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Therapeutische Praxis
Emotions- und stigmafokussierte Angehörigenarbeit bei psychotischen
Störungen
Ein Behandlungsprogramm
Bearbeitet von
Roland Vauth, Nadine Bull, Gerda Schneider
1. Auflage 2009. Taschenbuch. 116 S. Paperback
ISBN 978 3 8017 2235 7
Format (B x L): 21 x 29,7 cm
Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie
Zu Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 1
Die Störung: Merkmale und Verlauf schizophrener Erkrankungen
Über schizophrene Erkrankung herrschen in der
Allgemeinbevölkerung viele Vorurteile, die bereits in der langen Prodromalphase der Erkrankung von in der Regel drei bis fünf Jahren (vgl.
Haefner, an der Heiden, Löffler, Maurer & Hamprecht, 1998) dazu führen, dass Betroffene und
Angehörige zu spät professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Häufige Vorurteile sind, dass es
sich um eine sehr seltene Erkrankung handelt, dass
sie immer einhergeht mit einer Gefährlichkeit, die
etwa dem Klischee des Dr. Jekyll und Mr. Hyde
folgt („gespaltene Persönlichkeit“), und dass sie
zu einer dauerhaften Lebensuntüchtigkeit führt.
Epidemiologische Daten (vgl. zur Übersicht: Tandon, Keshavan & Nasrallah, 2008) über die Anzahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) und den Verlauf der Erkrankung machen aber klar, dass die
Krankheit durchaus nicht selten ist. Etwa 0.7 bis
1 % der Bevölkerung leidet daran (Saha, Chant,
Welham & McGrath, 2005). In Deutschland sind
demzufolge etwa 800.000, in der Schweiz annähernd 70.000 Menschen (Lebenszeitprävalenz)
mindestens einmal in ihrem Leben von einer
schizophrenen Episode betroffen. Dies entspricht
etwa der Einwohnerzahl einer Stadt der Größe
von Köln bzw. Winterthur und der Häufigkeit des
Auftretens von Diabetes. Die Ein-Jahres-Neuerkrankungsraten liegen bei 8 bis 40 pro 100.000
Einwohner und Jahr, mit relativ ähnlichen Raten
zwischen verschiedenen Kontinenten (Jablensky
et al., 1992; McGrath et al., 2004; Saha et al.,
2005). Dies bedeutet für Deutschland ca. 6.600
bis 32.000 und in der Schweiz zwischen 560 bis
2.800 Betroffene pro Jahr.
Eine erhöhte Inzidenz ist assoziiert mit Urbanität (Amaddeo & Tansella, 2006; Kirkbride et al.,
2006; Lewis, David, Andreasson & Allebeck,
1992; McGrath et al., 2004; Mortensen et al.,
1999; Pedersen & Mortensen, 2001), Migration
(Bhugra et al., 1997; Boydell et al., 2001; Cantor-Graae & Selten, 2005; Fearon et al., 2006),
männlichem Geschlecht (Aleman, Kahn & Selten, 2003; Beauchamp & Gagnon, 2004; McGrath
et al., 2004) und unterer sozialer Schicht (Saha
et al., 2005). Die Hauptfragen der aktuellen Forschung sind Themen wie:
• Welche spezifischen Kausalfaktoren, wie z. B.
Stress, soziale Faktoren, Substanzabusus, ernährungs- und geburtsbezogene Faktoren oder
Infektionen, erklären die Häufigkeitsunterschiede?
• Sind Häufigkeitsunterschiede ein Epiphänomen der Veränderung diagnostischer Kategorien?
• Welche genetischen oder Umweltfaktoren erklären die Unterschiede?
Aktuell sind (Punktprävalenz) 2 bis 10 pro 1.000
Einwohner erkrankt (Saha et al., 2005). Der
Symptombeginn liegt meist in der Jugend oder im
frühen Erwachsenenalter (Baldwin et al., 2005;
Jablensky et al., 1992), bei Männern früher (Angermeyer, Hofmann & Robra, 1982; Seeman,
1986).
Hinsichtlich der Gefährlichkeit ist zu sagen, dass
keine erhöhte Auftrittshäufigkeit für Gewalttaten
besteht, außer in den akuten Phasen der Erkrankung und unter Einfluss von Alkohol. Der Verlauf ist zumeist durch Rückfälle und Funktionseinschränkungen gekennzeichnet (Bleuler, 1983;
Ciompi, 1980; Harrison et al., 2001). Die Langzeitverläufe schizophrener Erkrankungen sind
sehr unterschiedlich. So hat die International
Study of Schizophrenia (SoS) der WHO (Moscarelli, 1994) über einen Zeitraum von 14 bis
25 Jahren in vierzehn Ländern (Harrison et al.,
2001) zeigen können, dass 50 % der Patienten
einen eher günstigen Verlauf aufweisen. Das heißt
50 % haben ein Rollenfunktionsniveau über einem
Cut off-Wert des Global Assessment of Functioning (GAF) von 60 und einen Wert auf dem Disablement Assessment Schedule (DAS) der WHO
von 0 bis 2, d. h. eine sehr gute bis annehmbare
Rollenfunktionsfähigkeit bei keiner bis minimaler Symptomatologie. Ferner wurde in dieser
Studie gezeigt, dass 16 % der Betroffenen, die im
frühen Erkrankungsverlauf nur teilweise remittieren, auch nach Jahren noch einen günstigen
Verlauf nehmen können. Eine Vollremission zeigen jedoch lediglich 15 bis 25 % der Betroffenen
im Langzeitverlauf. Nur 20 % der Patienten haben eine singuläre psychotische Episode. Wenn
man jedoch feinere Kriterien einer passageren
Die Störung: Merkmale und Verlauf schizophrener Erkrankungen
psychotischen Labilisierung heranzieht, haben
bis zu 90 % der Betroffenen innerhalb des ersten
Jahres nach einer Ersterkrankung einen „Minor
Relapse“ (Combs et al., 2007). Unglücklicherweise kann man gegenwärtig Patienten, die lediglich einmal erkranken oder nur einen „Minor
Relapse“ im Intervall aufweisen, nicht zuvor identifizieren. 80 % der Betroffenen haben mehr als
eine psychotische Episode (Ohmori, Ito, Abekawa & Koyama, 1999; Robinson, Woerner & Alvir,
1999; Wiersma, Nienhuis, Slooff & Giel, 1998).
Hinsichtlich der Lebensuntüchtigkeit muss man
korrigierend feststellen, dass nur etwa 10 % aller
an Schizophrenie Erkrankten es nicht schaffen,
dauerhaft außerhalb von Kliniken leben zu können. Ein ungünstiger Langzeitverlauf ist häufiger bei Männern, bei frühem Krankheitsbeginn,
einer längeren Dauer der unbehandelten Psychose, starker Negativsymptomatik sowie bei vermehrten kognitiven Funktionsstörungen (Green,
1996; Haefner & an der Heiden, 1999; Loebel
et al., 1992).
Aufgrund der hohen Inzidenz sind die volkswirtschaftlichen Kosten der Erkrankung enorm
(Knapp, King, Pugner & Lapuerta, 2004; Moscarelli, 1994; Wiersma, Kluiter, Nienhuis, Ruphan & Giel, 1995). Dies liegt vor allem am frühen Erkrankungsausbruch, an der hohen Rezidiv- und Chronifizierungsneigung sowie an den
hohen Kosten durch Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitations- und Frühberentungsmaßnahmen. So
stellen schizophrene Erkrankungen eine der teuersten seelischen Störungen überhaupt dar (Falloon, Coverdale & Brooker, 1996; Kissling, 1991;
Penn, Van der Does, Spaulding & Garbin, 1993).
Einer der wohl wichtigsten Befunde der Forschungen der letzten fünf Jahre liegt in der Erkenntnis, dass Menschen mit schizophrenen Störungen häufig bereits fünf bis sieben Jahre vor
der Ersthospitalisation zunehmende Verhaltensauffälligkeiten und Rollenfunktionsstörungen entwickeln (Haefner et al., 1998). Die initialen Beschwerden im Frühverlauf der Erkrankung sind
eher unspezifisch und werden vom Hausarzt, vom
Schulpsychologen, von Lehrern, an psychologischen sowie studentischen- und Erziehungsberatungsstellen häufig als Adoleszenzkrise verkannt.
Typische Faktoren für dieses Risikoprofil sind
eine Tendenz zu sozialem Rückzug (soziale Anhedonie) sowie kognitive Funktionseinschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit, der
verbalen Merkfähigkeit und des abstrahierenden
9
Denkens. Dies führt zu einer Leistungsbeeinträchtigung in der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie im Studium. Weiter ist ein Mangel
an Antrieb und Initiative charakteristisch, der vom
sozialen Umfeld oft als Bruch der Primärpersönlichkeit erlebt wird. Dies ist weder durch depressive Syndrome noch durch Drogenkonsum im
Hintergrund alternativ erklärbar. Die Betroffenen selbst erleben häufig im Vorfeld der Ersterkrankung einen Verlust der Steuerbarkeit des
eigenen Gedankengangs und in späteren Stadien
dieser Vorläuferperiode (Klosterkotter, Hellmich,
Steinmeyer & Schultze-Lutter, 2001) zeigen sich
auch kleinere (meist nur stunden- oder tageweise
auftretende) psychotische Episoden mit halluzinatorischer oder wahnhafter Symptomatik (sog.
BLIPS = Brief Limited Psychotic Episodes).
Ein frühes Erkennen und damit eine frühe optimale Behandlung tragen ganz wesentlich zu einer
Verbesserung des gesamten Erkrankungsverlaufes bei. Es konnte gezeigt werden, dass die Dauer
der unbehandelten Psychose (DUP) prognostisch
wesentlich ist (Addington, Van Mastrigt, Hutchinson & Addington, 2003; Larsen et al., 2001;
McGlashan, 1999). Die DUP ermöglicht verschiedene Voraussagen, u. a. wie schnell Patienten unter einer zielgerichteten Pharmakotherapie eine
Symptomremission erreichen, wie vollständig
diese Remission sein wird, wie ausgeprägt die
Rollenfunktionsbehinderung im weiteren Verlauf
der Erkrankung und sogar wie stark das Ansprechen auf psychosoziale Interventionen ausfallen
wird. Entscheidend im Verlauf der Erkrankung
sind die ersten drei bis fünf Jahre, da sich in diesem Zeitraum die Symptomatik und die Behinderungen am stärksten entwickeln und danach meist
ein Plateau erreichen. Man spricht auch von der
sogenannten „Critical Period“ (Birchwood &
Spencer, 2001). In dieser kritischen Verlaufsphase versucht man durch eine frühe optimierte
Behandlung ein möglichst hohes Funktionsniveau zu erhalten.
Die diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 für
schizophrene Störungen sind im Kasten auf
Seite 10 zusammengefasst.
Das ICD-10 unterscheidet dabei diagnostische
Symptome nach der Sicherheit mit der diese
Auffälligkeiten mit dem Vorliegen einer schizophrenen Erkrankung verbunden sind (bei hoher
Sicherheit ist nur ein Merkmal erforderlich, bei
geringer Sicherheit zwei Merkmale). Die dia-
10
Kapitel 1
Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 für Schizophrenie (F20.0-F20.3)
Zeitkriterium:
Während der meisten Zeit innerhalb eines Zeitraumes von mindestens einem Monat sollte eine
psychotische Episode bestehen. Diese ist gekennzeichnet entweder durch
Mindestens eines der folgenden Merkmale:
a) Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung.
b) Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- oder
Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahnwahrnehmung.
c) Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die Patienten reden oder andere Stimmen,
die aus bestimmten Körperstellen kommen.
d) Anhaltender, kulturell unangemessener, bizarrer Wahn, wie der, das Wetter kontrollieren zu können oder mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen.
ei der folgenden Merkmale:
Oder mindestens zwei der folgenden Merkmale (Zusatzkriterien):
a) Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, täglich während mindestens eines Monats, begleitet von flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung oder begleitet von lang anhaltenden überwertigen Ideen.
b) Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit oder Danebenreden führt.
c) Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor.
d) „Negative“ Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte (es muss sichergestellt sein, dass diese Symptome nicht durch eine Depression oder eine
neuroleptische Medikation verursacht werden).
gnostische Terminologie wird im Folgenden nicht
im Einzelnen ausgeführt, da es hier sehr gute
Beschreibungen gibt (z. B. das AMDP-System,
2007).
Mehr Wert wird hier auf häufige Fehlurteile in
der diagnostischen Urteilsbildung gelegt. Insbesondere der Hausarzt oder der Kliniker in einer
Rehabilitationsklinik oder in einer psychosomatischen Einrichtung, der in seiner professionellen
Ausbildung keine oder wenig praktische Erfahrung im psychiatrischen Kernbereich gesammelt
hat, wird die Negativsymptomatik oder kognitive
Störungen nicht hinreichend als therapeutische
Zielsymptomatik erkennen oder umgekehrt vorschnell aus wahnhafter oder halluzinatorischer
Symptomatik auf das Vorliegen einer schizophrenen Störung schließen. Verkannt und damit unzureichend behandelt werden dabei v. a. depressive, bipolare und schizoaffektive Störungen. Im
Folgenden sollen kurz wichtige differenzierende
Merkmale nebeneinander gestellt werden. Bei
wahnhaften Syndromen verweist beispielsweise
eine Attribution des Verfolgtwerdens durch einen
äußeren „Feind“ eher auf eine schizophrene Störung, eine Attribution auf „Verfolgung“ aufgrund
eines vermeintlichen (moralischen) „Vergehens“
eher auf eine depressive Störung. Neben dem
Thema Schuld und Versündigung ist Verarmung
ein wichtiges Thema wahnhafter Depressionen.
Während der Depressive sich selbst gewissermaßen als „Täter“ sieht, nimmt der schizophren
Erkrankte sich selbst eher als „Opfer“ einer Verschwörung oder Intrige, die ihm nach Leib, Leben, Gesundheit oder anderem trachtet, wahr. Bei
manischen Syndromen (Antriebssteigerung, Distanzlosigkeit, vermehrten Geldausgaben, reduziertem Schlaf bei erhaltener oder gar gesteigerter Tagesfrische und Leistungsfähigkeit) sind
expansive Wahninhalte häufiger, bei denen der
Betroffene sich als Auserwählter, im Rahmen
einer menschheitsrettenden oder religiös inspirierten Mission fühlt. Ähnlich verhält es sich bei
einer halluzinatorischer Symptomatik: Während
der Depressive meist kritisierende, abwertende
oder beschimpfende Stimmen hört, sind für Schizophrene (Alltagshandlungen) kommentierende,
imperative („Tue dies“, „Lass das“) oder auch
Die Störung: Merkmale und Verlauf schizophrener Erkrankungen
dialogisierende Stimmen typisch, die sich beispielsweise über den Betroffenen unterhalten.
Dazu werden formale Denkstörungen und die
Negativsymptomatik (Antriebsmangel, kognitive
Funktionsstörungen) bei schizophrenen Störungen oft unzureichend als wichtige, pathognomonische Krankheitszeichen (Erstrangsymptome)
gesehen (Vauth, 2003). Zusammenfassend bleibt
festzuhalten, dass der Kliniker sich in der diagnostischen Urteilsbildung stärker von formalen
11
Denkstörungen, Ich-Störungen (Gedankenausbreitung, Gedankenentzug usw.), von der Anund Abwesenheit gleichzeitiger manischer oder
depressiver Symptome, den Attributionen der
wahnhaften Ängste (wie erklärt sich der Patient
z. B., dass er verfolgt wird?) und den Stimmeninhalten (siehe oben) leiten lassen sollte. Dies ist
wichtiger als die Frage, ob überhaupt eine halluzinatorische oder wahnhafte Symptomatik vorliegt.
Kapitel 2
Die Rolle der Angehörigen im Krankheitsverlauf
2.1 Helfer – Opfer – Täter
Der Angehörige ist in vielfältiger Hinsicht Helfer:
50 bis 90 % der schwer seelisch kranken Menschen leben unmittelbar nach der Akutbehandlung
bei ihren Angehörigen (Lauber et al., 2003). Die
Bedeutung der Unterstützung durch Angehörige
ist vielfältig belegt. So ist regelmäßiger und positiver Kontakt zur Familie mit einem besseren sozialen Funktionieren (Brekke & Mathiesen, 1995)
und Drogenabstinenz (Clark, 2001) verbunden.
Angehörige haben auch eine prominente Rolle in
der Unterstützung der Aufnahmebereitschaft für
jedwede Form von pharmakologischer oder psychologischer Therapie für den Patienten (Vauth,
Loschmann, Rusch & Corrigan, 2004). Darüber
hinaus übernehmen Angehörige im Alltag natürlich vielfältige Stützfunktionen, z. B. im Bereich
der Finanzen, der Entlastung im Alltag durch
Übernahme von Aufgaben wie Haushaltsführung,
Kindererziehung und Vernetzung mit dem sozialen Umfeld oder auch koordinierende Funktionen in der Behandlung (Wilms, Bull, Wittmund &
Angermeyer, 2005).
Die Rolle der Angehörigen als „Opfer“ schizophrener Erkrankungen ist erkennbar an den vielfältigen ungünstigen Gesundheitsfolgen (Hirst,
2005): So weisen Angehörige von Menschen mit
schwerwiegenden seelischen Erkrankungen ein
höheres Ausmaß an Stress auf, leiden häufiger an
Depressionen, zeigen eine geringere Lebensqualität und eine schlechtere körperliche Gesundheit
sowie ein geringeres Ausmaß an Zutrauen in die
grundsätzliche Fähigkeit mit eigenen Schwierigkeiten und Problemen im Leben besser fertig zu
werden (Selbstwirksamkeit). Das Gefühl subjektiver Belastetheit der Angehörigen („Burden“)
nimmt in dem Maße deutlich zu, wie die Beziehung zum erkrankten Familienmitglied eine
tief greifende Veränderung erfährt (Lauber et al.,
2003). So verändern sich durch die Erkrankung
Nähe und Distanz der Beteiligten. Das heißt, die
Fähigkeit zur emotionalen Nähe und das wechselseitige Aufeinandereingehen in einer balancierten
sozialen Beziehung können verloren gehen. Nun
schon erwachsenen erkrankten Kindern begegnen
die Eltern wieder stärker mit einer Haltung aus
der Kindheit und Jugendzeit („Ich muss mich kümmern!“, „Ich bin für mein Kind verantwortlich“
usw.). Auch das Bild des erkrankten Angehörigen
von sich selbst erfährt oft eine tief greifende Veränderung: Die eigene Persönlichkeit, Werte oder
Ziele werden als verändert wahrgenommen bzw.
bewertet, was vielfach mit den tatsächlich veränderten Rollen des Erkrankten nach Ausbruch bzw.
im Verlauf der Erkrankung zusammenhängt (Rollenwechsel etwa von Vollzeitberufstätigkeit zum
Invalidenstatus ohne Tagesstruktur).
Die Belastung nimmt, mit unerwarteten finanziellen und moralischen Verantwortlichkeiten, in die
sich die Angehörigen von außen gedrängt fühlen,
zu (Schene, Tessler & Gamache, 1994). So erfahren Angehörige oft direkt oder indirekt, Schuldzuweisung aus dem sozialen Umfeld, indem sie
für die Erkrankung als Ganzes oder bestimmte
Symptome (wie ungepflegtes Äußeres, Scheitern
auf dem beruflichen Weg usw.) verantwortlich
gemacht werden.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen den
objektiven Belastungen, die sehr konkret und auch
beobachtbar sind, wie etwa den Finanzen, und den
subjektiven Belastungen der Angehörigen (Hoenig & Hamilton, 1966; Schulze & Rössler, 2005).
Mit Letzteren sind die wahrgenommenen psychologischen Belastungen und deren Auswirkungen
auf die psychische Gesundheit gemeint.
In Abbildung 1 sind belastende und entlastende
Faktoren für das Angehörigensystem aufgeführt,
die in der jüngeren Forschungsliteratur gefunden
werden konnten (Bibou-Nakou, Dikaiou & Bairactaris, 1997; Birchwood & Cochrane, 1990;
Carpentier, Lesage, Goulet, Lalonde & Renaud,
1992; Levene, Lancee & Seeman, 1996; MacInnes, 1998; Magliano et al., 1998; Provencher &
Mueser, 1997; Raj, Kulhara & Avasthi, 1991; Scazufca & Kuipers, 1998; Smith, Birchwood, Cochrane & George, 1993; Solomon & Draine, 1995;
Veltro, Magliano, Lobrace, Morosini & Maj, 1994;
Winefield & Harvey, 1994). Schaut man sich die
Ergebnisse an, so fallen einige dem Alltagsverstand scheinbar widersprechende Befunde auf. So
könnte man etwa erwarten, dass mit zunehmender
Die Rolle der Angehörigen im Krankheitsverlauf
Kontaktfrequenz
und Dauer
Zufriedenheit
mit Versorgungssystem
und professioneller
Unterstützung
13
Negativsymptomatik
Rollenfunktionsfähigkeit
Belastung
Bewältigungsstrategien
und Selbstwirksamkeit
Dauer der Erkrankung
Soziale Unterstützung
= senkt Belastung
= erhöht Belastung
Abbildung 1: Was hat Einfluss auf die Belastung der Angehörigen?
Dauer der Erkrankung und bei höherer Kontaktfrequenz und -dichte die Belastetheit der Angehörigen durch Habituation (Gewöhnung) abnimmt.
Das Gegenteil ist aber der Fall. Ebenfalls erwartungsdiskrepant ist, dass nicht etwa die Positivsymptomatik (etwa Exazerbation von Stimmen
oder wahnhafte Überzeugungen in der Akutphase)
die Hauptbelastung für den Angehörigen ausmacht, sondern die Negativsymptomatik eine wesentlich stärkere Belastung für Angehörige darstellt. Auch ist das Funktionsniveau, auf dem das
erkrankte Familienmitglied sich halten kann (Zutritt zu Rollen wie Partnerschaft, Arbeit, Freizeitinteressen) für die Belastung relevant. Ist die
Funktionsfähigkeit gering, steigt die Belastung.
Als schützend und damit für angehörigensystembezogene Interventionen bedeutend hat sich die
Bereitstellung von sozialem Beistand, die Zufriedenheit mit dem Versorgungssystem und professioneller Unterstützung sowie die Verfügbarkeit
von aktiven, problemzentrierten Bewältigungsstrategien und eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung (allgemeines Zutrauen in die eigene Fähigkeit, mit schwierigen Situationen fertig zu
werden) erwiesen. So konnten Gavois, Paulsson
und Fridlund (2006) ermitteln, dass gerade in
akuten Krisen die Präsenz von Therapeuten und
deren aktives Zuhören bezüglich der Probleme
im Alltag von den Angehörigen am meisten ge-
schätzt wird, während in der Stabilisierungs- oder
Recovery-Phase Ermutigungsprozesse („Empowering“) und praktische Hilfemöglichkeiten im
Alltag (Kontrolle der Medikamentenabgabe, Organisation von Putzdienst usw.), die zur Verfügung gestellt werden, besonders positiv bewertet
werden.
Das Konzept vom Angehörigen als „Täter“ bezieht sich auf die Ergebnisse der so genannten
„High Expressed Emotion“-Forschung (HEE) der
letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Die soeben dargestellte große Belastung der Angehörigen führt
häufig zu ungünstigen Kommunikationsstilen wie
Abwertung, negativer Kritik und selbstaufopfernd
einmischendem Verhalten in die Belange des erkrankten Angehörigen. Verschiedene empirische
Arbeiten zeigen, dass bei einer geringen Ausprägung dieser ungünstigen familiären Interaktionsund Beziehungsstile (im Falle einer Kontaktdichte
von über 15 Stunden pro Woche) die Rückfallrate
deutlich – zum Teil bis zur Hälfte – geringer ist,
selbst bei medizierten Patienten (Glynn et al.,
2007).
Umgekehrt besteht bei einer emotional eher kalten und distanzierten, mangelhaft unterstützenden
Haltung der Herkunftsfamilie gegenüber dem Erkrankten eine Erhöhung der Rückfallwahrschein-
14
Kapitel 2
Überlastung
Angehöriger
– kritische
Kommentare
– Feindseligkeit
– Einmischen
(Wieder-)Auftritt
der Erkrankung
Vermehrte
familiäre Konflikte
Stress
Hilflosigkeit,
Ärger,
Angst
Abbildung 2: Folgen der Belastung von Angehörigen (Levene et al., 1996; Scazufca & Kuipers, 1998)
lichkeit (Levene, Lancee & Seeman, 1996; Scazufca & Kuipers, 1998, vgl. Abb. 2).
In den HEE sieht man heute mehrheitlich ein Phänomen der Überlastung von Angehörigen. Dies
kann partiell auch dadurch als belegt angesehen
werden, dass Angehörige mit höheren HEE-Graden eher passive Bewältigungsmechanismen anstatt aktiver einsetzen und ein eher geringeres
Maß an Selbstwirksamkeitserwartung aufweisen.
Die Folge von HEE sind vermehrte familiäre Konflikte, die ihrerseits wiederum mit Gefühlen von
Hilflosigkeit, Ärger und Angstgefühlen beim erkrankten Angehörigen einhergehen. Dies wiederum führt dazu, dass vermehrt Stress vorhanden
ist und damit die Auftrittswahrscheinlichkeit für
eine erneute Krankheitsepisode steigt. Als Folge
des erneuten Rückfalls oder eines drohenden
Rückfalls kommt es zu einer weiteren Zunahme
der Überlastung der Angehörigen im Sinne eines
Circulus vitiosus.
Die dargestellten Zusammenhänge sind besonders bedeutsam für Menschen mit einer ersten
psychotischen Episode (vgl. Askey, Gamble &
Gray, 2007). 60 bis 70 % der ersterkrankten Patienten leben im Haushalt von Angehörigen ers-
ten Grades, was z. T. daran liegt, dass das Erstmanifestationsalter seinen epidemiologischen Gipfel zwischen dem 14. und 35. Lebensjahr hat und
die „Entwicklungsaufgabe“ der „Ablösung vom
Elternhaus“ (Havick-Hurst, 1953) noch nicht abgeschlossen ist. In dieser frühen Erkrankungsphase sind allerdings häufig der weitere Erkrankungsverlauf und die nosologische Einordnung
(z. B. als schizophrene Störung versus schizoaffektive Störung versus bipolare Erkrankung)
noch unklar. Die diagnostische Unklarheit geht
daher auch mit einer relativ späten adäquaten
psychopharmakologischen wie psychotherapeutischen Versorgung einher und führt so in der
Folge zur Verschlechterung einer Reihe von Prognose- und Verlaufsaspekten. Die psychosoziale
Adaptation (soziale und berufliche Integration)
ist dadurch ungünstiger, es kommt zu langsameren und unvollständigeren Remissionen der
Symptome, es besteht eine erhöhte Vulnerabilität
für Rückfälle und ein erhöhtes Risiko für die Patienten, Depressionen und Ängste zu entwickeln.
Zusätzlich kommt es krankheitsbedingt zu Störungen der sozialen und persönlichen Entwicklung des Erkrankten und einer fortschreitenden
Entfremdung in den Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden.
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