Ökonomie Husson, Michel, Kapitalismus pur. Deregulierung, Finanzkrise und weltweite Rezession. Eine marxistische Analyse, Neuer ISP Verlag, Köln-Karlsruhe 2009 (200 S., br., 19,80 €) Verf. beschränkt sich nicht auf eine Analyse der gegenwärtigen Wirtschaftsund Finanzkrise, sondern kritisiert allgemein die vorherrschende neoliberale Wirtschaftsdoktrin. Der Mainstream der Wirtschaftswissenschaft betrachte sich selbst als Naturwissenschaft (148). So habe sich seit Gründung dieses Forschungszweiges ein funktionalistisches Wirtschaftsverständnis durchgesetzt, welches gesellschaftliche Zusammenhänge nicht hinterfrage, sondern reproduziere. Die Wirtschaftswissenschaft ist seit ihrer Gründung immer unkritischer geworden, sie sei »eine unbewegliche Wissenschaft« da es in ihr »keinen kumulativen Fortschritt durch graduelle Widerlegung von falschen Hypothesen« (153) gibt. Husson beschreibt die Wirtschaftswissenschaft als »autistische Disziplin« (ebd.) – Erkenntnisse würden an ihrer methodologischen Richtigkeit gemessen, ohne die angenommenen Axiome zu hinterfragen. Diese wissenschaftliche Praxis führt zum »Verschwinden jeder offenen wissenschaftlichen Kontroverse« (ebd.). So behauptet die neoliberale Wirtschaftsdoktrin, immer und überall sei »die Arbeitslosigkeit das Ergebnis von Zwängen, die eine Angleichung der Preise (der Ware Arbeitskraft) auf dem Arbeitsmarkt verhindern« (143). Ein vollkommener Arbeitsmarkt könnte im neoliberalen Denkmuster zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit führen (ebd.). Dem setzt Verf. eine empirische Analyse der Arbeitsmarkt- und Produktivitätsentwicklung westlicher Staaten seit der ersten Ölkrise 1973 entgegen. Diese zeigt, dass bei relativ stagnierender Produktivität der Lohnanteil am erwirtschafteten Volkseinkommen (BIP) sank – die Ausbeutungsrate stieg an. Dieser »Aderlass bei den Löhnen« (13) ist nicht dazu genutzt worden, in die Realwirtschaft zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die nicht investierten Profite sind hauptsächlich in den Finanzmarkt geflossen (14). Somit besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und dem zu beobachtenden Wachstum der Finanzmärkte. Investieren in virtuelle Finanzprodukte führt zu mehr (globaler) sozialer Ungleichheit (21). Durch den sinkenden Lohnanteil wird der Konsum der Lohnabhängigen gedrückt, das Binnenwachstum erlahmt und die Realwirtschaft wird wichtiger Absatzmärkte beraubt (14). Gleichzeitig wachsen die Vermögen der Kapitalisten durch Abschöpfung von Mehrwert über Finanzprofite weiter an. Diese financiarisation bewirke zudem, dass die materielle Bindung der Finanzprodukte an die Realwirtschaft verloren gehe (176). Finanzkrisen wie die gegenwärtige müssen als »Ordnungsruf des Wertgesetzes« verstanden werden. In jeder Krise versuchen Investoren, Finanztitel zu realisieren. Erst hierbei wird die Diskrepanz zwischen virtuellem und realem Wert deutlich, da »man nicht mehr Reichtum verteilen kann, als vorher produziert worden ist« (ebd.). Dieser systemische Widerspruch ist durch die Subprime-Crisis in den USA erneut deutlich geworden. Ohne »systemverändernde Maßnahmen« (182) prognostiziert Husson den entwickelten Ländern geringes Wachstum und Sozialabbau. Denn auch in Zukunft würde von Lohnabhängigen erwirtschaftetes Kapital in die Finanzwirtschaft fließen. »Dieser Teufelskreis beruht auf einer für die Arbeitenden ungünstigen Einkommensverteilung und der Nicht-Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Bedürfnisse« (179). Diese Verteilungskonflikte sind für Husson systemimmanent und nicht durch Modifikationen des Kapitalismus – Stichworte sind hier: Keynesianismus, Grundeinkommen, staatszentrierter Kapitalismus, Neofordismus – zu überwinden (vgl. 109ff, 132f, 89f). Er selbst schlägt eine Abkehr vom kurzfristigen Profitdenken vor und fordert eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Umorientierung hin zu einem nachhaltigen und nützlichen Wachstum, welches die dringendsten gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt, also z.B. Gesundheit, Wohnung oder Bildung (121). Hierfür bedarf es einer Umverteilung der Vermögen. Diese ließe sich durch eine umfassende Arbeitszeitverkürzung realisieren, die eine Verringerung der Arbeitslosenquote mit sich brächte. Ein zu Beginn des Neuanfangs definierter Mindestlohn müsse im Verhältnis zur Produktivitätssteigerung der Wirtschaft parallel mitwachsen (123). Die Binnennachfrage würde dadurch gestärkt. Diese Modifikationen der gegenwärtigen Entwicklungsweise würden den Kapitalismus als solchen zwar auch nicht überwinden. Strategisch unsinnig sei jedoch, Maximalforderungen wie die Abschaffung des Kapitalismus in den Vordergrund zu rücken. Zentral sei vielmehr, auf Arbeitszeitverkürzung in einem notwendigen Übergangsstadium zu orientieren. Auf dieser neuen Grundlage könne eine weitreichende Debatte über die gesellschaftlichen Prioritäten erfolgen, denn »ohne Befreiung der Arbeit kann es keine soziale Emanzipation geben« (107). Wie konkret kollektive Entscheidungen getroffen werden sollen, lässt Verf. offen. Hier zeigt sich eine Tendenz, auf einem abstrakten Niveau zu argumentieren und die konkreten Konsequenzen aus seinen Vorschlägen (u.U. bewusst) nicht auszuführen. Einerseits verschlankt das seine Argumentation, andererseits umschifft Husson so auch Probleme, die erst bei detaillierter Betrachtung zutage träten. Husson gelingt eine kohärente Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Dekaden. Sein Plädoyer: die Entwicklung dieses kapitalistischen »Systems zu studieren« (190), um sich über die Mittel zu dessen Abschaffung bewusst werden zu können. Sina Hatzfeld und Frederik Merx (Frankfurt/M) DAS ARGUMENT 287/2010 ©