ADHS bei Erwachsenen Christoph Fuhrhans Kirsten Kohler Übersicht: • Einleitung Fu • Symptome Fu, Ko • Diagnostik Ko • Differentialdiagnostik und Komorbidität Fu • Therapie Fu 3 Kasuistik Er war ein schlechter und bei den Lehrern unbeliebter Schüler. Obwohl er auf ein Gymnasium ging und zu Höchstleistungen durchaus im Stande war, verabscheute er Mathematik und auch ansonsten kam er nur schwer mit der Institution Schule klar. Später fiel er durch seine Unordentlichkeit und enorme Vergesslichkeit auf. So verlegte er überall wo er hinkam, ob daheim, ob auswärts, sein Eigentum; nicht nur Schirm und Schlüssel, sondern auch wichtige Papiere und Portemonnaies. Einen Führerschein hat er nie gemacht. Er antwortete oft unbedacht und hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Von ihm stammt der Auspruch: „Ordnung braucht nur der Dumme – das Genie beherrscht das Chaos“ 4 Wer wars? 5 Warum ADHS diagnostizieren? „Eine adäquate Diagnose und Therapie der ADHS im Erwachsenenalter ist notwendiger Bestandteil der medizinischen Versorgung. Die Störung ist erstens häufig (im Kindesalter 4-5%) und sie führt zweitens zu krankheitswertigen psychischen und sozialen (bis hin zu forensisch relevanten) Beeinträchtigungen. Sie ist drittens ein Risikofaktor für eine grosse Zahl von komorbiden anderen psychischen Störungen, v.a. Suchterkrankungen, affektiven Störungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Sie ist viertens suffizient therapierbar.“ Leitlinie "ADHS im Erwachsenenalter", Ebert et al. 2003 6 ADHS bei Erwachsenen • Bis vor 20 Jahren (1985) nur ADHS des Kindesalters bekannt • 30% – 50% der ADHS persistieren ins Erwachsenenalter • Hyperkinetik nimmt ab, Aufmerksamkeitsdefizit nicht • Komorbidität nimmt zu: ca. 50% im Kindesalter, ca. 80% im Erwachsenenalter 7 Neuropsychologische „Grundstörung“ Mangelnde Reizhemmung • Impulse können schlecht kontrolliert werden, auch wenn sie mit Bestrafung / Nichtverstärkung verbunden sind • Antwortprozesse sind beschleunigt und können nicht unterbrochen werden • Aufmerksamkeit kann nicht gehalten werden • sensation seeking Douglas 1989, Barkley 1997, Tannock 1998 8 Biosoziales Modell Ursachen Prozesse genetische Disposition Störung des Neurotransmitterstoffechsels (v.a. Dopaminmangel im Striatum, auch Noradrenalin und Serotonin beteiligt) (Andere?) Störung der Selbstregulation (mangelnde Impulshemmung) » Des Arbeitsgedächtnisses » Der Regulation von Affekt, Motivation Aufmerksamkeit » Der Sprache Ebenen Biochemie + Neurophysiologie Neuropsychologie Hyperkinetische Symptome » Aufmerksamkeitsschwäche » Impulsivität » Hyperaktivität ungünstige soziale Bedingungen Zunahme an negativen Interaktionen mit Bezugspersonen Interaktionen Komorbidität » Leistungedefizit » Aggressives verhalten » Emotionale Störungen (n. Döpfner et al. 2000) 9 ADHS-Symptome im Erwachsenenalter • • • • • • • • • • • Aufmerksamkeitsdefizite Innere Unruhe, Hypersensibilität (Geräusche) Desorganisiertheit Impulsivität (Nicht-Warten-Können) Stimmungsschwankungen Bleibt hinter den Möglichkeiten zurück Probleme mit Routinearbeiten und Disziplin Stellenwechsel, Kündigungen Beziehungsabbrüche Wohnortwechsel, „ganz neue Existenz“ Komorbidität (Sucht, Depression, Traumastörung etc.) aus: Hesslinger et al. 2003 • Ressourcen? 10 ADHS-Symptome im Erwachsenenalter • Defizite • Energie • Neugier • Risikobereitschaft • Kreativität • Phantasie • gesteigerte Auffassungsfähigkeit • „genialer Chaot“ • Anpassungsfähigkeit • „Hyperfokussieren“ (Ziel verfolgen, das fasziniert …) 11 Differenzialdiagnose bei ADHS Psychisch • Persönlichkeitsstörung • Affektive Störung (rapid cycling, Atypische Depression, RBD) • „Blande Psychose“ Somatisch • Schilddrüse! u.a. „Endokrines Psychosyndrom“ • Akuter exogener Reaktionstyp n. Bonhoeffer • Epilepsie / Absencen, oder „Interiktale Dysphorische Störung, IDD“ n. Blumer 12 Komorbidität bei ADHS Affektive Coffee and Cigarettes Störung Sucht Tics Drogen Dissoziale PersönlichkeitsStörung Zwang ADHS Borderline Persönlichkeitsstörung Traumastörung 13 ADHS und Substanzmissbrauch: Drogen • Leicht bis allenfalls mässig2 erhöhtes Risiko bei „reiner“ unbehandelter ADHS (als Folge von 1a. Impulsivität, 1b. sozialer Ausgrenzung, 2. als beruhigende Selbstmedikation1) • Deutlich erhöhtes Risiko bei Erwachsenen, die als Kinder eine Kombination aus ADHS + Störung des Sozialverhaltens (ICD-10 F90.1) aufwiesen4 die eine Komorbidität mit dissozialer3 Persönlichkeit aufweisen. • Kein Risiko: Behandelte ADHS! 1:Khantzian 1990, 2:Biederman 1993, 3:Schubiner 2000, 4:Modestin 2001 14 ADHS und Substanzmissbrauch: Alkohol, Koffein, Nikotin • Deutlich erhöhtes Risiko für Alkoholmissbrauch/ abhängigkeit (30% – 50% der Betroffenen) • Auch hier gehäufte Komorbidität zu antisozialer Persönlichkeitsstörung • Grosse Mengen Koffein (morgens Kaffee und Zigarette) • Deutlich erhöhtes Risiko für Nikotinabusus • Auch bei Erwachsenen mit remittiertem Kindheits-ADHS • Nikotin erhöht (nur) bei ADHS die striatale DopaminKonzentration >> Beruhigung, Fokussierung 15 Nikotin: warum rauchen ADHS-Patienten? DopamintransporterDichte im Striatum [STR-BKG]/BKG 1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 ADHS mit ohne Kontrollpersonen Hyperaktivität Nichtraucher Raucher Krause u. Krause 1998, Krause et al. 2003 16 ADHS und Depression • Besonders häufige, kurze depressive Episoden ähnlich RBD (3-5 Tage, 10 – 15 x jährlich) • Oftmals typische Aufhellbarkeit (DD major depression) • Aber auch major depression häufig (LP 35%) • DD erschwert bei Frauen ohne Hyperaktivität und langer Kompensationsfähigkeit (Fehldiagnose: „Involutionsdepression“) 17 ADHS und Persönlichkeitsstörungen • Borderline-Persönlichkeitsstörung: • Differenzialdiagnose schwierig (Kriterienüberlappung), aber auch echte Komorbidität häufig • DD: ADHS-Patienten in der Kindheit hyperaktiv und risikobereit, Borderline-Pat. eher zurückgezogen und ängstlich • Impulsivität: bei ADHS eher reaktiv (Kränkbarkeit), bei Borderline eher anhaltend (Gereiztheit) • Narzisstische Persönlichkeitsstörung: • Kriterienüberlappung: Kränkbarkeit, Launenhaftigkeit, mangelnde Empathie, Sozialphobie mit kompensatorischer „Arroganz“, „egozentrisches“ Dazwischenreden u. Monologisieren „oraler Flipper“, „Null-Bock-“ und „Spassgesellschaft“ • Antisoziale Persönlichkeitsstörung 18 ADHS bei Frauen • Oftmals hypoaktiver Subtyp - „desorganized ADD“ – verträumt und zurückgezogen • In der Grundschule oft keine Auffälligkeiten, späterer Knick, Diagnose schwierig • Auch perfektionistischer, leistungsorientierter Subtyp (Coping) – „highly structured ADD“ • damit ist ADHS evtl. nicht seltener bei Frauen • Zusammenhang von ADHS und Esssörungen: • Binge-Eating und Bulimie: Essanfälle zur Beruhigung via Kohlehydratausgleich (frontale verminderte Glucoseaktivität?), impulsives Essen und Erbrechen • Anorexie als Copingstrategie (?) 19 ADHS bei Hochbegabten • Etliche bei hochbegabten beschriebenen Verhaltensweisen (Hypersensibilität, Impulsivität, motorische Unruhe und Abgelenktheit) können Anlass zur Verwechslung mit ADHS geben • Andererseits kann ein unbehandeltes ADHS eine Hochbegabung (IQ > 130) maskieren 20 Therapien des ADHS • Pharmakotherapie • Stimulanzien • Antidepressiva • Psychotherapie • Gruppentherapie, z.B. n. Hesslinger et al. • Einzeltherapie • „Coaching“-Ansatz, n. Ryffel-Rawak et al. 21 Pharmakotherapie • 1. Wahl: Methylphenidat • Ritalin (sofortwirksam, IR) 10 mg 2–4h • Ritalin SR (retardiert) 20 mg 6–8h • Ritalin LA (sofort +retardiert) 20 mg 6–8h 8 – 10 h • Concerta (sofort und sehr retardiert, ER), 18+ mg Dosierung: Titrieren nach Schema, Faustregel 1mg/kg KG, dann Umstellen auf länger wirksames + eventuell Abendosis • 2. Wahl: D-L-Amphetamin • (3. Wahl: Atomoxetin) • 3. Wahl: Antidepressivum • Noradrenerges: Reboxetin, Desipramin • Kombiniert: Venlafaxin 22 Psychotherapie: Gruppentherapie • Frage: „Für welche der ADHS ähnliche Störung gibt es bereits ein wirksames Therapieverfahren?“ • Antwort: Für die Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt es die Dialektisch-Behaviorale Therapie n. M. Linehan (DBT). Es liegt ein Behandlungsmanual vor. • Hesslinger et al. modifizieren die DBTFertigkeitengruppe und entwickeln das „Skillstraining für ADHS-Patienten“(2003): Aufmerksamkeits – und Konzentrationsdefizite „Achtsamkeitstraining“ Affektive Instabilität „Emotionsregulation“ Impulsivität „Stresstoleranz“ Zwischenmenschliche Probleme „Zwischenmenschliche Fertigkeiten“ 23 Psychotherapie: Einzeltherapie Ist ADHS des Erwachsenenalters eine Persönlichkeitsstörung? Mögliche Verfahren, auch in Abhängigkeit von Komorbidität • Psychodynamische Therapien (Strukturbezogene Psychotherapie n. Rudolf) • Schematherapie n. Young • Paartherapie (!) • insgesamt bewähren sich vermutlich Verfahren, die die Selbstwirksamkeit (Bandura) verstärken 24 „Coaching“ • Entwickelt von D. Ryffel-Rawak et al. (2003 ff) • Prinzip: eine dem Patienten zugeordnete nicht-fachtherapeutische Bezugsperson unterstützt ihn bei • Identifikation aktueller Schwierigkeiten, Hierarchisierung • Planen und Strukturieren • Übernimmt Teil des Zeitmanagements • Kontrolliert Erfolge • Gibt emotionale Unterstützung • Vorgehen ist sehr störungsorientiert, ähnlich dem „Validieren“ (bzw. den Telephonanrufen) in der DBT 25 ADHS und die moderne Gesellschaft Thom Hartmann (1997): „Farmer“ Normalverteilung „Hunter“ 26 Für den steinzeitlichen Jäger sind Wachheit, Kreativität, Risikobereitschaft und die Fähigkeit zum Hyperfokussieren überlebensnotwendig … 27 Neugier ist bei ihm schon automatisch mit beständiger Achtsamkeit verbunden sonst käme er nicht weit … 28 Bis in die jüngere Vergangenheit hinein suchten sich „Jäger“ immer wieder die Notwendigkeit zum Hyperfokussieren und zu schneller, flexibler Anpassung 29 Auch gegenwärtig gibt es Menschen, die diese Tradition fortführen - und vermutlich nicht unter ADHS leiden 30 … und andere, die ihre Veranlagung zu Risikobereitschaft und Hyperfokussieren möglicherweise nur ungenügend ausleben können - und damit ein erhöhtes ADHS-Risiko aufweisen: 31 Frage: Sind • „Erlebnisgesellschaft“ (G. Schulze), „Spassgesellschaft“, „Multioptionsgesellschaft“ (P. Gross),“Erfahrungshunger“ (M. Rutschky) • Erlebnispädagogik, Eventmanagement, „Kunst zum Anfassen“ und ADHS die neuro-soziologische Antwort auf • zunehmende Ent-Nomadisierung, Automatisierung und Monotonisierung der Arbeitsabläufe in der arbeitsteiligen Gesellschaft ? 32 Vielen Dank! Literatur (kleine Auswahl): Hallowell und Ratey: Zwanghaft zerstreut (Rowohlt 1999) Hartmann: ADD – Eine andere Art, die Welt zu sehen (Schmidt-Römhild 1997) Krause und Krause: ADHS im Erwachsenenalter (Schattauer 2002) Hesslinger, Philipsen, Richter: Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter (Göttingen 2003) www: www.adhs.ch www.sg-adhs.ch 33