auch Kredite können online in der Crowd gesammelt werden, von Privatpersonen zum Beispiel bei auxmoney, von mittelständischen Unternehmen bei finmar. Die KreditgeberInnen erhalten Zinsen und bekommen ihr Geld nach der vereinbarten Laufzeit zurück, wenn alles gut geht. Risikokapital können Startups zum Beispiel bei Seedmatch einwerben. Das gesammelte Geld wird bei den meisten Crowdfundingorganisationen nur dann ausgezahlt, wenn es eine vorher festgelegte Marge erreicht. Kommt nicht genug zusammen, erhalten die Sponsoren ihr Geld zurück. Es kommt also sehr darauf an, sich möglichst gut zu verkaufen und das eigene Vorhaben breit zu bewerben, um in der Konkurrenz zu gewinnen. www.gegenblende.de Seite 40 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Zusammenarbeiten? In vielen kleinen, selbstverwalteten Projekten arbeiten die Beteiligten meist auf gleicher Augenhöhe zusammen und treffen gemeinsame Entscheidungen. Daraus entstanden die ersten online-betriebenen Tauschbörsen. Ganz anders bei heutigen Shareconomy-Firmen, in denen eine machtvolle Zentrale das Geschäft steuert. Aktuell drängt das US-amerikanische Unternehmen Uber auf den deutschen Markt und bietet Personenbeförderungsdienste an. Per Smartphone-App bringt UBER Menschen mit und ohne Auto zusammen. Die Mitfahrenden bezahlen, die Fahrenden haben keinerlei Rechte, nicht einmal einen vertraglichen Anspruch auf Bezahlung. Zudem riskieren sie ihre KFZ-Versicherung, wenn diese nur für die private Autonutzung abgeschlossen wurde. Finanziert von institutionellen Anlegern, Google, Goldman Sachs und anderen stellt UBER einen Angriff globaler Konzerne auf lokale Taxiunternehmen dar. Wie digitale Plattformen zur Vermittlung billiger Arbeitskräfte eingesetzt werden können, ist bei CleanAgents, Helpling und Book A Tiger zu beobachten. Diese bieten professionelle Reinigungskräfte zu Dumpingpreisen zwischen 12 und 15 Euro an. Wer die Aufträge annimmt, muss selbstständig und auf eigenes Risiko arbeiten, ein Gewerbe anmelden und von dem Arbeitsentgelt auf eigene Kosten für die soziale Absicherung aufkommen. Mit Teilen unter Gleichen hat das nichts mehr zu tun, eher erinnert es an eine prekarisierte Form der Zeitarbeit. Wer teilt mit wem? Das Teilen in der Shareconomy funktioniert über Apps, die jederzeit mit dem Smartphone abrufbar sind. Statt ressourcenintensives Wachstum zu verhindern, verursacht diese Praxis einen hohen Energieverbrauch. Die Überwachung durch Konzerne und Geheimdienste gibt den vielen Kontakten und Informationsmöglichkeiten einen bitteren Beigeschmack. Dinge gemeinsam zu nutzen, ändert nichts daran, dass es sich um Produkte handelt, die unter umweltschädigenden und ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurden. Das Teilen bleibt auf die Ebene der Konsumption, des Ge- oder Verbrauchs beschränkt. Ob und in welchem Maße eine Veränderung des Konsumverhaltens überhaupt Einfluss auf die Produktion nehmen kann, ist umstritten. Der sogenannte ReboundEffekt kann Einsparungen schnell zunichtemachen, wenn Produkte durch Teilen stärker genutzt und die freiwerdenden finanziellen Mittel zum Erwerb anderer Konsumgüter verwendet werden. Ähnlich wie die VertreterInnen eines gesundheits- und umweltbewussten Lifestyle (Lohas)[13] sind auch die idealistisch motivierten PropagandistInnen des Sharing überwiegend in der Mittelschicht anzutreffen. Viele von ihnen verstehen sich ausdrücklich als unpolitisch, wollen einfach machen, aktiv sein, die Welt zum www.gegenblende.de Seite 41 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Besseren verändern, ohne Missstände und Ungerechtigkeiten zu kritisieren. So bleiben diese Innovativen und Kreativen unter sich, gefangen in digitalen Scheinwelten, deren schöne Begriffe längst zum Marketingsprech von Konzernen geworden sind. Digitale Unternehmen der Shareconomy sind Businessmodelle der Zukunft, die sich immer mehr Lebensbereiche einverleiben. Selbst Nachbarschaften werden online organisiert, in den USA von Nextdoor, in Berlin Friedrichshain und Prenzlauer Berg durch Polly & Bob: „Wir wollen die Nachbarschaften dieser Welt vertrauender, teilender und verbundener machen.“[14] Es ist sicher nichts dagegen einzuwenden, dass sich NachbarInnen bei Spieleabenden oder Kulturveranstaltungen kennen lernen. Jedoch unterscheiden sich solche Sozialunternehmen grundlegend von Bürgerinitiativen, die gemeinsame politische Anliegen vertreten. Soziale Ungleichheit oder gar Fragen nach der politischen Macht kommen in der schönen Welt des Teilens nicht vor, auch wenn oft von einer Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft die Rede ist. Was aussieht wie ein soziales Netzwerk und behauptet, der Erfüllung von Bedürfnissen zu dienen, entpuppt sich oft als Geschäftsmodell, bei dem diejenigen, denen die digitalen Infrastrukturen gehören und die Angebot und Nachfrage zusammenführen, bei jeder Transaktion profitieren. Die Risiken tragen allein die NutzerInnen dieser Dienste. Sie haben weder Arbeitnehmer- noch Verbraucherrechte, ihre Daten werden in unkontrollierbarem Umfang verwertet. Den Global Players ist schon jetzt mit nationalen Gesetzen und Regulierungen kaum beizukommen. Wenn das TTIP eingeführt wird, können sie noch schrankenloser agieren. Microsoft-Gründer Bill Gates startete 2010 gemeinsam mit dem Investor Warren Buffet die Kampagne „The Giving Pledge“, das Versprechen, zu geben: Milliardäre verpflichten sich – moralisch, nicht rechtlich bindend – mindestens die Hälfte ihres Vermögens für einen guten Zweck herzugeben. Wohin dieses Geld fließt und wann, das entscheidet jedes Giving Pledge-Mitglied für sich. Solche Philanthropie ändert nichts an den Ungerechtigkeiten der globalen Weltwirtschaft, sondern stabilisiert vielmehr die herrschenden Verhältnisse. Statt dem Hype des Teilens zu erliegen, kommt es darauf an genau hinzuschauen und die Akteure und ihre Interessen kritisch zu hinterfragen. Zwischen Teilen und Umverteilen liegen Welten. www.gegenblende.de Seite 42 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Literatur/Quellen: [1]böll Thema: Seitenwechsel. Die Ökonomien des Gemeinsamen, Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung, Ausgabe 1 2014: http://leipzig.degrowth.org/de/2014/06/die-okonomien-des-gemeinsamen-einbeitrag-der-heinrich-boll-stiftung-zur-degrowth-konferenz/#more-36019 [2]Barbara Unmüßig im Editorial von „Die Ökonomien des Gemeinsamen“, Seite 1. [3]Viele Projektbeispiele und kritische Reflektionen finden sich in der Broschüre: Nachhaltigkeit erleben! Eine Reise durch eine andere Welt. Herausgeber: Projekthaus Potsdam, 2014: http://www.projekthaus-potsdam.de/projekte-deDE/oekologie-de-DE/bildung-fuer-nachhaltigeentwicklung/#BNE_Brosch%C3%BCre [4]Annette Jensen,Ute Scheub: Glücksökonomie. Wer teilt hat mehr vom Leben, oekom Verlag, München, 2014: http://www.gluecksoekonomie.net [5]„Kollaboration“ definiert der Duden als eine „gegen die Interessen des eigenen Landes gerichtete Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner, mit der Besatzungsmacht“: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/kollaboration. Die Verwendung des Begriffs in Sharing-Zusammenhängen orientiert sich an der englischen Bedeutung des Begriffs „collaboration“ = „Zusammenarbeit“. [6]Diese kulturelle Verankerung des Bewertens und Vergleichens wird von der Bertelsmann-Stiftung seit Jahren mit fast religiösem Eifer propagiert. [7]Marvin Oppong: Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visir von Unternehmen. OBS Arbeitsheft 76, Neufassung 2014: https://www.otto-brennershop.de/publikationen/obs-arbeitshefte/shop/verdeckte-pr-in-wikipedia-ah76.html [8]So bekam Karl-Theodor zu Guttenberg zu seinen vielen Vornamen auch noch einen Wilhelm dazu, der Berliner Karl-Marx-Allee wurde der Spitzname „Stalins Badezimmer“ angedichtet, siehe OBS-Arbeitsheft, Seite 34ff [9]Werner Rügemer: Das „Wissen der Menschheit“ zwischen Naivität und Fälschung. Wie Wikipedia die Wahrheitsfrage ausblendet. Neue Rheinische Zeitung, 02.04.2014: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20188 [10]Couchsurfing bietet seine Dienste unentgeltlich an, sichert sich jedoch mit seinen Nutzungsbedingungen das Recht zur uneingeschränkten Verfügung über die Daten www.gegenblende.de Seite 43 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 seiner KundInnen. Dies verstößt gegen das deutsches Datenschutzrecht, allerdings sitzt die Firma in den USA. [11]taz-Beilage vom 30.05.2014 „Sharing City Berlin – von der geteilten Stadt zur teilenden Stadt“: http://www.leilaberlin.de/fileadmin/pdf/presse_TAZ_ouishare_summit_magazine_2014.pdf [12]Accenture: Insights, Ausgabe 1, 2013, Editorial, Seite 2: http://www.accenture.com/Microsites/basleswitzerland/Documents/PDF/Accenture-Insights_2013-Ausgabe-21-02.PDF [13]LOHAS = Lifestyle Of Health And Sustainability. Zur Kritk daran vgl. Kathrin Hartmann: Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt, Karl Blessing Verlag, München, 2. Aufl. 2009: http://www.ende-dermaerchenstunde.de/ [14]Website Polly & Bob, Neue Nachbarschaft: http://blog.pollyandbob.com/newneighborhood/?lang=de Autorin: Elisabeth Voß, freiberufliche Betriebswirtin und Publizistin, lebt in Berlin Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive vom 13.-21. Jahrhundert von Andrea Komlosy In unserer Gesellschaft wird der Sinn und Wert des Lebens und somit soziale Teilhabe maßgeblich über Arbeit hergestellt. Was aber verstehen wir unter Arbeit? Unser heutiges Verständnis von Arbeit stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts: Damals wurde Arbeit in Gesetzen und Verordnungen als geregelte Erwerbstätigkeit festgeschrieben. Erwerbsarbeit berechtigte nicht nur zu Entgelt, sondern auch zu Sozialleistungen. Wer keine Erwerbsarbeit hatte, war arm und abhängig von Angehörigen, die für den Unterhalt sorgten. Wenn es keine Familie gab, war man abhängig von Armenunterstützung. Alle anderen Tätigkeiten, die dem nun vorherrschenden, kodifizierten Bild der Arbeit nicht entsprachen, wurden somit zur www.gegenblende.de Seite 44 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Nicht-Arbeit. Dies schlug sich auch in der Sprache nieder: „Arbeiten Sie?“, wird in aller Regel nur jemand positiv beantworten, der über Erwerbsarbeit verfügt. Die Verengung des Arbeitsbegriffs auf regulierte, mit sozialer Absicherung verbundene Erwerbsarbeit ist Ausdruck eines eurozentrischen Blicks. Auf agrarische, nicht-industrialisierte Gesellschaften, in denen Subsistenzlandwirtschaft, allerlei informelle Formen des Sich-Durchbringens sowie unterbezahlte Tätigkeiten überwiegen, trifft dieser Blick nicht zu. Das liegt auch daran, weil dieser neue Blick ein männlicher ist. Frauen, die im Haushalt und in der Familienwirtschaft arbeiten, fallen aus dem neuen Arbeitsbegriff heraus. Dies gilt jetzt für alle unbezahlten Tätigkeiten, unabhängig vom Geschlecht. Die Entwertung der unbezahlten Frauenarbeit wirkt sich auch auf die Bewertung der bezahlten Frauenarbeit aus, die oft als Zuverdienst angesehen wird. Leisten Frauen professionelle Versorgungs- und Pflegedienste, erwartet man auch dort „Arbeit aus Liebe“, die geringer entlohnt werden kann, weil sie Frauen auf den Leib geschrieben ist. Unbezahlte Arbeit Den un- und unterbezahlt Arbeitenden ist die Entwertung ihrer Tätigkeiten gemeinsam. Sie werden nicht von der kapitalistischen Aneignung ihrer Arbeitsleistung verschont. Diese erfolgt indirekt über die Beschäftigung des Lohnarbeiters, denn dieser kann ohne unbezahlte Haus- und Sorgearbeit in der Familie nicht existieren. Während er Geld nach Hause bringt, transferiert er die unbezahlte Arbeitsleistung der Familienangehörigen zum Unternehmer, der somit nicht nur Mehrwert aus der bezahlten Arbeit des Lohnarbeiters, sondern auch Transferwert aus der unbezahlten Arbeit der Familienangehörigen schöpft. Dies trifft auch für Lohnarbeiterinnen zu. Bezahlte und unbezahlte Arbeiten können auch in ein- und derselben Person kombiniert werden: morgens Hausfrau, tagsüber Lohnarbeiterin, abends Ehefrau und Mutter. Über den indirekten Zugriff auf die unbezahlte Arbeit im Familienhaushalt hinaus wird unbezahlte Arbeit über Wertschöpfungsketten angeeignet. Durch die Verlagerung einzelner Fertigungsschritte an ArbeiterInnen, die an Billiglohnstandorten tätig sind, können Kosten gesenkt werden. Warum aber kann am low end der Wertschöpfungskette so kostengünstig produziert werden? Einerseits aufgrund von niedrigen Steuern und Anreizen der Regierungen im Standortwettbewerb, andererseits weil die ArbeiterInnen, um mit den niedrigen Löhnen und Sozialleistungen überhaupt überleben zu können, unbezahlte Versorgungsarbeit ihrer Familienangehörigen aktivieren, die sie auch im Fall von Arbeitsplatzverlust, Erkrankung oder im Alter auffangen. Ein ähnlicher Mechanismus der Aneignung unbezahlter Familienarbeit tritt bei ArbeitsmigrantInnen in Kraft: erstens wird deren Arbeitskraft von der Familie im Herkunftsland hergestellt, das solcherart durch Brain drain und Care drain www.gegenblende.de Seite 45 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 geschwächt wird, andererseits greifen sie regelmäßig auf die Leistungen der heimatlichen Haushalte zurück, die als Sicherheits- und Versorgungsnetz dienen. Die monetären Rücküberweisungen können die Bereitstellungen aus den Heimatländern in keiner Weise aufwiegen. Erwerbsarbeit – eine europäische Erfindung Der eurozentrische Arbeitsbegriff hat im 20. Jahrhundert eine Universalisierung erfahren. Alles misst sich am Vorbild der geregelten, gesicherten Erwerbsarbeit, die in den alten Industrieländern stark ausgeweitet und zum Inbegriff des „Normalarbeitsverhältnisses“ wurde. Frauen forderten die gleichberechtigte Teilhabe, Entwicklungsländer strebten sie im Rahmen nachholender Industrialisierung an. Trotz der Ausweitung kommodifizierter Arbeit hat eine Verallgemeinerung nicht stattgefunden. Es entstanden immer wieder neue unterbezahlte Arbeitsverhältnisse, und die unbezahlte Arbeit verschob sich vom materiellen in den immateriellen Bereich. In Entwicklungsländern bleibt die mit der Ausweitung von Lohnarbeit verbundene Hoffnung auf soziale Absicherung unerfüllt. Schließlich hat der Strukturbruch der 1970er Jahre, der die Verlagerung der industriellen Massenproduktion aus den alten Industrieländern in Newly Industrializing Countries (NIC) im globalen Süden, aber auch in Osteuropa ausgelöst hat, die für selbstverständlich gehaltenen Rechte und Sicherheiten der europäischen ArbeiterInnenklasse in Frage gestellt. Die neoliberale Deregulierung und Flexibilisierung im Zuge der Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten führte in vielen Branchen zu einer Angleichung nach unten. Die neue globalisierte Arbeitswelt hat mit dem alten „Normalarbeitsverhältnis“ nichts mehr zu tun. Um die Veränderungen verstehen zu können, macht es keinen Sinn, den erwerbsorientierten, eurozentrischen, männlich-proletarischen Arbeitsbegriff aufrechtzuerhalten. Wie – mit Ausnahme der europäischen Wohlfahrtsstaaten im Zeitraum zwischen ca. 1880 und 1980 – weltweit üblich, koexistieren heute überall, innerhalb und zwischen den Staaten, bezahlte und unbezahlte, regulierte und ungeregelte, freie und unfreie, formelle und informelle Arbeitsverhältnisse. Es lässt sich in der langfristigen Entwicklung keine Tendenz zu zunehmender Formalisierung und sozialer Absicherung ausmachen. Vielmehr zeichnet sich die Arbeitswelt durch die Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse aus, die über persönliche und familiäre Kombinationen, Güter- und Migrationsketten kombiniert und so dem Werttransfer unterzogen werden, der an den high ends, den Zentralen der globalen Wertschöpfungsketten angeeignet wird. Un- und unterbezahlte, ungesicherte, prekäre Arbeit sind, anders als bürgerliche und marxistische Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert aufgrund von Entwicklungstendenzen in den westlichen Zentren vermuteten, keine Relikte aus vorkapitalistischen Zeiten, die mit zunehmender Kommodifizierung und Kapitalisierung verschwinden würden, sondern immanente Bestandteile des globalen Kapitalismus. Sie werden im zyklischen Verlauf www.gegenblende.de Seite 46 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 sowie in den regionalen und überregionalen Zusammensetzungen unterschiedlich miteinander kombiniert und ermöglichen so die weitere Kapitalakkumulation. Ein Rückblick auf Arbeit Der Rückblick in die Herausbildung und Veränderung von Arbeitsbegriffen und Arbeitsverhältnissen in der Geschichte erweist sich als unerlässlich, um ein Verständnis für Arbeit im gegenwärtigen globalen Kapitalismus zu erlangen. Dabei müssen alle Formen von Arbeit gleichermaßen in den Blick genommen werden. In sechs Zeitabschnitten können die Veränderungen illustriert werden: Das Jahr 1250 steht für die Verdichtung des Austauschs von Gütern des täglichen Bedarfs im Zusammenhang mit der Herausbildung eines eurasischen Weltsystems. Die Impulse aus Asien begünstigten in Europa die Urbanisierung und die Herausbildung des spezialisierten Handwerks und dessen Organisation in Zünften. Im städtischen Handwerk begann sich ein werkzeug- und qualitätsorientierter Arbeitsbegriff zu entwickeln, der sich von der Mühsal im Haus und in der Landwirtschaft abhob. Das Jahr 1500 steht für das westeuropäische Ausgreifen auf amerikanische Plantagen und Bergwerke. Die Arbeit, die Indigene und Sklaven zur Erwirtschaftung von Rohstoffen verausgabten, floss in das westeuropäische Gewerbe ein, das sich auf Fertigwaren konzentrierte. Auch innerhalb von Europa begann sich eine Arbeitsteilung zwischen westlichen Gewerberegionen und osteuropäischen Agrarregionen herauszubilden, die Waldprodukte, Marinebedarfsgüter und Nahrungsmittel zulieferten. Im globalen Kontext waren die Kompetenzzentren der gewerblichen Produktion jedoch in West-, Süd- und Ostasien angesiedelt. Europäische Handelskompagnien und ihre Regierungen setzten alles daran, am innerasiatischen Handel mit gewerblichen Artikeln zu partizipieren. Sie verwendeten dafür Silber, das ihnen aus der Plünderung der amerikanischen Minen zur Verfügung stand. Um 1700 trat in der gewerblichen Produktion neben die häusliche Selbstversorgung der Dörfer und die städtischen Zunfthandwerker das von Händlern betriebene Verlagswesen: Diese Händler beschränkten sich nicht auf Gewerbewaren, die vor Ort gefertigt wurden, sondern sie verbanden die ländlichen Produzenten durch ihre Aufträge in einer von ihnen kontrollierten Arbeitsteilung und eröffneten damit Wertschöpfungsketten klein- und großräumiger Reichweite. Die asiatische Handwerkskunst stand nach wie vor an der Weltspitze, indische Baumwolltextilien gelangten über die britische East India Company auf europäische, afrikanische und amerikanische Märkte. Afrikanische Sklavenhändler nahmen indische Textilien in Zahlung, amerikanische Plantagensklaven trugen Kleidung aus indischen Baumwollstoffen. Die diversen, lokal bestehenden Arbeitsverhältnisse wurden einer www.gegenblende.de Seite 47 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 ungleichen internationalen, unter westeuropäischer Ägide stehenden Arbeitsteilung einverleibt. Um 1800 verschob sich mit der industriellen Revolution die Kontrolle über die globalen Güterketten in jene westeuropäischen Regionen, die die gewerbliche Produktion in Fabriken mit mechanischem Antrieb zentralisierten. Mit der Mechanisierung verlagerte sich die Lohnarbeit von Haus und Werkstatt in die Fabrik: Dies trug zu einer gänzlich neuen Erfahrung von Arbeit bei. Für Arbeiter bedeutete Fabrikarbeit, auf ein Lohneinkommen angewiesen zu sein. Aus der Ausbeutungserfahrung resultierten Anstrengungen, die Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Für Unternehmer war die Arbeitskraft ein reiner Kostenfaktor, der durch die Aneignung der in der Lohnarbeit geschaffenen Werte die Kapitalakkumulation ermöglichte. Die Arbeit, die im Haus verblieb und sowohl zum familiären Überleben als auch zur betrieblichen Wertschöpfung beitrug, wurde nicht als Arbeit wahrgenommen. Trotz der antagonistischen Positionen waren Lohnarbeit und Kapital eng aneinander gebunden. Erst um 1900 trat die Verengung des Arbeitsbegriffs auf außerhäusliche Erwerbsarbeit ihren globalen Siegeszug an. Indem der neue, auf moderne Lohnarbeit beschränkte Arbeitsbegriff weltweit Eingang in die Gesetzeswerke, die Planvorgaben der Regierungen und die Forderungslisten der ArbeiterInnenbewegung fand, eroberte er sich einen, den Diskurs des 20. Jahrhunderts bestimmenden Platz. Global gesehen war für die Mehrheit der Arbeiterinnen die Kombination bezahlter mit ungesicherten und unbezahlten Arbeitsverhältnissen jedoch weiterhin vorhanden. Als die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, mit der die Krise der industriellen Massenproduktion seit den 1980er Jahren in Angriff genommen wurde, das klassische „Normalarbeitsverhältnis“ auch in den entwickelten Industrieländern in den Hintergrund drängte, hat sich der Diskurs über Arbeit wieder weit geöffnet. Eingespielte Muster, Bilder und Begriffe gelten nicht länger. Dies hilft den zunehmend global agierenden Unternehmern, die arbeitsrechtlichen Standards und sozialpolitischen Sicherheiten – die vormals mit Sozialdemokratie und Sozialpartnerschaft in Westeuropa und den kommunistischen Parteien in Osteuropa etabliert wurden – wieder zurückzudrängen. Die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien stehen nun vor großen Herausforderungen. Während der Zusammenbruch des realen Sozialismus und die Öffnung Chinas die soziale Frage diskreditiert und tabuisiert haben, melden sich die weltweit Ausgebeuteten und Prekarisierten wieder zu Wort. Um 2010 ist es deshalb mehr als angebracht, für die Debatten um die Zukunft der Arbeit eine neue konzeptionelle Grundlage zu entwickeln. www.gegenblende.de Seite 48 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Weitere Anregungen für die Debatte um den Arbeitsbegriff gibt es in: ARBEIT. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert http://www.mediashop.at/typolight/index.php/buecher/items/andrea-komlosy--arbeit Das Buch will Grundlagen für das Verständnis und die Debatte von Arbeit im globalen Kapitalismus zur Verfügung stellen. Ein systematischer Teil bietet Konzepte, Begriffe, Arbeitsdiskurse, sprachliche Entwicklungen sowie Vorschläge für neue Analysekategorien, die der Vielfalt, Kombination und Aneignung unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse gerecht werden. In einem zweiten Teil werden ausgehend von Zentraleuropa die über Handel, Güterketten und Migration vermittelte Kombination von Arbeitsverhältnissen auf örtlicher, überregionaler und großräumiger Ebene exemplarisch aufgezeigt. Autorin: Prof. Dr. Andrea Komlosy, geboren 1957, Universitätsprofessorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Der zweifelhafte Exporterfolg der Bundesrepublik – Ursachen und Gründe von Stefan Beck Im Verlauf der Krise mehrten sich die Beiträge, welche die anhaltenden Export- bzw. Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik kritisch betrachten. Der Nobelpreisträger Paul Krugman, die US-Regierung, der Internationale Währungsfond und die Europäische Kommission äußerten diesbezüglich Bedenken. Dagegen weisen deutsche Wirtschafts- und Medienvertreter und ebenso die Bundesregierung regelmäßig alle entsprechenden Vorwürfe kategorisch zurück und präsentieren im Gegenteil die Exportüberschüsse gerne als vorbildhaft. Die Fronten scheinen klar. Auf der einen Seite werden die deutschen Überschüsse und die dahinterstehenden Politiken vor allem nach dem Jahr 2000 als mitverantwortlich für die internationalen Leistungs- und Zahlungsbilanzungleichgewichte angesehen. Die mitunter als „beggar-myneighbour“-Strategie bezeichneten Politiken gingen auf Kosten anderer Länder und www.gegenblende.de Seite 49 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 förderten Krisentendenzen. Auf der anderen Seite werden in Deutschland die Überschüsse als Leistungs- und Qualitätsnachweis betrachtet und die Verantwortung für bestehende Handelsungleichgewichte den Defizitländern bzw. deren Wirtschaftspolitik zugeschrieben. Im Folgenden soll nicht nur der Frage nach den transnationalen Implikationen der deutschen Exportüberschüsse nachgegangen werden. Darüber hinaus wird die These vertreten, dass die Überschüsse mittlerweile mindestens ebenso unvorteilhaft für die binnenwirtschaftliche Entwicklung und mitverantwortlich für die relative Wachstumsschwäche und zunehmende Ungleichheit seit den 1980er Jahren sind. Trifft letzteres zu, so ist insbesondere aus Sicht der Beschäftigten und Gewerkschaften zu fragen, wie diese Form eines Merkantilismus in der Politischen Ökonomie der Bundesrepublik institutionalisiert ist, reproduziert wird und gegebenenfalls überwunden werden könnte. Hierzu soll auf die historische Entwicklung und den Wandel des bundesrepublikanischen Merkantilismus eingegangen werden. Vom fordistischen zum kompetitiven Merkantilismus In der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik sind Exportüberschüsse kein exklusives Phänomen der jüngsten Vergangenheit, sondern avancierten bereits in den 1950er Jahren zu einem bevorzugten Erklärungselement des deutschen „Wirtschaftswunders“. Doch während die Überschüsse bis in die siebziger Jahre hinein mit relativ hohen Wachstumsraten einher gingen, klafften in Deutschland seit den achtziger Jahren und im Vergleich zu ähnlich entwickelten OECD-Ländern außenwirtschaftlicher Erfolg und binnenwirtschaftliches Wachstum zunehmend auseinander. Diese Entwicklung wirft verschiedene Fragen auf. Zum einen, wie lässt sich der Wandel zwischen den 70er und 80er Jahren ökonomisch erklären und welche Rolle kommt dabei den Exportüberschüssen zu? Zum anderen, welche Bedeutung kam und kommt der ausgeprägten Exportorientierung im Kontext des so genannten Modell Deutschland zu und weshalb ist diese nach wie vor prägend, obwohl der binnenwirtschaftliche Erfolg dieser Strategie zunehmend fragwürdig geworden ist? Die Herausbildung der Exportstärke und -orientierung in den 50er Jahren war eine Folge des Zusammentreffens verschiedener internationaler und nationaler Faktoren. Nach dem Anschub der deutschen Exporte infolge des Koreakrieges war es insbesondere die Weltwirtschaftsordnung von Bretton Woods, die vor allem durch fixe Wechselkurse und Kapitalverkehrsbeschränkungen binnenwirtschaftlich expansive Strategien und eine Ausweitung des internationalen Handels begünstigte. Die wachsende internationale Nachfrage traf dabei auf ein industrielles und produktionsorganisatorisches Spezialisierungsmuster der deutschen Wirtschaft, das sich seit dem 19ten Jahrhundert herausgebildet hatte und nun durch die Dynamik www.gegenblende.de Seite 50 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 der Exportsektoren noch verstärkt wurde. Setzte sich einerseits das fordistische Produktionsmodell in Deutschland nur partiell durch, so profitierte Westdeutschland zugleich über die Exporte von der fordistischen Wachstumsdynamik anderer Länder. Die Exportstärke basierte allerdings nicht allein auf den Formen einer diversifizierten Qualitätsproduktion. Zugleich sicherten eine anhaltende Unterbewertung der DMark, die Schwächung der Arbeiterbewegung und das Zurückbleiben der Löhne während des Nationalsozialismus sowie schließlich die Charakteristika der industriellen Beziehungen die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft. Zum einen ermöglichte die duale Struktur der industriellen Beziehungen einen Korporatismus, in dem Lohnforderungen gegen Formen der betrieblichen Partizipation getauscht wurden, und zum anderen erfüllte die Lohnführerschaft der IG Metall eine Art Scharnierfunktion. Die IG Metall hatte nicht nur aufgrund ihrer starken Basis im Exportsektor ein Interesse an einer moderaten, d.h. die Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährdenden Lohn- und Preisentwicklung, sie war auch groß genug, um ggf. geldpolitische Gegenreaktionen der Bundesbank zu provozieren. Das den fordistischen Merkantilismus kennzeichnende dynamische Zusammenspiel zwischen Exporten und binnenwirtschaftlicher Dynamik geriet jedoch in den siebziger Jahren unter wachsenden Druck von innen und außen. Im Inland war es die – nach Preiserhöhungen der Arbeitgeber – einsetzende Inflation, die die korporatistischen Beziehungen belastete und die Bundesbank – erst recht nach den massiven Ölpreissteigerungen – zu einem restriktiveren Kurs bewegte. Zugleich brach mit der Krise des Fordismus die internationale Nachfrage ein und mit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen geriet die D-Mark unter wachsenden Aufwertungsdruck. Weiter verstärkt wurde die restriktive, stabilitätsorientierte Geldpolitik der Bundesbank schließlich durch die wachsende internationale Konkurrenz zwischen den Leitwährungen, wodurch deren Vermögenssicherungsfunktion in den Vordergrund rückte. Die restriktive Geldpolitik trug nicht nur zum Ansteigen der Arbeitslosigkeit und der staatlichen Verschuldung, sondern ebenso zur Durchsetzung angebotsorientierter Politiken und der konservativ-liberalen Wende 1982 bei. Poltisch geschwächte Gewerkschaften und staatliche Ausgabenbeschränkungen verstärkten in den 80er Jahren die Lohnzurückhaltung und brachten die Bundesrepublik zwischenzeitlich an den Rand einer Deflation, während neoliberale Politikvorstellungen und die „geistigmoralische“ Wende zu einer zunehmenden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Entsolidarisierung beitrugen. Im Übergang zum kompetitiven Merkantilismus nahm nicht nur die internationale Währungs- und Warenkonkurrenz zu, der Wettbewerbsgedanke wurde auch auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche von der Bereitstellung öffentlicher Güter bis hin zum Arbeitsmarkt und konkurrierenden Individuen ausgeweitet. Steuerungsgrößen waren nun nicht mehr makroökonomische Größen, z.B. die Nachfrage, sondern die Angebotsbedingungen und das individuelle Vermögen. www.gegenblende.de Seite 51 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Ungleichheit und Wettbewerbskorporatismus im kompetitiven Merkantilismus Der intensivierte internationale Wettbewerb und eine aufgewertet D-Mark führten nicht zu einem Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, wie es in der „Standortdebatte“ oft proklamiert wird, wohl aber zu einem höheren zu leistenden „Preis“ und einer Umverteilung der Lasten, die mit der Aufrechterhaltung der Exportüberschüsse verbunden waren. Die Anteilsverluste auf dem Weltmarkt hielten sich in Grenzen und während der 90er und 2000er Jahre fanden z.B. der Maschinenbau oder die Autoindustrie zu alter Stärke zurück. Zugleich sank aufgrund moderater Lohnabschlüsse und arbeitsmarktpolitischer Deregulierungen seit den 80er Jahren langfristig – bei steigender Belastung der Löhne durch Steuern und Abgaben – die Lohnquote und die vormals positive Lohndrift wurde bis auf wenige Ausnahmen durchgängig negativ. Die Einkommensungleichheit, atypische Beschäftigungsformen und der Niedriglohnsektor hielten sich bis in die 90er Jahre noch in Grenzen, doch dann wuchsen sie im Gefolge der rot-grünen Arbeitsmarktund Sozialreformen dramatisch an. Dieser deutsche Merkantilismus wurde außenwirtschaftlich durch die europäische Integration (Absatzmarkt, stabile Währung, reale Unterbewertung) begünstigt, so waren es binnenwirtschaftlich die deutsche Wiedervereinigung und die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen, die wesentlich zur Entfaltung des kompetitiven Merkantilismus beitrugen. Die mit dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche einsetzende Dezentralisierung der industriellen Beziehungen nahm im Gefolge der Wiedervereinigung erheblich zu. In Ostdeutschland, dem neuen arbeitspolitischen Experimentierfeld, und später auch in Westdeutschland führten die aggressivere Tarifpolitik der Arbeitgeber mit der Einführung von Öffnungs- und Härtefallklauseln und der zunehmenden Verbandsflucht zu einem massiven Rückgang der Tarifbindung und einer Zunahme von Firmen-Tarifverträgen. Die Folge war jedoch nicht ein tarifpolitischer Wildwuchs mit unkontrollierten Arbeitskämpfen, sondern vielmehr die Herausbildung hierarchisch ausdifferenzierter Formen eines Wettbewerbskorporatismus. An der Spitze der Hierarchie stehen größere, gewerkschaftlich organisierte Unternehmen des Exportsektors, die geschrumpfte Spielräume für Preisaufschläge auf dem Weltmarkt entweder über den Abbau tariflicher Leistungen zu Lasten der Nicht-Kernbelegschaften oder über Kostendruck auf die Vorleistungsproduzenten oder ausgelagerte Produktionsbereiche abwälzen. Eine weitere Strategie der Kompensation wurden schließlich auch Steuervermeidungsstrategien auf Kosten der Steuerzahler. Die kleinen, oft binnenmarktorientierten Unternehmen haben angesichts schwacher Inlandsnachfrage und sehr niedriger Inflationsraten wesentlich geringere Spielräume, Kostensteigerungen über die Preise weiterzugeben. In der Mitte der Hierarchie befinden sich dann v.a. mittelständische Unternehmen mit Betriebsräten, die im Gegenzug zu begrenzten Mitspracherechten und Beschäftigungszusagen bereit www.gegenblende.de Seite 52 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 sind, sich betriebskorporatistisch auf Lohn- und Arbeitszeitzugeständnisse einzulassen. Unten in der Hierarchie befinden sich schließlich überwiegend kleine und unorganisierte Betriebe (in gewerkschaftlich schlecht organisierten Dienstleistungsbranchen auch größere Unternehmen) mit niedrigen Löhnen und zunehmend unsicheren oder prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die rot-grünen Reformen komplettierten letztlich diese Hierarchie am unteren Ende durch die Ausweitung atypischer Beschäftigungsformen und die Instrumentalisierung der Arbeitslosigkeit bzw. der politisch weitgehend ohnmächtigen Arbeitslosen, wodurch der Druck auf das allgemeine Lohnniveau nochmals erhöht wurde. Die ökonomischen und sozialen Konsequenzen des kompetitiven Merkantilismus Das langfristige Zurückbleiben der Löhne bzw. die Nicht-Ausschöpfung des verteilungs- und inflationsneutralen Spielraumes haben nicht nur zu einem im internationalen Vergleich deutlich geringeren Anstieg der Lohnstückkosten und somit zu einer Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen, sondern auch die binnenwirtschaftliche Nachfrage spürbar geschwächt. Mittlerweile liegt eine Reihe ökonomischer Untersuchungen vor, die zu dem Ergebnis kommen, dass die deutsche Wirtschaft nach wie vor lohngetrieben ist und sich somit die Umverteilung zu Lasten der Löhne langfristig negativ auf Wachstum und Beschäftigung auswirken (vgl. z.B. Stockhammer/Hein/Grafl 2007; Joebges/Schmalzbauer/Zwiener 2009). Gleichzeitig sind aber auch die positiven Impulse der Exportüberschüsse zunehmend schwächer geworden. Die materiellen Vorteile, die sich für die Beschäftigten aus der Exportorientierung ergeben, korrelieren positiv mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad, während umgekehrt jedoch die entsprechenden Kernbelegschaften und die Lohndrift relativ geschrumpft sind, so dass die Multiplikatoreffekte des Exports auf die inländische Konsumnachfrage limitiert sind. Entsprechend bildet sich ein zyklisches Muster auf niedrigem Wachstumsniveau heraus, bei dem die Gewerkschaften nur im Gefolge boomender Exporte höhere Abschlüsse durchsetzen können. Weiter unten in der Hierarchie wiederum verschärfen die fehlenden Wachstumsimpulse in einer Art kompetitivem Null-, wenn nicht gar Negativsummenspiel den Druck und die Bereitschaft in einen Unterbietungswettbewerb einzutreten. Die merkantilistische Ausrichtung reproduziert damit letztlich die Bedingungen, welche die Akteure veranlassen, sich dem entsprechend zu verhalten. Die Reproduktion des deutschen Exporterfolgs wird aber nicht nur mit den Einbußen der gering-verdienenden Beschäftigten und einer zunehmenden Ungleichverteilung erkauft. Das Pendant zu einer durch Lohn- und Konsumverzicht erhöhten Wettbewerbsfähigkeit ist auch ein Zurückbleiben der Importnachfrage, wodurch die www.gegenblende.de Seite 53 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Absatzmöglichkeiten anderer Länder begrenzt und diese zugleich unter preislichen Anpassungsdruck gesetzt werden, der dort wiederum auf die Löhne und die Sozialpolitik abgewälzt wird. Da aufholende Ökonomien mit einem niedrigerem Durchschnittseinkommen in der Regel ein höheres Lohnwachstum aufweisen, dass nicht immer durch entsprechende Produktivitätszuwächse kompensiert werden kann, wachsen die Ungleichgewichte nahezu zwangsläufig mit der Konsequenz, dass diese Länder früher oder später in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geraten. Kommt es schließlich zu einer schweren Krise, wie zuletzt in Europa, zahlen vor allem die Lohnabhängigen und die sozial schwächsten Haushalte die Zeche. In den Krisenländern durch Lohnkürzungen, Austeritätspolitiken und einen Abbau sozialer Leistungen und in Deutschland einmal durch den Lohnverzicht, der zunächst die Überschüsse gefördert hat, und ein zweites Mal – als Steuer- und Abgabenzahler – durch die Kompensation der Vermögensbesitzer, deren Ansprüche gegenüber den Krisenländern an Wert verloren haben. Der kompetitive Merkantilismus lässt sich kaum mehr als nationalökonomische Wachstumsstrategie begreifen, sondern bildet vielmehr ein Vehikel der transnationalen Umverteilung von den Lohnabhängigen und Einkommensschwachen hin zu den Vermögensbesitzern und Kapitaleinkommen. Literatur/Quellen: Beck, Stefan (2014) Vom fordistischen zum kompetitiven Merkantilismus. Die Exportorientierung der Bundesrepublik Deutschland, unter: http://www.metropolisverlag.de/Vom-Fordistischen-zum-Kompetitiven-Merkantilismus/1074/book.do Joebges, H./Schmalzbauer, A./Zwiener, R. (2009): Der Preis für den Exportweltmeister Deutschland: Reallohnrückgang und geringes Wirtschaftswachstum, IMK Studies, Nr. 4/2009, Düsseldorf. Stockhammer, E./Hein, E./Grafl, L. (2007): Globalization and the effects of changes in functional income distribution on aggregate demand in Germany; Working Paper, 114, Institut für Volkswirtschaftstheorie und -politik, WU Vienna University of Economics and Business, Vienna, http://epub.wu.ac.at/1104/1/document.pdf Autor: Stefan Beck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel www.gegenblende.de Seite 54 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 „Einfache Dienstleistungen“ in der Wertschöpfungskette von Philipp Staab Noch nie waren in der Bundesrepublik so viele Menschen erwerbstätig wie heute. Nach Jahren der Lohnzurückhaltung, schmerzhaften Einschnitten im Netz wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist der kranke Mann Europas gesundet. Therapien sind freilich selten frei von Nebenwirkungen. Der Boom am Arbeitsmarkt ist teuer erkauft. 8,4 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor zu Stundenlöhnen von unter 9,30.[1] Im Gefolge schwacher Tarifabschlüsse, sozialer Entsicherung und der nachhaltigen Prekarisierung von Arbeit „explodiert“ derzeit die Ungleichheit in der Bundesrepublik.[2] Diese Entwicklung geht allerdings nicht nur auf arbeitsmarktund sozialpolitische Maßnahmen zurück. Sie ereignet sich im Kontext eines strukturellen Wandels der Arbeitsgesellschaft weg von einer primär industriellen, hin zu einer auf Dienstleistungen basierenden Wertschöpfung. Ein solcher Prozess prägt die Gesellschaften der OECD-Welt im Allgemeinen. Man sollte sich von der bemerkenswerten Stabilität des industriellen Kerns in der Bundesrepublik nicht täuschen lassen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten auch in Deutschland in Dienstleistungsberufen.[3] Ungleichheit in der Dienstleistungsgesellschaft Privilegien sind in der Dienstleistungsgesellschaft sehr ungleich verteilt. Der industrielle Kern ist solide, die Dienstklassen[4] – Ingenieure, Anwälte, Ärzte, Designer, etc… – werden immer mehr und verdienen auch besser.[5] Vom Rande der Arbeitsgesellschaft betrachtet, aus der Perspektive der industriellen Leiharbeit oder aus der Warte der zahlreichen schlechtbezahlten Dienstleistungsjobs der Gegenwart, sieht die Sache ganz anders aus. Vor allem die „einfachen“ Dienstleistungen sind arbeitspolitisch isoliert. Die dort Beschäftigten haben das historische Erbe der proletarischen Lagen am Arbeitsmarkt angetreten, sammeln sich aber nicht mehr unter dem Dach großer Industriebetriebe, machen kaum Erfahrungen arbeitsteiliger Sozialintegration. „Einfache“ Dienstleistungsarbeit ist kundenorientiert. Sie erfolgt dezentral: Die Reinigungskraft kommt nach Hause oder ins Büro, das Paket wird bis zur Haustür gebracht, ein Supermarkt ist immer um die Ecke. „Einfache“ Industriearbeit war Männerarbeit. Sorge, Säubern und Service werden dagegen auch am Arbeitsmarkt mehrheitlich von Frauen erbracht. Weite Teile des Einzelhandels, Reinigung, Facility Management, Gebäudeservices, Post- und Paketdienste, aber teilweise auch Pflegeberufe sind zum Sammelbecken für Rationalisierungs- und Zertifikationsverlierer, für Neuankömmlinge auf dem Arbeitsmarkt und für jene www.gegenblende.de Seite 55 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Kinder der alten Industriearbeiterschaft geworden, denen kein sozialer Aufstieg gelungen ist. Wissensarbeiter und die Beschäftigten der „einfachen“ Dienste nehmen sehr unterschiedliche Machtpositionen am Arbeitsmarkt ein. Die hochqualifizierten Dienstklassen sind oft an den industriellen Kern der Arbeitsgesellschaft gebunden (Planung, Entwicklung, Design etc.), können daher von dessen enormer Produktivität und kollektivrechtlichen Regulierung profitieren. Es handelt sich um hochgebildete Spezialisten, die in der Regel auch eine individuelle Verhandlungsmacht besitzen. Dies schlägt sich in ihren vergleichsweise hohen Gehältern und Rentenerwartungen nieder. [6] Ganz anders die „einfachen“ Dienste, die, konservativ gerechnet, ca. 11% der Arbeitnehmerschaft in der Bundesrepublik versammeln.[7] Sie haben die geringste gewerkschaftliche Organisationsdichte aller Arbeitsmarktsegmente[8] und sind häufig betriebsratsfreie Zonen[9], arbeiten aber häufig in unverzichtbaren Segmenten der Wertschöpfungsketten. Den Aufstieg der Wissensarbeiter erleben die Beschäftigten der „einfachen“ Dienste vor allem als ungleichen Kampf um knappe Ressourcen. Sie sitzen nicht an den vollen Trögen der Industrie, können auch nicht mit Bildungszertifikaten punkten. Die „einfachen“ Dienste sind daher häufig das erste Opfer systematischen Kostendrucks. Wenn beispielsweise in einem Krankenhaus die Löhne der Ärzte oder in einem Pflegeheim die Gehälter der examinierten Kräfte steigen, das Budget der Einrichtung aber weitgehend unverändert bleibt, dann muss an anderer Stelle gespart werden. „Einfache“ Dienstleistungsarbeit steht daher unter erheblichem Rationalisierungsdruck. Rationalisierung „einfacher“ Dienstleistungsarbeit Der theoretischen Debatte der 1970er und 1980er Jahre um Dienstleistungsarbeit zufolge, versucht sich das Management dabei an der Quadratur des Kreises. Denn Dienstleistungsarbeit wurde seinerzeit als relativ rationalisierungsresistent erachtet. Sie sollte vor allem in direkter Interaktion mit dem Kunden erfolgen, was jede technische Beschleunigung oder Automatisierung unmöglich mache. Von dieser Vorstellung muss man sich zweifelsfrei verabschieden. Tatsächlich sind die „einfachen“ Dienste seit Jahren ein Experimentierfeld der Automatisierung. Es geht dabei vor allem um die Übertragung komplexer, häufig im Ursprung interaktiver Tätigkeiten, auf den Kunden selbst: Die Selbstkassiererkassen bei IKEA sparen menschliche Arbeitskraft ein, da eine Angestellte zugleich mehrere Kassen betreuen kann, deren adäquate Bedienung durch den Kunden sie nur mehr überwachen muss. Das System Amazon, um ein weiteres augenscheinliches Beispiel zu nennen, funktioniert auf der Seite des Kundenkontakts vor allem über die Substitution von Beratungsarbeit durch die „Konsumarbeit“ des Kunden selbst: Er sucht sein Produkt online ohne persönliche Beratung aus, liest und verfasst Rezensionen über erworbene Produkte, wird also auch noch zum Berater anderer Klienten des Unternehmens. www.gegenblende.de Seite 56 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Für die Beschäftigten der „einfachen“ Dienste sind diese technischen Maßnahmen allerdings nur ein möglicher und keinesfalls zwingender Rahmen für die Rationalisierung ihres Arbeitsprozesses. Auch wo das technische Outsourcing auf den Kunden weniger prägnant ausgeprägt ist, beispielsweise im stationären Einzelhandel, wird vom Kundenkontakt zunehmend Abstand genommen: In Lebensmitteldiscountern, bei Zara, Kik oder McDonalds geht es nicht mehr um Beratung. Diese ist den Beschäftigten sogar offiziell untersagt oder es wird erwartet, dass die Angestellten nach vorgegebenen Interaktionsskripten handeln, deren Ziel die Minimierung der Interaktionssequenzen mit dem Kunden ist. Es zeigt sich hier der Versuch, Arbeitsabläufe zu standardisieren. Standardisierung prägt auch jene Bereiche „einfacher“ Dienstleistungsarbeit, bei denen es nicht um die Tilgung von Kundeninteraktionen aus dem Arbeitsprozess geht. In Post- und Paketdiensten werden beispielsweise Touren angeglichen, so dass Zusteller disponibel auf unterschiedlichen Routen eingesetzt werden können. In der Reinigungsbranche werden komplexe Aufgaben, wie das Reinigen von Fenstern offiziell aus dem Aufgabenprofil der Beschäftigten gestrichen, um dem Kunden ein günstigeres Angebot unterbreiten zu können. Standardisierung ist allerdings nur einer von drei zusammenhängenden Zugriffen auf den Arbeitsprozess. Nach der Tilgung komplexerer Aufgaben aus dem Arbeitsprozess oder ihrer Übertragung auf den Kunden setzt in der Regel ein Universalisierungsprozess ein. Für die übrigbleibenden „einfachen“ Aufgaben sind nun alle Beschäftigten gleichermaßen zuständig. Arbeitskraft wird auf diese Weise disponibler. Die Beschäftigten sind nicht mehr an ein spezifisches Aufgabenprofil gebunden, sondern wechseln nun permanent die Tätigkeitsbereiche. Der Schwatz mit der Stammkundin an der Kasse fällt aus, weil die „Kassiererin“ sich sogleich auf den Weg ins Lager macht um Waren im Verkaufsraum aufzufüllen. Der dritte Zugriff auf den Arbeitsprozess erfolgt in Form seiner Verdichtung. Mehr und mehr Aufgaben müssen von den Beschäftigten innerhalb konstant bleibender Zeitintervalle erledigt werden. Die Rationalisierung des „Shopfloors“ hat handfeste Folgen. Standardisierungsmaßnahmen führen formale Professionalisierungsversuche ad absurdum, weil Arbeit an Komplexität verliert. Sie setzen eine Dequalifizierungsdynamik in Gang, die sich in den realisierbaren Löhnen niederschlägt: Ist die Glasreinigung nur noch eine Tätigkeit, die neben anderen ausgeübt wird, oder bildet das Kassieren nur noch eine von vielen verschiedenen Aufgaben einer Supermarktangestellten, so argumentieren viele Unternehmen, dass dafür auch keine tätigkeitsspezifische tarifliche Eingruppierung mehr zu veranschlagen ist. Rationalisierung zeitigt damit den paradoxen Effekt, den Beschäftigten mehr Aufgaben aufzubürden, sie dafür aber schlechter zu entlohnen. Die praktisch und formalrechtlich radikalste Zuspitzung des Rationalisierungsprozess findet sich vermutlich im Gesundheitswesen: Viele große Kliniken haben in den vergangenen Jahren Servicegesellschaften gegründet. In www.gegenblende.de Seite 57 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 diese Tochterunternehmen wird zuweilen ein Drittel der Belegschaft ausgegliedert. Wen es trifft, bestimmt sich anhand systematischer Rationalisierungsgrenzen: Wer noch mit Menschen als Kunden zu tun hat, ist in der Regel vor Ausgliederung sicher. Alle Tätigkeiten unterhalb dieser Rationalisierungsschwelle – Reinigung, Bettenmanagement, Fahr- Hol- und Bringdienste, Kantinenbetrieb, Sterilisation, Pförtner-, Wach- und Schließdienst - fallen aus den Haustarifverträgen heraus. Von tariflichen Auflagen befreit, wird in diesen Tochterunternehmen anschließend die Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Aufgabenbereichen intensiviert: Auf der Basis von Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung steigt nicht nur der Arbeitsdruck, sondern den Tätigkeitsprofilen wird jede Spezifik genommen. Wer heute putzt, kann morgen in der Großküche stehen und übermorgen Betten schieben. Eingestellt werden nur noch sogenannte „Servicekräfte“, die Prototypen tertiärer Einfacharbeit, die auch von keinem Branchentarifvertrag mehr erfasst werden. Für die konkrete Arbeitserfahrung der Beschäftigten haben Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung gravierende Konsequenzen. Die physischen Anforderungen, die die Beschäftigten zu bewältigen haben, steigen systematisch. Standardisierung und Zeitdruck tilgen jene Aufgaben aus dem Arbeitsprozess, die Autonomie, Anerkennung und ein wenig Kontemplation versprechen – den Plausch des Postboten am Gartenzaun, den Austausch mit den Kolleginnen im Pausenraum. Der Tag ist übervoll mit „einfachen“ Tätigkeiten, die sich in ganz unterschiedlichen Arbeitskontexten letzten Endes doch ähneln: Heben, Schieben, Räumen, Tragen, Säubern prägen den Arbeitsalltag der Raumpflegerin, ebenso wie jenen des Paketboten oder der Servicekraft im Supermarkt. Die Beschäftigten sind hier nicht als Subjekte, sondern als Körper gefragt. Ihre physischen Grenzen werden systematisch ausgereizt durch den Zwang, sich ständig neuen Aufgaben zu widmen (Universalisierung) und dies in immer schnellerer Taktung (Verdichtung). Vor allem Arbeitsverdichtung wird bis zu einem Punkt getrieben, an dem Arbeitnehmerinnen nur noch die Wahl bleibt, welche ihnen übertragenen Aufgaben einstweilen vernachlässigt werden können und welche Tätigkeiten sofort erledigt werden müssen. Nach ihrer täglichen Praxis und den dafür notwendigen Fähigkeiten gefragt, geben viele Beschäftigte daher zu Protokoll, dass „Pfusch“ ein integraler Bestandteil ihrer Arbeit sei. Kontrolle ohne Technik Die Servicekraft ist die paradigmatische Zuspitzung der Rationalisierung „einfacher“ Dienstleistungsarbeit. Sie kann als gewandelter Wiedergänger einer klassischen Figur industrieller Arbeitswelten betrachtet werden, dem Industriearbeiter unter den Bedingungen hochgradiger Taylorisierung: Beide sind im Zeichen eines standardisierten Arbeitsprozesses maximal einsetzbar und daher auch maximal ersetzbar. Allerdings war der Industriearbeiter des Taylorismus eine Art Appendix der Maschine. Technik gab die Arbeitsgeschwindigkeit vor. Pfusch war www.gegenblende.de Seite 58 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 ausgeschlossen, weil Technik Kontrolle sicherte. In den „einfachen“ Diensten liegt die Sache ganz anders. Direkte Prozesskontrolle wird hier nicht durch Technik gesichert. Zugleich klingt der allgegenwärtige Pfusch in den Ohren des Managements freilich nicht wie der Ruf nach Entlastung, sondern wie ein Schrei nach Kontrolle. Ohne Technik wird Kontrolle in den „einfachen“ Diensten über personengebundene Macht umgesetzt. Vorarbeiter, Truppführer, Depot- und Filialleitungen besetzen die Schlüsselposition betrieblicher Herrschaft. Mit der konkreten Kontrolle des Arbeitsprozesses sind sie allerdings in der Regel überfordert. Sie versuchen daher, Beschäftigte der ausführenden Ebene für die Übernahme von Kontrollaufgaben zu gewinnen. Die Überwachung von Kolleginnen schlägt sich in der Regel nicht in formalen Beförderungen nieder. Allerdings wird Denunziation im Arbeitsalltag mit kleineren Privilegien vergolten – den besten Touren, Reinigungsgebieten und Arbeitszeiten oder mit außerplanmäßigen Raucherpausen. Der systematische Effekt dieser Vermachtung der Arbeitssituation ist die Spaltung der Belegschaften in Rationalisierungsgewinner und – verlierer. Wenige sichern sich karge Vorteile auf Kosten der Mehrheit der Beschäftigten. Diese Logik des „Teile und herrsche“ spaltet die Belegschaften systematisch. Die Logik interessengeleiteter Kooperation und kollektiven Handelns ist kein Teil der Alltagserfahrungen im „Dienstleistungsproletariat“[10]. Arbeitserfahrung und Berufssozialisation: Eine neue Klientel Die Gewerkschaften haben es in den „einfachen“ Diensten also mit einer neuen Klientel zu tun. Die Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit ist gering, weil diese immer einfacher und unspezifischer wird. Die Vermachtung der Arbeitssituation spaltet die Belegschaften und behindert positive Kooperationserfahrungen im Arbeitsalltag. Interessenpolitik steht vor einem Paradox, das sich aus diesem Zuschnitt des Arbeitsprozesses ergibt: Einerseits wird der Körper zum entscheidenden Faktor für sozialen Ausschluss, weil Rationalisierung die physische Belastung der Beschäftigten systematisch verschärft. Andererseits ist der körperliche Aufwand aber auch der einzige positive Bezugspunkt auf die Arbeit, den viele Beschäftigte artikulieren. Nur physische Anstrengung bietet in den „einfachen“ Diensten die Erfahrung diffuser Selbstwirksamkeit und innerer Größe. Will man die Leute abholen, wo sie stehen, wird es daher zum einen um den Kampf gegen die Rationalisierung des Arbeitsprozess gehen müssen. Zum anderen könnte der Körper als bedeutungsvolle Kategorie des Stolzes in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt werden. Ein Wissen um die Notwendigkeit der eigenen Position im Prozess gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wie es die Industriearbeit bis heute auszeichnet, ist dem Dienstleistungsproletariat fremd. Der entscheidende Kniff für die nachhaltige Unterstützung von Selbstorganisation wäre, auf Seiten der Beschäftigten überhaupt erst ein Funktionsbewusstsein zu fördern, ein Wissen um die eigene gesellschaftliche Bedeutung. www.gegenblende.de Seite 59 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Jüngste Veröffentlichung des Autors zum Thema: Staab, Philipp (2014): Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg Literatur/Quellen: [1] Kalina, Thorsten/ Weinkopf, Claudia (2014): Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 verändern könnte, Quelle: http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2014/report2014-02.pdf [2] Wehler, Hans-Ulrich (2013): Die Explosion der Ungleichheit. Ein Problem von Macht und Herrschaft, in: Blätter Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2013, S. 47-56 [3] Bahl, Friederike/Staab, Philipp (2010): Das Dienstleistungsproletariat. Theorie auf kaltem Entzug, in: Mittelweg 36, 19 (2010), 6, S. 66-93 [4] Der Begriff „Dienstklasse“ bezeichnet innerhalb der internationalen Sozialstrukturanalyse all jene Berufsgruppen, die in hochqualifizierten Dienstleistungsberufen tätig sind. Dies betrifft sowohl administrative Tätigkeiten, wie auch technische und sozio-kulturelle Berufe (vgl. Oesch 2006: Redrawing the Class Map. Stratification and Institutions in Britain, Germany, Sweden and Switzerland. Basingstoke). “Dienstklasse” und “Wissensarbeiter” werden im vorliegenden Text als Synonyme gebraucht. [5] Oesch, Daniel/ Rodriguez Menes, Jorge (2011): Upgrading or polarization? Occupational change in Britain, Germany, Spain and Switzerland, 1990-2008. SocioEconomic Review 9(3), S. 1-29 [6] Oesch, Daniel (2006): Redrawing the Class Map. Stratification and Institutions in Britain, Germany, Sweden and Switzerland. Basingstoke [7] Ebd. [8] Ebd. [9] Artus, Ingrid (2006): Betriebe ohne Betriebsrat. Informelle Interessenvertretung in Unternehmen, Frankfurt a.M./ New York www.gegenblende.de Seite 60 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 [10] Staab, Philipp (2014): Macht und Herrschaft in der Servicewelt, Hamburg; Bahl, Friederike/Staab, Philipp (2010): Das Dienstleistungsproletariat. Theorie auf kaltem Entzug, in: Mittelweg 36, 19 (2010), 6, S. 66-93 Autor: Dr. Philipp Staab, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel Die französischen Sozialisten zwischen Programmatik, Popularität und Hartz IV von Bernard Schmid Sieger sehen anders aus. Am Dienstagabend, den 16. September stand es fest: Frankreichs Premierminister bleibt im Amt, nachdem in der Nationalversammlung 269 Abgeordnete für und 244 gegen den alt-neuen Regierungschef gestimmt hatten. Es wurde damit gerechnet, dass er sein Amt behält, denn bei solchen Voten zählen nur die abgegeben Ja- und Nein-Stimmen, Enthaltungen gehen nicht in die Auszählung mit ein. Das Kabinett wurde Ende August umgebildet, wodurch eine neue Abstimmung im „Unterhaus“ des französischen Parlaments erforderlich wurde. Zum ersten Mal seit 1962 erhielt dabei ein Premierminister nur eine relative und nicht eine absolute Mehrheit. 32 sozialdemokratische Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten, trotz des massiven Drucks ihrer Parteivorderen, die unter anderem damit gedroht hatten, wer bei der Abstimmung ausschere, müsse folgerichtig auch die Fraktion verlassen, und werde bei kommenden Wahlen nicht wieder aufgestellt. Das Umfragetief Man muss keinem Aberglauben anhängen, um zu der Einschätzung zu kommen, dass die Zahl 13 für François Hollande Unglück bedeutet. 13 Prozent, das ist der augenblickliche Popularitätswert des französischen Staatspräsidenten. Der Wert wurde zuerst durch das rechtskonservative Wochenmagazin Figaro am vergangenen Wochenende des 06./07. September 14 publik und kurz darauf durch sämtliche Umfrageinstitute bestätigt. Das Ergebnis ist kein „Ausreißer“, es spiegelt vielmehr einen langanhaltenden Trend in vielen Umfragen zur Regierungspolitik wieder. www.gegenblende.de Seite 61 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Bereits die Amtsvorgänger Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy erlebten Tiefswerte an Popularität mit 16 Prozent und 20 Prozent, jedoch erst im letzten Amtsjahr. Hollande hat allerdings noch drei Jahre vor sich. Auch die Umfragewerte von Premierminister Manuel Valls, der im April 2014 mit einem „Macherimage“ antrat, sind inzwischen von ca. 60 Prozent auf 20 bis 30 Prozent (je nach Institut) gesunken. Es ist offensichtlich, dass die französische Regierungspolitik von der Wahlbevölkerung abgestraft wird, und nicht nur irgendeine eine repräsentative Persönlichkeit. Eigentlich ist es auch kein Wunder, schließlich wurde der sozialistische Präsident im Jahr 2012 als linke Alternative gewählt, um eine sozialere und bürgerrechtsorientierte Politik im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy zu verfolgen. Jetzt im Jahr 2014 steht er der Wirtschafts- und Sozialpolitik des zuvor regierenden Bürgerblocks in nichts nach. Die rechte Opposition attackiert trotzdem die Regierung, allerdings auf dem Feld der „moralischen Werte“, wie man im Vorjahr bei den Massenprotesten gegen die Homosexuellenehe sehen konnte. Ein Teil der französischen Rechten hängt noch immer der historischen Sichtweise an, dass ein Sozialist an der Regierung grundsätzlich illegitim sei und einer natur- oder gottgegebenen „moralischen Ordnung“ widersprechen würde. Die Linke wiederum ist wenig begeistert, dass die „eigene“ Regierung auf vielen Feldern schlicht die Politik der Gegenseite betreibt. Sozialdemokraten auf Wirtschaftskurs Seit Hollandes Premierministers Valls Anfang der letzten Augustwoche seine Regierung umbildete, ist ein strammer sozialdemokratischer Rechtskurs angesagt. Die Kabinettsumbildung diente dazu, den kritischen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg zu entfernen. Mit ihm gingen auch der Schulminister Benoît Hamon, ein früherer Wortführer des linken Parteiflügels, und Kulturministerin Aurélie Filippetti. Die Satiresendung Les Guignols de l’info auf dem TV-Sender Canal+ spottete daraufhin wochenlang über ein umgebildetes Kabinett, das sie nur noch mit dem Adjektiv „rechts“ (de droite) belegte. In einer Episode der Polit-Puppensendung, die seit 1988 fast täglich ausgestrahlt wird, wendet sich Hollande mit der bangen Frage an Premierminister Valls: „Wie konnten sich nur linke Minister einschleichen?“ Antwort: „Nun, sie hatten einen Trick drauf, sie hatten sich Krawatten umgehängt!“ Die frisch umgebildete Regierung entzündete sogleich ein Feuerwerk wirtschaftspolitischer Ankündigungen. Der neue, erst 36jährige Wirtschaftsminister Emmanuel Macron - ehemals Geschäftsbanker, feierte seinen Einstand mit einem Angriff auf die im Jahr 2000 durch die damalige sozialdemokratische Regierung durchgeführte Arbeitszeitverkürzung. Die 35-Stunden-Woche sei viel zu starr und müsse aufgeweicht werden, verkündete er und übernahm dadurch einen im vergangenen Jahrzehnt durch Wirtschaftsliberale ständig wiederholten Topos. www.gegenblende.de Seite 62 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Eigentlich beinhaltet das Gesetz nur einen verpflichtenden Maßstab für die reguläre Arbeitszeit im Jahreszyklus und lässt deshalb sowohl „flexible“ und stark variierende Arbeitszeiten innerhalb des Jahres, als auch über die Obergrenze hinausgehende Überstunden, zu. Emmanuel Macron hat sich selbst ziemlich in die Nesseln gesetzt, als er am 17. September die Arbeiterinnen des Schlachtereibetriebs Gad in der Bretagne – deren Arbeitsplätze bedroht sind – in einem Radiointerview als „Analphabetinnen“ titulierte. Die Äußerung fiel im Kontext einer Interviewpassage, in welcher der Minister eine Vereinfachung von Verwaltungsprozeduren forderte, um den Führerschein zu verbilligen, schließlich sollten die Arbeiterinnen auch in 100 Kilometer Entfernung nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten suchen können. Später musste Macron schnellstmöglich wieder zurückrudern. Er kündigte noch am selben Tag an, sich zu entschuldigen und alsbald die Arbeiterinnen von Gad zu besuchen. Auch der Arbeitsminister François Rebsamen beweist sein Problembewusstsein. Er hat zwar in den letzten Monaten trotz wiederholter Ankündigungen nicht die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Jedoch verkündete er Ende August, dass die angeblich zu Sozialbetrug neigenden Erwerbslosen endlich Kontrollen unterzogen würden. Wer keine Anstrengungen zur Stellensuche nachweisen kann, dem oder der droht der vorübergehende Entzug der Leistungen aus der Arbeitslosenkasse. Ein entsprechender Kontrollmechanismus wird seit einem Jahr in vier französischen Départements ausprobiert. Sechs Prozent der kontrollierten Erwerbslosen verloren dabei ihre Bezüge für 14 Tage. Es geht nun darum, eine Verallgemeinerung des erprobten Verfahrens anzustreben. In der sozialistischen Partei protestierten viele Mitglieder gegen diesen Kurs. Selbst Parteichef Jean-Christophe Cambadélis, beileibe kein Linker, äußerte sich entsprechend. Am Rande der Sommeruniversität in La Rochelle spottete Minister Rebsamen über seinen Parteivorsitzenden, dieser „kenne die Welt der Unternehmen nicht“ und habe „in seinem Leben noch nie gearbeitet“ (zitiert nach der Wochenzeitung Le Canard enchaîné). Rebsamen selbst war allerdings nie etwas Anderes als Berufspolitiker. Sozialer Kahlschlag? Zu den weiteren ersten Maßnahmen des teilweise neuen Kabinetts gehört auch die Aufhebung des Mietspiegels, den die bis März 2014 amtierende grüne Wohnungsministerin Cécile Duflot eingeführt hatte. Damit wurde eine Mietpreisbindung eingeführt, mit der die explodierenden Mietkosten zumindest ein Stück weit eingedämmt werden sollten. Valls erklärte sie zum Hindernis für den Wohnungsbau und setzt nun stattdessen auf wirtschaftsliberale Rezepte wie www.gegenblende.de Seite 63 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Steuergeschenke für Investoren. Lediglich in der Hauptstadt Paris soll der Mietspiegel „probeweise“ beibehalten werden. Martine Aubry, Bürgermeisterin von Lille - einer der teuersten Städte Frankreichs - protestierte öffentlichkeitswirksam gegen die Abschaffung und erreichte damit, dass der Mietspiegel nun auch in Lille weiterhin gilt. Ursprünglich hatte das Gesetz von Cécile Duflot einen Mietspiegel in 28 bis 35 Ballungsräumen mit „angespanntem Wohnungsmarkt“ einführen sollen. Die Regierung könnte aber noch mit weiteren „Reform“-vorhaben auf Widerstand stoßen: zum Beispiel mit der gesetzlichen Erleichterung von Sonntagsarbeit, der Abschaffung der bislang alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen der Arbeitsgerichte oder mit der Aussetzung der Verpflichtung zur Einrichtung von Betriebsräten in Unternehmen mit wachsender Mitarbeiterzahl. Nicht wenige der sozialistischen Parteimitglieder ballen längst die Fäuste in der Tasche über die Politik von Manuel Valls, der als Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur bei der Urabstimmung 2011 nur 5,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte. In La Rochelle weigerte sich der Ordnerdienst der Partei den Premierminister Valls zu schützen und bei seinem Auftritt wurde er beim Wort „Unternehmen“ mächtig ausgepfiffen. Denn kurz zuvor hatte Manuel Valls eine Ansprache bei der Sommeruniversität des Arbeitgeberverbands MEDEF im Pariser Umland gehalten. Dort proklamierte er seine „Liebe für die Unternehmen“. Die MEDEF-Delegierten hatten Valls daraufhin stehende Ovationen gegeben. In seiner eigenen Partei wird diese offene Kumpanei nicht gern gesehen. Der Vorsitzende des regierungsnahen, zweitstärksten Gewerkschaftsdachverbands CFDT (nach der CGT), Laurent Berger, war nach den Pfiffen „entsetzt“, schließlich hätte man das Privatkapital als freundlich zu behandelnden Dialogpartner schätzen gelernt. Allerdings hat selbst die CFDT gegen die geplanten verschärften Kontrollen für Erwerbslose protestiert. Diese Ankündigung geht auch ihr zu weit. Notverordnungsregime Die neue französische Regierung will nun zum Teil mit Notverordnungen regieren, wie Premier Valls ankündigte. Es handelt sich bei diesen ordonnances um Texte mit Gesetzeskraft, über die jedoch nicht im Parlament debattiert und abgestimmt wird, sondern deren Inhalt durch die Regierung im Alleingang und ohne Diskussion mit den Abgeordneten festgelegt wird. Die Rolle des Parlaments beschränkt sich bei dieser Prozedur darauf, durch ein Bevollmächtigungsgesetz vorab dem Kabinett eine Generalermächtigung zum Erlass solcher Verordnungen zu erteilen. Unpopuläre Regierungen, die soziale Einschnitte planen, greifen mitunter auf dieses besondere Gesetzgebungsverfahren zurück, seitdem die Verfassung der Fünften Republik es zugelassen hat. Es ist jedoch fundamental undemokratisch. www.gegenblende.de Seite 64 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Als einzigen Trost versprach Jean-Marie Le Guen, Minister für parlamentarische Angelegenheiten, die Pläne zur Ausweitung der Sonntagsarbeit würden nicht per Notverordnung durchgedrückt. Ein schwacher Trost, zumal er dieses Vorgehen bei vielen anderen Themen offen lässt. Die CGT, der stärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, ruft unterdessen zu einem sozialen Protest- und Aktionstag am 16. Oktober dieses Jahres auf. Autor: Dr. Bernard Schmid, geboren 1971 in Süddeutschland, Jurist bei einer NGO zur Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung in Paris Die Arbeitswelt im Wandel von Rainer Fattmann In der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund können auf einer Fläche von zweieinhalb Fußballfeldern vielfältige Aspekte vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitswelten an zahlreichen Exponaten und mit vielen Experimentierstationen erkundet werden. Die DASA ist schon von ihrem Standort für eine Ausstellung rund um die Arbeitswelt geradezu prädestiniert. Sie liegt direkt am Ruhrschnellweg in unmittelbarer Nähe zu einer ganzen Reihe von Industriedenkmälern im Revier. Sie wurde 1993 als Deutsche Arbeitsschutzausstellung eröffnet und ist Teil der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Die Ausstellung lenkt den Blick auf die Arbeitsumgebungen der Menschen und thematisiert die Belastungen, denen sie ausgesetzt sind. Mit dieser Ausrichtung knüpft sie an eine über 100jährige Ausstellungstradition zum Thema Arbeitsschutz an. Bereits im Juni 1903 eröffnete in Berlin-Charlottenburg die „Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt und Unfallschutz“, mit der das Thema Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz mit großem Erfolg in der Öffentlichkeit platziert werden konnte. Mit der Dortmunder Ausstellung sollen die Besucherinnen und Besucher für konkrete Gefahren und Belastungen am Arbeitsplatz sensibilisiert und mit praxisnahen Lösungen für ein besseres Arbeiten konfrontiert werden. Zu den körperlichen Belastungen zählen Lärm, Hitze und Staub, aber auch psychische Stressfaktoren. Diese auf den eigentlichen Arbeitsschutz gerichtete Fokussierung der Schau ist in den letzten Jahren zu Gunsten einer breiteren Perspektive erweitert www.gegenblende.de Seite 65 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 worden. Jetzt stehen die Auswirkungen der Arbeitswelt nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt ihrer belastenden Aspekte im Mittelpunkt. Geblieben ist jedoch der konkrete Blick auf den Menschen. Die Ausstellungseinheiten Das weitläufige Ausstellungsgelände umfasst die folgenden thematischen Stationen: Der Eingangsbereich führt in die Welt der Arbeit ein und thematisiert grundlegende Begriffe und Rahmenbedingungen des Arbeitsschutzes. Daran anschließend beschäftigen sich die Ausstellungseinheiten mit so unterschiedlichen Gebieten des Arbeitslebens wie Bildschirmarbeit und der klassischen Fabrikarbeit in der Textilindustrie. Aber auch mit der Arbeit im Hoch- und Tiefbau, der Eisen- und Stahlindustrie, im Transportwesen, in der Energiewirtschaft und in den Heil- und Pflegeberufen. Ein eigener Ausstellungsbereich ist den Gefahrstoffen am Arbeitsplatz und damit dem klassischen Aktionsfeld des Arbeitsschutzes gewidmet. Eine weitere Einheit beschäftigt sich mit dem Kampf für eine bessere Arbeitswelt und der Rolle der Gewerkschaften, was allerdings noch etwas stiefmütterlich daher kommt. Noch im Aufbau befindet sich die Ausstellungseinheit über die Arbeitswelt von morgen, in dem die DASA die Chancen und Risiken künftiger Arbeitsgestaltung im Spannungsfeld digitaler Fremd- und Selbstbestimmung zu präsentieren plant. Einen Kontrapunkt setzt schließlich die als „Lebensraum Arbeitswelt“ betitelte Ausstellungseinheit. Ein botanischer Garten voller Farne zeigt den Menschen als Teil der Natur. Stationen zum Ausprobieren und Mitmachen rücken das Individuum und seine Sinne und Potentiale in den Mittelpunkt – an den Menschen, so die Botschaft der Ausstellungsmacher, sollten Technik und Arbeitswelt angepasst sein und nicht umgekehrt. Die Belastungen der Arbeitswelt hautnah erleben Eines der Hauptanliegen der Ausstellungsmacher ist es, die mit den verschiedenen Arbeitswelten verbundenen Belastungen dem Besucher erfahrbar zu machen. Man kann sich in einen Lärmtunnel begeben und erfahren, wie stressig Industriegeräusche etwa für Stahlarbeiter sind. Welche Gefahren im Transportwesen und in der Logistik lauern, wird durch verschiedene Simulationen verdeutlicht, zum Beispiel mit der Fahrt durch ein Warenlager, in dem Regale umkippen und sich Stolperfallen befinden. In der Leitwarte des VEW-Kraftwerks „Westfalen“ lässt sich ein Störfall im Jahr 1969 nachempfinden, einerseits ist die schnelle Reaktion gefordert und andererseits spürt man, wie sich das monotone Warten an den Überwachungsschirmen auf die Psyche der Beschäftigten auswirkt. Ein besonderes Erlebnis bietet die Einfahrt „unter Tage“, hier ist eine komplette Tunnelbaustelle nachgebaut. Welchen seelischen und körperlichen Belastungen gerade die Beschäftigten in den Pflegeberufen ausgesetzt sind und wie sich die Arbeit www.gegenblende.de Seite 66 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 für das Pflegepersonal erleichtern ließe, erfährt das Publikum ebenfalls. Zugleich eröffnet die DASA den Besuchern die Möglichkeit, die eigene Gesundheit zu testen und den Zustand der eigenen Rückenmuskulatur, der Sehschärfe oder des Herzrhythmus zu ermitteln. Ob Industrieroboter, Elektronenmikroskop, Tunnelbaustelle, Flugsimulator, Gabelstapler, Webstuhl, Dampfmaschine oder Tiefbauschacht: Viele der Exponate können in ihrer Funktion besichtigt, begangen, benutzt oder selbst ausprobiert werden. Um in den Genuss einer fachgerechten Vorführung zu kommen, empfiehlt es sich dabei in den verschiedenen Bereichen an die jeweiligen Mitarbeiter zu wenden, durch deren Informationen oft die eigentlichen Intentionen für den Arbeitsschutz deutlich werden und letztlich die Präsentationsphilosophie der DASA erkenntlich wird. Die Texte zu den einzelnen Exponaten sind hingegen eher minimalistisch gehalten und nicht selten überarbeitungsbedürftig. Hier rächt es sich, dass auch die DASA, wie viele öffentliche Kultureinrichtungen, finanziell an der kurzen Leine gehalten wird. Insgesamt jedoch stellt sich die DASA-Schau als facettenreiche Fundgrube zu den verschiedensten Aspekten der Arbeitswelt dar, die nicht nur Erwachsene, sondern gerade auch Jugendliche und Kinder anspricht. Ein Besuch lohnt sich allemal. Orientierungsschwache Zeitgenossen wie der Autor sollten sich vorab mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 9:00 - 17:00 Uhr Samstag und Sonntag 10:00 - 18:00 Uhr Eintritt: Erwachsene 5,- EUR Ermäßigt 3,- EUR Familien 10,- EUR Kinder bis einschl. 5. Lebensjahr frei http://www.dasa-dortmund.de/startseite/ Autor: Dr. Rainer Fattmann, Historiker und selbständiger wissenschaftlicher Publizist www.gegenblende.de Seite 67 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Staatsvolk und Marktvolk im entgrenzten Kapitalismus – Ein Essay zur Streeck-Debatte von Lutz Wingert „Ich habe nie gesagt, die Austerität sei vorüber“, erklärte jüngst der neue EUKommissionspräsident Jean-Claude Junker mit Blick auf die taumelnden EuroStaaten.[1] Proteste hat das nicht ausgelöst. Die direkt Betroffenen in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal oder Irland sind erschöpft von ihren folgenlosen Einsprüchen, sind mit den schwindenden Ersparnissen ihrer familiären Netzwerke konfrontiert oder mit der geplanten Auswanderung nach Brasilien, England, Angola, Deutschland oder der Schweiz beschäftigt. Die Anleger, Bankaktionäre und Investoren nicht nur der portugiesischen Banco Espirito Santo wissen nunmehr, dass auch in der EU der Staat immer für sie da sein wird. Und einem Architekten der spanischen Austeritätspolitik winkt 2015 als Dankeschön der lukrative Posten als Euro-Gruppenchef: Luis de Guindos, dem Wirtschaftsminister und ehemaligen Präsidenten des iberischen Zweiges der Lehman Brothers Bank. Wer bei all dem immer noch anklagend von einer Krise unseres Wirtschaften oder gar des Kapitalismus und von einer Krise der Demokratie spricht, dem fehlt es an Abgeklärtheit. Er vergisst den „Sinn von Krisen“ im Kapitalismus, nämlich „Übertreibungen zu korrigieren, Schwächen aufzudecken und zu sanieren ... [sowie, L.W.] ökonomisch nicht überlebensfähige Strukturen zu zerstören“.[2] Demokratischer Kapitalismus und Krise Wolfgang Streeck hält solche Abgeklärtheiten für Beschwichtigungen. Er lässt in seinem ebenso leidenschaftlichen wie schlüssig durchargumentierten Buch Gekaufte Zeit nicht davon ab, von einer „vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus“ zu sprechen. Mit „demokratischem Kapitalismus“ ist ein Kapitalismus gemeint, der von demokratisch verabredeten Gesetzen eingehegt wird. Solche Gesetze sind beispielsweise sozialstaatliche Leistungsgesetze, die die gemeinsamen Früchte von privaten Investitionsentscheidungen und kooperativer Arbeit etwas umverteilen. Oder Arbeitsschutzgesetze, die einschränken, „was geht“ und was nicht. Auch Lenkungssteuern gehören hier her. Sie beeinflussen über die Sprache der Kosten die wirtschaftlichen Entscheidungen von Wenigen im vermeintlichen Interesse von Vielen. Streeck spricht von einer „Krise des demokratischen Kapitalismus“ und auch von einer „Krise kapitalistischer Demokratien“ (S. 34). Seit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank im September 2008 geht vielen das Wort „Kapitalismus“ wieder leichter von den Lippen. Trotz dieser üblich gewordenen Rede vom „Kapitalismus“ sollte man sich vergegenwärtigen, was mit diesem Wort neben wirtschaftlicher Besitzsucht, Gründergeist und Eigentümermacht noch gemeint ist. www.gegenblende.de Seite 68 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Unter „Kapitalismus“ sei hier nur so viel verstanden: nämlich der Name für die Tätigkeit der Investition von Geld auf Märkten, um mehr Geld zu machen. Etwas genauer beschrieben ist eine kapitalistische Wirtschaftsform (1) der preisbildende Umgang mit Ressourcen, die für knapp gehalten werden. Tätigkeiten wie abbauen, lagern, transferieren, verarbeiten, veredeln, umwandeln, handeln, horten, tauschen, teilen usw. sind Formen eines solchen Ressourcenumganges. Der ist (2) im Kapitalismus charakteristischerweise mit dem Investieren von Kapital verbunden. Das Investieren hat die Funktion, mehr Geld zu machen. Dabei erfolgen (3) die Investitionen auf Märkten, also in einem preisbildenden Wettbewerb um Tauschgelegenheiten. Diese Investitionen vollziehen sich (4) in der (privat)rechtlichen Form von Verträgen. Die Verträge können ihrerseits den Status von Ressourcen annehmen und damit zum Gegenstand eines investiven Umgangs werden; sie können zum Beispiel gehandelt werden. Dementsprechend könnte man sagen: Eine Krise des Kapitalismus besteht darin, dass das Wirtschaften nicht mehr den Zweck erfüllen kann, ein gewinnbringendes Investieren von Kapital zu sein. Es wird zunehmend unwahrscheinlicher, durch das Investieren mehr Geld zu machen. Dem widerspricht offensichtlich ein Faktum, das von Streeck eindrücklich hervorgehoben wird: die hohe Verschuldung vieler Staaten. Denn den staatlichen Schulden stehen ja unter anderem hohe Privatvermögen gegenüber, die weltweit zirkulieren, die zum Teil jedenfalls durch Investitionen erwirtschaftet werden und die eben auch in Staatsanleihen angelegt werden. Streeck weiß natürlich um diese Entsprechung von öffentlichen Schulden und privaten Vermögen. Wo genau sieht er dann die Krise des Kapitalismus? Streeck erkennt eine „dreifache Krise“, in der sich heute der „Kapitalismus der reichen demokratischen Gesellschaften“ befindet: ein(e) Bankenkrise, ein(e) Krise der Staatsfinanzen und ein(e) Krise der ‚Realökonomie‘“ (S. 29). Bei der Bankenkrise hat er vor allem die gestörte Kreditfunktion im Blick, bei der Krise der stofflichen Güterwirtschaft die hohen Arbeitslosenraten und die stagnierenden oder schrumpfenden Wirtschaftsleistungen. Demnach besteht für Streeck die Krise des Kapitalismus in der dauerhaften Gefährdung von Marktfunktionen und nicht darin, dass das Prinzip beeinträchtigt ist, durch Investieren von Kapital mehr Geld zu machen. Die Krise der Demokratie im Kapitalismus „Die Krise des demokratischen Kapitalismus“ hat aber nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Die Demokratie im Kapitalismus entfernt sich dauerhaft weit von ihrem Ideal. Die demokratische Politik einer einbeziehenden Bürgerschaft wird massiv geschwächt. Eine solche Bürgerschaft besteht aus annähernd tatsächlich gleichberechtigten Bürgern, unter denen auch die Verpflichtung zu Gegenseitigkeit und zu Solidarität zählt. Sie mischt sich in www.gegenblende.de Seite 69 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Marktprozesse mit dem Ziel ein, gleiche Lebenschancen zu sichern. Diese Fähigkeit zur Einmischung schwindet immer mehr. Nach Streeck verlieren die Demokratien der OECD-Staaten seit Ende der 1970er Jahre zunehmend ihre Interventionsfähigkeit auch deshalb, weil die Sphäre der Ökonomie von der demokratischen Politik abgeschirmt wird (S. 133). Er tauft deshalb den abschirmenden Akteur „Konsolidierungsstaat“ (S. 141). Damit ist nicht bloß ein Staat gemeint, dessen Haushalt so ausgeglichen ist, dass er in keine Schuldenspirale gerät, die im Staatsbankrott enden kann. Der „Konsolidierungsstaat“ steht für eine Neuordnung des Verhältnisses von politischer Demokratie und Wirtschaft. Mit dieser Neuordnung soll der Einfluss neutralisiert werden, den eine demokratische Politik auf die Regeln, Muster und Ergebnisse der kapitalistischen Wirtschaft haben kann. Die Neuordnung markiert eine Krise der Demokratie, die einmal mehr zu einer marktkonformen Demokratie verkümmert. Staatsvolk und Marktvolk Streeck sieht etwas Neuartiges in der Demokratiekrise seit Ende der 1970er Jahre. Es gibt ein gefestigteres sachliches Fundament und eine neue soziale Basis für diese marktkonforme Demokratie. Das sachliche Fundament ist laut Streeck eine massiv gestärkte Option von Kapitaleigentümern, aus dem Sanktionsbereich eines politischen Gemeinwesens abzuwandern. Neben modernsten Techniken der Kommunikation, des Transports und der Logistik sowie politisch geschaffenen Steueroasen gehören „liquider gewordene Märkte“ (S. 118) zu den Ursachen für die gesteigerte Macht von Eigentümern, ihre Interessen durch eine Abwanderungsdrohung durchzusetzen. Die neue soziale Basis für die Abschirmung der Ökonomie von der demokratischen Politik im Konsolidierungsstaat ist das Marktvolk. Streeck nennt es eine zweite „Referenzgruppe“ von „Anspruchsträgern und Ermächtigungsgebern“ (S. 117) im demokratischen Staat. (Die erste Bezugsgruppe bildet das „Staatsvolk“ oder besser: die Bürgerschaft.) Ein Marktvolk besteht aus Gläubigern und Investoren, also aus Kapitalbesitzern. Ein Staatsvolk besteht aus Bürgern, also aus Mitgliedern einer Bürgerschaft. (Staats)Bürger haben politische Beteiligungsrechte im Staat und gehen bisweilen auf die Straße. Gläubiger haben Forderungen gegen den Staat und ziehen bisweilen vor Gericht. Bürger in einer Demokratie machen sich über Wahlen und die öffentliche Meinung bemerkbar. Gläubiger machen sich über Käufe/Verkäufe von Staatsanleihen und über Zinssätze bemerkbar. Die Haltungen von Bürgern schwanken zwischen Loyalität und Protest. Die Haltungen von Gläubigern bewegen sich zwischen Vertrauen und Kapitalabzug. Bürger eines Staatsvolkes leben in einem Land mit nationalstaatlichen Grenzen, mit einer Geschichte und sind Teil eines Wir, dem sich www.gegenblende.de Seite 70 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 auch die Frage stellt: Was ist gut für alle zusammen? Investoren pendeln grenzüberschreitend zwischen Handelsplätzen mit Gerichtsständen und sind mit der Frage konfrontiert: Was ist gut für mein Geld oder das Geld meiner Kunden? Streeck behauptet kein Entweder – Oder: Entweder ist man ein politischer Bürger oder ein Wirtschaftsbürger in der Rolle eines Anlegers oder Gläubigers. Gleichwohl unterscheiden sich die Mitglieder eines Marktvolkes einerseits und eines Staatsvolkes andererseits in den Einstellungen, in ihren sozialen Beziehungen und in der Art von Gründen, die sie im Handeln beachten sollten. Demokratischer Staat, Konsolidierungsstaat und die Grenzen des Marktvolkes Die Bildung des Marktvolkes als einer zweiten maßgeblichen Referenzgruppe des Staates verändert nach Streeck das Verhältnis von Demokratie und marktförmiger Wirtschaft. Aber sie lässt die Bürgerschaft für den Staat nicht unwichtig werden. Allerdings ist das Staatsvolk nicht bloß für einen demokratischen Reststaat, zum Beispiel in Gestalt seiner Parlamente maßgeblich. Es bleibt auch für den Konsolidierungsstaat wichtig. Das liegt an einer Handlungsgrenze des Marktvolkes. Das Marktvolk kann bestimmte, systemrelevante Kollektivgüter nicht bereitstellen. So gibt es durchaus Funktionen der Finanzmärkte, deren Erfüllung für alle gut ist: zum Beispiel die Aufgabe der Kapitalallokation, der Risikostreuung sowie einer informativen Bewertung von wirtschaftlichen Unternehmungen. Die Bewahrung eines in diesem Sinn funktionierenden Finanzmarktes liegt durchaus im kollektiven Interesse. Doch dieses Kollektivgut können die Akteure auf diesem Markt nicht bereitstellen. Die krisendämpfende oder gar krisenvermeidende Selbstregulation der Finanzmärkte hat weder 1997 in der Asienkrise noch 2008 stattgefunden und findet auch heute nicht statt. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Banken und Versicherungen die erforderliche Eigenkapitalerhöhung von 25% und mehr weder anstoßen noch akzeptieren; oder dass gravierende Schuldenschnitte bei Bankaktionären und Anleihegläubigern anders als Rentenschnitte beim Staatsvolk Tabu sind. Man denke an die Begrenzung ihrer Haftung in der EU-Bankenunion auf 8 % der Bilanzsumme bei einer zusammenbrechenden Bank. Die fehlende Selbstregulation wird auch daran ersichtlich, dass das Marktvolk zu keiner ausreichenden, solidarischen Risikoteilung in Form von gemeinsamen Haftungsfonds in der Lage ist. Die Energieriesen Vattenfall, Électricité de France oder RWE sorgen für keine ausreichende Versicherung gegen atomare Unfälle und für den Rückbau ihrer Anlagen. Sie tun das wohl auch deshalb nicht, weil ihre Marktvolkgenossen bei den Versicherungsgesellschaften solche Risiken nicht schadensdeckend versichern wollen. Und der deutsche nationale Bankenrettungsfonds hat seit 2011 gerade einmal die Hälfte der vorgesehen Einzahlungen erhalten. www.gegenblende.de Seite 71 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die fehlende Selbstregulation und Kollektivgutproduktion des Marktvolkes entspringt aber nicht bloß einem Unwillen, sondern auch einer Unfähigkeit. Die Mitglieder eines Marktvolkes haben nach innen keine Wir-Perspektive. Denn sie führen ihre individuellen Handlungen auf dem Markt nicht als Beiträge zu der gemeinsamen Handlung eines Kollektivs aus. So wie die Angehörigen einer Firma das tun oder wie die individuellen Mitglieder eines Orchesters, beispielsweise des FC Bayern München, die zusammen groß aufspielen. Die Einnahme einer WirPerspektive auf dem Markt bringt den einzelnen Mitgliedern des Marktvolkes nichts ein. Denn wer zu dem kollektiven Gut eines funktionierenden Finanzmarktes beiträgt, verschafft sich im Wettbewerb mit anderen Marktteilnehmern keinen Vorteil. Es gibt also eine Grenze, die dem Handeln des Marktvolkes wegen seiner typischen Art des Handelns auf Märkten gezogen ist. Sie zeigt sich besonders deutlich daran, dass die Mitglieder des Marktvolkes in der Krise der Finanzmärkte auf die Ressourcen des Steuerstaates zum Erhalt der Märkte und ihrer Vermögen angewiesen sind. Diese Ressourcen sind klingende Münze für sie. Aber die Steuergelder hängen von der Loyalität der Bürger des Steuerstaates zu ihrem politischen Gemeinwesen ab. Der Konsolidierungsstaat braucht das Staatsvolk. Diese Angewiesenheit zeigt sich auch in der Verteilung von Verantwortung bei der Krisenbewältigung. Nicht Bankaktionäre und Gläubiger spanischer, portugiesischer, griechischer oder irischer Banken stehen in der Verantwortung; und auch nicht die wohlhabenden Bürger dieser Länder, die von ihrem Gemeinwesen offensichtlich besonders profitieren. Vielmehr werden summarisch („holistisch“) und ungeachtet ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen Stärke Spanier, Griechen, Portugiesen und Iren zur Verantwortung gezogen. Entsprechend wird in diesem, wie Streeck es nennt, „holistisch-nationalistischen Weltbild der internationalen Finanzdiplomatie“ (S. 137/FN 51) die Hilfe für die Eigentümer, Anleger und Staatskassen als eine Pflicht der Solidarität von Nationen dargestellt; und zwar vorzugsweise die Solidaritätspflicht des summarisch reichen Nordens mit dem summarisch armen Süden. Die vergleichende EZB-Studie vom 8. April 2013 zur Vermögensverteilung in den EULändern hat zwar mit dieser Alexis-Sorbas-Folklore von „den“ armen Südeuropäern aufgeräumt. Aber es ist Brüssel und den EU-gläubigen Meinungsmachern gelungen, diese Studie aus der großen Erzählung Europas herauszuhalten. Es fügt sich in dieses Bild von den nationalen Verantwortlichkeiten gut ein, dass seit 2008 die UBS in der Schweiz, die AIG in den USA, die Royal Bank of Scotland in Großbritannien oder die Anglo Irish Bank in Irland ihre Hilferufe nicht an den Weltbankenverband oder an ihre Haftungsfonds, sondern an „ihre“ nationalen Regierungen gerichtet haben. Offensichtlich trauen die Anwälte des Marktvolkes den Nationalstaaten im Zeitalter des entgrenzten Kapitalismus immer noch so viel Souveränität zu, systemrelevante Krisen wirksam zu bekämpfen. www.gegenblende.de Seite 72 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Wer Streeck eine nostalgische Verklärung des Nationalstaates im entgrenzten Kapitalismus vorwirft, sollte dieses Faktum der Angewiesenheit auf den Nationalstaat nicht aus dem Blick verlieren. Das zweifelhafte Europa der Kritiker Kritiker von Streeck wie Jakob Tanner, Hauke Brunkhorst, Jürgen Habermas oder Christoph Deutschmann erheben genau diesen Vorwurf. Sie setzen deshalb bei der Demokratie ungerührt auf mehr Europa und weniger Nationalstaat. [3] Dabei spielen sie zunächst die Globalisierungskarte gegen Streeck aus: Die wirtschaftliche Globalisierung, also die räumliche Ausdehnung und die Vernetzung von Produktionsketten und Handelsaktivitäten entzieht das Marktvolk zunehmend dem Einflussbereich des Nationalstaates und damit auch seiner Demokratie. Der zweite Zug besteht dann in der politiktheoretischen Beglaubigung schon gebildeter neuer EU-Institutionen vom Fiskalpakt über den ESM bis hin zu einer Bankenunion. In einem dritten Schritt wird dann eine nachholende Demokratisierung europäischer Institutionen gefordert. Bei diesem dritten Schritt fällt auf, dass auf der europäischen Ebene die ökonomische Macht des Marktvolkes plötzlich verschwunden ist. Jedenfalls werden die politischen Kräfte nicht namhaft gemacht, die diesen Schritt der nachholenden Demokratisierung befördern könnten. Empirisch ist nicht anzunehmen, dass das Personal einer autoritären Brüsseler Exekutive und die bestehenden politischen Fraktionen der europäischen Eliten „mehr Demokratie wagen“ werden. Sie hatten nämlich schon viele Jahrzehnte Zeit dafür. Darüber hinaus wird auf der Ebene des dritten Schritts so getan, als ob nur institutionelle Phantasie für demokratische Institutionen vonnöten sei und nicht auch die schlichte Brechung von ökonomischer Macht; einer Macht, wie sie sich allein in der wöchentlichen Dauerpräsenz von 2000 hauptberuflichen Lobbyisten der Bankenbranche in Brüssel zeigt oder darin, dass Wall Street Firmen wie Oliver Wyman oder Blackrock die Expertisen für die EZB in bestimmten Bereichen ausarbeiten.[4]Kann man im Ernst daran glauben, dass ein EU-Handelskommissar (Karel de Gucht), der 1,2 Millionen Euro Gewinn mit Börsengeschäften erzielte, seinen Golfpartnern mit einer effektiven Finanztransaktionssteuer die Laune verderben wird?[5] Im zweiten Schritt, also in dem, was in der phrasenhaften Sprache von Europapolitikern „vertiefte Integration“ heißt, wird der Vorschlag vorgetragen, die Währungsunion der Eurozone durch eine politische Union zu vervollständigen. Auch dabei wird ein Sachverhalt vernachlässigt: Machtgeschützte Regeln, die Institutionen ausmachen, erhalten ihre Bedeutung wesentlich durch ihren Einführungskontext. Die konkreten Institutionen einer politischen Union wie ein europäisches Steuersystem, ein einheitliches Arbeitsrecht und uniforme Sozialstandards werden von dem Geist dieser Währungsunion bestimmt, also von dem Ziel, die Transaktionskosten www.gegenblende.de Seite 73 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 ökonomischer Akteure zu senken, sowie Menschen und Gesellschaften rücksichtslos den Vorgaben einer Wettbewerbsordnung für Marktvölker ideologisch und organisatorisch anzupassen. Dafür sprechen zum Beispiel die bereits etablierten Regeln im ESM oder im Fiskalpakt sowie die geplanten Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP). Kein Gedanke wird in diesen Abkommen an einen Schutz der Investitionen von Arbeitnehmern vor renditegetriebenen Betriebsschließungen verschwendet; also an den Schutz von persönlichen Bildungsausgaben und an den Schutz der seelischen und körperlichen Energien, die die Menschen in die eigene Arbeitsfähigkeit investieren. Die Entwicklung einer transnationalen Politik im Dienst der Demokratie wird von Streeck als Ziel gar nicht verworfen. Nur, die elitenfreundlichen Anhänger einer vertieften EU-Integration verharmlosen die Schwierigkeit einer solchen Politik. Denn sie tun einfach so, als könnten die politischen Steuerungsmittel mit der Entgrenzung des Kapitalismus beliebig weit nachwachsen, dass also der Globalisierung des Wirtschaftens die Globalisierung der demokratischen Politik (mit GovernanceModellen) nachfolgen kann. Es ist, als ob die politischen Feuerwehrleitern mit den ökonomischen Wolkenkratzern mitwachsen könnten. Das ist sehr zweifelhaft. Denn die Globalisierung des Wirtschaftens bedeutet die Ausdehnung sehr spezifischer Kooperationszusammenhänge auf Märkten. Ihnen entspricht eben nicht eine Globalisierung jener mehrdimensionalen Handlungszusammenhänge, die das soziale Leben von Menschen ausmachen. Genau diese Lebenszusammenhänge müssten aber eine transnationale, demokratische Politik entsprechend der wirtschaftlichen Globalisierung tragen. Die Weltgesellschaft gibt es nicht, es sei denn, man verwechselt sie mit den uniformen Transitzonen der internationalen Flughäfen. Wir kommen nicht darum herum, mit Streeck zu fragen, „wie die Globalisierung so (zugeschnitten) oder auch, horribile dictu, zurückgeschnitten werden kann, dass sie mit demokratisch-egalitärer Politik vereinbar ist“.[6] Mit dieser Frage ist theoretisch wie politisch das Für und Wider von Grenzen, ausschließlich verstanden als Unterbrecher von Kausalketten, auf die Tagesordnung gesetzt. Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrages zu einem Forum über Wolfgang Streecks Buch Gekaufte Zeit im Journal of Modern European History 12 (2014), Heft 1, S. 61-70. www.gegenblende.de Seite 74 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Literatur/Quellen: [1] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.2014, S.2: „Die Rückkehr des Protagonisten“. [2] Werner Plumpe, Der Staat, die Krise und die Spekulanten, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung Heft 1/2 (2012), S. 16. [3] J. Tanner, „Nationale Demokratie als politisches Leitfossil“, in Journal of Modern European History/Zeitschrift für moderne europäische Geschichte, Vol. 12/ 2014, S.71-79. – H. Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas, Berlin 2014. - J. Habermas, Demokratie oder Kapitalismus?, in: ders., Im Sog der Technokratie, Berlin 2013, S. 138-157. - Christoph Deutschmann, Warum tranken die Pferde nicht?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 9. 2013, N 4. H. [4] Vgl. Financial Times Deutschland vom 3.4. 2012: „Der Hase und der Igel“. Handelsblatt vom 29.8.2014, S. 30: „Draghis Plan B“. [5] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9.11.2013, S. 7: „De Gucht in Bedrängnis“. [6] W. Streeck, Vom DM-Nationalismus zum Euro-Patriotismus. Eine Replik auf Jürgen Habermas, in Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (2013), S. 90. Autor: Prof. Dr. Lutz Wingert, geboren 1958, Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. www.gegenblende.de Seite 75 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die Wahl in Schweden: Rückkehr zur „sozialdemokratischen Normalität“? von Joachim Kasten Die gesellschaftliche Entwicklung Schwedens wurde seit dem Amtsantritt des ermordeten Regierungschefs Olof Palme im Oktober 1969, in 28 von 45 Jahren durch sozialdemokratische Politiker geprägt. Die Wahlniederlage von Göran Persson im September 2006 bedeutete die bisher längste Unterbrechung dieser Traditionslinie. Am 14. September gingen die Schweden erneut zur Wahl. Das wichtigste Ergebnis war: Es gibt einen rot-grünen Regierungswechsel. War es aber wirklich ein sozialdemokratischer Wahlsieg? Die Antwort darauf ist nach wie vor gespalten. Ja, weil der ehemalige Vorsitzende der Metallarbeitergewerkschaft Stefan Löfven Ministerpräsident des Königreiches wird. Nein, weil bei einem Anstieg der Stimmen um 0,5 auf 31,2 Prozent bei gleichzeitigen Verlusten für die grüne „Miljöpartiet“ (Umweltpartei) um 0,5 auf nur 6,8 Prozent, kaum von einer überzeugenden erneuten Hinwendung zu den Sozialdemokraten die Rede sein kann. Die Abwahl der bürgerlichen Allianz Richtig ist indessen aber auch, dass die bisherige Vier-Parteien-Regierung der bürgerlichen Allianz das Vertrauen der Wähler verloren hat. Davon zeugen nicht zuletzt die erheblichen Verluste für die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Fredrik Reinfeldt von fast sieben Prozent. Seine Enttäuschung darüber führte noch am Wahlabend zum sofortigen Rücktritt. Den Parteivorsitz der konservativen „Moderaterna“ wird er im kommenden Frühjahr niederlegen. Aber auch die Feststellung, dass die Parteien im rechten Spektrum des schwedischen Reichstags das Vertrauen der Wähler verloren haben, ist eine Wahrheit mit Variationen. Dies gilt nur, wenn man die eigentlichen Wahlsieger - die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) - ausblendet. Ihr Stimmenanteil wuchs um ganze 7,2 Prozent auf eine Fraktionsgröße von nunmehr 12,9 Prozent. Die arithmetische Mehrheit im Stockholmer „Riksdag“ liegt somit - wie auch schon zuvor - rechts von der Mitte. Die Rolle der gestärkten Rechtspopulisten Nun haben, wie Stefan Löfven bereits im Wahlkampf warnte, die Rechtsradikalen in neun von zehn Fällen mit der Allianzregierung gestimmt, dennoch scheinen sich weitergehende Befürchtungen, dass die Partei zum Zünglein an der Waage für die www.gegenblende.de Seite 76 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Wahl zum Ministerpräsidenten wird, aktuell nicht zu bestätigen. Ein Grund dafür ist, dass viele Funktionäre der rechtspopulistischen SD unter den demokratischen Parteien als politischer Paria gelten. Im Gegensatz zu der ebenfalls rechtspopulistischen deutschen AfD, gingen die „Svergedemokraterna“ ursprünglich aus dem neonazistischen und radikal ausländerfeindlichen Milieu in Schweden hervor. Wie lange ihr Status als parlamentarische „Schmuddelkinder“ erhalten bleibt, ist allerdings eine offene Frage. Sucht man nach Ursachen für den Erfolg der rechten Populisten in Schweden ergibt sich dennoch eine Parallele zur Bundesrepublik. In einem Artikel der größten Tageszeitung des Landes - „Dagens Nyheter“ - analysiert der Politikwissenschaftler Ulf Bjereld, dass sich die „moderate“ Partei unter Fredrik Reinfeldt zur politischen Mitte entwickelt hätte und somit im rechten äußeren Spektrum ein Vakuum entstanden sei. Vergleichbare Einschätzungen zirkulieren in der deutschen Debatte über die Merkel-CDU und die zunehmenden Erfolge der AfD. Wie geht es in Schweden weiter? Klar scheint, dass es keine bruchlose Rückkehr zur sozialdemokratischen Dominanz der Zeiten von Palme, Carlsson oder Persson geben wird. Auch diese Partei- und Regierungschefs hatten oft keine eigene Majorität im Reichstag. Dennoch führten sie immer reine sozialdemokratische Kabinette. Parlamentarische Mehrheiten erzielte man mittels Absprachen mit bürgerlich-liberalen Parteien. Im äußersten Notfall galt, dass die frühere kommunistische Partei (heute „Linke“) niemals eine „Arbeiterregierung“ stürzen würde. Als Partei im 30-Prozent-Spektrum hat sich die Situation für die sozialdemokratische SAP nicht nur quantitativ verändert. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt seiner Kandidatur trug Stefan Löfven diesem Umstand Rechnung, indem er von der grünen „Miljöpartiet“ als „natürlichem Zusammenarbeitspartner“ sprach. Es werden also demnächst grüne Minister auf der Regierungsbank ihre Premiere geben, was für schwedische Sozialdemokraten ungewohnt ist. Auch die ebenfalls theoretisch mögliche Alternative einer Rot-rot-grünen Regierung mit der Linkspartei ergäbe in der Addition von zusätzlichen 5,7 Prozent an Sitzen noch keine Mehrheit. Außerdem ist Stefan Löfven bei den Wählern im Wort, die Linken nicht mit ins Boot für eine Regierungsbildung zu holen. Der Hintergrund für diese Entscheidung ist nach dem Politologen Ulf Bjereld, dass es für die zukünftige sozialdemokratisch geführte Regierung schwieriger würde, zu Übereinkünften mit der liberalen Volkspartei und der Zentrumspartei zu kommen. Ob und welche Parteien aus dem bürgerlichen Lager zu Mehrheitsbeschaffern der Rot-grünen Minoritätsregierung herangezogen werden können, wird derzeit in www.gegenblende.de Seite 77 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Stockholm noch ausgelotet. Zur ersten Belastbarkeitsprüfung gehört nicht nur die Wahl Stefan Löfvens zum Regierungschef sondern weit mehr die Vorlage und Abstimmung über den Haushalt des Landes. Stabile parlamentarische Verhältnisse für Schweden ergäben sich allenfalls aus einer großen Koalition zwischen SAP und „Moderaterna“. Dabei handelt es sich aber nur um eine numerisch stimmige Variante. In der gesamten Geschichte demokratischer Wahlen traten beide Parteien bisher als absolute Konkurrenten auf, die mit kontroversen Wertorientierungen um die Gestaltungsmacht in der Politik rangen. Daran zu rütteln, wäre in Schweden ein absoluter Tabubruch. Politikwechsel Was verändert sich nach der achtjährigen bürgerlich-konservativen Regierungsperiode in Schweden? Zu dieser Frage sprach GEGENBLENDE mit Eric Sundström. Er arbeitet als politischer Chefredakteur bei der Web-Zeitung der sozialdemokratischen Denkfabrik “Arena“ und leitete früher die SAPMitgliederzeitung „Aktuellt i Politiken“. Als kommende Hauptaufgabe einer sozialdemokratisch geführten Regierung nennt er insbesondere Reformen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie eine Stärkung der Arbeitslosen und Sozialversicherungsreformen. „Die unter den bürgerlichen Regierungsjahren geschwächte soziale Sicherheit muss erneut gestärkt werden“, erklärt Eric Sundström. Dazu zählt insbesondere die Schaffung von Jobs für die gut 400.000 Arbeitslosen des Landes. Außerdem wurde das traditionelle nordische Modell eines solidarisch organisierten Wohlfahrtstaates von der Allianzregierung ausgehöhlt. Bereits im Wahlkampf hatte Stefan Löfven harte Kritik an misslungenen Reformen wie der Zulassung von privatem Risikokapitals im Bereich von Pflegeeinrichtungen sowie bei Bildungsträgern geübt. Eric Sundström erinnert in diesem Zusammenhang an den Pisa-Schock, den das Land in diesem Jahr verdauen musste. Diese Probleme will Stefan Löfven angehen und dabei steht er vor der Herausforderung, dass ein grüner Regierungspartner ebenfalls Ansprüche stellen wird. Das Lieblingsprojekt des designierten Ministerpräsidenten ist die sog. Neuindustrialisierung. Darunter versteht er einerseits die Aufgabe, die Konkurrenzfähigkeit der klassischen Industrien zu verbessern und gleichzeitig neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor zu erschließen. Stefan Löfven wird sich dabei an den grünen Forderungen einer langfristig nachhaltigen Wirtschaft orientieren und sie sozial-gerecht ausbalancieren. Ein Wachstumsprogramm, gestützt auf Innovationen im Klima- und Energiebereich wird somit Teil der rot-grünen Regierungsagenda sein. www.gegenblende.de Seite 78 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 In diesem frühen Stadium des Regierungswechsels ist es allerdings Eric Sundström zu folge noch problematisch sichere Zukunftsprognosen zu geben. Richtig ist, dass eine Rückkehr zum traditionellen schwedischen Sozialstaatsmodell nach einigen fehlgeschlagenen Reformen angestrebt wird. Konkrete Schritte für deren Finanzierung sind indessen auch abhängig von Verhandlungsresultaten mit Parteien aus dem sogenannten bürgerlichen Block. Im Reichstag würde eine relative Mehrheit für den rot-grünen Haushaltsvorschlag die zukünftige Reformarbeit einleiten. Sollten aber die Rechtspopulisten nicht nur für ihren eigenen Antrag stimmen, sondern auch ein Votum für den Bürgerblock abgeben, wird es schwierig. Im schlimmsten Fall stünde die rot-grüne Premiere in Schweden auf Messers Schneide. Noch vor Weihnachten könnten Reformdebatten dann durch die Frage von Neuwahlen erstickt werden. Autor: Joachim Kasten, Lehrer an der Handelsschule Holstenwall in Hamburg Innovation braucht Führung und Beteiligung von Ines Roth Innovationen für eine nachhaltige Wirtschaftsstrategie, also keine reinen Konzepte zur Kostensenkung, werden zunehmend wichtig, gerade in Hinblick auf die Digitalisierung und Globalisierung. Doch wie kann die Entwicklung von Innovationen in den Betrieben und Verwaltungen vorangetrieben werden? Neben dem grundsätzlichen Willen der Unternehmensleitung, Innovationen zu fördern und der Bereitschaft, auch entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, bedarf es einer offenen, vertrauensvollen und teamorientierten Betriebskultur, die es den Beschäftigten erst ermöglicht, neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren. Die Führungskräfte spielen dabei eine entscheidende Rolle. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers jedoch, dass es in der Praxis nur wenigen Unternehmen gelingt, eine entsprechende Führungskultur zu etablieren (Roth 2013; Müller 2014). www.gegenblende.de Seite 79 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Das ver.di-Innovationsbarometer gibt mittels einer Befragung unter Aufsichtsräten, Betriebs- und Personalratsvorsitzenden regelmäßig Auskunft über die Innovationstätigkeit im deutschen Dienstleistungssektor. Seit der ersten Befragung 2005 nimmt die Zahl der Teilnehmenden stetig zu. An der aktuellen Umfrage, die Ende 2013 durchgeführt wurde, haben sich mehr als 1.000 Mitbestimmungsträger/innen beteiligt. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt auf „Innovationsfähigkeit und Weiterbildung“ (Roth 2013; des Weiteren Müller 2014). Die Berichte sind unter http://innovation-gutearbeit.verdi.de/innovation/innovationsbarometer abrufbar. Die betriebliche Innovationstätigkeit wird zu wenig durch eine entsprechende Führungskultur unterstützt Innovationen sind Aufgabe des Managements, „weil Führungskräfte wesentliche Rahmenbedingungen für das Handeln ihrer Mitarbeiter(innen) setzen und gleichzeitig zentrale Kulturträger sind (vgl. Sackmann / Bertelsmannstiftung 2004: 37f; Jost, 2003: 26ff). […] Führungsaufgaben gewinnen einen innovationsförderlichen Charakter nicht nur über die Schaffung von Strukturen, sondern auch über die interaktive Gestaltung von Arbeitsbeziehungen, d.h. über Informations- und Kommunikationsstrukturen sowie Motivierungsleistungen“ (Anlauft et al. 2007, S. 141). Innovationsförderliche Führung zeichnet sich vor allem durch einen vertrauensvollen, wertschätzenden Umgang mit den Mitarbeitern, durch das Zugeständnis großer Autonomie und eine starke fachliche und soziale Einbindung der Beschäftigten aus (vgl. Gebert 2002; Frey et al. 2006). Die Ergebnisse des aktuellen ver.di-Innovationsbarometers stützen aber eher den Eindruck einer „unternehmenskulturellen Diaspora“ wie sie Anlauft et al. (2007, S. 141) für deutsche Unternehmen konstatieren. So stimmen lediglich 47% der Befragten der Aussage zu, im Unternehmen herrsche eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens zwischen Beschäftigten und ihren unmittelbar Vorgesetzten (vgl. Abb. 1). Gefragt nach dem Vertrauensverhältnis zwischen Geschäftsleitung und Beschäftigten liegt dieser Anteil mit 22% sogar noch deutlich niedriger. Vertrauen ist jedoch die Voraussetzung einer ganzen Reihe von Erfolgsfaktoren bei der Schaffung von Innovationen wie beispielsweise das Gewähren und die Nutzung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, die Generierung von Wissen und der konstruktiv kritische Dialog (Reick et al. 2007). In Anbetracht des mangelnden Vertrauens zur Führung in vielen Unternehmen ist es daher kaum verwunderlich, dass es lediglich 35% der Befragten zufolge möglich ist, konstruktive Kritik gegenüber Vorgesetzten zu äußern ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. www.gegenblende.de Seite 80 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Abbildung 1 Auch die Delegation von Aufgaben, inklusive der jeweiligen Vollmachten und Ressourcen, gründet in hohem Maße auf gegenseitigem Vertrauen: die Vorgesetzten müssen sich sicher sein, dass die Spielräume von den Beschäftigten in ihrem Sinne genutzt werden, während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Fehlschlägen und Schwierigkeiten in der Aufgabenbewältigung auf Verständnis und Unterstützung bei den Führungskräften angewiesen sind (Gebert 2002). Die Voraussetzungen für Kooperation und Partizipation zu schaffen, und damit für eine förderliche Innovationskultur, sind ebenfalls wesentliche Führungsaufgaben, jedoch – wie die Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers zeigen – ist deren Erfüllung in den Dienstleistungsunternehmen nicht immer gegeben. So meinen lediglich 30% der Befragten, die Führungskräfte pflegten einen kooperativen, beteiligungsorientierten Führungsstil (vgl. Abb. 2). Abbildung 2 www.gegenblende.de Seite 81 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die unzureichende Beteiligungsorientierung zeigt sich in vielen Unternehmen auch darin, dass lediglich 37% der befragten Interessenvertreter/innen zufolge eine teamorientierte Arbeitsorganisation im Unternehmen durch die Führungskräfte unterstützt wird. Wobei sich die Situation bei Beschäftigten, die in betriebliche Innovationsprozesse eingebunden sind, etwas positiver darstellt (vgl. Abb. 3). Zudem verfügen lediglich 17% der Beschäftigten in ihren Aufgabenbereichen über ausreichende Handlungs- und Entscheidungsspielräume, um neue Ideen entwickeln und ausprobieren zu können. Erwartungsgemäß ist dieser Anteil mit Blick auf die Beschäftigten im Innovationsprozess mit 51% merklich höher. Abbildung 3 Die Ergebnisse des Innovationsbarometers legen nahe, dass sich nur wenige Unternehmen um proaktives Engagement in der Belegschaft zur Förderung der betrieblichen Innovationspotenziale bemühen. So haben lediglich 36% der Befragten den Eindruck, das mittlere Management ermutige die Beschäftigten dazu, sich in den Innovationsprozess einzubringen, bei der Unternehmensleitung sehen dies 42% (vgl. Abb. 4). Den Eindruck, die Eigeninitiative der Beschäftigten werde durch das mittlere Management geschätzt und gefördert, teilen 35% der Befragten, hinsichtlich der Unternehmensleitung liegt dieser Anteil bei 38%. www.gegenblende.de Seite 82 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Abbbildung 4 Nachlassende Innovationstätigkeit im Dienstleistungssektor Diese und weitere Ergebnisse des aktuellen ver.di-Innovationsbarometers weisen darauf hin, dass die Führungs- und Unternehmenskultur in vielen Dienstleistungsunternehmen (noch) nicht umfassend an innovationsförderlichen Kriterien ausgerichtet sind. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass die Innovationsaktivität im Dienstleistungssektor in den vergangenen zwei Jahren nicht zugenommen hat, sondern sogar leicht rückläufig war (vgl. Abb. 5). Abbildung 5 So ist der Anteil der Unternehmen, in denen in den vergangenen zwei Jahren keine Innovationen stattgefunden haben, von 12% auf 15% gestiegen. Entsprechend www.gegenblende.de Seite 83 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 weniger Unternehmen können eine inkrementelle und / oder eine Sprunginnovation vorweisen. Im Hinblick auf die große volkswirtschaftliche Bedeutung von Dienstleistungen, die in entwickelten Ländern in der Regel über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften (Dreher et al. 2011), sollte dieser Befund zu denken geben. Nicht zuletzt sind Innovationen für die Unternehmen angesichts der zunehmenden Wettbewerbsintensität im Dienstleistungssektor überlebenswichtig (vgl. Richter / Thiele 2007), gerade auch in gesättigten Märkten. Fazit In Anbetracht der aktuellen Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers ist es dringend erforderlich, mehr in Dienstleistungsinnovationen zu investieren – nicht nur finanzielle Mittel, sondern vor allem auch mehr Engagement, um ein entsprechendes betriebliches Umfeld zu schaffen. Die Menschen bleiben im Innovationsgeschehen Dreh- und Angelpunkt (vgl. Roth/Müller 2013). Sie brauchen die Zeit und die Möglichkeit, kreativ zu sein; und ihre Arbeit muss stärker wertgeschätzt werden – kurz: sie brauchen Gute Arbeit. Die Führungskräfte haben hierbei zentrale Aufgaben zu erfüllen. Sie haben Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsprozesse und den sozialen Umgang am Arbeitsplatz. Ihr Handeln muss – soll es erfolgreich sein – in eine entsprechende Unternehmenskultur eingebettet sein. Diese entscheidet wesentlich mit darüber, wie gut es gelingt, in den Unternehmen Innovationskraft zu entfalten: „zahlreiche empirische Analysen fehlgeschlagener Innovationsprojekte in den 80er Jahren belegen, dass diese [die Unternehmenskultur, Anm. der Autorin] den wichtigsten Einflussfaktor der Innovation bildet (Kieser 1986). Sie wirkt sich wesentlich auf die Effizienz betrieblicher Abläufe aus und steht in engem Zusammenhang mit der Innovationskraft von Unternehmen“ (Reick et al. 2007, S. 52). Aber auch die weit verbreitete Ablehnung des Managements, betriebliche Interessenvertretungen an diesen Prozessen partizipieren zu lassen, kann sich hemmend auf die Innovationsfähigkeit im Dienstleistungssektor auswirken. Hier unterstützt Ver.di die betrieblichen Interessenvertretungen, denn ohne ihr engagiertes Eingreifen sind soziale Innovationen in den Betrieben und Verwaltungen schwer zu verankern. Diesbezüglich leisten Weiterbildungskonzepte wertvolle Hilfe wie bspw. das vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) erarbeitete und im Rahmen eines von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Projekts, das in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen aus den ver.di-Fachbereichen Handel, Finanzen und Verkehr entwickelt wurde (Bienzeisler/Klemisch 2014; vgl. Beckmann/Müller 2014). Ein weiteres ver.diProjekt zur Qualifizierung von Interessenvertretungen trägt den Titel „Innovationsund Weiterbildungspartnerschaft zur Förderung der Qualifizierung von www.gegenblende.de Seite 84 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Beschäftigten“ in den Telekom-Servicegesellschaften und der IT-Branche und wird in Kooperation mit Input Consulting, Fraunhofer IAO (IWP-Telekom: www.iwp-tk.de) und dem ISF München (IWP-IT: www.iwp-it.de) umgesetzt. Die Projekte werden im Rahmen der Sozialpartnerschaftsrichtlinie (http://www.initiative-weiter-bilden.de/) gefördert und aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanziert. Ziel dieser Projekte ist die Qualifizierung der Beschäftigten, Betriebsräte und gewerkschaftlichen Vertreter/innen zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in der Arbeitswelt. Literatur/Quellen: Anlauft, W. / Holm, R. / Wirner, G. (2007): Zur Gestaltung innovationsförderlicher Unternehmenskultur. In: Doleschal, R. / Nolte, B. / Pläster, I. (Hrsg.): Innovationen systematisch gestalten. Beiträge zum Innovationskongress 2006, Schriftenreihe des KOM, Fachhochschule Lippe und Höxter, Nr. 1, Lemgo, S. 138-144. Beckmann, M./ Müller, N.: Dienstleistungsinnovationen gestalten – eine Handlungsanleitung für betriebliche Interessenvertretungen, In: Zeitschrift Gute Arbeit, 26. Jahrgang, Heft 10/2014 (im Erscheinen) Bienzeisler, Bernd/Klemisch, Michaela (2014): Dienstleistungsinnovationen – betriebliche Zukunft mitgestalten. Ein Workshop-Konzept, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf (im Erscheinen). Dreher, S. / Stock-Homburg, R. / Zacharias, N. (2011): Dienstleistungsinnovationen. Bedeutung, Herausforderungen und Perspektiven. In: Bruhn, M. / Hadwich, K. (Hrsg.): Dienstleistungsproduktivität, Innovationsentwicklung, Internationalität, Mitarbeiterperspektive. Band 2, Wiesbaden, S. 36-57. Frey, D. / Traut-Mattausch, E. / Greitemeyer, T. / Streicher, B. (2006): Psychologie der Innovationen in Organisationen, München: Roman-Herzog-Institut. Gebert, D. (2002): Führung und Innovation, Stuttgart. Kieser, A. (1986): Unternehmenskultur und Innovation. In: Staudt, E. (Hrsg.): Das Management von Innovationen, Frankfurt am Main. Jost, H. R. (2003): Wie weiche Faktoren zu harten Fakten werden, Zürich. www.gegenblende.de Seite 85 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Müller, N. (2014): Unzureichende Qualifizierung und hohe Arbeitsintensität weniger Innovationen. In: Zeitschrift Gute Arbeit, 26. Jahrgang, Heft 6/2014, S. 3739 Reick, C. / Kober, D. / Weiser, A. / Kastner, M. (2007): Innovationskatalysator Vertrauen. Die Förderung von Innovation durch Vertrauen am Beispiel eines Software-Unternehmens. In: Doleschal, R. / Nolte, B. / Pläster, I. (Hrsg.): Innovationen systematisch gestalten. Beiträge zum Innovationskongress 2006, Schriftenreihe des KOM, Fachhochschule Lippe und Höxter, Nr. 1, Lemgo, S. 51-56. Richter, A. / Thiele, M. (2007): Was unterscheidet innovative von nicht innovativen Dienstleistungen? Ein Überblick zum aktuellen Stand der Forschung. In: Schmidt, K. / Gleich, R. / Richter, A. (Hrsg.): Innovationsmanagement in der Serviceindustrie. Grundlagen, Praxisbeispiele und Perspektiven, Freiburg, S. 47-72. Roth, I. / Müller, N. (2013): Einleitung, in: ver.di (Hrsg.): Dienstleistungsinnovationen: offen, sozial, nachhaltig, Berlin, S. 5-7, http://innovation-gute-arbeit.verdi.de/innovation/dienstleistungsinnovationen Roth, I. (2014): Lernkultur und Innovationsmanagement im Dienstleistungssektor. Ausgewählte Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers 2013, http://innovation-gute-arbeit.verdi.de/innovation/innovationsbarometer Sackmann, S. / Bertelsmannstiftung (2004): Erfolgsfaktor Unternehmenskultur, Wiesbaden. Autorin: Ines Roth, geboren 1976, Wissenschaftliche Beraterin bei Input Consulting in Stuttgart www.gegenblende.de Seite 86 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Postdemokratie und die Erosion wirtschaftlicher Bürgerrechte von Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey Colin Crouch geht in seiner Diagnose der „Postdemokratie“ davon aus, dass die Verfahren der Demokratie zwar formal intakt bleiben, aber informell ausgehöhlt werden. Die politischen Entscheidungen werden von der Legitimation der Bürger entkoppelt und stattdessen durch Experten, ökonomische Eliten und ihre Interessen dominiert (Crouch 2008). Bisherige Untersuchungen von Crouchs Diagnose beschränkten sich primär auf das politische Feld. Aber auch in den Industriellen Beziehungen und der betrieblichen Mitbestimmung lassen sich Formen der Postdemokratisierung ausmachen. Das heißt nicht, dass die betriebliche Mitbestimmung ihre Funktion als Interessenvertretung der Beschäftigten zur Gänze verliert. Aber sie erodiert endogen – getrieben von der neuen Unternehmenssteuerung im Finanzmarktkapitalismus und dem Wandel der industriellen Staatsbürgerrechte. Erosionen in den Industriellen Beziehungen Schon länger kriselt die Stabilität des Gesamtsystems der Industriellen Beziehungen, ablesbar etwa an der sinkenden Flächentarifbindung oder an seinem Kernelement: der Mitbestimmung. 2011 wurden nur noch 44 Prozent der Beschäftigten in den Privatunternehmen West- und 36 Prozent Ostdeutschlands von einem Betriebsrat vertreten (vgl. Abbildung 1). Abb. 1 www.gegenblende.de Seite 87 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die Zonen ohne gesetzlich abgesicherte Mitbestimmung wachsen vor allem in den neuen Industrien, aber auch in traditionellen Bereichen und im Dienstleistungssektor kontinuierlich, mit anderen Worten: Die Reichweite der institutionalisierten demokratischen Mitbestimmung schwindet. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie sich der demokratische Gehalt der Mitbestimmung in den Zonen der institutionalisierten Mitbestimmung – dort also, wo Betriebsratsgremien vorhanden sind – verändert hat. Wir zeigen, dass sich bezüglich der Mitbestimmung trotz formaler Stabilität der Institutionen – und hier besteht die Analogie zum Postdemokratietheorem – eine Erosion sowie eine Fragmentierung der demokratischen Mitbestimmungsstrukturen feststellen lassen. Industrielle Bürgerrechte und Mitbestimmung Staatsbürgerrechte sind ein Produkt der Moderne und des modernen Nationalstaats. Der englische Soziologe T. H. Marshall diagnostizierte in seinem klassischen Beitrag „Staatsbürgerrechte und soziale Klassen“ schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Herausbildung von sogenannten sozialen Staatsbürgerrechten. Diese garantieren jedem Bürger, jedem Mitglied der Gesellschaft „ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit“ (Marshall 1992, S. 74). Soziale Bürgerechte im Wohlfahrtsstaat waren für Marshall das gesellschaftliche Element, welches das Spannungsverhältnis zwischen der politischen Gleichheit der Bürger im demokratischen Staat und der sozialen Ungleichheit der Marktvergesellschaftung integrativ zusammenführen konnte. „Unter der Hand“ (Müller-Jentsch 2008, S. 18) führte Marshall noch den Begriff der industriellen/wirtschaftlichen Bürgerrechte ein. Diese greifen am gleichen Punkt wie die sozialen Bürgerrechte: am Spannungsverhältnis zwischen der demokratischen Gleichheit der Bürger und ihrer ökonomischen Ungleichheit. Wirtschaftliche Bürgerrechte bieten Schutz vor illegitimen hierarchischen und politischen Unterordnungen. Unter industriellen Bürgerrechten werden die individuellen, aber vor allem die Kollektivrechte von Arbeitnehmern in der ökonomischen Sphäre zusammengefasst. Wie die anderen Bürgerrechte können sie sowohl ein legaler Status, eine gesetzliche Regelung aber auch ein Set von Konventionen und Praktiken sein, die selbst normativ geteilte Inhalte haben. Sie reichen von den klassischen Arbeitnehmerrechten wie der Koalitionsfreiheit über die Möglichkeit zur Partizipation bis hin zum Grad der Dekommodifizierung der Ware Arbeitskraft, z. B. durch die gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifnormen. Auch das über den Arbeitsvertrag geregelte Beschäftigungsverhältnis unterliegt in diesem Sinne den industriellen Bürgerrechten: hierunter fallen das Recht auf Sicherheit am Arbeitsplatz durch Gesundheitsschutz, der Kündigungsschutz, das Recht auf Urlaub und Erholung, ein soziales Minimum im Krankheitsfall und natürlich das Recht auf eine autonome Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen. www.gegenblende.de Seite 88 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Industrielle Bürgerrechte sind folglich von ihrer Natur aus „hybrider“ als die anderen Formen der Staatsbürgerrechte. Sie gründen sich weniger auf einen Bürgerstatus des Individuums, sondern sind Kollektivrechte der Arbeiterschaft, die aus dem Konflikt der Gewerkschaften mit Arbeitgebern, ihren Verbänden und Staat erlangt wurden. In Deutschland werden die industriellen Bürgerrechte etwa durch direkte Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten, die Tarifautonomie, die Etablierung der Institution der Betriebsräte sowie die Unternehmensmitbestimmung verkörpert. Die Betriebsräte sind ein Bindeglied zu überbetrieblichen demokratischen Institutionen (wie dem Tarifvertragswesen und den Aufsichtsräten), zielen aber auch in ihrer Praxis stets auf „die Anerkennung des Betriebsrats als autonomes und gleichwertiges Vertretungsorgan“, die „zugleich ein Kampf um die Anerkennung des vollwertigen betrieblichen Bürgerstatus der Belegschaft ist“ (Kotthoff 1994, S. 179). Der Betriebsrat repräsentiert als demokratisch legitimierte Institution alle Beschäftigten, er wird von ihnen „gebildet, gewählt und kontrolliert“ (Müller-Jentsch 2008, S. 181182). Durch die Teilnahme an Entscheidungsprozessen in einzelnen Themengebieten, die ohne seine Teilhabe einseitig dominiert würden, schränkt der mitbestimmende Betriebsrat die Macht des Unternehmers ein. Postdemokratisierung und die Erosion wirtschaftlicher Bürgerrechte im Betrieb Bereits gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben Reformen eingesetzt, die in den entwickelten Wohlfahrtsstaaten die Marktprinzipien gegenüber den Bürgerrechten wieder aufwerteten. Mit dem Jahrtausendwechsel dominieren mittlerweile Diagnosen von einer allgemeinen Erosion der (sozialen) Staatsbürgerschaft (Joppke 2007, 2010). Die gewandelten Unternehmensstrategien im Finanzmarktkapitalismus stellen die eigentlichen Treiber des Wandels der industriellen Staatsbürgerrechte dar. Die Tendenz zur Erosion der Mitbestimmung vollzieht sich vor dem Hintergrund der „Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Streeck 2013), in der die Finanzmärkte eine dominante Rolle eingenommen haben. Der Betrieb als räumlich und arbeitspolitisch kohärente Einheit verlor dabei seine Leitbildfunktion. Seine Grenzen sind nicht mehr durch die Fabrikmauern definiert, sondern er wandelt sich zu einer fragmentierten Fabrik mit differenzierten Systemen der Wertschöpfung (Durand 2007), die aus einer Vielzahl halbautonomer ProfitCenter, eigenständiger Betriebsstätten mit unterschiedlichen Tarif- und Mitbestimmungsbedingungen und vor allem heterogener und in zunehmendem Maße prekärer Beschäftigungsverhältnisse besteht. Dies erlaubt es dem Management, eine Vielzahl von Risiken auf Vertragspartner und Beschäftige zu externalisieren und mitbestimmungspolitische Hemmnisse zu umgehen (am Beispiel Leiharbeit vgl. Holst et al. 2009). www.gegenblende.de Seite 89 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Zudem folgen kapitalmarktorientierte Unternehmen mittlerweile einer Personalpolitik der „unteren Linie“: Das Stammpersonal wird nicht mehr am zyklischen Durchschnitt (Personalpolitik der „mittleren Linie“) ausgerichtet, sondern orientiert sich am Personalbedarf der Kapazitätsuntergrenze des Unternehmens. Die Stammkräfte besetzten in dieser Personalpolitik alle qualifikatorischen Schlüsselpositionen, während man bereits für den Normalbetrieb Fremdpersonal – vor allem Leiharbeiter – beschäftigen muss. Die Leiharbeit erfährt somit einen Funktionswandel: Sie wird nicht mehr zum kurzfristigen Ausgleich von Personalund Auftragsschwankungen genutzt, sondern als permanentes Element der Personalplanung „strategisch eingesetzt“ (Holst et al. 2009). Indem sich die Einheit der früheren Belegschaft schrittweise zu einem Flickenteppich unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse in einer Wertschöpfungskette oder der auf einem Betriebsgelände Erwerbstätigen wandelt, modifiziert sich auch der demos der betrieblichen Mitbestimmung. Während Leiharbeiter, wie später diskutiert wird, noch über gewisse Mitbestimmungs- und Vertretungsrechte verfügen, ist der Werkvertrag ein Kaufvertrag nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und unterliegt nicht der Betriebsverfassung (bzw. nur der des Werkvertragsunternehmens). Sozial- und Unfallversicherung, Kündigungs- und Mutterschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und nicht zuletzt die Mitbestimmungsrechte werden durch Werkverträge ganz oder teilweise umgangen (Nienhüser/Baumhus 2002). Die Erosion der Mitbestimmung durch den strategischen Einsatz von Leiharbeit kommt gewissermaßen durch die Hintertür der betrieblichen Steuerung, denn der Gesetzgeber hatte bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) von 2001 eine Konsolidierung, ja teilweise sogar eine Stärkung der Mitbestimmung vorgesehen. Für Klein- und Mittelbetriebe gab es ein vereinfachtes Wahlverfahren, konzernübergreifende Betriebsratsgründungen wurden erleichtert, auch die Zahl der Mandate und Freistellungen wurde maßvoll erhöht. Zwar wurden die Mitbestimmungsrechte kaum gestärkt, aber die Ressourcen der Betriebsräte wenigstens konsolidiert, mitunter sogar leicht ausgeweitet (Däubler 2001; Brinkmann/Speidel 2006). Die industriellen Bürgerrechte erodieren nun im Prozess der Unternehmenssteuerung im Finanzmarktkapitalismus auf zwei Weisen und werden dadurch zu einem Faktor der Postdemokratisierung in den Industriellen Beziehungen: (1) unmittelbar in der rechtlichen und betrieblichen Stellung des Leiharbeiters und in der Folge davon (2) in den Mitbestimmungsressourcen über die Regulierung des relevanten demos. (1) Der Leiharbeiter ist gekennzeichnet durch immense Statusunterschiede in Fragen der Entgelte gegenüber den Stammkräften, die in einem Normalarbeitsverhältnis www.gegenblende.de Seite 90 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 sind. Er ist lediglich ein betriebliches Sachmittel und kann sich aufgrund seiner häufig prekären Lebenslage und seiner relativen Desintegration von der Stammbelegschaft sowie den Mobilitätserfordernissen sehr schwierig kollektiv organisieren. Durch die Aufhebung der Beschränkung der Überlassungsdauer und des Synchronisationsverbots im Zuge der Agenda 2010 wurde der in der Realität ohnehin schwache Kündigungsschutz für Leiharbeiter weiter geschwächt und der quasi-permanente Einsatz von Leiharbeitern ermöglicht, was in den Folgejahren zu einem starken Anstieg der Leiharbeit führte. Dadurch wurde auch ermöglicht, dass Leiharbeiter häufig nicht mehr nur die Tätigkeiten der Randbelegschaft, sondern tief integriert in den Produktionsprozess die gleichen Tätigkeiten wie die festangestellten Beschäftigten ausführen. In der Novellierung des BetrVG von 2001 wurden die Partizipationsrechte von Nicht-Vollzeit- Beschäftigen zwar gestärkt, sie wurden den Vollzeitkräften mit kleinen Einschränkungen gleichgestellt und nach einem halben Jahr Betriebszugehörigkeit erhielten auch sie das passive Wahlrecht. Andere Beschäftige im Betrieb – vor allem Leiharbeiter – bleiben aber nur halbe Betriebsbürger, da sie formalrechtlich im Verleihbetrieb angestellt sind. Nur wer ein Beschäftigter des Betriebes ist, ist auch ein mit vollen Rechten und Ressourcen ausgestatteter Betriebsbürger. Leiharbeiter erhielten im novellierten BetrVG zwar das aktive Wahlrecht im Entleihbetrieb (nach drei Monaten Betriebszugehörigkeit), aber nicht das passive. Sie konnten also Repräsentanten wählen, aber selbst keine demokratischen Funktionen ausüben. Es handelt sich beim Leiharbeiter nach der Kategorisierung von Lockwood um eine „staatsbürgerliche Exklusion“ (Lockwood 2000, S.164-165). Mit anderen Worten: Auch wenn es in den letzten Jahren eine qualitativ wirksame Reregulierung der Leiharbeit gegeben hat, so bleibt der Leiharbeiter ein Betriebsbürger zweiter Klasse. Dies würde – in anderen Akzentuierungen und im Kontext unterschiedlicher rechtlicher Bedingungen auch für andere Formen prekärer Beschäftigung gelten. (2) Der demos des Betriebes war lange Zeit durch die Organisationsmitgliedschaft präzise geregelt. Durch die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse im Finanzmarktkapitalismus erhält der demos jedoch eine neue mitbestimmungspolitische Bedeutung. Relevant ist der dem BetrVG zugrundeliegende Betriebs- und Arbeitnehmerbegriff: Wer ein Angehöriger des Betriebs bzw. wer der für die Bemessung der Ressourcen ausschlaggebende demos ist. Obwohl Leiharbeiter wie die Stammkräfte in den Betriebsablauf eingebunden und weisungsgebunden sind, gehörten sie bis zum Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) vom 13.03.2013 nicht zum demos des Betriebs, der zur Bemessung der Mandate und Freistellungen hinzugezogen wird (7 ABR 53/02, DB 2003, 2128), da sie juristisch nicht als Arbeitnehmer des Einsatzbetriebs gezählt wurden. In fast der Hälfte aller Fälle werden Leiharbeiter nicht in die Wählerverzeichnisse mitaufgenommen. Damit führt der strategische Einsatz von Leiharbeit in vielen Fällen zu einer Vertretungslücke bzw. zu einem Mandatsmanko und Freistellungsmanko. In fast einem Viertel der untersuchten Betriebe waren sowohl www.gegenblende.de Seite 91 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 die Mandate wie auch die Freistellungen geringer, als sie gewesen wären, wenn man statt Leiharbeitern unbefristete Beschäftige eingestellt hätte. Auf der anderen Seite erfahren die Betriebsräte einen gestiegenen Aufwand bei häufig gesunkenen Ressourcen durch die Zunahme von prekärer Beschäftigung (ausführlich: Brinkmann/Nachtwey 2013). Als Faustregel, so zeigten unsere Untersuchungen, konnte man jedoch festhalten: Wenn die Gewerkschaften im Betrieb stark organisiert und aktiv waren und die Betriebsräte häufiger Konflikte mit dem Management eingingen, dann war die Vertretungslücke weniger groß. Perspektiven Zwar folgte auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) in den letzten Jahren dem Liberalisierungstrend in den Industriellen Beziehungen, wenn auch gebremst (Rehder 2011), jedoch traf es zuletzt eine Reihe von regulierenden Entscheidungen bezüglich der Leiharbeit. Am 13.03.2013 (7 ABR/6911) entschied es, dass Leiharbeiter bei der Bemessung des relevanten demos in Zukunft berücksichtig werden müssen. Damit schränkt das BAG die postdemokratische Tendenz des strategischen Einsatzes von Leiharbeit in vielen Betrieben ein. Allerdings wurde die hybride industrielle Bürgerschaft der Leiharbeiter nur zur Hälfte korrigiert. Das passive Wahlrecht erhalten sie auch bei einem permanenten Einsatz im Verleihbetrieb nicht. Dass die novellierte Berücksichtigung von Leiharbeitern bei den Betriebsratswahlen 2014 zu einer Stärkung der Betriebsratsgremien geführt hat, gilt als sicher, aber das Ausmaß ist noch unbekannt. Es ist allerdings zu befürchten, dass Leiharbeit in Zukunft noch stärker durch Werkverträge ersetzt und zunehmend als Instrument der Flexibilisierung und Externalisierung von Risiken eingesetzt wird (Klein-Schneider u. Beutler 2013). Nachdem es den Gewerkschaften seit 2010 immer stärker gelungen ist, große Bereiche der Leiharbeit durch sogenannte „Besservereinbarungen“ sowie durch tarifliche Anstrengungen zu verteuern, rückt jüngst der Werkvertrag in den Fokus der Arbeitgeber Von Experten und Branchenvertretern wird eine Substituierung der Leiharbeit durch Werkverträge bereits forciert. Ebenso wie die Leiharbeit ist der Werkvertrag zwar kein neues Element der betrieblichen Steuerung, aber hier sind die Auswirkungen für die Mitbestimmung teilweise noch größer als bei der Leiharbeit. Der Druck auf die wirtschaftlichen Bürgerrechte hält an, dies wird eine der zentralen Herausforderungen für die Gewerkschaften in den nächsten Jahren bleiben. www.gegenblende.de Seite 92 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Literatur/Quellen: Brinkmann, Ulrich/Speidel, Frederic (2006): Hybride Beteiligungsformen am Beispiel „sachkundiger Arbeitnehmer“, in: WSI-Mitteilungen 59, S. 86-91. Brinkmann, Ulrich/Nachtwey, Oliver (2013): Postdemokratie, Mitbestimmung und Industrielle Bürgerrechte, in: Politische Vierteljahresschrift 54 (3), S. 506-533. Brinkmann, Ulrich/Nachtwey, Oliver (2014): Prekäre Demokratie? Zu den Auswirkungen atypischer Beschäftigung auf die betriebliche Mitbestimmung, in: Industrielle Beziehungen 21 (1) 78-98. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main. Däubler, Wolfgang (2001): Die novellierte Betriebsverfassung, in: Industrielle Beziehungen 8, S. 364-378. Durand, Jean-Pierre (2007): Invisible Chain. 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(1992): Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Rieger, Elmar (Hg.): Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt/New York, S. 33-93. www.gegenblende.de Seite 93 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Müller-Jentsch, Walter (2008): Arbeit und Bürgerstatus. Studien zur sozialen und industriellen Demokratie, Wiesbaden. Nienhüser, Werner/ Baumhus, Walter (2002): „Fremd im Betrieb“. Der Einsatz von Fremdpersonal als Arbeitskräftestrategie, in: Martin, Albert/Nienhüser, Werner (Hg.): Neue Formen der Beschäftigung – neue Personalpolitik?, München/Mehring, S. 61-120. Rehder, Britta (2011): Rechtsprechung als Politik. Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, Frankfurt/New York. Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin. Autoren: Prof. Dr. Ulrich Brinkmann, geboren 1967, Professor für Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt , Dr. Oliver Nachtwey, geboren 1975, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Darmstadt Zwei Jahre nach dem Brand der Textilfabrik in Karatschi von Thomas Seibert Pakistans „Industrial 9/11“ – ein Reisebericht Mohammed Hanif ist in Karatschi kein Unbekannter. Im Stil eines bekannten Bollywood-Stars gekleidet, ist der junge Tänzer schon im Fernsehen aufgetreten. Aber seinen Lebensunterhalt verdient auch er durch Akkordarbeit in einer der zahllosen Textilfabriken in Pakistan. Hanif war Näher bei Ali Enterprises – bis zu jenem 11. September 2012, an dem in der Fabrik ein Brand ausbrach und 255 Arbeiterinnen und Arbeiter starben. Das war Pakistans „Industrial Nine/Eleven“. Zwei Jahre später kann Hanif noch sehr genau erklären, wie das Gebäude aufgebaut und die Produktion organisiert war. Ruhig berichtet er, wie er in der Flucht vor den Flammen einen Außenventilator aus der Wand trat und dadurch eine Öffnung ins www.gegenblende.de Seite 94 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Freie schaffen konnte. Zehn Menschen hat er durch das Loch abseilen und retten können, bevor er selbst ohnmächtig wurde und in die Tiefe stürzte. Vielfache Knochenbrüche waren die Folge, manche Nervenbahnen sind dauerhaft beschädigt und die Lunge so angegriffen, dass seine Schilderung der Ereignisses immer wieder durch Hustenanfälle unterbrochen wird. Hanif ist eines von 50 Ali Enterprises-Opfern, die wir Anfang September im Tagungsraum eines Hotels der pakistanischen Millionen-Metropole Karatschi treffen. Sie gehören der Selbstorganisation der Überlebenden und Hinterbliebenen an, die sich „Baldia Factory Fire Affectees Association“ nennt. Wir – das sind der pakistanische Anwalt Faisal Sidiqqi, zwei Berliner Anwältinnen des European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR) und ich für medico international. Das Treffen dient der Vorbereitung einer Klage gegen den deutschen Discounter KiK, der am verhängnisvollen 11. September bei Ali Enterprises Kleidungsstücke fertigen ließ. Selbst nach Katastrophen wie dieser ist es schwierig bis unmöglich, die internationalen Auftraggeber juristisch haftbar zu machen. Die Unternehmen schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, mit der Folge, dass letztlich keines belangt wird. Trotz öffentlichen Drucks hat KiK bislang bloß lächerliche Summen an die Überlebenden und Hinterbliebenen gezahlt, auf freiwilliger Basis: gegen einen Anspruch auf substanzielle Entschädigung wehrt sich das Unternehmen nach Kräften. Vor wenigen Wochen ist die vorerst letzte Verhandlungsrunde mit KiK gescheitert. Der Anwalt Faisal Sidiqqi kehrte ohne Ergebnis nach Pakistan zurück. Karamat Ali, Geschäftsführer der medico-Partnerorganisation PILER und Verhandlungsführer der Opfer, war erst gar nicht nach Berlin geflogen. Nun soll der Klageweg beschritten werden. In diesem Fall ist das keineswegs aussichtslos, weil KiK der mutmaßlich einzige Auftraggeber von Ali Enterprises war. Deshalb versuchen die Opfer im Schulterschluss mit medico und Partnern aus Deutschland und Pakistan etwas noch nicht Dagewesenes: ein deutsches Unternehmen vor deutschen Gerichten für eine Katastrophe in einer ins Ausland verlagerten Produktion haftbar zu machen. Es könnte ein Präzedenzfall werden. Wie Mohammad Hanif erzählen auch die anderen Überlebenden und Hinterbliebenen von ihren Schicksalen. Sie rufen die Namen ihrer Mütter, Väter, Geschwister und Kinder in Erinnerung, die diesen Tag nicht überlebt haben, berichten von eigenen Verletzungen, Verstümmelungen und Traumatisierungen. Sie sind froh, dass die Erlebnisse jedes Einzelnen protokolliert werden – obwohl sie wissen, dass aufgrund der Prozessbedingungen nur drei oder vier von ihnen die Klage werden einreichen können. Mit Interviews wollen wir herausfinden, wer als Kläger oder Zeuge in Betracht kommt. Allen Anwesenden ist bewusst, dass die Klage sehr lange dauern wird und ihr Ausgang ungewiss ist. Doch niemandem geht es nur um sich. Immer wieder fallen Sätze wie „Ich möchte helfen für Gerechtigkeit zu sorgen.“ www.gegenblende.de Seite 95 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Oder: „Für mich wird sich nichts mehr ändern. Aber ich will, dass anderen nicht dasselbe passiert.“ Tatsächlich gelingt es reibungslos, sich auf eine Handvoll potenzieller Kläger zu einigen, drei Männer und zwei Frauen. Eine von ihnen ist Saheeda Katoon. Sie war schon vor dem 11. September Witwe, verlor beim Brand ihren Sohn Ejaz Ahmad, lebt von zwei kleinen, zeitlich befristeten Pensionen. Mit den Tränen kämpfend erzählt sie, dass ihr Sohn sie einst hätte begraben sollen, dass sie jetzt nicht weiß, ob überhaupt jemand an ihrem Grab stehen wird. Sie schläft kaum und kocht nicht mehr, ernährt sich von Brot, von Keksen, etwas Obst. Am Ende der zwei Tage hat die Klage Gesichter und Geschichten bekommen, Einzelfälle, die für viele andere stehen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum KiK inzwischen um einen neues Gespräch gebeten hat. Der Druck auf einen Profiteur der globalen Ausbeutung wächst. Korangi: Depression Colony Dass sich bisher nichts geändert hat, erleben wir bei unseren nächsten Stationen. Kollegen der Gesundheitsorganisation HANDS, des ältesten medico-Partners in Pakistan, fahren uns in die Bhitai Colony in Korangi, einem Stadtteil Karatschis, wo die Hilfsorganisation ein psychosoziales Gemeindeprojekt begonnen hat. Die HANDS-Aktivistinnen Laldin Balal und Asia Majid nennen die Gegend „Depression Colony“. Wir sehen, in welchen Verhältnissen die Arbeiterinnen und Arbeiter des Weltmarktes leben – und welches alltägliche Elend sie an die Werkbänke treibt. Tatsächlich gilt ein Job in einer der Textilfabriken als Hauptgewinn. Die meisten hier sind Tagelöhner oder gänzlich ohne Einkommen. Nur die großen Straßen sind asphaltiert, die Seitenachsen trotz der Hitze mit stinkenden Pfützen übersäht. „Die Trinkwasserversorgung ist katastrophal, weil sich Frischwasser und Abwasser mischen“, sagt Asia. Viele leiden an Durchfall und Erbrechen, an Hepatitis und Malaria. „Neben der Armut ist das schlimmste die Aussichtslosigkeit der Tagelöhnerei und die Angst vor dem Jobverlust“, ergänzt Laldin. Am Anfang des Projekts wurden Frauen aus der Colony zu „Marvi Workers“ ausgebildet – zu Gemeindeschwestern mit paramedizinischen und psychosozialen Grundkenntnissen. Jede Marvi betreut eine Gruppe von bis zu 15 Frauen und organisiert regelmäßige Treffen. „Die Mühsal und die Angst machen die Familien kaputt, viele Männer prügeln, die Frauen versuchen alles zusammenzuhalten. Die Jungen baden das aus, nehmen Opium, Alkohol und andere Drogen.“ Hält eine Frau das nicht mehr aus, bringt eine Marvi sie zu einer kleinen Klinik. Deren Leiterin Fizza Yasmeen erklärt uns: „Wir leisten hier Nothilfe, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Situation ändern – das können wir nicht. Fragen wir die Leute, was sie brauchen, lautet die Antwort: Jobs, mehr Jobs, bessere Jobs.“ www.gegenblende.de Seite 96 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Faisalabad: Sector Satwan Bessere Jobs? Welche Arbeitsbedingungen hier selbstverständlich sind, wissen die Kollegen des medico-Partners NTUF, sei es in den Textilfabriken in Karatschi, sei es in den Webereien in Faisalabad im Nordwesten nahe der indischen Grenze, wo die Stoffe hergestellt werden. Mit Nasir Mansoor, dem Generalsekretär der Gewerkschaft, reise ich nach Satwan, einem der 29 „Sektoren“ des Industriegürtels von Faisalabad. Die Szenerie in den Fabriken erinnert an den Manchesterkapitalismus vor 100 Jahren in Europa. Im Höllenlärm der dunklen Hallen rattern auf engstem Raum 60 uralte, vom Rost zerfressene Webstühle. Luftfilter gibt es nicht, zentimeterhoch häufen sich die Baumwollfasern. Die Arbeiter drängen sich um die Maschinen und hetzen durch die schmalen Gänge, stets in der Gefahr, irgendwo anzustoßen, hängenzubleiben oder ins rasende Getriebe und Gestänge zu geraten. Am Ende unseres Wegs treffen wir Gewerkschaftsaktivisten des Labour Qaumi Movement (LQM), der vor kurzem erst gegründeten „Volksbewegung der Arbeit“. NTUF und LQM haben sich gesucht und gefunden: Die einen sind an neuen Methoden des Organisierens interessiert, die anderen an Verbindungen über Faisalabad hinaus. Der Fabrikbrand des „Industrial 9/11“ hat sie zusammengeführt: „Was in Karatschi die Brände sind“, sagt Ashfaq Budd, Gründer des LQM, „sind bei uns die Unfälle am Webstuhl.“ Workers of the World, unite! Zurück in Karatschi beraten wir uns noch einmal mit den Kollegen der NTUF, von PILER und dem Anwalt Siddiqi. Schon bei der Ankunft hatten wir ihnen die englische Übersetzung eines Aufrufs gezeigt, den wir in Deutschland zum 11. September veröffentlichen wollten, dem zweiten Jahrestag des Brandes. Seine Initiatoren sind die Vorsitzenden des DGB, ver.dis und der IG Metall, Reiner Hoffmann, Frank Bsirske und Detlef Wetzel. Mit ihnen zeichnen Abgeordnete des Bundestags, Wissenschaftlerinnen, Schauspieler und Schriftsteller. Zu Beginn wird knapp der „Industrial 9/11“ in Erinnerung gerufen. In der Mitte des Texts nennen die drei Gewerkschaftsvorsitzenden die politische Forderung, die uns zusammen bringt: „Die Kolleginnen und Kollegen an den Nähmaschinen in Südasien und Südostasien brauchen eine angemessene und faire Entschädigung, bessere Arbeitsbedingungen und eine anerkannte gewerkschaftliche Vertretung.“ Dann aber wechselt die Perspektive. „Wir alle“, so heißt es im folgenden Satz, „brauchen ein deutlich verschärftes Haftungsrecht, das deutsche Unternehmen auch im Ausland auf Arbeitssicherheit, bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung des Arbeitsrechts verpflichtet.“ Der Wechsel vom „sie dort“ zum „wir hier“ ist entscheidend: durchgesetzt werden kann das nie allein in Asien, sondern nur dann, wenn auch in Europa und Deutschland dafür gestritten wird. Dazu gehört, dass der Aufruf bei der www.gegenblende.de Seite 97 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 politischen Forderung nicht Halt macht, sondern zu Spenden aufruft: zu einem Fonds für medizinische Hilfe, zur Finanzierung des Prozesses gegen KiK – und zum Kauf eines Gewerkschaftshauses für die NTUF, das in Karatschis Stadtteil Gulshan entstehen wird. Die Spendensammlung soll KiK nicht entlasten, im Gegenteil: Wer spendet, wird auch bereit sein, am Fortgang des gemeinsamen Kampfes teilzunehmen. Als der DGB, ver.di, die IG Metall und medico den Aufruf kurz nach unserer Rückkehr an die deutschen Medien leiten, hat er seine Erstveröffentlichung schon hinter sich. Nasir Mansoor, Karamat Ali und Faisal Siddiqi haben ihn da bereits den pakistanischen Medien präsentiert, im „Press Club“ von Karatschi, untergebracht in einem im Kolonialstil errichteten Bau in der Mitte der Millionen-Metropole. Ihr Vorsprung resultiert aus dem Zeitunterschied: die Pakistani sind uns in dieser Hinsicht drei Stunden voraus. „Das Problem klären wir aus dem Stand“, schreibt mir Karamat, „für alles andere brauchen wir etwas länger!“ Spenden für das Gewerkschaftshaus in Karatschi Stichwort: Gewerkschaftshaus Karatschi medico international Spendenkonto 1800 Frankfurter Sparkasse BLZ 500 502 01 IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00 Autor: Dr. Thomas Seibert, Mitarbeiter von Medico International www.gegenblende.de Seite 98 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Kleine Finanzblasenkunde von Tomasz Konicz Über die krisenhafte Verflechtung von Finanzmarktspekulationen und realwirtschaftlicher Konjunkturentwicklung Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass selbst die übelsten Auswüchse des finanzmarktgetriebenen Neoliberalismus von dessen Apologeten mit einem Verweis auf die menschliche Natur gerechtfertigt werden. Und was nicht alles der unabänderlichen „Natur“ des Menschen entspringen soll: Das auf kurzfristige Profite setzende Shareholder-Value-Prinzip soll Ausdruck seiner unermesslichen Gier sein. Die beständig ansteigende Kluft zwischen Arm und Reich gilt der neoliberalen Ideologie zufolge als Ausdruck der unterschiedlichen individuellen Züge. Der ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, hat dieser „Naturalisierung“ neoliberaler Zumutungen in einem Interview mit dem Wall Street Journal Deutschland eine weitere Facette hinzugefügt. Laut Greenspan, in dessen 19jähriger Amtszeit (1987 bis 2006) die historisch bespiellose Expansion der globalen Finanzmärkte stattfand, ist auch eine Finanzmarktblase nur Ausdruck natürlicher menschlicher Dispositionen: „Blasen ergeben sich aus der unveränderlichen menschlichen Natur,“ erklärte Greenspan unter Verweis auf die Tatsache, dass die Weltwirtschaft inzwischen „von Blase zu Blase läuft,“ wie es das WSJ formulierte. Eine „längere, stabile Konjunktur mit niedriger Inflation“ bilde demnach „die notwendige als auch die hinreichende Bedingung für das Auftauchen einer Blase“. Wenn dem so wäre, dann hätte die Menschheit bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Reproduktion in einer widernatürlichen Wirtschaftsverfassung vollzogen. Insbesondere die Ära der keynesianischen Nachkriegsprosperität war durch das Ausbleiben größerer „natürlicher“ Finanzmarktblasen gekennzeichnet. Die Finanzmarktzyklen mit spekulationsbefeuerter Boomphase und darauf folgendem Crash etablierten sich erst mit der Durchsetzung des Neoliberalismus unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 80er Jahren. Kurzer historischer Überblick Die krisenhafte finanzielle Expansion bildet das Kernelement des neoliberalen Kapitalismus. Der Börsen-Crash am 19. Oktober 1987, in dessen Verlauf der USLeitindex Dow Jones um 22,6 Prozent binnen eines Tages abstürzte, war der erste Schock des neuen Zeitalters. Es war der stärkste Tageseinbruch in der Geschichte des Dow Jones, dem bald Kurseinbrüche in Australien, Hongkong und London folgten. In Japan bildete sich in dieser Zeit die erste gigantische Immobilienblase heraus, die 1990 platzte und das japanische „Wirtschaftswunder“ beendete. Das Land versank in der www.gegenblende.de Seite 99 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 folgenden sogenannten „verlorenen Dekade“ in einer hartnäckigen Deflation, die mit einem steigenden Schuldenberg, konjunktureller Stagnation und einer schleichenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einherging. Die Asien-Krise verwüstete dann ab 1997 die Volkswirtschaften vieler südostasiatischer „Tiger-Länder“, deren Währungen unter den Folgen platzender Kreditblasen auf den Devisenmärkten zusammenbrachen. Indonesien, Südkorea und Thailand waren von ihr besonders betroffen. Aber auch Malaysia, die Philippinen und Singapur litten unter den Folgen. In der Tendenz nahmen die Spekulationsblasen immer größere Dimensionen an. Die erste große Finanzmarktblase in globalem Maßstab bildete die sogenannte Dot-Com-Blase zur Jahrtausendwende. Angefacht vom Siegeszug der Internet-Technologien, entbrannte in den meisten Industrieländern eine regelrechte Investitionsmanie, bei der Tausende dubioser Startups mit Milliardenbeträgen überhäuft wurden und erstmals große Teile der Mittelklasse am Aktienboom partizipieren wollten. Yahoo erreichte dabei kurzfristig einen höheren Börsenwert als der damalige deutsch-amerikanische Industriekonzern Daimler-Chrysler. Der auf Hightech-Werte fokussierte Aktienindex NASDAQ stieg von knapp 1000 Zählern in 1995 auf rund 5000 im März 2000 – um dann nach dem obligatorischen Platzen der Blase binnen zweier Jahre auf weniger als 1500 Zähler abzustürzen. Nach dem gescheiterten Traum von der „New Economy“ baute sich langsam eine gigantische Immobilienblase auf, die bekanntlich im Jahr 2008 platzte. Neben den USA, dem Zentrum dieser Spekulationsdynamik, wurden auch viele Länder Europas davon ergriffen: Spanien, Großbritannien und Irland sind die bekanntesten Beispiele. Aber auch in Teilen Osteuropas - dem Baltikum, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und sogar der Ukraine - stiegen kurzfristige Schuldenblasen auf. Die Globalisierung dieser gigantischen transatlantischen Blasenbildung erfolgte über „innovative“ Finanzprodukte wie die berüchtigten Collateralized Debt Obligation (CDO), in denen faule Hypotheken oder Kredite „verbrieft“ und auf den Weltfinanzmärkten gehandelt wurden. Deswegen führte das Platzen dieser „globalisierten“ Immobilienblasen ab 2007 das gesamte Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds. Auch Finanzinstitute aus Ländern wie der Bundesrepublik, die keine Immobilienblase ausgebildet hatten, gerieten aufgrund der CDOs in ihren Bilanzen ebenfalls in die Schieflage. Die Weltwirtschaft hat noch immer mit den Auswirkungen dieser Weltfinanzkrise und des darauf folgenden globalen Konjunktureinbruchs - der nur durch massive staatliche Konjunkturprogramme aufgefangen werden konnte - zu kämpfen. Und selbstverständlich sind die Finanzmärkte erneut in einer spekulativen Aufwärtsbewegung. Das US-Wirtschaftsportal Market-Watch beschreibt den gespenstischen Charakter der gegenwärtigen Blasenbildung. Während der Aktienbesitz innerhalb der erodierenden amerikanischen Mittelschicht rasch zurückgehe, seien es wenige institutionelle Großanleger, die die Preise für Wertpapiere www.gegenblende.de Seite 100 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 nun in die Höhe schnellen lassen. Dabei befinde sich der Aktienboom in keiner vernünftigen Relation zur durchwachsenen und bestenfalls stagnierenden, realwirtschaftlichen Entwicklung. Der Auftrieb der Aktienpreise sei durch die Krisenmaßnahmen der Geldpolitik ausgelöst worden, mit denen die Folgen der geplatzten Immobilienblase bekämpft wurden. Die Notenbank habe in Reaktion auf den Konjunktureinbruch die Wirtschaft „mit Geld in niemals zuvor gesehenen Ausmaß“ überflutet, sodass deren Bilanz sich auf 4,3 Billionen US-Dollar vervierfachte. Diese Geldschwemme sorge zusammen mit dem historisch niedrigen Zinsniveau dafür, dass Aktien nicht aufgrund einer ökonomischen Erholung attraktiv wurden, sondern weil sie die letzte Option für profitable Investitionen darstellten. MarketWatch beschreibt weiterhin die aktuelle Liquiditätsblase, in der die Weltfinanzmärkte verfangen sind. Die Maßnahmen der Geldpolitik (Negativzinsen und Geldschwemme), mit denen die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der kollabierten Immobilienblase abgemildert werden sollten, legten somit die Grundlage für die gegenwärtige Spekulationsdynamik. Die Spekulationsblase als Konjunkturmotor Es stellt sich damit die Frage, wie sich ein dermaßen instabiles und tendenziell selbstzerstörerisches „Wirtschaftssystem“ etablieren konnte. Wieso eilt die Weltwirtschaft offensichtlich von „Blase zu Blase,“ sodass ein Alan Greenspan dieses Krisenphänomen zum Ausdruck der „menschlichen Natur“ erklären muss? Entscheidend ist hier die Aufstiegsphase einer Spekulationsblase, die mit einer enormen konjunkturellen Belebung einhergeht. Die Finanzmarktspekulation fungiert als Konjunkturmotor, der die reale Wirtschaft antreibt - immer um den Preis eines späteren Einbruchs. Nirgends wurde dies offensichtlicher als bei der Immobilienblase. Der globale Finanzmarkthandel mit CDOs ging ja mit dem Bau und der Sanierung von Immobilien einher, wodurch enorme konjunkturelle Effekte entstanden. Die Bauwirtschaft avancierte in Ländern wie den USA, Spanien oder Irland zum wichtigsten Konjunkturmotor, während die Ausstattung der neuen Häuser die Nachfrage nach Einrichtungsgegenständen der „Weißen Ware“ (wie Möbel, Elektronik, etc.) in die Höhe schnellen ließ. In Spanien, Großbritannien oder Irland herrschte auf dem Höhepunkt der Blasenbildung eine regelrechte Arbeitskräfteknappheit, sodass dort Hunderttausende von Wanderarbeitern aus Osteuropa ein Auskommen fanden. Ähnlich verhielt es sich mit der Blasenbildung in der „New Economy“, wo ja tatsächlich Investitionen in den entsprechenden infrastrukturellen Ausbau der IT-Technologien getätigt wurden und der Aufbau der später zusammenbrechenden IT-Unternehmen zu Jobwachstum und höherer Nachfrage führte. Zudem hat die breite Beteiligung der Mittelschichten am damaligen Börsenboom zu einem Konsumrausch geführt, da die steigenden Aktienkurse zum Konsum auf Pump verführten und deren Verschuldung vorantrieben. Die Aktienbesitzer rechneten sich reich. Niemand konnte dies www.gegenblende.de Seite 101 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Phänomen besser erklären als Alan Greenspan: „Historische Belege lassen den Schluss zu, dass drei bis vier Cent von jedem Dollar, der an zusätzlichem Reichtum auf den Aktienmärkten entsteht, in zusätzlichen Konsumausgaben münden.“ Selbst die gegenwärtige Liquiditätsblase wirkte in der Entstehung stimulierend auf die Weltwirtschaft. Der kurzfristige Boom der Schwellenländer, der nach der Ankündigung der US-Zinswende im Frühjahr 2014 sein Ende fand, war gerade auf die Politik des „billigen Geldes“ der Fed zurückzuführen. Niedrige Renditen in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems trieben anlagesuchendes Kapital in dessen Peripherie, wo es abermals kreditfinanzierte Konjunkturschübe auslöste. Das Muster ist mit steigender Intensität immer dasselbe: Dem spekulationsbefeuerten Wirtschaftsaufschwung folgt der Crash, wobei die geldpolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen wieder die Grundlage für eine abermalige Blasenbildung verursachen. Die Geldpolitik löscht das Feuer der Spekulation mit Benzin. Ein Beispiel mag das illustrieren: Um die Folgen der geplatzten Dot-Com-Blase zu mildern, senkte Greenspan die Leitzinsen massiv ab: Zwischen 2002 und 2005 verharrte der USLeitzins unter der Marke von zwei Prozent, wobei die Fed diesen nach den Terroranschlägen vom 9.11.2001 sogar für über ein Jahr auf ein Prozent senkte. Diese für die damaligen Verhältnisse beispiellos expansive Geldpolitik führte zu der Immobilienblase, da viele US-Bürger billige Kredite aufnehmen konnten, um Häuser zu erwerben. Generell entwickelte sich der Finanzmarktsektor in den letzten Jahrzehnten zu einem der global wichtigsten Konjunkturtreiber, auch deswegen, weil der Finanzsektor mitunter viele überbezahlte neue Jobs im Spekulationsgeschäft schaffte. Letztlich ist es aber der Kredit (die wichtigste „Ware“ der Finanzbranche), der die Grundlage des finanzmarktgetriebenen Wachstums bildete. Jede geplatzte Blase hinterlässt Schuldenberge, die in deren Aufstiegsphase in Form von Krediten bzw. Investitionen konjunkturbelebend wirken. Neoliberalismus und Verschuldung sind zwei Seiten einer Medaille, denn die finanzmarktvermittelte Kreditaufnahme avancierte zum zentralen Wachstumsmotor. Salopp gesagt: Heute läuft alles auf Pump. Ironischerweise waren es von Geldwertstabilität und Haushaltskonsolidierung besessene neoliberale Politiker, die den Startschuss für die größte Verschuldungsorgie in der gut fünfhundertjährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems gaben. Das, was die Neoliberalen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Endeffekt vollbrachten, war eine bloße Privatisierung des keynesianischen „Deficit Spending“, das zuvor Staaten zur Rezessionsabwehr anwendeten. Blasenbildung und die Strukturkrise der Arbeitsgesellschaft Die Genese des Finanzmarktkapitalismus wird im Blick auf die frühen 80er deutlich. Die Fed musste unter Greenspans Vorgänger Volcker „eine riesige Inflationswelle bekämpfen und hat das auch geschafft, aber darauf folgte ein starker www.gegenblende.de Seite 102 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Konjunktureinbruch“, erinnerte sich der ehemalige Fed-Chef Greenspan. Die Bekämpfung der Inflation wurde durch eine massive Leitzinserhöhung erreicht, die zur Wirtschaftskrise und mittelfristig zur weitgehenden Deindustrialisierung der USA führte. Doch zugleich machte das hohe Zinsniveau die Vereinigten Staaten für anlagesuchendes Kapital interessant. Die Kapitalzuflüsse in die USA, die mit der Hochzinspolitik Volckers initiiert wurden, bildeten die Initialzündung des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Die „riesige Inflationswelle“, von der Greenspan sprach, war eine Folge der schweren Strukturkrise, in der sich viele Industriegesellschaften in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts befanden. Diese Ära der Stagflation wurde durch die Erschöpfung des Wachstumspotenzials nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die zunehmende Rationalisierung in der Industrie, einhergehend mit Massenarbeitslosigkeit, tat ihr übriges. Der „fordistischen“ Industrie fehlte ein neuer Leitsektor, der wiederum massenhaft Arbeitsplätze für diejenigen Lohnabhängigen schaffen würde, die aufgrund gesättigter Märkte und zunehmender Automatisierung aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen wurden. Wie lösten die neoliberalen Politiker und Ökonomen nun diese strukturelle Krise? Sie machten die Finanzbranche zu einem „Leitsektor“, der die Weltwirtschaft im zunehmenden Ausmaß auf einem immer schneller wachsenden und immer labileren Schuldenberg zusteuern ließ. Wer will, der kann darin eine wirtschaftspolitische Spitzenleistung sehen. Die Diskussion über die Krisenfolgen – einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitsgesellschaft - war in den 80er Jahren viel stärker ausgeprägt als heutzutage, obwohl der kometenhafte Aufstieg der Finanzmärkte und die damit einhergehende prekäre Stabilisierung der Weltwirtschaft die damaligen Skeptiker schnell mundtot machte. Angesichts der absurden Dimensionen, in die der Schuldenturmbau auf den Finanzmärkten inzwischen vorgerückt ist, wäre eine Wiederbelebung dieses offenen Diskurses gerade im gewerkschaftlichen Umfeld von höchster Dringlichkeit. Autor: Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, freier Journalist www.gegenblende.de Seite 103 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China von Zoltan Doka und Vasco Pedrina Die Rolle der Gewerkschaften Nach 4 Jahren Verhandlungen hat die Schweiz als zweites Land in Europa ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen. Es ist am 1. Juli 2014 in Kraft getreten1 und deshalb von besonderer Bedeutung, weil es für China der Testlauf für weitere Abkommen mit europäischen Ländern ist. Gerade wegen dieses Präzedenzfalls war der ganze Aushandlungsprozess von politischen Kontroversen begleitet. Schon zu Anfang ist es NGOs und den Gewerkschaften gelungen, die schweizerische Verhandlungsdelegation zu verpflichten, ein „Nachhaltigkeitskapitel“ mit Bestimmungen zu Menschen- und Arbeitsrechten als auch ökologischen Standards einzufügen. Lange war es für die Schweiz ein Tabu, Handel und Verpflichtungen mit solchen Standards in Abkommen zu verbinden. Erst im Jahr 2010 begann ein Umdenken in Folge internationaler Trends2. Nachhaltigkeitsbestimmungen im Freihandelsabkommen: ein umstrittenes Ergebnis Der Arbeitgeberverband Swiss Business und das politisch rechte Lager wollten unbedingt den privilegierten Zugang zum riesigen chinesischen Markt, auch um Konkurrenten aus den EU-Ländern auszustechen. Dass es sich in China um einen Einparteienstaat handelt, der Menschen- und Arbeitsrechte mit Füßen tritt, spielte für sie eine untergeordnete Rolle. Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die Ausklammerung des substantiellen Nachhaltigkeitskapitels führte zu Unterschriftensammlungen und Aktionen, die nicht wirkungslos waren, jedoch zu einem umstrittenen Resultat führten, welches einen Keil zwischen NGOs und Gewerkschaften schlug. In der Bewertung des Verhandlungsresultats ging es letztendlich um die Einschätzung, ob das Glas halb voll oder halb leer war. Maßgebend für das „Nein“ der NGOs waren die fehlenden klaren Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschen- und Minderheitsrechte sowie aller 8 ILO-Grundnormen. Die Gewerkschaften waren auch sehr enttäuscht, dass der Verweis auf die universelle Erklärung über die Menschenrechte nicht explizit im Abkommen aufgenommen wurde. Immerhin verweist die Präambel auf das im Jahr 2007 zwischen der Schweiz und China abgeschlossene Verständigungsprotokoll zum sogenannten „Menschenrechtsdialog“. Zudem bestätigen die beiden Seiten ihre Verpflichtungen, www.gegenblende.de Seite 104 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 die UNO-Charta einzuhalten, welche die Grundlage für die verschiedenen in der Folge ausgearbeiteten UN-Menschenrechtsinstrumente ist. Beide Länder verpflichten sich auch die ILO-Grundnormen zu respektieren, die sie ratifiziert haben. Das Hauptproblem liegt dabei darin, dass China – im Gegensatz zur Schweiz – nur 4 der 8 ILO-Grundnormen ratifiziert hat. Die Normen zur Koalitionsfreiheit und zum Verbot der Zwangsarbeit wurden nicht ratifiziert. Immerhin gibt es im Abkommen einen Verweis auf die Verpflichtungen der beiden Parteien, die sich aus ihrer ILOMitgliedschaft und aus den bedeutenden ILO-Erklärungen zu den Arbeitsrechten und über die soziale Gerechtigkeit ergeben. Beide Erklärungen legen großes Gewicht auf die Einhaltung aller 8 Grundnormen. Auszüge aus dem „Abkommen über die Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen CH-China“ Artikel 2 1. Die Vertragsparteien bekräftigen die Pflichten Chinas und der Schweiz als Mitglieder der IAO, einschliesslich ihrer Verpflichtungen gemäss der Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemassnahmen. 3. Die Vertragsparteien erinnern an die sich aus der Mitgliedschaft Chinas und der Schweiz in der IAO ergebenden Pflichten, die von ihnen ratifizierten IAO-Übereinkommen wirksam umzusetzen. 4. Die Vertragsparteien bekräftigen die Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung, Artikel 3 1. Die Vertragsparteien bekräftigen die Bedeutung der Zusammenarbeit für eine weitere Verbesserung ihrer jeweiligen Arbeitsstandards und -praktiken im Einklang mit ihren innerstaatlichen arbeitspolitischen Zielen und gemäss den in den anwendbaren IAO-Übereinkommen festgelegten Verpflichtungen. 2. Zur Verwirklichung dieses Ziels vereinbaren die Vertragsparteien, dass die Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, einschliesslich der administrativen und technischen Zusammenarbeit und des Aufbaus von www.gegenblende.de Seite 105 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Kapazitäten, im Rahmen des bilateralen Verständigungsprotokolls vom 15. Juni 2011 zwischen dem Ministerium für Humanressourcen und soziale Sicherheit der Volksrepublik China und dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen stattfinden soll. Das zähneknirschende und nicht unumstrittene „kritische JA“ der Gewerkschaften zu diesem Abkommen erklärt sich aus der Überzeugung einerseits, dass eine Politik der wirtschaftlichen Öffnung besser ist als eine Politik der Abschottung gegenüber China; um dieses Land dazu zu bringen, mit der Zeit einen Kurswechsel in Menschen- und Arbeitrechtsfragen vorzunehmen andererseits, dass die ausgehandelten Nachhaltigkeitsbestimmungen (China hat in keinem anderen Freihandelsabkommen – auch nicht mit Neuseeland – soviel konzediert) einen besseren Hebel liefern, um beide Länder unter Druck zu setzen, damit Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen bekämpft werden, als ohne Abkommen. Die Arbeitsplatzargumente haben bei der Positionierung der Gewerkschaften eine untergeordnete Rolle gespielt; auch weil die zwei Volkswirtschaften sehr komplementär sind und wenig vom Wettbewerb zu befürchten haben. Als Überwachungsmechanismus ist im Abkommen ein 3-stufiges Modell genannt, das auch für die Einhaltung der Nachhaltigkeitsbestimmungen zum Zuge kommen soll. Es werden von beiden Seiten „Kontaktstellen“ geschaffen, an die Fragen und Klagen gerichtet werden können. Auf dieser ersten – technischen – Stufe versuchen die Verantwortlichen dieser Kontaktstellen eine Klärung herbeizuführen. Bei andauerndem Dissens wird sich – in einer zweiten technischen Stufe - der „Gemischte Ausschuss“ treffen, der aus Diplomaten und Experten besteht. Auf einer dritten politischen Ebene wirken die Ministertreffen, die normalerweise alle zwei Jahre stattfinden. Ein solcher Überwachungsmechanismus ist relativ schwach, weil echte Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Das gilt jedoch für alle Freihandelsabkommen, welche die Schweiz allein oder im Rahmen der EFTA (European Free Trade Association), bisher ausgehandelt hat; und das gilt auch für die Freihandelsabkommen der meisten anderen Länder. NGOs und Gewerkschaften hatten anlässlich dieses politischen Prozesses Folgendes gefordert: www.gegenblende.de Seite 106 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 die Schaffung eines Begleit- und Überwachungsorgans mit Vertretern der Sozialpartner, der NGO und der Umweltorganisationen für alle Freihandelsabkommen mit einem Nachhaltigkeitskapitel, die Schaffung eines verwaltungsinternen Aufsichtsmechanismus für Nachhaltigkeitsbestimmungen aller Freihandelsabkommen und Investitionsschutzabkommen, in welchem alle involvierten Regierungsstellen vertreten sein sollen. Dieser Mechanismus sollte Beobachtungen und Meldungen aus den jeweiligen Partnerländern sowie aus der Zivilgesellschaft sammeln, vertiefen, beurteilen und dann zu zielgerichteten Handlungen führen. Der gemeinsame Druck der NGOs und der Gewerkschaften hat diesbezüglich immerhin dazu geführt, dass Sozialpartner und NGO regelmässig zur effektiven Umsetzung der Nachhaltigkeitsbestimmungen im Rahmen von bestehenden Bundeskommissionen konsultiert werden, die Regierung sich verpflichtet hat, dem Parlament darüber jährlich Bericht zu erstatten. Im Rahmen einer laufenden Diskussion in der EFTA zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Überwachung der Abkommen („The role of civil society in the monitoring of FTAs’“) versuchen die Gewerkschaften generell, die Regierungen der 4 beteiligten Länder (Norwegen, Island, Lichtenstein, Schweiz) für eine weitergehende Lösung zu gewinnen. Gewerkschaftliche China-Kampagne für Arbeitsrechte Ob dieses Abkommen wirklich ein Hebel im Kampf für Menschen- und Arbeitrechte in China werden kann, wird sich in Zukunft zeigen. Viel hängt vom Engagement der Zivilgesellschaft ab. Diesbezüglich hat die Gewerkschaft Unia zusammen mit der ihr nahestehenden Entwicklungsorganisation Solidar Suisse einen interessanten Ansatz für Aktionen und Kampagnen gewählt, mit dem doppelten Ziel, sowohl einen Beitrag zur Durchsetzung der Arbeitsrechte in China zu liefern, als auch den Solidaritätsgedanken in den eigenen Reihen und in der Öffentlichkeit zu fördern. Es geht zuerst um die Unterstützung von Basisgruppen in China, die sich das Ziel gesetzt haben, ArbeitnehmerInnen in ihrem Kampf für die Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen. Denn das chinesische Arbeitsgesetz bietet hierfür durchaus Möglichkeiten, aber die Durchsetzung ist das eigentliche Problem. Im Rahmen dieses Programmes werden sog. Grass-Root Organisationen unterstützt. Sie beraten und begleiten ArbeitnehmerInnen, die Probleme mit Überstunden, Sozialversicherungen und ihrer Gesundheit am Arbeitsplatz haben. www.gegenblende.de Seite 107 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Zweitens geht es in beiden Ländern um Kontakte zwischen Arbeitnehmervertretungen der in China tätigen Schweizer Unternehmen (Filialen, Joint Ventures). Ziel ist die Einhaltung der Arbeitsrechte durch die Förderung von Tarifverträgen. Mit der kürzlich neu geschaffenen gesetzlichen Grundlage zur Tarifpolitik sind die Rahmenbedingungen in China ein bisschen besser geworden. In einigen Provinzen können durchaus Tarifverträge abgeschlossen werden. Eine zentrale Frage zielt zweifellos auf die Beziehungen zu den offiziellen Gewerkschaften der Konföderation ACFTU. Denn sie sind die einzig anerkannten Organisationen, welche die Interessen der Arbeitnehmer vertreten dürfen. Kann man als Demokrat und Verfechter der Menschenrechte mit solchen Organisationen zusammenarbeiten, die keine demokratische Legitimation besitzen, oft gegen die Interessen der Arbeitnehmer Stellung beziehen und die Teil des chinesischen Partei- und Regierungsapparates sind? Eigentlich ist die Antwort „Nein“. Aber in der Praxis, wenn man auf Betriebsebene eine rechtliche Legitimation erlangen will, muss man sich je nachdem mit den VertreterInnen und den Strukturen des ACFTU vor Ort auseinandersetzen; ohne unabhängige Arbeitnehmervertretungen aus sozialen Bewegungen fallen zu lassen. Drittens geht es um die Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz. Unter dem Motto „Mein Kollege Li“ wollen die Unia und Solidar Suisse mit regionalen Veranstaltungen, einem Film und Flyern die Gewerkschaftsmitglieder über die Realitäten der Arbeitskämpfe in China heute und über Solidaritätsaktionen informieren, um für Interesse und Beteiligung zu werben. Die Denunziation von Missständen soll auch den Druck auf die Behörden in der Schweiz erhöhen, damit Veränderungen in China in Gang gesetzt werden. Die Nachhaltigkeitsbestimmungen des Freihandelsabkommens sollen dazu als Hebel benutzt werden. Gerade aufgrund der Ängste in den eigenen Reihen ist es wichtig, die Botschaft zu vermitteln, dass nicht die chinesischen ArbeiterInnen schuld an Lohndumping-Praktiken sind, sondern die Firmen und Behörden. Es ist auch nicht hilfreich, wenn man China pauschal aburteilt. Die Kampagne soll ein Teil breiter Bestrebungen gegen den Trend zum „nationalen Rückzug“ sein, der sich in der Schweiz wie in manchen Ländern Europa immer mehr bemerkbar macht, mit äußerst besorgniserregenden Folgen. www.gegenblende.de Seite 108 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Literatur/Quellen: [1]Die folgenden drei Abkommen sind Teil des FHA CH-China (http://www.seco.admin.ch/themen/00513/02655/02731/04118/index.html ): Free Trade Agreement between the Swiss Confederation and the People’s Republic of China (2014) Agreement on Labour and Employment Cooperation between the Federal Department of Economic Affairs, Education and Research of the Swiss Confederation and the Ministry of Human Ressources and social Security of the People’s Republic of China (2014) Memorandum of Understanding regarding Cooperation on Labour and Employment Issues (2011) Im Rahmen dieses Memorandum lag der Fokus der Zusammenarbeit zwischen den beiden Arbeitsministerien in den letzten Jahren im Erfahrungsaustausch zum Thema „Arbeitsinspektorate“. Neu – auch auf unsere Anregung – soll das Thema „Gestaltung der Sozialpartnerschaft“ in Zentrum stehen. [2] ILO. „Social Dimensions of Free Trade Agreements”, International Institute for Labour Studies, 2013 Autoren: Zoltan Doka, Stellvertretender Geschäftsleiter und Stabschef / Desk China Program bei Solidar Suisse – Schweizer Arbeiterhilfswerk, Vasco Pedrina, geboren am 28. Juni 1950, Vize-Präsident der internationalen Gewerkschaftsorganisation BHI (Bau + Holzarbeiter Internationale) www.gegenblende.de Seite 109 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Die Märchentour von Uncle Jeremy von Stefan Müller Wie ein US-Autor uns die „Sharing Economy“ als Kapitalismuskritik verkaufen will Prolog Fiktive Szene am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen. Wir befinden uns in der Lufthansa-Business-Lounge. Auf ihren Flug nach Los Angeles warten der frischgebackene Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Jaron Lanier, und der Bestsellerautor Jeremy Rifkin. Es dauert eine Weile, bis beide von ihren leuchtenden Ipads aufblicken, doch dann erkennen sie sich. Rifkin: „Hi Jaron, Gratulation zum Preis!“. Lanier: „Jeremy, mein Bruder, danke! Den hättest du wohl auch gerne bekommen...“. Rifkin: „Wir können ja teilen“. Beide lachen. Rifkin weiter: „Naja, die Deutschen kannst du mit einer guten Portion Kapitalismuskritik immer um den Finger wickeln“. Lanier: „Jaja, und sie nehmen ja alles immer so todernst“. Rifkin: „Guck mal, da drüben in der Holzklasse nach Paris, ist das nicht dieser Piketty?“. Lanier: „Lass uns schnell boarden, hab' keine Lust auf Smalltalk mit diesem Typen“. Beide stellen sich schnell in der Schlange an. Thomas Piketty hat sie gar nicht wahrgenommen. Popstar Rifkin Kapitalismuskritik kommt gut an im Jahr 7 nach dem Zusammenbruch der LehmanBrothers-Bank. Internetkritik ebenfalls im Jahr 1 nach dem NSA-Abhörskandal. Das wissen die beiden amerikanischen Autoren Jeremy Rifkin und Jaron Lanier. Als intellektueller Popstar tourte Rifkin im September für eine ganze Woche lang durch Berlin. Bei Vorträgen, in Fernsehdiskussionen und in Interviews hat er immer die gleiche Botschaft im Gepäck: unser Wirtschaftsmodell funktioniere nicht mehr, weil die Menschen lieber teilen statt besitzen wollen. Klingt progressiv und ist die Zusammenfassung aus immerhin 525 Seiten Analyse mit dem Titel „ Die NullGrenzkosten-Gesellschaft“. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut (Commons) und der Rückzug des Kapitalismus“. Rifkins Vorlage Auch wenn Rifkin seine Thesen so ausbreitet, als hätte er sie selbst ersonnen, muss zunächst auf die akademische Vorarbeit des amerikanischen Juraprofessors Yochai Benkler (Harvard Law School) aus dem Jahr 2006 verwiesen werden. Benkler stellt in dem Buch „The Wealth of Networks“ die Hypothese auf, dass eine Kultur, in der www.gegenblende.de Seite 110 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Informationen frei getauscht werden, sich als ökonomisch effizienter erweisen könnte als eine, in der Innovationen durch Patente und Urheberrechte erschwert werden. In den Produktionsweisen der Informationsökonomie, die auf kollektivem Lernen und Teilen von Wissen („Information-Sharing“) beruhen, sieht er eine dritte Art der ökonomischen Produktion neben Märkten und zentraler Planwirtschaft. Keine Creative Commons Benkler ist dabei konsequent, er schreibt nicht nur über die „Commons“, also die moderne Variante der „Allmende“, er hat sein Buch auch unter der CreativeCommons-Lizenz (cc) veröffentlicht – zum kostenfreien Download sowie als frei verfügbare Onlineversion. Diese Konsequenz erscheint zwingend, wenn man sich mit Themen wie Open Source, Gemeingütern oder der Kultur des Teilens beschäftigt. Rifkin allerdings spricht zwar in seinen Vorträgen über die Segnungen von freien Universitätskursen („Open University“) oder freier Software, er hat sein aktuelles Buch aber in einem konventionellen Verlag veröffentlicht, ohne jede zusätzliche Option des freien Downloads unter cc-Lizenz. Er teilt nicht. Kann man den Mann vor diesem Hintergrund überhaupt ernst nehmen? Der Fall Uber Während Popstar Rifkin durch die deutsche Hauptstadt tourt, läuft parallel eine öffentliche Diskussion zur Frage, ob Taxibetriebe die private Konkurrenz durch das US-Unternehmen Uber und deren Geschäftsmodell dulden müssen. In seinem Buch über „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ kommt Uber nicht vor. Aber in einem Beitrag für die US-Ausgabe der „Huffington Post“ bezeichnete Rifkin das Unternehmen Uber (finanziert u.a. durch Risikokapital bzw. venture capital von Google und Goldman Sachs) als „Carsharing-Service“ - einen Trend, den er grundsätzlich als unterstützenswert findet im Sinne der Sharing Economy. Rifkin sagte dazu in der Berliner American Academy: „Junge Leute werden Uber überall in deutschen Städten einfach kopieren und ihre eigenen Dienste gründen“. In der Süddeutschen Zeitung ergänzt Rifkin, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen, die heute für Uber fahren keine Lust mehr haben, einen Teil ihres Geldes in die USA zu überweisen“. Ansonsten: Thema beendet. Aber da genau wird es spannend. Denn Uber ist gewissermaßen der Testfall für die Thesen von Rifkin. Das ist auch bei seinem Auftritt in der ZDF-Talkshow von Maybritt Illner deutlich geworden. Auch dort verwies er auf die „lokalen Kooperativen“, die den Fahrdienstvermittler Uber demnächst ersetzen würden. Die Philosophie von Startup-Gurus wie den Samwer-Brüdern („Zalando“, „Rocket Internet“) funktioniert jedoch genau entgegengesetzt: sie haben in den vergangenen Jahren oft amerikanische Ideen für Deutschland adaptiert (Alando; StudiVZ) und kurze Zeit später an die Originalfirmen wie Ebay oder Facebook verkauft – für hohe www.gegenblende.de Seite 111 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Millionenbeträge. Uber ist bereits jetzt so hoch kapitalisiert - der Wert des Unternehmens wird auf mindestens 17 Milliarden Dollar geschätzt – dass man die Übernahme von deutschen Kopien aus der Portokasse zahlen könnte. Läuft sich da schon jemand warm? Ein deutsches Pendant zu Uber existiert bereits unter dem Namen „Wundercar“. Im ZDF verteidigte Firmengründer Gunnar Froh das Prinzip der Share-Economy – sie sei nicht mehr aufzuhalten. Die Menschen hätten inzwischen eigentlich alles – nun ginge es nur noch darum, neue Erlebnisse, Beziehungen und Geschichten zu finden oder Umwelt und Ressourcen zu schonen. Und über Carsharing, Mitwohnzentralen und Tauschbörsen sei genau dies möglich. Startup-Rhetorik eines Gründers, der genau weiß, wie man Wundercar für eine millionenschwere Übernahme durch Uber warmlaufen lässt. In der Wirtschaftswoche warnte Chefreporter Dieter Schnaas in seiner Kolumne „Tauchsieder“: „Bei der "Share Economy" handelt es sich um eine distributive Weiterentwicklung des Kapitalismus, ja, vielleicht sogar seine Vollendung: Der Plattform-Kapitalismus unterläuft die Kontroll- und Ordnungsmacht des (Steuer)Staates und der Gewerkschaften, indem er Ichlinge zu 'Prosumenten' vernetzt, also zu Menschen, die sich aus freien Stücken als Produzenten und Konsumenten begegnen und austauschen“. Bei Maybritt Illner hätte in diesem Zusammenhang das Aufeinandertreffen zwischen Jeremy Rifkin und der Gewerkschafterin Leni Breymaier (ver.di-Vorsitzende in Baden Württemberg) interessant werden können. Aber dazu war die Aura des USSoziologen zu positiv besetzt. Er redete auch in dieser Talkshow permanent von einer „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ - nebulös, aber schillernd. Dabei könnte man ihn schon auf den Begriff „Sharing Economy“ festnageln: „Teil-Wirtschaft“. In seinem Berliner Vortrag sprach er sogar von einer „Migration des Arbeitens“ in Richtung einer „sozialen Wirtschaft“ – etliche Worthülsen, die wie aus dem Märchenbuch klingen. Noch einmal Dieter Schnaas von der Wirtschaftswoche: „Die 'Share Economy' ist kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff. Weshalb man nur in aller Vorsicht und Distanz von ihm Gebrauch machen sollte. 'Share-Economy' ist ein wirtschaftspolitisches Programm, eine Agenda interessierter Kreise - eine Ideologie“. Beim Märchenonkel Leni Breymaier konnte sich natürlich im ZDF nicht auf die Ebene „Märchenonkel“ begeben. Sie betonte, dass Gesellschaft und Politik nun die Aufgabe hätten, die www.gegenblende.de Seite 112 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 digitale Zukunft „klug" zu gestalten. Bisher sehe sie die Entwicklungen in Bezug auf den Arbeitsmarkt eher kritisch. Dass es nun beispielsweise die App-gestützte Taxikonkurrenz "Uber" gebe, daran wäre vor zwei, drei Jahren nicht zu denken gewesen. Ein Ende des Kapitalismus durch solche Sharingangebote von Monopolisten, die meist rund 20 Prozent Provision für die Nutzung ihrer Plattformen erhielten, sah Breymaier nicht. Ziel müsse es sein, auch in Zukunft die verbleibende Arbeit gerecht aufzuteilen, um jedem die Teilhabe an der Produktivität zu gewährleisten. Klingt plausibel aber nicht unbedingt sexy. Da hatte Rifkin noch gar nicht über seine Lieblingsthese gesprochen, die von den 3-D-Druckern, die in wenigen Jahren schon Autos fertigen könnten – natürlich nahezu ohne Grenzkosten. Wer die 3-D-Drucker wiederum herstellen soll und zu welchen Kosten, dazu schweigt sich Rifkin aus - weil es nicht in sein Konzept passt. Auch die Kritik an Datenschutzthemen und Netzneutralität sieht er zwar als Problem an („Das wird ein Hauptstreitpunkt der nächsten 40 Jahre“), aber Konzerne wie Google oder Facebook solle man nicht verdammen, sondern als „Utilitys“ betrachten. Sozusagen als notwendige Übel für die gute Welt des „Internets der Dinge“. Die taz fragte Jeremy Rifkin in diesem Zusammenhang: Sollte man also Firmen wie Facebook und Google lieber zerschlagen? Rifkin: „Nein, regulieren. Schauen Sie, momentan wiederholt sich die Geschichte der ersten Fabriken. Auch da waren die Arbeiter von der Gnade der Fabrikeigentümer abhängig – bis sie begannen, überall auf der Welt Gewerkschaften zu gründen. Angesichts von Firmen wie Facebook oder Twitter brauchen wir eine globale Kontrollinstanz. Diese Firmen haben Commons geschaffen, mit denen wir andere Industrien zerschlagen, aber sie wollen eben auch Daten monopolisieren. Sie wirken wie weltweit tätige soziale Monopole – und wir brauchen also eine globale Kontrollinstanz, um die Konzerne im Sinne eines gesellschaftlichen Nutzens zu regulieren. Es ist kaum vorstellbar, dass nicht irgendjemand hervortritt und reagiert. Zu glauben, die gesamte Menschheit bleibt still, ist lächerlich. Sie werden globale Kooperativen sehen, die die Interessen der Menschen vertreten, deren Daten verwendet werden. Das wird passieren“. Big Data, noch so ein Schlagwort. Und interessant auch, dass Rifkin in seiner Antwort, aber auch im Buch die Gewerkschaften stets als retrospektive Kraft würdigt. Fairer Lohn und der Kampf dafür – das gab es mal früher. Woher kommen dann die Drohnen? Es war Zufall, aber in der gleichen Woche der Rifkin-Berlin-Tour diskutierte auch ein ver.di-Kongress über Arbeitswelt, Selbstbestimmung und Demokratie im digitalen Zeitalter. Und natürlich auch über Big Data, den NSA-Skandal und Uber. Der Geist von Rifkin schwebte zwar nicht über der ver.di-Zentrale, aber seine Thesen waren in diesen Tagen allgegenwärtig in der Hauptstadt. Dazu dann noch Überschriften wie „Der Kapitalismus hat sich zu Tode gesiegt“ (Süddeutsche Zeitung) und die steile www.gegenblende.de Seite 113 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 These, die Menschen hätten ihr Interesse an Eigentum verloren – stattdessen teilten und tauschten sie. Der Soziologe Harald Welzer staunte in der Zeit: „Wie man 500 Seiten über den Kapitalismus und seine Vor- und Nachgeschichte schreiben kann, ohne auch nur ein einziges Mal auf den Stoffwechsel einzugehen, den Lebewesen zum Existieren brauchen, ist allerdings spektakulär“. In Rifkins Welt komme wahrscheinlich das Bier genauso aus dem 3-D-Drucker wie Kartoffeln und seltene Erden“. Welzer lakonisch: „Kommen denn auch die Panzer, Drohnen und Überwachungsapparaturen aus dem 3-D-Drucker?“. Constanze Kurz vom Chaos Computer Club kennt sich mit der Materie aus. Auf dem Digitalisierungskongress von ver.di rief sie dazu auf, die Techniken auch in „unserem Sinn zu nutzen und nicht den Neoliberalen zu überlassen“. In den Worten von Jaron Lanier, dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: „Wenn wir mit der Share Economy einerseits den Schutz, den Gewerkschaften bieten, aushebeln (…), wer wird sich dann um die Bedürftigen kümmern?“. Das hat Lanier in seiner Dankesrede in Frankfurt gesagt und hinzugefügt, die Share Economy biete nur die Echtzeit-Vorteile von informellen oder Schattenwirtschaften, wie man sie bisher nur in Entwicklungsländern, vor allem in Slums, gefunden habe. Lanier: „Jetzt haben wir sie in die entwickelte Welt importiert, und junge Menschen lieben sie, weil das Gefühl des Teilens so sympathisch ist. Doch die Menschen bleiben nicht für immer jung“. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Economy, wie Jeremy Rifkin in seinem Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläute, in der Teilen mehr Wert hätte als Besitzen, schreibt der Berliner Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han. Im Gegenteil: Die Sharing-Economy führe letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens. Epilog Flughafen Los Angeles. Jaron Lanier und Jeremy Rifkin treffen sich beim Gepäckband. Rifkin: „Jaron, was machst du heute noch?“. Lanier: „Werde vom Microsoft-VIP-Firmenshuttle abgeholt! Und du?“. Rifkin: „Muß mich erstmal von Berlin erholen, die Deutschen waren so anstrengend. Fliege morgen weiter nach Hongkong“. Lanier: „Was heißt denn Teilen auf chinesisch?“. Beide lachen. www.gegenblende.de Seite 114 von 115 GEGENBLENDE – Ausgabe 29 September/Oktober 2014 Literatur/Quellen: Jeremy Rifkin: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, S. 528, geb. 27,- €. Byun-Chul Han: Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken (Essayband). S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014 Zur Illner-Sendung: http://www.zdf.de/maybrit-illner/jeremy-rifikin-und-die-shareconomy-macht-dasinternet-unsere-jobs-kaputt-34911510.html Autor: Stefan Müller, Journalist und Moderator bei WDR und hr www.gegenblende.de Seite 115 von 115