Urs Stäheli Poststrukturalistische Soziologien Die Beiträge der Reihe Einsichten werden durch Materialien im Internet ergänzt, die Sie unter www.transcript-verlag.de abrufen können. Das zu den einzelnen Titeln bereitgestellte Leserforum bietet die Möglichkeit, Kommentare und Anregungen zu veröffentlichen. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme! Die Deutsche Bibliothek • CIP-Einheitsaufnahme Stäheli, Urs: Poststrukturalistische Soziologien / Urs Stäheli. – Bielefeld : transcript Verl., 2000 (Einsichten) ISBN 3-933127-11-4 © 2000 transcript Verlag, Bielefeld Gestaltung: orange|rot, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-933127-11-4 Inhalt 5 Einleitung: Spurensuche 16 Die Einheit der Struktur und ihre Dezentrierung 17 De Saussures zeichentheoretisches Modell Der anthropologische Strukturalismus von Lévi-Strauss: Strukturen und Nullwert Die Dekonstruktion der Struktur 20 22 26 28 33 42 43 44 45 47 50 54 58 62 65 Die Soziologie und ihre Gegenstände: »Das Ende des Sozialen« und »Die Unmöglichkeit der Gesellschaft« Das Ende des Sozialen (Baudrillard) Die Unmöglichkeit der Gesellschaft (Laclau / Mouffe) Geschichte und Modernität: Das Ende der Meta-Narrative und Genealogie Inkommensurable Sprachspiele Genealogie der Machtverhältnisse Sozialtheoretische Weiterführungen Die Dekonstruktion des Subjekts Subjektpositionen (Foucault) Das Insistieren des Unbewussten (Žižek) Der Dualismus von Struktur / Handlung nach der Dekonstruktion des Subjekts Poststrukturalistische Analysen von Identitäten Singularitäten und Differenzen 68 Konturen einer ›spektralen Soziologie‹ 73 Anmerkungen 79 Literatur Einleitung: Spurensuche In David Lynchs Film Blue Velvet (1986) findet der Protagonist auf seinem Heimweg in einer US-amerikanischen Vorstadtsiedlung plötzlich ein abgeschnittenes Ohr, das in starker Vergrößerung gezeigt wird; die Szene ist zudem mit einem aufdringlichen Soundtrack unterlegt. Der Effekt dieses deplatzierten und von Ameisen belebten Ohrs ist im buchstäblichen Sinn un-heimlich (vgl. Žižek 1993: 169): Das Ohr hat seinen angestammten Platz verlassen, und es legt sich scheinbar motivationslos und verquer in die Filmerzählung; mehr noch, es unterbricht die Kontinuität des Films, indem es als Fremdkörper eine undefinierbare Position einnimmt. Die Schwierigkeit, mit der uns diese Szene konfrontiert, ergibt sich aus dem Aufbrechen eines Sinnhorizontes, aus dem Insistieren eines Fleckens, über den man nicht hinwegsehen kann. Das deplatzierte Ohr konfrontiert die ZuschauerInnen mit einer Bedeutungsleere, von der sie sich gleichzeitig angezogen wie auch abgestoßen fühlen: Einerseits verunsichert dieses auf dem hyperrealen Rasen liegende Ohr, da wir es nicht einordnen, aber auch nicht einfach ignorieren können, andererseits fasziniert gerade die Erfahrung, dass Sinnprozesse entgleiten und scheitern können. Es ist dieses Insistieren auf ein Moment des Sinnbruchs, das viele jener Theorien charakterisiert, die man häufig auf irreführende Weise unter dem Stichwort ›Poststrukturalismus‹ zusammenfasst. Dies heißt keineswegs, dass alle poststrukturalistischen Theorien sich ausschließlich für Sinnprozesse interessieren. Vielmehr wird das Versagen einer hermeneutischen Perspektive, die den eigentlichen Sinn (sei dieser z. B. die alles bestimmende Ökonomie oder eine Form von kultureller Authentizität) zu sichern sucht, im Poststrukturalismus ernst genommen. Dadurch eröffnen sich zwei Wege für poststrukturalistisches Denken: einerseits das erwähnte Interesse am Scheitern von Sinnprozessen, indem das unendliche Gleiten des Sinns zum Ausgangspunkt genommen wird (vgl. z. B. Derrida und Lacan); andererseits eine Skepsis gegenüber Sinntheorien und die Suche nach Begrifflichkeiten, die es erlauben, das sinntheoretische Vokabular zu ersetzen (vgl. z. B. Foucault oder Deleuze / Guattari). Diese beiden Perspektiven müssen sich nicht ausschließen, verweisen aber doch auf unterschiedliche Umgangsweisen 5 mit Sinn nach dem Versagen hermeneutischer Sinnmodelle. Im Folgenden werden beide Perspektiven vorgestellt, aber das Interesse an einer Soziologie der Sinnbrüche und -dislokationen soll hierbei im Vordergrund stehen. ›Poststrukturalismus‹ steht denn auch nicht für eine einheitliche Theorie oder wissenschaftliche Methode, um derartige dunkle und manchmal kaum wahrnehmbare Flecken im Sinnhaften aufzuzeigen.1 Die unter diesem Namen entwickelten Theorien sind zu unterschiedlich und zwischen ihnen herrscht häufig eine alles andere als freundnachbarschaftliche Beziehung. Viele TheoretikerInnen wehren sich denn auch deutlich gegen das Etikett. Statt von einer eigenen Theorieschule zu sprechen, nehmen die ›poststrukturalistischen Soziologien‹ die Position eines Parasiten ein (vgl. Serres 1981): den Status eines Gastes, der von den etablierten Unterscheidungen der Soziologie lebt (wie z. B. Handlung / Struktur) und sie unterminiert. Diese Einführung vertritt, um die Vielfalt von Interventionen zu unterstreichen, ein weites Verständnis von Poststrukturalismen, ohne es als label einer einheitlichen Theorieschule verwenden zu wollen. Zu jenen TheoretikerInnen, die als PoststrukturalistInnen bezeichnet werden, gehören etwa Gilles Deleuze (1925–1995) / Felix Guattari (1930–1992) und ihre SchizoAnalyse, Jacques Lacans (1901–1981) Psychoanalyse, Michel Foucaults (1926–1984) Macht / Wissens-Analysen, Jean-François Lyotards (1924–1998) Analyse des postmodernen Wissens und von différends, Jean Baudrillards Simulationstheorie, die mit Jacques Derrida identifizierte Dekonstruktion, die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelte dekonstruktive Theorie des Politischen wie auch der diskurstheoretische Feminismus von Judith Butler. Poststrukturalistische Konzepte werden für soziologische Theorien nicht zuletzt deshalb relevant, weil durch diese Konzepte die basalen Kategorien der Soziologie (wie z. B. Handlung, Subjekt, Struktur, Gesellschaft, Sozialstruktur / Semantik) in Frage gestellt werden. Alvin Gouldner (1974) hatte bereits Mitte der siebziger Jahre eine Krise der Soziologie festgestellt, da sie ihre einheitsverbürgenden Theorien aufgeben musste. Sowohl der Marxismus wie auch der Parsons’sche Funktionalismus wurden als gescheiterte Versuche betrachtet, der Soziologie eine fachuniversale Theorie anzubieten. Diese problematische Lage der Soziologie wird 6 durch poststrukturalistische Perspektiven zugespitzt, da nun gut etablierte Kategorien, welche die Krise der siebziger Jahre noch unbeschadet überstanden hatten, ihre unangefochtene Stellung verlieren. Als weitsichtige Parasiten entziehen die poststrukturalistischen Interventionen ihrem Gastgeber aber nicht die Lebensgrundlage – denn dies würde die eigene Aktivität gefährden. Dennoch ist die zuweilen gespenstische Gegenwart dieses Parasiten nicht folgenlos für die Soziologie. An die Stelle eines stabilen, geschlossenen Gegenstandes wie Gesellschaft tritt nun eine Untersuchung des Scheiterns der Gegenstandskonstitution – ein Scheitern, das immer auch die Eröffnung neuer (Denk-)Möglichkeiten beinhaltet. Vielleicht könnte man also am ehesten von einer wahlverwandten theoretischen Geste der verschiedenen poststrukturalistischen Positionierungen sprechen; präziser, es geht um eine Doppel-Geste, die auf einen Sinnbruch verweist, ohne diesen Riss wieder in Sinn aufgehen zu lassen. Denn das Problem, das theoretisch und analytisch zu erfassen wäre und das – wie das abgeschnittene Ohr – keinen Sinn macht, besteht nicht zuletzt darin, etwas von dieser Irritation zu bewahren. Nur so kann es gelingen, Brüche und Risse nicht wieder in eine abgerundete, totalisierende theoretische Erzählung einzufügen. Diese Selbstreflexivität und das Wissen um das eigene Scheitern – muss doch jeder Theoretisierungsversuch gleichzeitig auch totalisierend vorgehen – macht poststrukturalistische Texte häufig so schwer lesbar, scheinen sie doch mit jeder ihrer Aussagen sich sogleich wieder das eigene Fundament zu entziehen. Es ginge also nicht einfach darum, eine soziologische Erzählung zu entwickeln, die erklärt, warum das abgeschnittene Ohr letztlich doch sinnvoll ist – indem z. B. eine Hintergrundgeschichte über einen Tathergang erzählt wird. Stattdessen versucht eine poststrukturalistische Strategie zwei Dinge zur gleichen Zeit: eine sinnvolle Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig eine Irritation zurücklässt. Ein derartiges Interesse an zusammenbrechenden Sinnstrukturen und am Un-Heimlichen erinnert an avantgardistische literarische und künstlerische Praktiken. Viele der poststrukturalistischen DenkerInnen sind denn auch maßgeblich durch künstlerische Avantgarden beeinflusst: Man denke etwa an die Bedeutung des Dadaismus für Jacques La- 7 can, an Paul Valéry für Jacques Derrida oder an Lautréamont für Julia Kristeva. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, dass die verschiedenen Poststrukturalismen vornehmlich in literaturwissenschaftlichen Instituten rezipiert worden sind. Sie haben im anglo-amerikanischen Raum sogar zum neuen Genre der theory geführt (vgl. Culler 1988; Derrida 1997a). Theory ist nicht mehr disziplinär begrenzte Literaturtheorie, sondern sprengt die Grenzen der Literatur gerade durch ihr Interesse an grundlegenden Fragen des Scheiterns von Sinnprozessen und der Materialität von Sinn.2 Die Herausforderung der Poststrukturalismen an die Soziologie besteht darin, Mittel zu finden, um den Zusammenbruch von Sinn nicht als ausschließlich ästhetisches Phänomen oder philosophisches Problem zu konzipieren, sondern diese Figuren in einem soziologischen Kontext zu zitieren. Eine notwendige Voraussetzung für diese Verschiebung ist freilich, dass das Soziale ebenfalls als diskursives Verhältnis gedacht wird. Damit ist die konstitutive Rolle von Sinnprozessen für die Konstitution des Sozialen gemeint. Breite Strömungen der Soziologie, insbesondere die phänomenologische Soziologie, haben versucht, Gesellschaft als sinnhafte Konstruktion zu analysieren. Im Poststrukturalismus wird einerseits implizit an diese Traditionen angeschlossen, indem Gesellschaft als diskursives Phänomen analysiert wird. Andererseits werden aber gerade die Unmöglichkeit vollständigen Sinns, das Scheitern und Verzögern von Sinnprozessen wie auch vielfältige Dislokationen betont. Aus dieser Perspektive gibt es nicht die Gesellschaft als objektiven Gegenstand, sondern verschiedene prekäre Diskursivierungsweisen von Gesellschaft. Diskurstheorie erweist sich hier als eine konstruktivistische Theorie, die sich insbesondere für die umkämpfte Natur von diskursiven Konstruktionen interessiert. Mit der Feststellung, dass Gesellschaft immer diskursiv konstituiert ist, wird keineswegs behauptet, dass sie ein rein sprachliches Phänomen sei. Die Diskurstheorie benutzt die Analogie von Sprache, um aufzuzeigen, dass Gesellschaft wie sprachliche Diskurse über Differenzen strukturiert ist.3 Ich werde im zweiten Kapitel durch eine Auseinandersetzung mit Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss den Differenzbegriff genauer bestimmen. Dennoch sei hier bereits auf die hervorragende Bedeutung des Differenzbegriffs für eine poststrukturalistische Soziologie hingewiesen. Gesell- 8