Ein längst fälliger Paradigmawechsel in der Suchtmedizin?

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Ein längst fälliger Paradigmawechsel in der Suchtmedizin?
von Dr. med. Daniel Beutler-Hohenberger
Opiatabhängigkeit ist nicht primär ein psychologisches oder psychosoziales Problem, sondern eine
hirnorganische und daher korrigierbare Störung auf Ebene nicht korrekt funktionierender
Opiatrezeptoren im Gehirn. Diese Aussage steht im Gegensatz zur gängigen Lehrmeinung der
Suchtmedizin, die Opiatabhängigkeit sei eine chronische Krankheit, welche mittels Substitution
behandelt werden müsse.
Von dieser Erkenntnis abgeleitet wird das Verfahren der sogenannten „beschleunigten Regulation
des Nervensystems“, kurz ANR - Accelerated Neuroregulation. Dies ist ein medikamentöses
Verfahren, bei welchem über eine differenzierte Blockade der Opiatrezeptoren im Gehirn die
Abhängigkeit behoben und gleichzeitig die physiologische Funktion des körpereigenen
Endorphinsystems wieder hergestellt wird. Der israelische Arzt Dr. André Waismann hat diese
Methode, deren grundlegendes Funktionsprinzip eigentlich seit Jahrzehnten bekannt ist,
weiterentwickelt und so über 18'000 Patienten wirksam und sicher behandelt.
Als medizinisch Verantwortlicher einer Fachklinik für Drogenentzug hatte ich mich schon öfters mit
sogenannten „Turbo-Entzugsverfahren“ auseinandergesetzt. Besonders oft begegnete mir dabei der
Name des russischen Mediziners Dr. Zobin, der die Entzugspatienten in einen Tiefschlaf versetzt,
geheimnisvolle Elektroden anbringt und Substanzen spritzt, deren Rezeptur er wohlweislich
geheimhält – verdient er doch pro Fall gegen 15‘000 Dollar. Dementsprechend skeptisch war ich, als
ich vom israelischen Arzt Dr. André Waismann hörte und diese Skepsis erhärtete sich, als die
Internetrecherche lediglich eine einzige Studie zutage brachte. Diese Publikation aus dem Jahre 1998
zeigte gewisse Parallelen zu den sogenannten „Rapid Detoxification“ Verfahren, welche mehrheitlich
von Psychologen und Psychiatern angewandt wurden und eben nicht selten in fatalen
Komplikationen endeten.
Waismann aber entwickelte dieses Verfahren als Intensivmediziner und Anästhesiologe und
beschritt so den sicheren Weg im geschützten Rahmen einer Intensivstation mit entsprechend
geschultem Personal in einem öffentlichen Spital und rascher Verfügbarkeit von Spezialisten.
Insbesondere verfeinerte er seine Methode auf die Weise, dass durch eine nicht komplette, sondern
sorgfältig austarierte Blockade der Opiatrezeptoren eine Stimulation des körpereigenen
Opiatsystems (über die sogenannten Endorphine) ermöglicht wird. Diese Tatsache weckte mein
Interesse, so dass ich im Februar 2012 nach Israel reiste und Waismann in seinem Büro in Ashkelon
besuchte. Der mehrstündige fachliche Austausch mit ihm überzeugte mich - ANR ist eine wirksame,
zweckmässige und sichere Methode zur Behandlung der Opiatabhängigkeit!
Die kontinuierliche Einnahme von Opiaten verursacht eine Abhängigkeit im Sinne einer Fehlfunktion
des zentralen Nervensystems. Die Hauptsymptome dieser Störung sind Entzugserscheinungen und
ein starkes Verlangen nach der Substanz. Diese gehen auf eine gestörte Funktionalität und
"Überreizung" der Opiatrezeptoren im Gehirn zurück. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um legale
Substanzen wie z.B. ärztlich verschriebene Medikamente oder um illegale Drogen, respektive
Substitutionsmedikamente handelt. Die Regulation mittels differenzierter Blockade der
Opiatrezeptoren geschieht durch Medikamente vom Typ der sog. Opiatantagonisten. Dadurch
setzt ein beschleunigtes Entzugssyndrom ein, das mittels eines Anästhesieverfahrens vom Patienten
unbemerkt abläuft. Das bedeutet, dass mittels ANR sowohl die Opiatabhängigkeit, wie auch deren
Entzugssymptome erfolgreich und nachhaltig behandelt werden. Die Behandlung ist effizient und
sicher und deren pharmakodynamisches Prinzip wissenschaftlich gut dokumentiert.
Die neu gewonnene Überzeugung, dass ein gemeinsamer Nenner der Abhängigkeit von süchtig
geborenen Babys, Strassenjunkies und analgetikaabhängigen Kriegshelden besteht und dass ANR
eine valable Behandlungsoption darstellt, führte mich anfangs Mai 2012 erneut nach Israel. Dieses
Mal zusammen mit zwei Patienten, deren suchtspezifischer Hintergrund unterschiedlicher kaum sein
könnte.
Der eine ist T.L., ein 40-jähriger ehemaliger Spitzensportler, Abfahrtstalent im Nachwuchskader der
alpinen Skifahrer. Ein schwerer Unfall wirft ihn körperlich und psychisch aus der Bahn – der
Zusammenprall mit einem Skitouristen, der sich mitten auf die Abfahrtspiste verirrt hatte, lässt eine
Schädelfraktur, ein mehrtägiges Koma, mehrere Operationen und eine gescheiterte Sportlerkarriere
zurück. Er hatte grosse Mühe nach diesem Knick wieder Fuss zu fassen, geriet an falsche Freunde,
welche ihm die fehlenden Adrenalinkicks mit Drogencocktails aus Heroin und Kokain ersetzten.
Daraus wurde eine klassische Drogenkarriere mit Platzspitz, Letten und mehreren Entzugs- und
Therapieversuchen. Bei mir in der Praxis erhielt er nach rund 20-jähriger Suchtgeschichte Methadon,
zwischen 10 und 20 Milligramm, gerade genug, um den illegalen Nebenkonsum von Heroin auf einem
„vernünftigen“, sozial verträglichen Mass zu halten. Das wahre Ausmass des Beikonsums erfuhr ich
erst in Israel, als er Dr. Waismann unter dem Eindruck potentieller Komplikationen des
Anästhesieverfahrens sämtliche Fakten auf den Tisch legte – wie ein Taschendieb sein Diebesgut,
nachdem er erwischt wurde. Ein ausserordentlich wichtiger Schritt – die ungeschminkte Akzeptanz
der eigenen Suchtgeschichte. ..
Damit tat sich auch S.R., ein 45-jähriger kantonaler Chefbeamte sehr schwer, zumal er überzeugt
war, nicht von Opiaten abhängig zu sein. Er erkrankte vor rund sechs Jahren an einer Gürtelrose
(Herpes zoster) und als Folge davon an einer sogenannten postherpetischen Neuropathie. Diese eher
seltene Komplikation manifestiert sich durch heftigste (Nerven-) Schmerzen in den befallenen
Hautarealen. „Es fühlte sich an, als ob mir jemand ein Messer in die Brustwand stecke und zwischen
den Rippen herumbohrte…“, sagt S.R. - „schon bald konnte mir mein Hausarzt mit den gängigen
Medikamenten nicht mehr helfen und verwies mich an eine Schmerzklinik“. Dort seien alle Register
gezogen worden, u.a. der Einbau eines sogenannten Neurostimulators. Dieses mehrere tausend
Franken teure Gerät versucht, die schmerzhaften Nervenimpulse durch eine Art „Gegenstrom“
abzuschwächen oder sogar auszulöschen. Trotz dieser apparativen Hilfe stiegen die Schmerzen ins
Unermessliche, insbesondere als das Gerät wegen einer Infektion wieder entfernt werden musste.
Die behandelnden Ärzte geben ihm opiathaltige Schmerzmittel, welche in der Folge bis auf die
zehnfache Normaldosis gesteigert werden mussten. Herr R. gerät dadurch für mehrere Jahre in eine
schwere Opiatabhängigkeit, die ihm das Leben zusätzlich erschwert. Das Fatale an dieser Situation
ist, dass die Opiate den Schmerz unter Umständen auf einem erhöhten Niveau aufrecht erhalten –
ein bekanntes Dilemma, so dass die behandelnden Ärzte Herrn S. dringend zu einer
Entzugsbehandlung rieten. Unter Tränen erzählt er, wie gerne er doch mit seinem Sohn einmal
Fussball spielen möchte.
„Ihr kommt aus einem Land mit einem der modernsten und teuersten Gesundheitswesen in den
Nahen Osten, 10 km neben Gaza in ein Spital, das alle paar Wochen wegen Raketenangriffen den
Betrieb einstellen muss, damit eure Patienten nach den Prinzipien der modernen Medizin behandelt
werden…“,
lächelt Waismann mit seinem brasilianischen Schalk. Dabei beobachtet er die Monitore der beiden
Patienten, die nach einer gründlichen Untersuchung und allerlei Vorbereitungen an ein
Beatmungsgerät angeschlossen und nach einer Gewöhnungszeit mit ihrer ersten Dosis Naltrexon
(Opiatantagonist) versorgt wurden. Er und sein erfahrenes Anästhesieteam erklären jeden Schritt –
da ist nichts Geheimnisvolles oder medizinisch bedenkliches wie bei Dr. Zobin in Russland – ganz
einfach nachvollziehbare Medizin auf einem extrem hohen Niveau! Es existiert kein Kochbuch,
keine Anleitung, wo geschrieben steht, wieviel Patient X von Substanz Y erhält. Das ganze Verfahren
basiert auf der Patientenbeobachtung – jede Zuckung, vermehrtes Schwitzen, jeder Abfall der
Sauerstoffsättigung und jede Blutdruckschwankung wird registriert und führt allenfalls zu einer
Änderung der Behandlungsparameter. „In Brasilien hatten wir in den Spitälern kein MRI, keinen
Ultraschall und oft nur ein rudimentäres Röntgen und Labor, so dass der Patientenbeobachtung eine
enorme Bedeutung zukam“, sagt Waismann. Ein Blick auf die Monitore und Infusionsautomaten zeigt
mir, dass beide Patienten eine individuelle Behandlung erhalten, wobei bei beiden die Narkose
relativ flach gehalten wird, damit alle Zeichen des Entzugssyndroms erfasst und so die nächste Dosis
Naltrexon ermittelt werden kann.
Mit nur einer einzigen wissenschaftlichen Publikation und dementsprechend viel Überzeugungsarbeit
- mehrheitlich in persönlichen Gesprächen und am Patientenbett - wurde er durch das
Gesundheitsministerium in Israel akkreditiert und arbeitet heute an einem öffentlichen Spital.
„Eigentlich möchte ich nicht, dass ihr mit den Abhängigen nach Israel kommt, sondern mit euren
Ärzten – dann kann ich euch meine Methode beibringen und ihr könnt eure Patienten zuhause
behandeln. So könnt ihr ihnen endlich diejenige Medizin zukommen lassen, die ihnen zusteht und
nicht eine Verlagerung auf eine andere suchterzeugende Substanz, damit sich die Gesellschaft nicht
mehr vor ihnen fürchten muss“,
erklärt uns Waismann später in seinem Haus in einer Landwirtschaftszone ausserhalb Ashkelons.
Eigentlich hätte ein Team des Schweizer Fernsehens unsere Reise nach Israel dokumentieren sollen,
doch ein Vertreter der „Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin“ hat den Redaktor
dahingehend bearbeitet, dass die Methode Waismann erstens nicht etabliert sei und zweitens puren
Kommerz anstrebe. Die Behandlung, die ich eins zu eins mit verfolgte und ein Rundgang durch das
mehrheitlich selbstgebaute Landhaus Waismanns strafen diesen Psychiater und „Suchtmediziner“
Lügen – gerne würde ich ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen. Eines aber würde ich ihm
vorenthalten – die Gitarren im Übungsraum in Waismann’s Garten, Geschenke von mehreren
weltberühmten Musikern, die er behandelte. „Diejenige, die Du eben in der Hand hältst, gehörte Bob
Dylan – ihn habe ich nicht behandelt, wir sind befreundet…“.
“Versuche nicht, einen Psychiater von meiner Methode zu überzeugen – zu verhärtet sind die
suchtmedizinischen Konzepte und ein Heer von Betreuern profitiert von der Substitutionsbehandlung
und diese stehen nicht selten auf der Lohnliste der Pharmaindustrie...“
Die beiden Patienten haben die Behandlung sehr gut überstanden. Zusammen besteigen wir nach
sechs Tagen in Ashkelon das Flugzeug in Tel Aviv - ich um eine verblüffende medizinische Erfahrung
reicher und die beiden Patienten ohne jegliche Opiatmedikation und ohne die geringsten
Entzugserscheinungen! In der Schweiz hätte diese Behandlung mehrere Wochen in Anspruch
genommen. Immer wieder fällt das Wort Dankbarkeit - gegenüber Waismann’s Team, welches eine
tadellose medizinische und menschliche Betreuung gewährleistete und gegenüber denjenigen,
welche die Behandlung bezahlt oder anderweitig dazu beigetragen haben. Spürbar wird auch die
Motivation, bei der Einführung dieser Behandlung in der Schweiz in irgendeiner Form mitzuhelfen.
Eine Patientenpopulation würde ganz besonders von der ANR-Behandlung profitieren:
Heroin- oder methadonabhängige Säuglinge! Wer einmal die schrillen Schreie dieser süchtigen
Babies gehört hat, würde alles geben, um diesen kleinen unschuldigen Wesen zu helfen. Momentan
existiert keine bessere Behandlung, als die Neugeborenen drei Wochen bis drei Monate mit
Morphiumtropfen durch die Entzugsphase zu bringen - mit ANR wäre das Problem innert zwei
Stunden behoben!
Waismann's Vision ist, diese Methode möglichst allen Süchtigen zugänglich zu machen, denn
„weltweit warten Millionen von Opiatabhängigen auf eine Behandlung ihrer Sucht und nicht auf eine
Verlagerung auf eine andere Substanz, welche nicht weniger süchtig macht“, sagt Waismann. Es sei
eine Frage der Humanität, dass diese Menschen nach den Prinzipien der modernen evidenzbasierten
Medizin behandelt werden könnten. Dafür sei aber ein Paradigmawechsel unabdingbar - die
Deklaration der Opiatabhängigkeit als reversible, hirnorganische Störung - dann könne diesen
Menschen geholfen werden!
Am Ben Gurion Airport schaut mich der Sicherheitsbeamte ungläubig an, als ich ihm erkläre, wir
seien für eine medizinische Behandlung, die in der Schweiz nicht verfügbar sei, nach Israel gereist –
„noch“ nicht verfügbar, denke ich im Stillen…
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