Gerhard Schönrich - Squib (3) - Nochmals zu: Weise Entscheidungen Der von Holm Bräuer erarbeitete letzte Definitionsvorschlag für weise Entscheidungen (tiefe Rationalität) lautet: It is for S in situation C wise with respect to F to (decide to) P iff (a) S wants to achieve Q. (b) P is for S in C an efficient mean to achieve Q. (c) Q improves the expected outcome of the current situation with respect to F in the long-run in such a way, that it benefits not only S but a sufficiently broad audience. (d) S is justified to believe: 1) that he can do P in C; 2) that P is in the boundaries of C an efficient mean to reach Q; and 3) that Q will improve the expected outcome of the current situation with respect to F in the long run in such a way, that it benefits not only S but a sufficiently broader audience. Ich will meine Einwände noch einmal klarstellen und zusammenfassen und beginne mit einer Überlegung zur Bedingung (c): Eine Situation C soll durch Stärkung der gewünschten Qualität q (bzw. Schwächung einer unerwünschten Qualität) verbessert werden. Ich lasse beiseite, dass die Bedingung, die Verbesserung müsse für einen größeren Kreis sein, einen ganzen Bereich von Entscheidungen ausklammert, nämlich die Entscheidungen, die im Sinne der Lebensführungskunst, das eigene Leben und nur dieses betreffen. Warum solche Entscheidungen nicht auch weise sein können, ist nicht einsichtig. Das Grundproblem dieses Ansatzes besteht m.E. darin, dass sich Situationen, in 1 denen weise Entscheidungen (und nicht nur kluge) erforderlich sind, nicht Pareto-optimal verbessern lassen, d.h. so verbessern lassen, dass durch die Entscheidung zu p-en (wie in q gewünscht) der entsprechende Parameter von C verbessert und kein anderer Parameter verschlechtert wird. Meist zieht die Entscheidung zur Verbesserung eines Parameters aber als vorhersehbare Nebenfolge die unerwünschte Verschlechterung eines anderen Parameters nach sich. Der Wunsch (das Ziel q) gerät in Konflikt mit einem anderen Wunsch (Ziel r: z.B. die Vermeidung einer Verschlechterung). In diesem Fall wären (weise!) Entscheidungen über die Gewichtungen nach Wichtigkeit der Ziele oder vielleicht gar die Preisgabe eines Ziels notwendig. Das passt aber nicht mehr in das Definitionsschema. Hilft die Einführung einer relativierenden Hinsicht F hier weiter? Und wie spezifisch muss F dann gefasst werden? Bräuers Beispiele für F sind sehr unspezifisch gefasst, z.B. eine ökonomische Hinsicht, eine ökologische Hinsicht usw. Die Idee scheint zu sein, dass eine weise Entscheidung in ökonomischer Hinsicht zwar mit ökologischen Zielen in Konflikt geraten kann (Wirtschaftswachstum führt zu höherem CO2-Ausstoß usw.), dass dies aber die Weisheit der Entscheidung p nicht tangiert. Relativ auf die ökonomische Hinsicht bleibt sie weise. Das Problem ist, dass Konflikte auch innerhalb einer solchen Hinsicht entstehen: Z.B.: Eine ökonomische Situation (charakterisiert durch Wachstums-Stagnation, Geldwertstabilität, hohe Arbeitslosigkeit) soll verbessert werden: Das Ziel q sei deutliches Wirtschaftswachstum. Das beste effiziente Mittel q zu erreichen, sei p: die schnelle und kräftige Erhöhung der Geldmenge. Die Erhöhung der Geldmenge verbessere der Erwartung nach nun zwar das Wachstum und auch die Arbeitslosigkeit, habe jedoch die vorhersehbare Folge einer starken Inflation, der Geldwert sinke, die Sparer und Lebensversicherungen würden geschädigt usw. Das sind Vermeidungsziele r und s, die S auch verfolgt. S muss dann q gegen r und s abwägen und gewichten, oder sogar ein Ziel ganz aufgegeben. Hier ist eine weise Entscheidung im Rahmen ein und derselben ökonomischen 2 Hinsicht erforderlich. Es gibt hier zwei Lösungsstrategien, die aber m.E. beide scheitern: 1. Wir versuchen durch stärkere Spezifizierung von F auftretende Zielkonflikte zu umgehen. Wie spezifisch müssten wir die Hinsicht F fassen? Wir müssten F letztlich so spezifisch fassen wie das Ziel q selbst (die Funktion von F ist dann leer). So wäre in der spezifischen Hinsicht nur eines starken Wachstums (und nichts sonst) die Erhöhung der Geldmenge das beste Mittel. Dann ist es weise zu p-en – was im Beispielsfall aber einfach kontraintuitiv ist. Es mag ja sein, dass Situationen manchmal so einfach strukturiert sind (ökonomische sicher nicht!), dass erweiterte, unspezifischere Hinsichten außer Betracht bleiben können. Für diese Situationen brauchen wir dann auch keine weisen Entscheidungen, kluge oder zweckrationale genügen hier. Da uns die Welt aber diesen Gefallen selten tut, benötigen wir weise Entscheidungen. Sobald wir F nun weniger spezifisch, z.B. als „ökonomisch keynesianische Hinsicht“ fassen, bekommen wir es wieder mit Zielen zu tun, die konfligieren können. Je unspezifischer F, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Zielkonflikten (und desto notwendiger werden dann weise Entscheidungen in Bezug auf diese Ziele). 2. Alternativ könnten wir q mit Blick auf das definiens „Verbesserung der Situation“ aufladen. Wir packen alle weiteren Ziele r, s usw. irgendwie mit in die Beschreibung von q hinein. Solange wir nicht sagen, wie die Verfolgung des nun komplexen Zieles q uns dann nicht nur Wachstum bescheren, sondern auch Geldwertstabilität und hohe Beschäftigungsquote erhalten kann, bleibt dies eine bloße Stipulation: ob komplex oder nicht, q soll eben alles in Hinsicht F besser machen, nichts schlechter (allenfalls vorübergehend) und zwar für möglichst alle Betroffene. Ökonomisch entspricht q dann der berühmten eierlegenden Wollmilchsau. Damit ist bestenfalls ein Ideal bezeichnet, schlimmstenfalls ist es ein Wunschdenken – weit entfernt von dem, was wir mit weisen Entscheidungen erreichen wollen und können. Die Vagheit in der Formulierung von Bedingungen für weise Entscheidungen, darf nicht zu großzügig ausgelegt werden. Sonst legen wir gar nichts mehr fest. Die Ziele, die in weisen Entscheidungen 3 Berücksichtigung finden, liegen in der Mitte zwischen globaler ( all things considered ) Weltverbesserung und punktueller Engführung auf ein einziges Ziel. Auch die zeitliche Perspektive (wie viele zukünftige Generationen dürfen es sein?) bedarf wohl eines mittleren Maßes: in the long run ist nur eines sicher vorhersehbar: in the long run we are all dead. Welcher Schluss ist daraus zu ziehen? Auf jeden Fall brauchen wir eine konditionalistische Auffassung von Situations-Verbesserung bzw. den entsprechenden evaluativen Urteilen wie: q ist gut, r ist schlecht usw. Die Entscheidung zu p-en führt eine Situation herbei, in der q,r und s ein Ganzes bilden, das insgesamt gut sein soll. Inflation z.B. ist nicht per se schlecht, sie ist im Kontext C* schlecht, wenn z.B. die Arbeitslosenzahl hoch bleibt, im Kontext C** dagegen gut, wenn die Arbeitslosenzahl deutlich zurückgeht. Das ist nur dann eine evaluative Schizophrenie, wenn wir den Wert (die Verbesserung) als Kombination von Teilen zu einem Ganzen verstehen, wobei die Teile intrinsisch gut oder schlecht bleiben. Dann würde etwas, das schlecht ist, organisch zu etwas insgesamt Gutem beitragen. Es ist aber nicht so, dass Inflation absolut schlecht ist. Um das Wachstumsziel zu realisieren, kann es angemessen sein, Inflation in Kauf zu nehmen. Mit Gewichtungen kann man dieses Verhältnis noch differenzierter darstellen und in p abbilden, etwa durch Angabe des Volumens der Geldmengenerhöhung. Zu p-en ist eine weise Entscheidung nur dann, wenn eine solche konditionierte Abwägung von Zielen impliziert ist. Das aber setzt voraus, dass Ziele auch Gegenstand von weisen Entscheidungen sein können. Das Definitionsschema erlaubt dies nicht. Wir können hier auf der rechten Seite des Schemas nicht einfach hinzufügen: das Ziel q wird in einer weisen Entscheidung gefunden, in der konfligierende Ziele abgewogen und gewichtet werden. Zu (a): Nach meiner Ansicht krankt der Definitionsvorschlag daran, dass er sich ausschließlich am Modell zweckrationalen Verhaltens orientiert: S will Q 4 erreichen bzw. S hat das Ziel Q. Um das Ziel zu erreichen, muss S p-en. Die Entscheidung bezieht sich allein auf die Mittel zur Realisierung eines Ziels, das irgendwie durch Präferenzen, Gewohnheiten, Bedürfnisstruktur usw. von S vorgegeben ist. Die weise Entscheidung entscheidet in diesem Modell nicht über die Ziele, die sich S setzen kann oder soll, nicht über Modifikationen oder Suspendierung von Zielen, nicht über die Ordnung der Ziele (Auszeichnung eines höchstes Ziel als dominant oder inklusiv usw.). Gegen dieses Modell spricht die starke Intuition, dass weise Entscheidungen auch Ziele (vielleicht sogar vorrangig) Ziele betreffen. Es ist z.B. weise, sich gegen das Ziel, immer mehr Reichtümer anzuhäufen und stattdessen für mehr Muße oder Bildung, usw. zu entscheiden. Entweder man bestreitet schlicht diese Intuition oder versucht sie in dem vorgeschlagenen Definitionsschema zu erklären. Doch wie? Wenn weise Entscheidungen zu p-en notwendigerweise ein Ziel q haben, dessen Realisierung durch p-en herbeigeführt wird, welches Ziel hat S dann, wenn es sich für r statt s entscheidet? Wenn Reichtum und Muße z.B. fundamentale Ziele sind, dann gibt es kein übergeordnetes Ziel, das als notwendige Bedingung für die Entscheidung zu r oder s herhalten könnte. Mir scheint ein an Harry Frankfurt angelehntes Modell von Entscheidungen erster und zweiter Stufe sehr viel adäquater zu sein als das eindimensionale zweckrationale Modell. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Hat Herr Edathy eine törichte Entscheidung getroffen, als er einschlägiges (wie anzunehmen ist: nicht strafbares) Bildmaterial bei einem kanadischen Händler kaufte? Sein Ziel war wohl die Erfüllung pädophiler Wünsche. Warum war die Entscheidung nicht weise? Der Kauf war ein effizientes Mittel für die Erfüllung seines Wunsches. Der Wunsch verbesserte für Herrn E. das erwartete Ergebnis seiner aktuellen Situation auf mittlere Sicht. Dass E.s Neigungen publik wurden, war nicht vorhersehbar, zumal es sich ja nicht um eine Straftat handelte. Allerdings beinhaltet der Kauf des Bildmaterials einen Missbrauch von Kindern (auch schon dann, wenn nur Fotos ohne Posen und sexuelle Handlungen gemacht werden). Wenn wir diesen Sachverhalt einbeziehen, ist der Kauf natürlich keine 5 Situationsverbesserung. Die konditionalistische Auffassung führt in der Evaluation zum Ergebnis, dass das Ziel der Erfüllung der Neigungen von E. im Kontext des Missbrauchs von Kindern schlecht ist. Nun können wir uns vorstellen, dass es Computeranimationen gibt, die die Kinderfotos ersetzen, ein konfligierendes und gleichzeitig übertrumpfendes Ziel wie es der Schutz von Kindern ist, wäre dann nicht mehr gegeben. Die Entscheidung von E. wäre nicht mehr töricht zu nennen. Trotzdem scheint uns das Ziel von E. immer noch anstößig und die entsprechende Kaufhandlung nicht weise zu sein. Die Intuition dahinter: Es gibt weise bzw. törichte Entscheidungen für Ziele. Es ist sicher so, dass S keine Entscheidungsfreiheit für seine Wünsche hat. Sie treten auf wie Naturereignisse. S hat eben diese pädophilen Neigungen. Vielleicht wünscht S sich (2. Stufe), andere Wünsche (1.Stufe) zu haben. S hat keine Entscheidungfreiheit, welche Wünsche auftreten, S hat aber Entscheidungsfreiheit darüber, welche Wünsche (1. Stufe) handlungswirksam, d.h. zu Volitionen werden, für die dann zweckrational nach dem besten Mittel gesucht wird. Für E. in Situation C (er befindet sich in der BRD und nicht im antiken Griechenland!) ist es töricht, pädophile Wünsche handlungswirksam werden zu lassen, d.h. entsprechende Volitionen auszubilden. In der Wahl zwischen zwei Willen (zwei Mengen von Zielen) entscheidet er sich für den/die, der/die keine pädophilen Ziele enthält. Warum sollen wir diese Art von Entscheidung für Ziele nicht weise nennen? Ich bezweifle, dass diese Art von weisen Entscheidungen in dem zweckrationalen Modell analysierbar ist. Dieses Modell ist in der Evaluation handlungs- und situationsbezogen, während die Frage, welche Art Willen man haben will bzw. welche Ziele erstrebenswert sind, in der Evaluation auf Aspekte abstellen, die näher an den beiden anderen Dimensionen von Weisheit sind, nämlich Weisheit als Charaktereigenschaft und Weisheit als Wert. Das kann sogar von Vorteil sein, wenn es gelingt, weise Entscheidungen so zu analysieren, dass sie hier 6 anschlussfähig werden. Davon sind wir mit dem zweckrationalen Modell weit entfernt. Folgende Fälle sollen das noch einmal zeigen: Stoiker : Es ist für S in Situation C weise, zu entscheiden, die Situation C gar nicht (mehr) zu beeinflussen, weder im Sinne einer Verbesserung, noch im Sinne einer Verhinderung einer Verschlechterung, von der S profitieren könnte. S hat hier nur noch das Ziel, dem schicksalhaften Weltverlauf Raum zu geben, es geschehen zu lassen (Beatles: Let it be ). Er führt dieses Ziel durch Unterlassen jeder situationsbeeinflussenden Handlung herbei. Buddhist : Von buddhistischen Weisen wird berichtet, dass sie sich in der letzten Phase ihres Lebens zurückziehen, nur mit dem einen Ziel, keine Ziele mehr zu verfolgen und sogar die vegetativen Bedürfnisse immer weiter einzudämmen. Also: Es ist weise für S in Situation C sich dafür zu entscheiden, überhaupt keine Ziele mehr zu haben. Nach dem zweckrationalen Modell handelt der Stoiker nicht weise, weil u.a. Bedingung c nicht erfüllt ist. Das ist für viele kontraintuitiv. Und der Buddhist lässt sich in dem zweckrationalen Modell gar nicht mehr analysieren, da Gegenstand von Entscheidungen hier keine Ziele sein können und demnach auch nicht das paradoxe Ziel der Ziellosigkeit. 7