Handbuch Dissoziative Identitätsstörung

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Frank W. Putnam
Handbuch
Dissoziative
Identitätsstörung
Diagnose und
psychotherapeutische
Behandlung
Mit einem Vorwort von
Luise Reddemann
Aus dem Amerikanischen von
Theo Kierdorf & Hildegard Höhr
G. P. PRoBsT VeRLAG
Lichtenau / Westfalen
Vorwort
Auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam ich aufgrund täglicher Anrufe von Kol-
legen, die mich baten, ihnen Ratschläge für die Behandlung von Patienten mit Dissoziativer Identitätsstörung (DIS) zu geben. Gewöhnlich drei- bis viermal pro Woche
und oft drei bis viermal täglich hörte ich immer wieder die gleichen Fragen. Allmählich ging ich dazu über, die telefonischen Konsultationen durch Zusenden von Literaturlisten und Kopien ausgewählter Artikel über häufig auftauchende Fragen und
Probleme zu ergänzen. Weil ich das Kopieren und die Versendung der Briefe selbst
erledige, war diese Art der Hilfe für mich äußerst zeitraubend. Deshalb entstand in
mir allmählich der Wunsch nach einem Einführungswerk für Therapeuten, die mit
dieser Störung und ihrer Behandlung noch nicht vertraut waren. Irgendwann wurde
mir dann klar, daß ich ein solches Buch selbst würde schreiben müssen.
Das Handbuch Dissoziative Identitätsstörung ist für Therapeuten gedacht, die mit
dissoziativen Störungen noch nicht vertraut sind. Es beschreibt Ideen, Techniken
und Behandlungsphilosophien, die in diesem Bereich erfahrene Therapeuten im
Laufe der Behandlung vieler Patienten entwickelt haben. Das mit zahlreichen Literaturangaben versehene Buch ist so aufgebaut, daß es sich sowohl als Einführung als
auch als Nachschlagewerk eignet. Mein Hauptziel bei seiner Niederschrift war eine
möglichst pragmatische Darstellung.
Ich habe mich um eine ausgewogene Beschreibung bemüht und bin all jenen zu
Dank verpflichtet, die zu unserem Wissen über das Thema Wichtiges beigetragen haben. Häufig läßt sich schwer feststellen, auf wen bestimmte Ideen oder Interventionen
tatsächlich zurückgehen, da sich ihre Ursprünge in der mündlichen und klinischen
Überlieferung verlieren, der Basis all unseren Wissens. Allen Zeugen der heutigen
explosionsartigen Zunahme des Interesses an der DIS fällt auf, wie oft verschiedene
Therapeuten die gleichen Beobachtungen machen und die Nützlichkeit bestimmter
Interventionen und Techniken parallel entdecken. Insofern ist es kaum verwunderlich, daß viele gleichzeitig die Entdeckung bekannter Ideen und Techniken für sich
beanspruchen.
Eines meiner Ziele ist, die DIS zu entmystifizieren und dieser Störung die ihr im
historischen Kontext zukommende zentrale Stellung einzuräumen, die entscheidend
zur Entwicklung einer dynamischen Psychiatrie und der psychologischen Wissenschaft beigetragen hat. Meiner Meinung nach wird die DIS in und für die Zukunft
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eine wichtige Rolle spielen und ihre vormalige Funktion als Dreh- und Angelpunkt
für Modelle des menschlichen Bewußtseins wiedererlangen. Die DIS ist ein Experiment der Natur, das uns Erkenntnisse über das Spektrum menschlicher Möglichkeiten erschließt, und ein Fenster zu den psychobiologischen Beziehungen zwischen
psychischen und körperlichen Zuständen. Die Behandlung der DIS ist eine natürliche Erweiterung der psychotherapeutischen Kunst und gibt uns viel Aufschluß darüber, wie die »Redetherapien« heilen. Wir sollten das, was die DIS uns lehren kann,
nutzen, statt uns in sinnlosen Debatten darüber, ob sie »real« ist, zu erschöpfen.
Ich möchte Julie Guroff für ihre Hilfe und Unterstützung während der Entwicklung dieses Buches und Evan DeRenzo für ihre Arbeit als Lektorin danken. Den Kollegen Richard Loewenstein, Robert Post, David Rubinow und Richard Wyatt danke
ich für die Ratschläge und Ermutigungen, durch die sie mich über Jahre unterstützt
haben. Ganz besonderen Dank schulde ich meinen unter DIS leidenden Patienten
und Freunden, die mir ihre Gedanken, Gefühle und Lebensgeschichten mitgeteilt
und mir so geholfen haben, mit der Dissoziativen Identitätsstörung vertraut zu
werden.
Frank W. Putnam
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Die Diagnose der
Dissoziativen Identitätsstörung
Kliniker, die vermuten, daß eine ihrer Klientinnen unter DIS leidet, können ver-
schiedene Strategien anwenden, um diese Diagnose zu erhärten oder auszuschließen.
Eine Diagnose auf DIS ist nur dann zutreffend, wenn bei der untersuchten Patientin
separate und unterscheidbare Alter-Persönlichkeiten existieren, welche die in Kapitel 2 beschriebenen Kriterien des DSM-III/DSM-III-R bzw. DSM-IV erfüllen. Vermutete Alter-Persönlichkeiten zu identifizieren und hervorzulocken kann sowohl für
Therapeuten als auch für Patienten sehr schwierig sein und Angstgefühle auslösen.
In diesem Kapitel werden verschiedene Strategien beschrieben, mit deren Hilfe sich
feststellen läßt, ob Patienten unter DIS leiden.
Die DIS ist eine chronische dissoziative Störung, im Gegensatz zu vorübergehenden und im allgemeinen begrenzten dissoziativen Zuständen wie dissoziativen
Amnesien und dissoziativen Fugue-Zuständen. Folglich ist zu erwarten, daß in der
alltäglichen Lebenserfahrung betroffener Patienten und in den Interaktionen zwischen ihnen und ihren Therapeuten Hinweise auf einen dissoziativen Prozeß zu
finden sind. Der erste Schritt bei der Diagnose besteht darin, festzustellen, ob die
Patientin dissoziative Erlebnisse gehabt hat. Anfangs ist diesem Ziel eine sorgfältige Anamnese am dienlichsten. Allerdings ist die Vorgeschichte oft unklar oder läßt
bestenfalls Vermutungen zu. Deshalb sind weitere diagnostische Maßnahmen erforderlich, um zu klären, was tatsächlich mit der Patientin vor sich geht. Dieses Kapitel
beginnt mit einer Beschreibung des Anamneseprozesses und der Gesprächsinteraktionen in Fällen, in denen eine dissoziative Pathologie festgestellt oder ausgeschlossen werden muß. Im Anschluß daran werden einige diagnostische Interventionen
untersucht, die zusätzliche Informationen liefern können. Eine Darstellung von zwei
spezifischen diagnostischen Techniken, die Untersuchung auf Hypnotisierbarkeit
und Interviews unter dem Einfluß chemischer Stoffe, werden in Kapitel 9 behandelt,
in dem es um hypnotische Interventionen und um therapeutische Abreaktion geht.
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Anamnese
Schwierigkeiten
Bei Eingangsgesprächen mit Patienten, bei denen später DIS diagnostiziert wurde,
habe ich immer wieder ein bestimmtes Muster vorgefunden: Es erwies sich generell als schwierig, von ihnen kohärente Informationen über ihre Vorgeschichte zu
erhalten. Wenn ich die Bemühungen um die Rekonstruktion der Vorgeschichte beende und die Informationen, die ich erhalten habe aufschreibe, wird mir klar, daß ein
großer Teil derselben inkonsistent oder sogar widersprüchlich und es schwierig ist,
aus ihnen eine klare chronologische Ereignisfolge abzuleiten. Darin spiegelt sich die
Tatsache, daß es DIS-Patienten sehr schwerfällt, in klarer chronologischer Ordnung
über ihre Lebensgeschichte zu berichten, weil ihre Erinnerungen auf verschiedene
Alter-Persönlichkeiten verteilt sind.
In den meisten Fällen stammt die lebensgeschichtliche Information, die Therapeuten am Anfang der Therapie erhalten, hauptsächlich von der Gastgeber-Persönlichkeit, die allerdings häufig den schlechtesten Zugang zu Informationen über frühe
Lebensabschnitte hat und deren Erinnerung an ihr bisheriges Leben oft lückenhaft ist.
Die Gastgeber-Persönlichkeit, mit der sich Kapitel 5 eingehender beschäftigt, ist die
Identität, die sich gewöhnlich dem Therapeuten vorstellt und um eine Behandlung
ersucht (Putnam et al. 1986). Sie leidet unter den Folgen des Verhaltens anderer Identitäten, weiß aber nur wenig über die Faktoren, die zur Entstehung der für sie problematischen Situationen geführt haben. Beispielsweise kommt es vor, daß sich eine
Gastgeber-Persönlichkeit plötzlich in der Notaufnahme eines Krankenhauses wiederfindet, wo man sie wegen einer Medikamentenüberdosis einer Magenspülung unterzieht. Da eine andere Teilpersönlichkeit die Überdosis eingenommen hat, hat die
Gastgeber-Persönlichkeit oft keinerlei Erinnerung an die Einnahme der Pillen. Wird
die Patientin bzw. die Gastgeber-Persönlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt über
diese Episode befragt, kann sie sich meist nur vage an den Vorfall erinnern und ihn
nicht detailliert beschreiben. DIS-Patienten sagen häufig Dinge wie: »Ich muß wohl
depressiv gewesen sein; sie sagen, ich hätte eine ganze Flasche Pillen eingenommen.«
In vielen Fällen vermögen solche Patienten nicht festzustellen, ob eine bestimmte
Episode zeitlich vor oder nach einem anderen Ereignis liegt.
Zwei wichtige Merkmale des beherrschenden Symptoms und der Vorgeschichte
von DIS-Patienten sind häufige Inkonsistenzen und das Fehlen einer klaren Chronologie. Die Inkonsistenzen treten am deutlichsten zutage, wenn der Kliniker zu einem
späteren Zeitpunkt erneut auf ein spezifisches Ereignis zu sprechen kommt, um mehr
Informationen darüber zu sammeln. Ich habe von Patienten manchmal drei oder vier
unterschiedliche und sogar einander widersprechende Berichte über bestimmte Episoden erhalten. In solchen Fällen fragen sich Kliniker zuweilen, ob das Problem bei
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ihnen oder bei der Patientin liegt. Unerfahrene Therapeuten vermuten häufig, sie
müßten den Bericht der Patientin mißverstanden haben, oder ihre eigene Erinnerung daran sei fehlerhaft. Ich weise angehende Therapeuten immer wieder darauf hin,
daß sie, wenn bei ihnen die Frage auftaucht, ob sie selbst oder ihre Patientin unter
einem Gedächtnisproblem leiden, darüber nachdenken sollten, ob sie vielleicht einen
DIS-Fall vor sich haben.
Die Informationen, die DIS-Patienten in dieser frühen Phase der Evaluation geben,
sind meist vage, und es fehlen ihnen wesentliche Details. Sie sagen immer wieder:
»Ich kann mich nicht erinnern« oder geben auf andere Weise zu verstehen, daß sie
ein »schreckliches« Gedächtnis haben. DIS-Patienten bezeichnen ihre Probleme mit
der Erinnerung gewöhnlich nicht als Amnesien, und meist liefern sie auch keine anderen Hinweise darauf, daß bei ihnen Amnesien vorkommen. Vielmehr begründen
sie das Fehlen von Informationen mit ihrem schlechten Gedächtnis. Haben sie in
der Vergangenheit eine Elektrokrampftherapie (ECT) erhalten, schreiben sie ihre Gedächtnisprobleme gewöhnlich dieser Behandlung zu.
Leider nehmen viele Kliniker solche Erklärungen für bare Münze und versäumen
es, den Gedächtnisproblemen nachzugehen. Wenn ein Therapeut eine Patientin vor
sich hat, der es offensichtlich sehr schwer fällt, sich an Details ihrer Lebensgeschichte
zu erinnern, sollte er sich bemühen, die Ursache dieser Schwierigkeiten herauszufinden. Wenn DIS-Patienten Informationen zurückhalten, gibt es dafür gewöhnlich
eine Reihe von unterschiedlichen Gründen: Die befragte Identität kann eine Amnesie
bezüglich eines bestimmten Ereignisses haben, oder sie kennt zwar weitere Details,
weigert sich jedoch aufgrund inneren Drucks des Gesamtsystems der Identitäten, sich
daran zu erinnern. Gelegentlich erfinden Patienten Informationen auch, um eine inakzeptable Erinnerungslücke damit zu füllen oder um ihre Gesprächspartner zu beschwichtigen (Kluft 1985c, 1986 a). Oft zögern sie, zu erkennen zu geben, was sie über
ihren Zustand wissen, weil sie Angst haben, dann als »verrückt« angesehen zu werden.
Viele Multiple haben kompensatorische Verhaltensweisen entwickelt, um zu überspielen, daß ihnen Informationen fehlen, und um mit ihren Erinnerungslücken fertig
zu werden. Diese Mechanismen aktivieren sie, um sich schwierigen Fragen zu entziehen oder um Gesprächspartner abzulenken. Außerdem kann es sein, daß das Persönlichkeitssystem einer Diagnose aktiv auszuweichen versucht, indem es im Hinblick
auf bestimmte Sachverhalte lügt oder, was häufiger der Fall ist, indem es wichtige
Details ausläßt und Informationen liefert, die nahelegen, bei der Untersuchung einen
bestimmten Weg einzuschlagen und damit einem anderen keine Aufmerksamkeit zu
schenken – d. h. einer falschen Fährte zu folgen. Meine Erfahrung ist, daß Multiple, wenn sie Therapeuten irrezuführen versuchen, gewöhnlich eher zum Vermeiden
als zum ausgesprochenen Lügen tendieren, obwohl auch letzteres vorkommt. Man
muß sich ganz genau anhören, was diese Patienten sagen. Manchmal sind sie wahre
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Meister darin, den Eindruck zu erwecken, sie würden etwas Bestimmtes sagen, während sie tatsächlich etwas völlig anderes gesagt haben. Wenn ich mir etwas, das eine
Multiple zu mir gesagt hat, später erneut vergegenwärtige, beschäftige ich mich nicht
abstrakt damit, sondern ich übersetze das Gesagte grundsätzlich in eine möglichst
konkrete Aussage. Durch die konkrete Interpretation tritt dann oft ein wichtiger
Doppelsinn zutage.
Ein anderer von Multiplen häufig angewandter »Trick« ist, so zu tun, als wüßten
sie mehr, als sie tatsächlich wissen. Ist ihnen beispielsweise völlig unklar, wieso etwas
Bestimmtes geschehen ist, oder wenn sie keine Erinnerung an ein früheres Gespräch
mit dem Interviewer haben, verhalten sie sich zuweilen so, als wüßten sie ganz genau,
wovon die Rede ist, und sie versuchen durch die Art, wie sie die Fragen beantworten,
zu verhindern, daß der Interviewer ihre Unwissenheit entdeckt. Bei der Arbeit mit
Multiplen sollte man sich vor Vermutungen und Annahmen hüten. Diese Arbeit ist
nicht leicht, und oft gewinnen Therapeuten während des Evaluationsprozesses einen
ersten Eindruck von den Schwierigkeiten, die auf sie zukommen.
Nützliche Fragen
Wenn ein Kliniker vermutet, daß eine bestimmte Patientin unter einer chronischen
dissoziativen Störung wie DIS leidet, sollte er bei der Befragung über die Vorgeschichte und bei der Untersuchung des Geisteszustandes bestimmte Bereiche erkunden. Aus methodischen Gründen ordne ich diese Fragen vier Kategorien zu: Amnesien oder »Zeitverlust«, Depersonalisation/Derealisation; Lebenserfahrungen und
Schneidersche Symptome ersten Ranges. In der Praxis streue ich diese Fragen in die
Anamnese ein, wobei ich die verschiedenen Kategorien so miteinander vermische,
wie es die konkrete Situation erfordert.
Fragen über Amnesien oder »Zeitverlust«
Bei der Befragung von Patienten im Hinblick auf DIS ist es oft ratsam, mit indirekten
Fragen zu beginnen. Gewöhnlich frage ich während dieses Teils der Anamnese nach
Erfahrungen des »Zeitverlustes«. Dabei gehe ich auf den Begriff »Zeitverlust« zunächst nicht näher ein, und wenn sie bestätigen, daß sie Erlebnisse dieser Art gehabt
haben, bitte ich sie, Beispiele dafür zu nennen. Falls sie bestreiten, solche Erfahrungen gemacht zu haben, definiere ich den Begriff anhand eines Beispiels, etwa: »Ein
Beispiel für das, was ich mit ›Zeitverlust‹ meine, ist, daß Sie auf eine Uhr schauen und
sehen, daß es zum Beispiel 9.00 Uhr morgens ist, und das nächste, woran Sie sich
erinnern, ist, daß es plötzlich 3.00 Uhr nachmittags war, und Sie können sich absolut
nicht erklären, was in der Zwischenzeit passiert ist. Haben Sie so etwas schon einmal
erlebt?« Falls die Patientin dies bejaht, bitte ich sie, Beispiele dafür zu nennen. Man
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sollte sich in jedem Fall einige konkrete Beispiele schildern lassen, bevor man darüber
urteilt, ob ein Patient tatsächlich ein Zeitverlusterlebnis gehabt hat oder nicht. Viele
normale Menschen erleben gelegentlich mikrodissoziative Episoden, was entweder
in einer monotonen Situation (z. B. einer Fahrt auf einer leeren Autobahn) oder in
einer Periode intensiver Konzentration oder starken Beschäftigtseins (z. B. während
einer wichtigen Prüfung oder beim Lesen eines spannenden Romans) vorkommen
kann. Bei DIS-Patienten und Menschen, die zu chronischer Dissoziation neigen, ohne unter DIS zu leiden, kommen Zeitverluste häufig und in vielen unterschiedlichen
Situationen vor, und sie lassen sich nicht ausschließlich auf Monotonie oder intensive Konzentration zurückführen. Darüber hinaus gibt es bei Zeitverlusterfahrungen
gewöhnlich keinen offensichtlichen Sekundärgewinn. Obwohl bei allen Multiplen
eine oder mehrere Identitäten Zeitverluste erleben (gewöhnlich einschließlich der
Gastgeber-Persönlichkeit oder der Identität, die sich zur Behandlung vorgestellt hat),
gestehen nicht alle dies schon zu Beginn einer Therapie ein.
Falls an den Beispielen, die Patienten anführen, zu erkennen ist, daß sie über bestimmte Perioden nichts zu sagen wissen, sollte der Kliniker jeglichen Zusammenhang zwischen solchen Episoden und Drogen- oder Alkoholeinfluß ausschließen. Am
besten benutzt er zu diesem Zweck Beispiele, die die Patienten selbst angeführt haben.
Daß Rauschmittel bei Zeitverlusterfahrungen eine Rolle gespielt haben, schließt eine dissoziative Störung nicht unbedingt aus, verkompliziert die Differentialdiagnose
aber erheblich.
Falls eine Patientin Zeitverlusterfahrungen generell abstreitet, stelle ich ihr trotzdem einige der im folgenden aufgeführten Fragen. Hat sie hingegen über Erfahrungen berichtet, die Zeitverlust vermuten lassen, frage ich sie nach Erlebnissen, in denen sie Beweise dafür sieht, daß sie etwas getan hat, das getan zu haben sie sich nicht
erinnern kann. Die meisten Patienten, die zugeben, daß es in ihrem Leben Perioden
gibt, an die sie sich nicht erinnern können, vermögen Beispiele für die Ausführung
komplexer Aufgaben zu nennen, an deren Verlauf sie keinerlei Erinnerung haben.
Ein Patient, ein staatlich anerkannter Wirtschaftsprüfer, berichtete, ihm fehle oft jegliche Erinnerung an Zeitspannen von drei oder vier Stunden; allerdings finde er dann
zu seiner Verblüffung am Ende des Arbeitstages fertiggestellte Kalkulationstabellen
auf seinem Schreibtisch. Seinem Chef und seinen Kollegen war nie aufgefallen, daß
er sich merkwürdig verhalten hatte, und sie hatten nie diesbezügliche Bemerkungen
gemacht. Doch ihn selbst belastete sehr, daß er schon mehrmals in einem leeren Büro
wieder »zu sich gekommen« war und sich gefragt hatte, wie seine Kollegen hatten
gehen können, ohne daß ihm dies aufgefallen war. Die Beispiele für Zeitverlusterfahrungen, über die dissoziierende Patienten berichten, betreffen gewöhnlich viele
prosaische Situationen wie die soeben beschriebene, bei denen kein offensichtlicher
Sekundärgewinn zu erkennen ist.
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Ich frage die Patienten auch, ob ihnen schon einmal plötzlich aufgefallen ist, daß
sie Kleidungsstücke trugen, ohne sich daran erinnern zu können, sie angezogen zu
haben. Manchmal fordere ich sie sogar auf, die Augen zu schließen und mir zu sagen,
welche Kleidung sie im Moment tragen. Die meisten Menschen können beschreiben, wie sie gekleidet sind, weil sie irgendwann eine bewußte Entscheidung getroffen haben, genau diese Kleidungsstücke anzuziehen. Bei Multiplen jedoch haben
verschiedene Alter-Persönlichkeiten manchmal sehr unterschiedliche Geschmäcke
bezüglich Kleidung, Frisur und Make-up. So kann es passieren, daß die GastgeberPersönlichkeit plötzlich Kleidungsstücke an ihrem Körper bemerkt, für die sie sich
nie entschieden hat und die sie auch nie auswählen würde. Patientinnen frage ich oft,
ob sie manchmal Kleidungsstücke in ihrem Schrank finden, die sie niemals tragen
würden. Viele bestätigen dies und fügen Kommentare hinzu wie: »Das ist mir sowieso zwei Nummern zu klein« oder: »Etwas so ›Offenherziges‹ würde ich niemals
anziehen.« Ähnliche Erfahrungen machen weibliche Multiple gewöhnlich auch mit
Make-up und Frisuren. Das Auffinden von mysteriösen Perücken, falschen Wimpern,
Schmuckstücken, Parfums und Schuhen sind ebenfalls Erlebnisse, die viele weibliche
Multiple verwirren. Männer erleben ähnliches, doch sind die Gegenstände, deren
Herkunft sie sich nicht erklären können, eher Waffen, Werkzeuge oder Fahrzeuge.
Weitere Fragen, die in diese Richtung zielen, betreffen unter anderem das Auffinden von Gegenständen, an deren Kauf sich die Patienten nicht erinnern können. Als
spezifische Beispiele hierfür nennen sie oft die Entdeckung von Dingen im Einkaufswagen in einem Supermarkt oder auf ihrem Teller in einer Cafeteria, die ausgewählt
zu haben sie sich nicht entsinnen können. Außerdem sollte man nach dem Auffinden
von Notizen, Briefen, Fotos, Zeichnungen und anderen persönlichen Dingen, deren
Herkunft einer Patientin schleierhaft ist, fragen.
Ähnliche Erfahrungen machen die Patienten im Kontakt mit anderen Menschen und in Beziehungen. Ich untersuche diesen Bereich mit Hilfe von Fragen wie:
»Kommt es vor, daß sich Menschen an Sie wenden und darauf beharren, Sie zu kennen, obwohl Sie selbst sich weder an die Betreffenden noch an die Situationen, die
diese beschreiben, erinnern können?« Wir alle erleben solche Dinge gelegentlich,
doch bei Multiplen geschehen sie immer wieder. Sie berichten manchmal, daß Menschen sie mit unterschiedlichen Namen ansprechen oder darauf bestehen, sie von
irgendwoher zu kennen, ohne daß sie selbst sich daran erinnern können – weshalb
sie es abstreiten. Kliniker sollten herauszufinden versuchen, mit welchen Namen die
Patienten in solchen Situationen angesprochen werden, weil diese Information auf
die Existenz unterschiedlicher Identitäten hindeuten kann, mit denen die betreffenden »Fremden« tatsächlich zusammengekommen sind.
DIS-Patienten erleben oft, daß andere Menschen behaupten, sie hätten etwas gesagt, woran sie selbst sich nicht erinnern können, wobei die betreffende Äußerung
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auf jene anderen – Mitglieder ihrer Familie, Freunde oder Arbeitskollegen – einen
starken Eindruck gemacht habt. Bei solchen Interaktionen sind oft Wut oder andere
starke Emotionen im Spiel, die die Gastgeber-Persönlichkeit nicht dulden kann. Beispielsweise war eine Patientin mehrmals zu ihrer Arbeitsstelle gekommen und mußte dort feststellen, daß sie am Vortag nach einer turbulenten Szene gekündigt hatte.
Auch Beziehungen werden manchmal ähnlich abrupt beendet, was für die nichtsahnende Gastgeber-Persönlichkeit sehr verwirrend und schmerzlich sein kann.
Etwas anderes, das bei vielen Multiplen echte Bestürzung hervorruft, ist, daß sie
sich an viele wichtige Ereignisse in ihrem Leben nicht erinnern können. Sie wissen
zwar oft, daß sie an einem bestimmten Tag das Abschlußexamen an der High-school
oder am College abgelegt, geheiratet, ein Kind bekommen, einen Preis erhalten oder
an einem anderen wichtigen Ereignis teilgenommen haben, doch wirklich erinnern
können sie sich an die betreffende Situation nicht. Bennett Braun hat festgestellt, daß
es in solchen Fällen sehr wichtig ist, zwischen dem Wissen darum, daß ein Ereignis stattgefunden hat, und der Erinnerung an die tatsächliche Erfahrung zu unterscheiden.
Ein Mensch kann wissen, daß ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, weil
andere ihn darüber informiert haben, ohne daß er sich tatsächlich an das Erlebnis
erinnert. Für unsere Zwecke können wir die Erinnerung an ein Ereignis definieren
als das Reaktivieren visueller Bilder und anderweitiger Eindrücke von dem Erlebten,
die es ermöglichen, sich die betreffende Situation zu vergegenwärtigen. Im Hinblick
auf diese Art von Erlebnis stelle ich häufig eine Frage wie die folgende: »Gibt es wichtige Ereignisse oder Erlebnisse in Ihrem Leben, beispielsweise Hochzeiten oder Abschlußexamen, von denen Ihnen andere erzählt haben, an die Sie selbst sich jedoch
absolut nicht erinnern können?« Eine meiner DIS-Patientinnen antwortete auf diese
Frage, sie könne sich an keinen ihrer Geburtstage und an kein Weihnachtsfest seit
ihrer Kindheit und bis in die Gegenwart erinnern. Wie bei allen Nachforschungen
dieser Art ist es auch hier wichtig, auf der Nennung spezifischer Beispiele zu beharren und diese genau zu untersuchen, um festzustellen, ob die Patientin den Sinn der
Frage verstanden hat und ob Faktoren wie Drogen- oder Alkoholkonsum im Spiel
sind, die das Problem verkomplizieren.
Fugue-ähnliche Erfahrungen kommen bei DIS häufig vor (Putnam et al. 1986).
Dabei kann es sich um »Mini-Fugues« handeln, Episoden, in denen Patienten nur
kurze Zeitspannen »verlieren« und in denen sie nur kurze Strecken reisen, aber auch
um ausgedehnte Fugues, wobei die Patienten möglicherweise in einem anderen Staat
oder Land »aufwachen«. In den meisten Fällen ist es die Gastgeber-Persönlichkeit,
die »zu sich kommt« und sich die Situation, in der sie sich befindet, nicht erklären
kann. Nach Erfahrungen dieser Art forsche ich, indem ich die Patienten frage, ob sie
sich jemals plötzlich an einem anderen Ort wiedergefunden und nicht gewußt haben,
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wie sie dorthin gekommen waren. Normale Menschen mögen zuweilen »wegtreten«,
wenn sie sich intensiv mit etwas beschäftigen; es kommt dann beispielsweise vor, daß
sie sich plötzlich in einem anderen Raum des Hauses wiederfinden und nicht wissen,
wie sie dorthin gekommen sind. Multiple hingegen finden sich in solchen Fällen eher
in einem völlig anderen Teil der Stadt wieder, oder sie fahren in einem Auto, ohne zu
wissen, wie sie in dieses hineingekommen sind oder wohin sie eigentlich fahren. Eine
Patientin hat dies einmal wie folgt zusammengefaßt: »Ich bin es leid, mich ständig an
Straßenecken stehen zu finden, wo ich die ›Gehen‹- und ›Warten‹-Signale beobachte,
ohne daß ich weiß, wie ich dort hingekommen bin.« Wenn eine Patientin über mehr
als eine längere Fugue-Episode berichtet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß
es sich um einen DIS-Fall handelt.
Fragen über Depersonalisation und Derealisation
Depersonalisations- und Derealisationserlebnisse sind ein wichtiges Symptom dissoziativer Störungen im allgemeinen und der DIS im besonderen (Putnam et al. 1986;
Bliss 1984b). Sie werden jedoch auch bei anderen psychiatrischen oder neurologischen Befunden beobachtet, beispielsweise bei Schizophrenie, psychotischer Depression und Schläfenlappenepilepsie. Vorübergehende Depersonalisationsempfindungen treten außerdem auch bei normalen Jugendlichen auf. Weiterhin kann
Depersonalisation Bestandteil einer Nahtoderfahrung von Normalen sein, die ein
schweres Trauma erlebt haben (Putnam 1985 a). Deshalb ist es wichtig, beim Forschen
nach Symptomen für Depersonalisation bzw. Derealisation eine bestimmte Differentialdiagnose vor Augen zu haben.
Gewöhnlich beginne ich meine Exploration in diesem Bereich, indem ich die Patienten frage, ob sie schon einmal festgestellt haben, daß sie sich beobachteten, als ob
sie eine andere Person anschauen oder sich selbst in einem Film sehen würden. Auf
diese Weise forsche ich nach Erlebnissen des Heraustretens aus dem eigenen Körper,
was mindestens der Hälfte aller Multiplen schon einmal erlebt hat. Oft beobachtet
die Gastgeber-Persönlichkeit eine andere Identität beim Ausführen einer bestimmten Aktivität. Die Patienten beschreiben dies vielfach als »sich selbst aus der Ferne beobachten«, wobei sie das Gefühl haben, ihr eigenes Tun nicht beeinflussen zu können.
Manchmal fühlen sie sich, als sähen sie sich von der Seite, als würden sie von oben
auf sich hinabschauen oder als würden sie sich von einer Position tief in ihrem eigenen Inneren aus beobachten. Solche Erlebnisse sind für DIS-Patienten meist sehr beängstigend, wohingegen Nicht-DIS-Patienten, die in Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen über ähnliches berichten, häufig äußern, sie hätten dabei ein Gefühl der
Losgelöstheit (detachment) oder tiefer Ruhe gehabt. In meiner Praxis haben Multiple
zwar oft zugegeben, daß sie sich außerhalb ihres eigenen Körpers erlebt hätten, doch
fiel ihnen gewöhnlich schwer, konkrete Beispiele dafür anzuführen. Diese Schwie-
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Die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung ◆
rigkeit scheint teilweise damit zusammenzuhängen, daß es für die Betreffenden sehr
belastend ist, sich an solche Erfahrung zu erinnern. Daß DIS-Patienten das Heraustreten aus ihrem eigenen Körper erleben, kommt sehr häufig vor, und auch Normale
erleben dies gelegentlich, wenn bei ihnen infolge lebensbedrohlicher Traumata vorübergehende dissoziative Reaktionen auftreten. Relativ selten hingegen kommen solche Erfahrungen bei Schizophrenie und anderen psychiatrischen Erkrankungen vor,
mit gelegentlichen Ausnahmen im Falle von Epilepsie.
Ich frage weiterhin nach anderen Formen von Depersonalisation und Derealisation, beispielsweise nach Gefühlen, nicht real zu sein, eine Maschine zu sein oder tot
zu sein, nach dem Gefühl, daß alle anderen und alles andere in der Welt irreal sind,
und dergleichen mehr. Erlebnisse dieser Art sind jedoch auch bei Schizophrenie, psychotischer Depression, Phobien oder Angststörungen und sogar bei Zwangsstörungen nicht selten; deshalb müssen positive Antworten auf Fragen zu diesem Bereich
im Kontext der umfassenderen Differentialdiagnose beurteilt werden.
Fragen über Erfahrungen im Alltagsleben
Wenn ein Mensch an DIS leidet, macht er in seinem Alltagsleben bestimmte Erfahrungen, die andere Menschen nur selten machen. Nachdem ich mehr als hundert
Patienten über ihr Leben mit DIS habe berichten hören, habe ich eine Liste von Erfahrungen zusammengestellt, die Multiple häufig im Alltag machen und die bei allen, die
nicht unter dieser Störung leiden, so gut wie nie vorkommen. Ein Vergleich meiner
eigenen Erkenntnisse mit denjenigen erfahrener DIS-Therapeuten bestätigt, daß die
im folgenden genannten Lebenserfahrungen bei DIS-Patienten häufig vorkommen.
Multiple werden oft als Lügner bezeichnet. Offensichtliches pathologisches Lügen
oder Abstreiten von Verhaltensweisen, die von Zeugen beobachtet wurden, ist einer
der wichtigsten Prädiktoren für DIS bei Kindern und Jugendlichen (Putnam 1985c).
Erwachsene DIS-Patienten erinnern sich oft daran, daß sie in ihrer Kindheit häufig
als Lügner bezeichnet wurden. Ich frage die Patienten deshalb, ob sie in ihrem Leben
oft des Lügens bezichtigt wurden, obwohl sie selbst in den betreffenden Fällen fest
davon überzeugt waren, die Wahrheit zu sagen. Zwar passiert uns allen dies gelegentlich, doch DIS-Patienten machen diese Erfahrung in ihrer Kindheit und auch noch
im Erwachsenenalter ziemlich oft. Die Folge ist, daß einige von ihnen als Erwachsene
eine Obsession für »die Wahrheit« entwickeln – was teilweise erklären könnte, weshalb diese Patienten so außerordentlich sensibel für jedes Abweichen des Therapeuten von der Wahrheit sind.
Multiple werden von anderen Menschen als Lügner angesehen, wenn sie leugnen,
Dinge getan zu haben, bei deren Ausführung sie beobachtet wurden. In den meisten
Fällen liegt dem zugrunde, daß die Persönlichkeit, die das Verhalten abstreitet, gegenüber den Aktivitäten einer anderen Persönlichkeit, die die betreffende Handlung aus-
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geführt hat, eine Amnesie hat. Aus den oben genannten Gründen sollte der Kliniker
in solchen Fällen versuchen, einige spezifische Beispiele zu sammeln, auch weil diese
zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie dazu beitragen können, der GastgeberPersönlichkeit Phänomene zu erklären, die diese sich bislang nicht erklären konnte.
Bei der Evaluation eines Patienten auf das mögliche Vorliegen von DIS ist es besonders nützlich, die Kindheitsgeschichte systematisch zu untersuchen. Dadurch können
mindestens zwei wichtige Arten von Informationen zutage gefördert werden. Die erste sind Beweise für große amnestische Lücken in der Erinnerung der Patienten an
ihre Kindheit, etwas, das bei DIS-Opfern sehr häufig vorkommt. Die zweite bezieht
sich darauf, ob die Betreffenden in ihrer Kindheit und Jugend bestimmte Dinge erlebt
haben, die bei Multiplen sehr häufig vorkommen. Ich habe festgestellt, daß es bei den
meisten Menschen am leichtesten ist, anhand der Geschichte des Schulbesuchs den
Lebenslauf zu rekapitulieren und signifikante Erinnerungslücken zu entdecken.
Generell sollte man Patienten zunächst fragen, wie weit sie sich zurückerinnern
können und von welchem Alter ab ihre Kindheitserinnerungen mehr oder weniger
kontinuierlich werden. Viele Menschen haben bruchstückhafte Erinnerungen etwa
vom Alter von zwei Jahren ab, und ihre Erinnerungen werden gewöhnlich erst vom
Alter von sechs Jahren an oder noch später kontinuierlicher. Etwa vom dritten oder
vierten Schuljahr ab (dem Alter von acht oder neun Jahren) können normale Menschen meist Jahr für Jahr beschreiben, wo sie gelebt haben, wo sie in der Schule waren,
welche wichtigen Freunde sie hatten und was bei ihnen zu Hause passiert ist. Meist
gehe ich mit den Patienten die Kindheit Schulklasse für Schulklasse durch und frage
sie jeweils, wo sie gelebt haben, wo sie in der Schule waren, wer ihre Lehrer waren,
ich lasse sie die Namen einiger besonders guter Freunde nennen, und sie berichten
über die Situation zu Hause in ihrer Familie. Außerdem frage ich sie nach ungewöhnlichen Erlebnissen oder Ereignissen in jedem Jahr.
Im Rahmen der klassenstufenweisen Befragung kann man auch danach forschen,
ob die Patienten als Lügner bezeichnet wurden, ob ihre schulischen Leistungen sehr
unterschiedlich waren (z. B. völliges Versagen in einem Halbjahr und Bestleistungen
im nächsten). Ich frage auch, ob sie jemals Tests und Hausarbeiten zurückbekommen haben, ohne daß sie sich erinnern konnten, diese geschrieben zu haben, oder ob
sie nachträglich entdeckt haben, daß sie an Kursen teilgenommen hatten, an die sie
nicht die geringste Erinnerung hatten. Eine weitere Erfahrung, die DIS-Patienten in
ihrer Kindheit häufig machen, besteht darin, daß sie das Gefühl haben, allen in ihrer
Klasse außer ihnen sei etwas Bestimmtes gesagt worden (Kluft 1985 a). Bei vielen DISPatienten weisen die Kindheitserinnerungen starke Lücken auf, und Aussagen wie:
»Ich kann mich vom siebten bis zum neunten Schuljahr an nichts erinnern« oder:
»Ich kann mich an nichts mehr erinnern, was passiert ist, bevor ich sechzehn war«,
sind nicht ungewöhnlich.
Leseprobe aus Frank W. Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung.
© der deutschen ausgabe: G.P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2013
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