Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 2015, 64

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Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie
Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie
Herausgeberinnen und Herausgeber:
Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster;
Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Klagenfurt
Verantwortliche Herausgeber:
Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale
Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg
Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und
-psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster
Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c,
D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected]
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Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl,
M. Müller-Küppers, W. Schwidder, I. Seiffge-Krenke, F. Specht, A. Streeck-Fischer
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„Psychologischer Index“ ausgewertet.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.
ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225
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Inhalt
Originalarbeiten / Original Articles
Xaver Kienle, Verena Freiberger, Heide Greulich und Rainer Blank
Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? . . . . . . . . . . . . . . . . 412
Autism Spectrum Disorder and DSM-5: Spectrum or Cluster?
Jan Schultheiß, Franz Petermann und Ulrike Petermann
Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit: Ein Vergleich
unterschiedlicher Klassenstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
On the Effectiveness of the Prevention Program JobFit: A Comparison of Different
Class Levels
Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer
Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J): Entwicklung und
Validierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Development and Validation of the Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J)
Aus Klinik und Praxis / From Clinic and Practice
Marie Gerlach und Bernd Traxl
„Was ich am richtigen Leben nicht so schätze“. Online-Rollenspielsucht eines
Jugendlichen – Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
“What I don‘t Appreciate in Real Life”: Online Role Playing Game Addiction of an
Adolescent – Case Study
Autoren und Autorinnen / Authors 480 | Buchbesprechungen / Book Reviews 481
Tagungskalender / Congress Dates 486 | Aus dem Inhalt des nächsten Heftes /
Preview of the next Issue 487
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 411 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
ORIGINALARBEITEN
Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster?
Xaver Kienle, Verena Freiberger, Heide Greulich und Rainer Blank
Summary
Autism Spectrum Disorder and DSM-5: Spectrum or Cluster?
Within the new DSM-5, the currently differentiated subgroups of “Autistic Disorder” (299.0),
„Asperger’s Disorder” (299.80) and “Pervasive Developmental Disorder” (299.80) are replaced
by the more general “Autism Spectrum Disorder”. With regard to a patient-oriented and expedient advising therapy planning, however, the issue of an empirically reproducible and clinically
feasible differentiation into subgroups must still be raised. Based on two Autism-rating-scales
(ASDS and FSK), an exploratory two-step cluster analysis was conducted with N = 103 children (age: 5-18) seen in our social-pediatric health care centre to examine potentially autistic
symptoms. In the two-cluster solution of both rating scales, mainly the problems in social communication grouped the children into a cluster “with communication problems” (51 % and
41 %), and a cluster “without communication problems”. Within the three-cluster solution of
the ASDS, sensory hypersensitivity, cleaving to routines and social-communicative problems
generated an “autistic” subgroup (22 %). The children of the second cluster (“communication
problems”, 35 %) were only described by social-communicative problems, and the third group
did not show any problems (38 %). In the three-cluster solution of the FSK, the “autistic cluster” of the two-cluster solution differentiated in a subgroup with mainly social-communicative
problems (cluster 1) and a second subgroup described by restrictive, repetitive behavior. The
different cluster solutions will be discussed with a view to the new DSM-5 diagnostic criteria, for
following studies a further specification of some of the ASDS and FSK items could be helpful.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 412-428
Keywords
Autism Spectrum Disorder – Asperger’s Disorder – cluster analysis – DSM-5
Zusammenfassung
Im neuen DSM-5 werden die bisher klassifizierten Subgruppen der „Autistischen Störung“
(299.0), des „Asperger-Syndroms“ (299.80) und der „tiefgreifenden Entwicklungsstörung
(299.80) zu Gunsten einer „Autismus-Spektrums-Störung“ aufgegeben. Mit Blick auf eine indiPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 412 – 428 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 413
viduelle und zielführende Beratung und Therapieplanung stellt sich daher die Frage nach einer
empirisch begründbaren und klinisch praktikablen Subgruppendifferenzierung. Anhand der Variablen zweier Autismus-Ratingskalen (ASDS und FSK) wurde eine explorative clusteranalytische
Untersuchung (Two-Step) von 103 Kindern (Alter: 5-18 Jahre), die wegen des Verdachts auf eine
autistische Störung in einer sozialpädiatrischen Ambulanz vorgestellt wurden, durchgeführt. In
dem 2-Clustermodell sind es in beiden Ratingskalen hauptsächlich Auffälligkeiten in der sozialen
Kommunikation, die die Kinder in ein „kommunikativ auffälliges Cluster“ (51 % u. 41 %) und ein
„unauffälliges“ Cluster gruppieren. Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS generieren sensorische
Überempfindlichkeiten, die Fixierung auf Routinen und sozial-kommunikative Auffälligkeiten
eine „autistische“ Subgruppe (22 %). Die Kinder des zweiten Clusters („sozial-kommunikativ auffällig, 35 %) haben nur sozial-kommunikative Probleme, die dritte Gruppe (38 %) zeigt keinerlei
Auffälligkeiten. In der 3-Cluster-Lösung des FSK differenziert sich das auffällige Cluster in eine
Subgruppe mit sozial-kommunikativen Problemen und eine andere mit restriktiven, repetitiven
Verhaltensmustern. Die Clusterlösungen werden vor dem Hintergrund der neuen DSM-5-Diagnosekriterien diskutiert, für weitere Studien wäre eine Präzisierung mancher ASDS- und FSKItems wünschenswert.
Schlagwörter
Autismus-Spektrums-Störung – Asperger-Syndrom – Clusternanalyse – DSM-5
„The Short Life of a Diagnosis“ ist der Titel eines 2009 in der New York Times erschienenen kritischen Kommentars des englischen Autismusforschers Simon Baron-Cohen (New York Times, 11.10.09) zu der damals noch diskutierten und jetzt
vollzogenen Streichung der Diagnose „Asperger Syndrom“ in dem nun gültigen
DSM-5 der American Psychiatric Association (APA, 2013) zugunsten eines übergreifenden Störungsbildes “Autism Spectrum Disorder”.
Zum einen hält der Autor, selbst Leiter des Autismus-Forschungszentrums der
Cambridge University, den Zeitraum von 19 Jahren zwischen der Aufnahme des Asperger-Syndroms als eigenständige Diagnose in das DSM-IV (APA, 1994) und deren jetzige Streichung für zu kurz, um mögliche genetische und neurophysiologische
Unterschiede zwischen dem Asperger-Syndrom und dem frühkindlichen Autismus
zu beforschen. Zum anderen fragt er provokant, ob sich dann alle Patienten mit der
bisherigen Diagnose „Asperger-Syndrom“ nochmals untersuchen lassen müssten, um
einen neue Diagnose zu erhalten.
1
Vom DSM-IV zum DSM-5
Das seit 1994 gültige DSM-IV gliederte die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen
in die autistische Störung, das Rett-Syndrom, die desintegrativen Störungen, das
414 X. Kienle et al.
Asperger-Syndrom und in eine Restkategorie der nicht näher bezeichneten Entwicklungsstörungen („atypischer Autismus“).
Mit dem Argument, dass verhaltensgenetische und diagnostische Studien gezeigt
hätten, dass sich diese Störungsbilder nicht klar kategorial abgrenzen ließen (z. B. Freitag, 2012; Wiggins, Robins, Adamson, Bakeman, Henrich, 2012), wurden im DSM-5
die drei autistischen Subgruppen zu einer „Autism Spectrum Disorder“ zusammengefasst und der bisher kategoriale Ansatz teilweise zugunsten eines dimensionalen Konzepts aufgegeben. Die Diagnosekriterien wurden dabei in mehreren Punkten geändert: Zum einen wird nun gefordert, dass die Symptome generell bereits in der frühen
Entwicklung beobachtbar sind (Kriterium C – dieses Kriterium fehlte bei den bisherigen Kriterien für das Asperger-Syndrom). Zum zweiten wurde die klassische Autismus-Triade mit Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation, der sozialen Interaktion und der repetitiven und ritualisierten Verhaltensmuster zu einer Dyade „Soziale
Kommunikation/Interaktion“ und „repetitives Verhalten und Interessen“ zusammengefasst. Die dritte Änderung bezieht sich darauf, dass nicht nur aktuelle Symptome,
sondern auch solche, die in früheren Entwicklungsphasen beobachtet wurden, für die
aktuelle Diagnose konstituierend sein können. Eine weitere wichtige Veränderung gegenüber dem DSM-IV beinhaltet, dass nun auch andere Diagnosen wie z. B. ADHS
als Komorbiditäten zulässig sind, zudem soll nun als Differenzierung des Kontinuums
zum einen der Schweregrad der Symptomatik anhand einer vorgegebenen Tabelle in
drei Stufen spezifiziert werden, zum andern soll angegeben werden, ob kognitive oder
sprachliche Einschränkungen (als so genannte „specifiers“) vorliegen.
Für Kinder, die zwar autismustypische Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation und Interaktion zeigen, jedoch keine repetitiven Verhaltensmuster oder rigiden Interessensbereiche aufweisen, wurde im DSM-5 als neue Diagnose eine „soziale
Kommunikationsstörung“ („Social (pragmatic) Communication Disorder“, 315.39)
eingeführt (zur detaillierten Gegenüberstellung der Diagnosekriterien der ICD-10,
des DSM-IV-TR und DSM-5 siehe Freitag, 2014).
2
Die Evolution des Autismus-Spektrums
2.1
Unterschiedliche Diagnoseschemata
Einer der wesentlichen Gründe für die mangelnde Validität der Diagnose „Asperger-Syndrom“ und damit für deren jetzige Streichung im DSM-5 ist vermutlich bereits darin zu suchen, dass wichtige Aspekte der „autistischen Psychopathie“ nach
Asperger (1938) nicht als diagnostische Kriterien in die ICD-10 (WHO, 1992) und
das DSM-IV aufgenommen wurden, sondern die Störung lediglich als Autismus
ohne kognitive und sprachliche Entwicklungsauffälligkeiten konzipiert wurde.
Von verschiedenen Autoren (z. B. Klin, Pauls, Schultz, Volkmar, 2005) wurde zu
Recht kritisiert, dass zwar in der Textbeschreibung des DSM-IV darauf hingewiesen
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 415
wird, dass Kinder mit frühkindlichem Autismus sich sozial eher isolieren, während
Kinder mit einem Asperger-Syndrom sehr wohl Kontakt suchen, wenngleich in einer
oft unpassenden Art und Weise, dass diese Unterscheidung aber nicht Eingang in die
diagnoserelevanten Symptomlisten gefunden hat.
Auch mögliche Unterschiede in der Sprachentwicklung seien auf die Frage reduziert worden, ob ein regulärer oder verzögerter Sprachbeginn vorliegt, statt mögliche
differente Aspekte im Bereich der Pragmatik (bei frühkindlichem Autismus verzögerte, oft echolalische Sprache- beim Asperger-Syndrom oft elaborierter Wortschatz mit
auffälliger Prosodie) zu berücksichtigen (Klin et al., 2005, S. 223). Auch die bereits von
Asperger (1938) sehr anschaulich geschilderten Symptome der Hypo- und Hyperreaktivität auf sensorische Stimuli fanden zunächst keinen Eingang in das DSM-IV, sind
nun aber Bestandteil der Symptomliste des DSM-5 (S. 50).
Die beschriebenen Einschränkungen in der Rezeption des ursprünglichen Konzepts
von Asperger in die ICD-10 und das DSM-IV begünstigte in der Folgezeit das Weiterbestehen der bereits Ende der 80er Jahre publizierten eigenen Diagnoseschemata der
Arbeitsgruppen um Gillberg und Gillberg (1989) sowie Szatmari, Bremner und Nagy
(1989) und des vor allem in Deutschland sehr einflussreichen australischen Autors
Attwood (z. B. 2007).
2.2
Diagnostische Verfahren
Entsprechend dieser recht unterschiedlich akzentuierten Konzepte des AspergerSyndroms wurden eine Reihe von Ratingskalen entwickelt und verbreitet, deren Validität inzwischen immer schwerer vergleichbar ist. Sowohl die Iteminhalte als auch die
Standardisierungsstichproben und die davon abgeleiteten Cut-Offs sind sehr heterogen, auch die Angaben zur Sensitivität und Spezifität sind kaum vergleichbar.
Selbst bei sehr zeitaufwändigen Verfahren wie dem „Autism Diagnostic Interview-R“
(ADI-R; Rutter, LeCouteur, Lord, 2003; deutsch: Bölte, Rühl, Schmötzer, Poustka,
2006) und der „diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen“ (ADOS;
Bölte u. Poustka, 2004) wird der eigene Anspruch als „internationaler Goldstandard“
durch die tatsächlichen numerischen Validitätsparameter nicht hinreichend belegt. So
weist der ADOS zwar mit 90 % eine gute Sensitivität auf, die Spezifität dieses Verfahrens ist jedoch mit 48,1 % unbefriedigend (Bölte u. Poustka, 2004) und scheint sich
auch nach den neuen DSM-5-Kriterien nicht wesentlich zu verbessern (53 % nach
Huerta, Bishop, Dunca, Hus, Lord, 2012).
Obwohl das ADI-R als standardisiertes Interview konzipiert ist, ist die Interraterreliabilität mit rtc = .37 in manchen Skalenbereichen mäßig (Bölte u. Poustka,
2006, S. 57), die konkurrente Validität mit dem ADOS ist mit κ = .23 gering (Rühl,
Bölte, Feineins-Matthews, Poustka, 2004). Selbst die Korrelation des „Fragebogens zur Sozialen Kommunikation“ (FSK) der als Kurzform des ADI-R konzipiert
wurde, mit der Langform ist mit rtc = .40-.53 nicht zufriedenstellend (Bölte u.
Poustka, 2006, S. 26).
416 X. Kienle et al.
Bei der Diagnostik von Autismus-Verdachtsfällen dienen im ambulanten Bereich
unserer Klinik Ratingskalen zunächst als erstes und zeitökonomisches ScreeningInstrument für Eltern und andere Bezugspersonen. Es erfolgt dann eine ausführliche
störungsspezifische medizinische und psychologische Anamnese, Untersuchung und
differentialdiagnostische Abklärung, bei unklaren Fällen und vor allem im stationären
Bereich wird zusätzlich das ADI-R und/oder der ADOS durchgeführt. Unabhängig
vom Umfang und der Komplexität der eingesetzten Verfahren bleibt für die Diagnose
einer autistischen Störung, wie die amerikanische Akademie für Kinder- und Jugendpsychiatrie in ihren neuesten Leitlinien feststellt, letztendlich das fundierte klinische
Urteil entscheidend: „The use of such instruments supplements, but does not replace,
informed clinical judgement“ (Volkmar et al., 2014, S. 342).
2.3
Probleme der Forschung
Die Aufgabe der bisherigen Subgruppendifferenzierung im DSM-IV zugunsten
eines Spektrumskonzepts im jetzigen DSM-5 wird auf der einen Seite die Vergleichbarkeit früherer Autismusstudien mit künftigen erschweren (McPortland, Reichow,
Volkmar, 2012). Andererseits ist es – hierin sehen Befürworter der dimensionalen
Diagnosekonzeption einen wichtigen Vorteil – nun leichter möglich, innerhalb des
definierten Autismus-Spektrums für verschiedene Fragestellungen spezifische homogene Subgruppen zu definieren (z. B. Grzadinski, Huerta, Lord, 2013).
Die Ergebnisse clusteranalytischer Studien autistischer Kinder kommen bisher zu
recht widersprüchlichen Ergebnissen: Eaves, Ho und Huerta (1994) sehen durch ihre
clusteranalytische Untersuchung an 166 Kindern im Alter zwischen drei und zwölf
Jahren die Subgruppendifferenzierung nach dem DSM-IV eher bestätigt, zudem fand
sich in ihrer Studie ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem jeweiligen kognitiven Funktionsniveau und der Subgruppenzugehörigkeit. Wiggins et al. (2012) untersuchten clusteranalytisch 186 Kleinkinder, bei denen unter anderem anhand des
ADI-R und des ADOS eine Autismusspektrumsstörung diagnostiziert worden war.
Da sich ihre Cluster, analysiert wurden die Daten der CARS (Childhood Autism Rating Scale; Schopler, Reichler, Renner, 1988), nicht durch das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Symptome, sondern durch die Häufigkeit und Intensität der
Symptome (S. 198) unterschieden, sahen die Autoren eher den dimensionalen Ansatz
bestätigt. Möglicherweise ist dies jedoch darauf zurückzuführen, dass in dieser Studie
nur solche Kinder untersucht wurden, die früh auffällig wurden und die vermutlich
nach der ICD-10 die Diagnose eines „frühkindlichen Autismus“ erhalten hätten.
Dass sich der kategoriale und der dimensionale Ansatz nicht ausschließen müssen,
zeigen Hu und Steinberg (2009) in ihrer kombinierten clusteranalytischen Untersuchung der ADI-R-Scores von 1954 Personen (Alter zwischen 2 und 48 Jahren), die in
einer Datenbank für genetische Analysen autistischer Störungen erfasst worden waren.
Als optimale Gruppierung ergaben sich in dieser Studie vier Cluster, die sich vor allem
durch das Ausmaß sprachlicher Defizite und die Häufigkeit von „savant skills“ unter-
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 417
schieden. Aus den genetischen Analysen folgern die Autoren, dass sich die Genexpressionen sowohl quantitativ als auch qualitativ über die genannten Cluster verteilen.
3
Fragestellung der eigenen Untersuchung
Ausgangspunkt der eigenen Untersuchung war zunächst ganz allgemein die Frage,
entlang welcher Variablen sich in einer Inanspruchnahmepopulation von AutismusVerdachtsfällen mit einem IQ > 85 Symptom-Muster (Cluster) erkennen und wie sich
diese im Kontext des neuen DSM-5-Konzepts interpretieren lassen. Zudem sollte untersucht werden, ob konzeptionell unterschiedliche Skalen (Asperger-Skala vs. Autismusspektrums-Skala) auch unterschiedliche Kontinua oder Cluster generieren, wie
sich die errechneten Cluster hinsichtlich Alter und Intelligenz differenzieren lassen und
– angesichts der nicht nur in der Forschung, sondern auch von den Kostenträgern kritisch diskutierten Überdiagnose autistischer Störungen (vgl. Freitag, 2012) – wie groß
der Anteil unserer Autismusverdachtsfälle ist, der einem „auffälligen“ Cluster zugeordnet wird. Zuletzt erhofften wir uns Hinweise auf mögliche Diagnosealternativen (z. B.
Persönlichkeitsstörungen, vgl. Sevecke, Lehmkuhl, Petermann, Krischer, 2011).
Aufgrund der aktuell sehr kontroversen Diskussionen über die Validität klinischer
Autismus-Diagnostik sollten die endgültigen Diagnosen der untersuchten Kinder bewusst nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Da nur Kinder mit einem IQ
über 85 in die Untersuchung aufgenommen wurden und die gewählten Intelligenztestverfahren sowohl verbale als auch nonverbale Intelligenzfunktionen erfassten, waren
so genannte “hoch-funktionale“ frühkindliche Autisten (Gillberg, 1998) mit einem IQ
zwischen 65 und 85 und Kinder, die nur in Teilbereichen gute oder sehr gute kognitive
Leistungen erbringen, von der Untersuchung ausgeschlossen.
3.1
Stichprobe
Die Stichprobe wurde sukzessiv aus der Ambulanz der Klinik für Kinderneurologie
und Sozialpädiatrie Maulbronn rekrutiert und umfasst 103 Kinder im Alter zwischen 5 und 18 Jahren, die im Zeitraum von März 2011 bis März 2013 primär aufgrund eines von Kindergarten, Schule oder Eltern geäußerten Verdachts auf eine
autistische Störung (neben anderen Fragestellungen) vorgestellt wurden. Kinder mit
einem IQ unter 85 wurde aus der Untersuchung ausgeschlossen.
Die Stichprobe bestand aus 99 (96.1 %) Jungen und 4 (3.9 %) Mädchen, das durchschnittliche Alter lag bei 10,5 Jahren (SD = 3,2), der durchschnittliche IQ (gemessen
mit HAWIVA-III bzw. WPPSI-III, HAWIK-IV bzw. WISC-IV, K-ABC oder AID 2) lag
bei 106,8 (SD = 13,8).
Um das Verständnis zum Ausfüllen der sprachlich recht anspruchsvollen Fragebögen zu gewährleisten, wurden nur Kinder mit Eltern berücksichtigt, deren Muttersprache Deutsch war.
418 X. Kienle et al.
3.2
Messinstrumente
Die Eltern wurden im Rahmen der ambulanten Diagnostik gebeten, sowohl die „Asperger Syndrome Diagnostic Scale“ (ASDS; Myles, Bock, Simpson, 2001) als auch den
„Fragebogen zur sozialen Kommunikation“ (FSK; Bölte u. Poustka, 2006) auszufüllen.
Seit dem Jahr 2005 ist mit der „Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom“ (MBAS; Kamp-Becker, Mattejat, Wolf-Ostermann, Remschmidt, 2005) zwar
auch ein im deutschen Sprachraum normiertes Screeningverfahren für autistische
Störungen auf hohem Funktionsniveau verfügbar und wird in unserem klinischen
Alltag auch eingesetzt. Im Unterschied zur dichotomen Skalierung des FSK und der
ASDS erfolgt das Rating im MBAS jedoch über eine 5-stufige Ordinalskala. Da diese
Skalierungsunterschiede bei der Clusteranalyse mit Two-Step zu unterschiedlichen
Gewichtungen der Skalen führen (Schendera, 2010), erwies sich die MBAS für die
vorliegende Untersuchung als nicht praktikabel.
Seit seinem Erscheinen 2001 benutzen wir – neben anderen Verfahren – im klinischen Alltag die ASDS als Screening in einer eigenen Übersetzung. Die Skala besteht
aus insgesamt 50 Items in fünf Subskalen mit binärem Antwortformat und ist an 115
Kindern und Jugendlichen (Alter 5-18) mit einer klinischen Aspergerdiagnose normiert. Aus den Itemwerten lässt sich ein so genannter „Asperger-Syndrom-Quotient“
(ASQ) errechnen (M = 100, SD = 15). Die Reliabilität (Cronbach’s α) der Skala ist mit
α = .83 gut, bezüglich der diskriminanten Validität berichten die Autoren von 85 %
korrekter diagnostischer Zuordnungen.
Beim FSK (Fragebogen zur Sozialen Kommunikation), der deutschen Version des
Social Communication Questionnaire (SCQ) von Rutter, Bailey und Lord (2003),
handelt es sich um ein 40 Items umfassendes Screeninginstrument zur Erfassung von
aktuellen (Aktuell-Version) oder früher beobachteten (Lebenszeit-Version) auffälligen sozialen Interaktions- und Kommunikationsmustern sowie stereotypen Verhaltensweisen. Das Verfahren wurde an 168 Personen mit einer Störung des autistischen
Spektrums geeicht, 136 davon mit frühkindlichem Autismus, 25 mit einem atypischen
Autismus und 7 mit einem Asperger-Syndrom. Mit Cronbach’s α von .83 (Bölte u.
Poustka, 2006, S. 26) ist die Reliabilität der Gesamtskala identisch mit der des ASDS.
Als Cut-off für das autistische Spektrum wird ein Summenscore von 15 angegeben.
Obwohl die Autoren die „Lebenszeit-Version“ als diagnostisches Instrument empfehlen, haben wir in der vorliegenden Untersuchung die „Aktuell“-Version benutzt, um
die Vergleichbarkeit mit der ASDS, die sich ebenfalls nur auf die aktuelle Symptomatik
bezieht, zu gewährleisten.
Trotz unserer Bitte an die Eltern, beide Fragebögen möglichst vollständig auszufüllen, lagen nur bei 87 (84.5 %) Kindern unserer Stichprobe die ASDS-Bögen komplett
vor, beim FSK waren 90 (87.4 %) Bögen vollständig ausgefüllt. Als Gründe für die
Nichtbeantwortung nannten die Eltern häufig bei beiden Skalen die Mehrdeutigkeit
des jeweiligen Iteminhalts und speziell beim FSK bei älteren Kindern die mangelnde
Altersadäquatheit der Formulierungen.
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 419
3.3
Methode und Auswertung
Es erfolgte eine explorative clusteranalytische Gruppierung der Autismus-Verdachtsfälle anhand der durch die ASDS- und FSK-Variablen erfassten Merkmale. Grundsätzliches Ziel clusteranalytischer Verfahren ist die Gruppierung (Clusterung) von Objekten mit dem Ziel einer hohen Ähnlichkeit innerhalb der jeweiligen Gruppe (hohe
Intracluster-Homogenität) und einer möglichst großen Verschiedenheit zwischen den
Gruppen (geringe Intercluster-Homogenität; Bacher, Pöge, Wenzig, 2010).
Die Berechnung erfolgte über die Two-Step-Clusteranalyse (SPSS 17). Der Vorteil
dieses Verfahrens besteht unter anderem darin, die optimale Clusteranzahl entweder
anhand des Akaikes oder Bayes Informationskriteriums (als Maß für die Modellgüte)
bestimmen zu lassen oder die Anzahl der Cluster selbst zu wählen. Als Distanzmaß
wird bei kategorialen Daten die LogLikelihood berechnet, die Wichtigkeit der verschiedenen Variablen für die einzelnen Cluster wird über χ2-Tests ermittelt (Schendera, 2010).
4
Ergebnisse
4.1
Stichprobe
Für die Gesamtstichprobe ergab sich aus den ASDS-Ratings der Eltern ein Mittelwert von 28,25. Nach den Autoren der Ratingskala liegt der entsprechende ASQ
von 88 im „möglichen Bereich für eine Asperger-Diagnose“. Der Mittelwert aller
FSK-Ratings liegt mit 14,90 recht nahe am Cut-off von 15 für eine „Störung aus
dem autistischen Formenkreis“. Die Reliabilität (interne Konsistenz) des ASDS liegt
in der untersuchten Stichprobe mit Cronbach’s α = .90 über dem Wert der Normierungsstichprobe (α = .83), für den FSK ergibt sich ein Cronbach’s α von .80 (Normierungsstichprobe α = .83).
4.2
ASDS: 2-Cluster-Lösung
Aus den ASDS-Ratings errechnet Two-Step als optimales Modell eine Gruppierung
mit zwei Hauptclustern, die BIC (Schwarz Bayes Information Criteria) -Veränderung (-332.04) und das Verhältnis der Distanzmaße (2.05) sind bei dieser Lösung
maximal. Acht Kinder aus der ASDS-Stichprobe werden einem „Ausreißercluster“
zugewiesen, da ihre Hinzunahme zu einem der beiden Hauptcluster deren Homogenität deutlich verringern würde.
Für das ASDS-Cluster 1 („im Kontaktverhalten auffällig“) sind nach dem χ2-Test
(df = 1; p ≤ .05) als Wichtigkeitsmaß 7 Variablen konstituierend, die sich hauptsächlich auf kommunikative und soziale Auffälligkeiten der Kinder beziehen: Die
44 Kinder, die diesem Cluster zugewiesen wurden, verstehen häufiger Äußerungen
420 X. Kienle et al.
wörtlich und haben kein Gespür für angemessene Nähe oder Distanz. Sie haben
mehr Probleme, Kontakt zu anderen aufzunehmen und Freunde zu finden. Zudem
zeigen Sie wenig Interesse an anderen Kindern und sind in ihren mimischen Reaktionen auffällig.
Zum ASDS-Cluster 2 („unauffällig“) gehören 35 Kinder, die im kommunikativen
und sozialen Bereich eher unauffällig sind: Ihre Gestik und Mimik ist angemessen,
sie zeigen Interesse an anderen Kindern und haben keine Probleme bei der Kontaktaufnahme. Sie verstehen Redewendungen und Metaphern und reagieren auch nicht
abwehrend auf Umarmungen.
Der ASDS-Summenscore liegt mit M = 36,02 (ASQ 105) im Cluster 1 signifikant über
den entsprechenden Werten des Clusters 2 (M = 19.57, ASQ 69; t = 12.43; df = 77 ; p ≤
.001). Bezüglich der Intelligenz finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen
den beiden Clustern (IQCluster 1 = 105 ; IQCluster 2 = 110 ; t = - 1.71; df = 77 , p ≤ .09), auch in
ihrem Alter unterscheiden sich die Kinder in beiden Clustern nicht (AlterCluster 1 = 10.9;
AlterCluster 2 = 9.7; t = 1.59, df = 77, p ≤ .115).
4.3
FSK: 2-Cluster-Lösung
Auch aus den FSK-Ratings errechnet sich eine 2-Cluster-Lösung als optimales Modell (BIC-Veränderung -157.7 ; Verhältnis der Distanzmaße 1.68), fünf Kinder werden wiederum in einem „Ausreißercluster“ zusammengefasst.
Die 37 Kinder des FSK-Cluster 1 („im Kontaktverhalten auffällig“) verfügen nur
über eine eingeschränkte mimische Bandbreite, zeigen kein reaktives Lächeln, schließen sich keinen Versteck- oder Ballspielen an und reagieren eher negativ auf die Annäherung anderer Kinder.
Die 48 Kinder des FSK-Cluster 2 sind in den oben genannten Bereichen eher unauffällig. Der FSK-Summenscore ist bei Cluster 1 mit M1 = 20.08 erwartungsgemäß
deutlich höher als bei Cluster 2 mit M2 = 10.40 (t = 11.05, df = 83, p ≤ .001). Der IQ der
„kontaktauffälligen Kinder“ des Clusters 1 liegt mit M1 = 102.1 (SD = 11.3) signifikant
unter dem IQ der „unauffälligen“ Kinder des Clusters 2 (M2 = 111.4; SD = 13.8; t =
-3.32; df = 83, p ≤ .001), in ihrem Alter unterscheiden sich die Kinder beider Cluster
nicht (M1 = 11.0; t = 1.17; df = 83; p ≤ .244).
4.4
Vergleich der ASDS- und FSK-Cluster
Bei 81 Kindern (78.8 % der Gesamtstichprobe) konnte das Ausmaß der Übereinstimmung der ASDS- und FSK-Cluster überprüft werden, da die Eltern dieser
Kinder beide Ratingskalen komplett ausgefüllt hatten. Mit einem κ = .460 (p ≤
.001) errechnet sich eine mittlere bis hohe Übereinstimmung der Clusterzugehörigkeit.
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 421
4.5
ASDS-3-Cluster-Lösung
Neben der automatisch ermittelten 2-Cluster-Lösung wurde für beide Skalen ein
Modell mit 3 Clustern vorgegeben. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, wird in diesem
Modell das vorherige „auffällige“ Cluster 1 nun in zwei Cluster aufgeteilt, die Kinder
des vorherigen „unauffälligen“ Clusters 2 werden – mit nur zwei Ausnahmen – dem
neuen „unauffälligen“ Cluster 3 zugeteilt.
Tabelle 1: Kreuztabelle zur Abbildung der Clusterübereinstimmung der 2-Cluster-Lösung und der
3-Cluster-Lösung für die „Asperger Syndrome Diagnostic Scale“ (ASDS)
3-Cluster-Lösung
Cluster 1
2-Cluster-Lösung Cluster 2
Gesamt
Cluster 1
19
0
19
Cluster 2
24
2
26
Cluster 3
0
33
33
Gesamt
43
35
78
Anmerkung: Die Kreuztabelle wurde aufgrund von Missing Data auf der Grundlage von n = 87 Kindern
erstellt (84,5 % der Gesamtstichprobe). Zudem fehlen neun Kinder, die jeweils einem Outlier Cluster
zugeteilt waren, der hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit dargestellt ist.
Für das Cluster 1 (19 Kinder, „autistisches Cluster“) der 3-Cluster-Lösung errechnen sich jetzt (χ2-Test, df = 2, p ≤ .05) insgesamt zehn relevante ASDS-Variablen (s.
Tab. 2)1: Die Kinder dieses Clusters reagieren empfindlich auf laute Geräusche, sie
haben kein Gespür für angemessene Nähe und Distanz, sie benutzen oft die gleichen
Formulierungen, verhalten sich nicht situationsangepasst, zeigen wenig oder eine
unangemessene Mimik, sie haben wenig Verständnis für soziale Regeln, brauchen
feste Routinen, sie simulieren Verständnis, reagieren panisch auf Überraschungen
und verstehen viele Äußerungen wörtlich.
Dem Cluster 2 („sozial-kommunikativ auffällig“) werden 26 Kinder zugeordnet.
Bei diesen Kindern fehlen die „Autismus-typischen“ Auffälligkeiten im Bereich der
Mimik, Sensorik und Sprache, sie haben lediglich Probleme, Freundschaften aufrecht
zu erhalten. Die Variablen „spielt lieber mit Erwachsenen“ und „hat keine Freunde,
obwohl der Wunsch dazu besteht“ liegen knapp unter dem kritischen Wert für die
Clusterwichtigkeit. Die 33 Kinder des Clusters 3 zeigen keine autistischen Symptome,
auch im nur „sozial-kommunikativen“ Bereich sind sie unauffällig.
Im varianzanalytischen Vergleich mit dem Faktor Clusterzugehörigkeit finden sich
signifikante Altersunterschiede zwischen den Kindern der 3 ASDS-Cluster (F(2;83) =
3.037; p ≤ .034). Der post-hoc-Vergleich (Duncan) zeigt keine Altersunterschiede zwischen den Clustern 1 (MCluster 1 = 9.95) und 3 (MCluster 3 = 9.61), die Kinder des Clusters
2 sind jedoch im Mittel um etwa zwei Jahre älter (MCluster 2 = 11.77; p ≤ .05). Auch in
ihrem Intelligenzniveau unterscheiden sich die drei Cluster (F(3;83) = 3.177; p ≤ .028).
1 Weiteres, ergänzendes Material ist online verfügbar.
422 X. Kienle et al.
Im post-hoc-Vergleich finden sich zwischen den Kindern der beiden „auffälligen“
Cluster 1 (IQCluster 1 = 104.68) und 2 (IQCluster 2 = 102.93) keine Intelligenzunterschiede,
die „unauffälligen“ Kinder des Clusters 3 zeigen jedoch einen höheren IQ (IQCluster 3 =
110.64; p ≤ .05).
Tabelle 2: ASDS-Clusterwichtigkeit der einzelnen Variablen der 3-Cluster-Lösung nach BonferroniKorrektur
Subskala/Itemnummer
ASDS-Cluster 1
Sm-1
So-9
S-3
Sv-1
So-4
So-12
Sv-4
S-7
Sv-5
S-5
ASDS-Cluster 2
So-8
So-6
So- 7
ASDS-Cluster 3
So-4
So-3
S-5
So-5
So-8
So-1
So-10
So-7
Sm-2
Iteminhalt
Χ2-Wert
reagiert ungewöhnlich auf laute Geräusche
kein Gespür für angemessene Nähe und Distanz
benutzt oft gleiche Formulierungen
verhält sich nicht situationsangepasst
zeigt wenig oder unangemessene Mimik
zeigt wenig Verständnis für soziale Regeln
braucht feste Routinen
simuliert Verständnis
reagiert panisch auf Überraschungen
versteht Äußerungen wörtlich
32,2
16,9
15,3
14,8
13,5
12,8
12,8
11,9
11,1
11,1
hat Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten
spielt lieber mit Erwachsenen
hat keine Freunde obwohl der Wunsch besteht
12,2
10,4
10,1
zeigt eine angemessene Mimik
hat keine Probleme bei der Kontaktaufnahme
versteht Redewendungen und Metaphern
zeigt Interesse an andern Kindern
hat keine Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten
verwendet normale Gestik
zeigt Verständnis für die Interessen anderer
hat Freunde
reagiert nicht abwehrend auf Umarmungen
22,3
21,4
18,3
16,0
13,6
12,3
12,2
12,0
11,6
Anmerkungen: Kritischer Χ2-Wert = 10,59, p ≤ .05; Subskalen: S = Sprache; So = Sozialverhalten;
Sm = Sensomotorik; Sv = Situationsangemessenes Verhalten
4.6
FSK-3-Cluster-Lösung
Auch die 3-Cluster-Lösung des FSK erfolgt im Wesentlichen durch die weitere Ausdifferenzierung des „auffälligen“ Cluster 1 der 2-Cluster-Lösung (s. Tab. 3). Tabelle
41 zeigt, dass für das neue FSK-Cluster 1 (26 Kinder) nun sechs Variablen konstituierend (χ2-Test; df = 2, p ≤ .05) sind, die sich vorwiegend auf den Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion beziehen: Die Kinder verfügen nur über eine
eingeschränkte mimische Bandbreite, teilen nichts außer Nahrung und zeigen nicht
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 423
spontan auf Dinge. Sie spielen zudem keine Phantasiespiele mit anderen Kindern oder
alleine und schließen sich auch keinen Versteck- oder Ballspielen an.
Tabelle 3: Kreuztabelle zur Abbildung der Clusterübereinstimmung der 2-Cluster-Lösung und der
3-Cluster-Lösung für den „Fragebogen zur sozialen Kommunikation“ (FSK)
Cluster 1
2-Cluster-Lösung Cluster 2
Gesamt
Cluster 1
25
1
26
3-Cluster-Lösung
Cluster 2
12
4
16
Cluster 3
0
43
43
Gesamt
37
48
85
Anmerkung: Die Kreuztabelle wurde aufgrund von Missing Data auf der Grundlage von n = 90 Kindern
erstellt (87,4 % der Gesamtstichprobe). Zudem fehlen fünf Kinder, die jeweils einem Outlier Cluster zugeteilt waren, der hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit dargestellt ist.
Tabelle 4: FSK-Clusterwichtigkeit der einzelnen Variablen der 3-Cluster-Lösung nach BonferroniKorrektur
Subskala/Itemnummer
FSK-Cluster 1
33
29
22
39
40
35
FSK-Cluster 2
11
15
14
7
3
11
FSK-Cluster 3
33
3
7
40
Iteminhalt
Χ2-Wert
zeigt eingeschränkte mimische Bandbreite
teilt nichts außer Nahrung
zeigt nicht spontan auf Dinge
spielt keine Fantasiespiele mit anderen Kindern
schließt sich keinen Versteck- und Ballspielen an
spielt keine Fantasie- oder So-tun-als-ob-Spiele
23,0
19,3
16,3
13,3
12,0
11,0
ist eher auf Details fixiert
zeigt ungewöhnliche Bewegungsstereotypien
zeigt sensorische Auffälligkeiten
wiederholt Sätze in genau demselben Wortlaut
spricht merkwürdig
hat Spezialinteressen
17,7
16,5
15,0
13,8
11,7
11,1
zeigt angemessene Mimik
spricht mit normaler Prosodie
kein stereotyper Sprachgebrauch
schließt sich Versteck- und Ballspielen an
15,7
13,0
11,7
11,2
Anmerkungen: Kritischer Χ2-Wert = 10,59, p ≤ .05
Die Kinder des zweiten „auffälligen“ Clusters (16 Kinder) zeigen eher Auffälligkeiten
im Bereich der restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen: Sie sind eher auf Details fixiert, zeigen ungewöhnliche Bewegungsstereotypien, sind in ihrer Sensorik
auffällig, wiederholen Sätze in demselben Wortlaut, sprechen mit einer auffälligen
Prosodie und haben Spezialinteressen. Die Kinder des FSK-Clusters 3 (43 Kinder)
424 X. Kienle et al.
sind sowohl im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion als auch im
Bereich der restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen unauffällig.
Auch bei der FSK-3-Cluster-Lösung zeigen sich im varianzanalytischen Vergleich
signifikante Altersunterschiede (F(3;86) = 5.290; p ≤ .001): Die Kinder des Clusters 2
sind jünger als die des Clusters 1 (MCluster 2 = 8.95; MCluster 1 = 11.77; Duncan p ≤ .05).
Ähnlich wie bei der ASDS-3-Cluster-Lösung liegt der IQ der Kinder des „unauffälligen“ Clusters 3 über dem IQ der beiden „auffälligen“ Cluster (IQCluster 3 = 112;
IQCluster 2 = 104; IQCluster 1 = 102; F(2;86) = 5.437; p ≤ .006; Duncan p ≤ .05), die Kinder
in Cluster 1 und 2 unterscheiden sich nicht.
5
Diskussion
Auch wenn es für verschiedene Forschungszweige vorteilhaft sein kann, je nach Fragestellung im autistischen Kontinuum homogene Subgruppen entlang jeweils unterschiedlicher Merkmalsvektoren bilden zu können (Grzadinski et al., 2013), so stellt
sich im diagnostischen, therapeutischen, pädagogischen und sozialrechtlichen Alltag
doch die Frage, welche Subgruppeneinteilung sich als empirisch begründbar und „klinisch nützlich“ erweisen könnte (Kendell u. Jablensky, 2003). Dies bezieht sich nicht
nur auf mögliche Gemeinsamkeiten von Verlauf, Prognose und der sozialrechtlichen
Teilhabe-Beeinträchtigung (vgl. Holtmann u. Schimmelmann, 2014), sondern auch
auf die heuristische Funktion solcher Subgruppen im klinischen Alltag.
Für die vorliegende Untersuchung ist zunächst festzuhalten, dass es bei der 2-ClusterLösung sowohl beim ASDS als auch beim FSK primär die Variablen der sozialen Kommunikation und Interaktion sind, die die Cluster differenzieren. Die adäquate Clusterbenennung wäre damit nicht „autistisch“ versus “nicht-autistisch“ sondern eher „auffällig
in der sozialen Kommunikation und Interaktion “ versus „unauffällig“. Dass beim ASDS
deutlich mehr Items als beim FSK für die Clusterung relevant sind, liegt an der insgesamt geringeren Trennschärfe vieler FSK-Items in der vorliegenden Stichprobe.
Der IQ liegt sowohl im ASDS-Rating als auch beim FSK bei den Kindern des unauffälligen Clusters tendenziell höher (signifikant nur beim FSK-Cluster). Dies könnte
darauf zurückzuführen sein, dass ein Teil der sehr gut bis hochbegabten Kinder häufiger als emotional oder sozial auffällig wahrgenommen werden (Freeman, 1997).
Zudem können möglicherweise intelligentere Kinder soziale Defizite eher kognitiv
kompensieren. Insgesamt lässt sich für die 2-Cluster-Lösungen trotz der etwas unterschiedlichen inhaltlichen Konzeptionen des ASDS und des FSK eine mittlere bis hohe
Übereinstimmung der Clusterzuweisung beider Skalen festhalten.
Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS differenziert sich das kommunikativ-auffällige
Cluster 1 der 2-Cluster-Lösung nun in ein klares „autistisches“ Cluster (Cluster 1), für
das sowohl Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion
(DSM-5-Kriterium A) als auch rigide und repetitive Verhaltens- und Interessemuster
und sensorische Auffälligkeiten (Kriterium B) konstituierend sind. Davon abgrenzbar
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 425
ist ein Cluster (Cluster 2), dessen Kinder nur sozial-kommunikative Auffälligkeiten
zeigen und bei denen die Symptome des Kriteriums B fehlen. Die Kinder des Clusters
3 sind in beiden Symptombereichen unauffällig. Beim Vergleich der beiden ASDSCluster-Lösungen zeigt sich zudem eine hohe Stabilität der Clusterzuweisung : Mit
zwei Ausnahmen bleiben die Kinder bei beiden Lösungen in den „auffälligen“ oder
„unauffälligen“ Clustern.
Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS entspricht das Cluster 1 den DSM-5-Kriterien
für eine „autistische Störung“ (299.0). Auch wenn für das Cluster 2 nur das Item „hat
Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten“ signifikant gruppiert – die Items
„spielt lieber mit Erwachsenen“ und „hat keine Freunde“ verfehlen die Signifikanzgrenze knapp – entspricht dieses Cluster möglicherweise der neuen DSM-5-Diagnose
einer „Störung der sozialen Kommunikation (315.39)“. Da diese Diagnose aber nur
für die Kinder vergeben wird, die auch in jüngerem Alter keine rigide und repetitiven
Verhaltens- und Interessemuster aufwiesen, müssten zur weiteren Klärung dieser Frage nicht nur aktuelle sondern auch lebenszeitliche Daten vorliegen.
Bemerkenswert ist bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS, dass sich eine sensorische
Auffälligkeit („reagiert ungewöhnlich auf laute Geräusche“) statistisch als deutlich relevanter für das „autistische“ Cluster erweist als repetitive oder rigide Muster und Interessen. Obwohl bereits von Hans Asperger (1938) beschrieben, waren ja sensorische
Auffälligkeiten im DSM-IV noch nicht Bestandteil der Diagnosekriterien und wurden
nun neu in das DSM-5 aufgenommen.
In der vorliegenden Stichprobe sind die Kinder des „autistischen“ ASDS-Clusters
circa zwei Jahre jünger als die nur kommunikativ-auffälligen Kinder des Clusters 2.
Dies liegt vermutlich daran, dass diese Kinder aufgrund der komplexeren Probleme
früher auffallen (Perry, 2004). Dass über die ASDS-Ratings nur 21,8 % der uns vorgestellten Autismus-Verdachtsfälle einem „autistischen Cluster“ zugewiesen werden,
spricht gegen die Vermutung, eine zu breit angelegte Definition autistischer Störungen
begünstige Überdiagnosen (vgl. Holtmann u. Schimmelmann, 2014).
Auch bei der 3-Cluster-Lösung des FSK bleibt die Gruppe der „unauffälligen“ Kinder
(Cluster 3) relativ konstant. Die Ausdifferenzierung des „auffälligen“ Clusters erfolgt
beim FSK nun entlang der Variablen der sozialen Kommunikation und Interaktion
(DSM-5-Kriterium A) (Cluster 1) und der Variablen der restriktiven und repetitiven
Muster (DSM-5-Kriterium B) (Cluster 2). Ähnlich wie bei dem „autistischen“ Cluster
1 der ASDS-3-Cluster-Lösung sind auch die Kinder des Clusters 2 der FSK-3-ClusterLösung signifikant jünger als Kinder des Clusters 1, die primär sozial-kommunikativ
auffällig sind.
Dass bei der ASDS- und FSK-3-Cluster-Lösung die beiden auffälligen Cluster nicht
deckungsgleich sind, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich die Iteminhalte
der beiden autistischen Symptombereiche in beiden Skalen teilweise erheblich unterscheiden. Zudem sind einige FSK-Items (z. B. „schließt sich spontan Gruppenspielen
an“, „spielt irgendwelche So-Tun-Als-Ob-Spiele“ oder „ahmt spontan Dinge nach (…)
wie Staubsaugen“) eher für das Vorschulalter relevant als für die von uns untersuchte
426 X. Kienle et al.
Altersgruppe. Dies ist vermutlich auch die Ursache dafür, dass beim FSK mit 48 % der
Stichprobe deutlich mehr Kinder dem „unauffälligen“ Cluster 3 zugewiesen werden
als beim ASDS (38 %).
Leider ergaben sich weder aus den dargestellten Clusterlösungen noch aus der nachträglichen Analyse der Ausreißercluster (ein Kind bei der FSK-3-Cluster-Lösung, fünf
Kinder beim ASDS) die erhofften Hinweise auf Diagnosealternativen.
Einschränkend ist zunächst festzuhalten, dass die vorliegende exploratorische Clusteranalyse die Existenz von Subgruppen nicht „beweisen“ kann (Schendera, 2010).
Nachteilig für die Güte der gefundenen Cluster war zudem der immer noch zu geringe Stichprobenumfang in Relation zu den untersuchten Variablen und die fehlende
Validierung mit einem anderen clusteranalytischen Verfahren.
Als nicht nur theoretisches, sondern sehr praktisches Problem erwies sich die Tatsache, dass in beiden Ratingskalen viele Items mehrdeutig formuliert sind (z. B. FSKItem 3: „spricht merkwürdig oder wiederholt Dinge gleichlautend (…)“), sich teilweise logisch widersprechen (z. B. die ASDS-Items „zeigt kaum Interesse an anderen
Kindern“ und „hat keine Freunde, obwohl der Wunsch dazu besteht“) oder möglicherweise qualitativ unterschiedliche Merkmale in einem Item zusammenfassen (z. B.
beim FSK-Item 1 das Lauschen an Wasserleitung mit dem Interesse an Fahrplänen).
Dies erhöhte in unserer Untersuchung nicht nur den Anteil der unvollständigen Datensätze, da sich die Eltern in der Beantwortung unsicher waren, sondern verringerte
auch die Trennschärfe und damit die Clusterrelevanz dieser Items.
Zuletzt ist kritisch anzumerken, dass in der vorliegenden Untersuchung nur aktuelle
Symptome in die Clusterbildung eingingen. Da für das DSM-5 aber auch Symptome
früherer Entwicklungsphasen diagnoserelevant sein können, ist die Vergleichbarkeit
der gefundenen Cluster mit den neuen DSM-5-Diagnosekriterien eingeschränkt.
Fazit für die Praxis
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass sich auch bei einer dimensionalen
Konzeption der autistischen Störung Subgruppen empirisch begründen lassen.
Die Relevanz der einzelnen Variablen für die Clusterbildung macht deutlich, dass
im diagnostischen Prozess primär Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion erfasst werden sollten und erst sekundär ritualisierte und
rigide Verhaltensmuster und Interessen.
Bei der Verwendung von Ratingskalen ist zu berücksichtigen, dass diese aufgrund unterschiedlicher Iteminhalte und unterschiedlicher Altersadäquatheit
auch unterschiedliche Cluster generieren.
Dass die Clusteranalyse nur 22 % der Verdachtsfälle tatsächlich dem autistischen Cluster zuweist, spricht gegen die häufig geäußerte Kritik, die zu breite
Konzeption der autistischen Störung begünstige Überdiagnosen.
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Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 427
Zusatzmaterial zu diesem Beitrag finden Sie zum Herunterladen auf der Detailseite
von Jahrgang 64 der „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie“, Heft 64,6,
unter www.v-r.de
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DC: American Psychiatric Association.
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Korrespondenzanschrift: Dipl.-Psych. Xaver Kienle, Klinik für Kinderneurologie
und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum, Knittlinger Steige 21, 75433 Maulbronn;
E-Mail: [email protected]
Xaver Kienle, Verena Freiberger, Heide Greulich und Rainer Blank, Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn
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Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit:
Ein Vergleich unterschiedlicher Klassenstufen
Jan Schultheiß, Franz Petermann und Ulrike Petermann
Summary
On the Effectiveness of the Prevention Program JobFit: A Comparison of Different Class Levels
The JobFit-Training for adolescents (Petermann u. Petermann, 2010) is a well documented behavioural psychological prevention program for students from the eighth grade and up. The
present study examines the results of the evaluation of the practical implementation of the training over the course of two years. Data from 828 students could be collected in two measurements, before and after the intervention, out of which 323 were eighth-graders and 505 were
ninth-graders. The analysis showed that eighth-graders profit more with regards to acquiring
knowledge through the training than ninth-graders do. However, unlike male eighth-graders,
female eighth-graders were unable to furthermore improve their social competences through
the training. On the other hand the ninth-graders profit from the training in both groups with
regards to their social competences.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 429-442
Keywords
adolescence – JobFit-Training – school-based prevention – social competences
Zusammenfassung
Mit dem JobFit-Training für Jugendliche (Petermann u. Petermann, 2010) liegt ein gut dokumentiertes verhaltenspsychologisch basiertes Präventionsprogramm für den Einsatz in Schulen
ab der achten Klasse vor. Die vorliegende Studie fasst die Evaluationsergebnisse der praktischen
Umsetzung des JobFit-Trainings zusammen. Es konnten Daten von insgesamt 828 Schülern zu
zwei Erhebungszeitpunkten (vor und nach dem Training) analysiert werden, die sich auf 323
Achtklässler und 505 Neuntklässler verteilen. Die Auswertung zeigte, dass Achtklässler insbesondere beim Wissenszuwachs von dem Training mehr als die Neuntklässler profitieren; Schülerinnen der achten Klasse können sich in ihren sozialen Kompetenzen im Gegensatz zu den Schülern nicht verbessern. Die Neuntklässler hingegen steigern generell ihre sozialen Kompetenzen.
Schlagwörter
JobFit-Training – Jugendalter – schulbasierte Prävention – soziale Kompetenzen
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 429 – 442 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
430 J. Schultheiß et al.
1
Hintergrund
Das Jugendalter ist im Leben eines jeden Menschen entscheidend für die Ausprägung
der Identität (vgl. Fuhrer, 2013). Dieser Lebensabschnitt eröffnet zwar einerseits viele
Möglichkeiten, beinhaltet andererseits jedoch auch entsprechende Risiken (vgl. z. B.
Hackauf u. Ohlbrecht, 2010; Petermann u. Petermann, 2012). Aus den Ergebnissen der
KiGGS-Studie ist bekannt, dass deutsche Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren zu
knapp einem Fünftel nur grenzwertige oder gar defizitäre Ressourcen aufweisen (vgl. Erhart, Hölling, Bettge, Ravens-Sieberer, Schlack, 2007) und auf lange Sicht Gefahr laufen,
psychische Auffälligkeiten zu entwickeln (vgl. Hölling, Erhart, Ravens-Sieberer, Schlack,
2007). Erste Ergebnisse der KiGGS-Folgestudien haben gezeigt, dass die Anzahl an psychosozialen Auffälligkeiten in den letzten circa zehn Jahren auf diesem Niveau stabil
geblieben ist (Hölling, Schlack, Petermann, Ravens-Sieberer, Mauz, 2014). Um Entwicklungsrisiken vorzubeugen, ist eine Unterstützung von Jugendlichen in diesen kritischen
Lebensabschnitten oftmals hilfreich. Einen wichtigen Baustein der Identitätsentwicklung bildet in unserer Gesellschaft die Wahl eines Berufs und die damit verbundene
Entscheidung über den zukünftigen Lebensstil (vgl. Hurrelmann u. Quenzel, 2013).
Die wichtigste Rolle bei der Vorbereitung auf den kritischen Übergang in das Ausbildungs- und Berufsleben kommt der Schule zu, da ein erfolgreicher Schulabschluss
allgemein als Voraussetzung für die Aufnahme einer weiterführenden Ausbildung
angesehen wird. Lehrkräfte versuchen, durch das Hinführen ihrer Schüler zu einem
erfolgreichen Schulabschluss diese bei der Aufnahme einer Ausbildung zu unterstützen. Einen weniger großen Stellenwert nimmt die Vorbereitung der Schüler auf ihre
neue Rolle als Auszubildende ein, in der andere Fähigkeiten als in der Schülerrolle
gefordert werden. Neben einem Schulabschluss erwarten Ausbildungsbetriebe zunehmend auch einen gewissen Grad an Ausbildungsreife der Jugendlichen (vgl. Eberhard
u. Ulrich, 2010). Dies setzt soziale und emotionale Kompetenzen voraus (vgl. Burt,
Obradović, Long, Masten, 2008; Srivastava, Tamir, McGonigal, John, Gross, 2009).
Verschiedene Metaanalysen zeigen, dass Präventionsmaßnahmen die sozialen
Kompetenzen der Teilnehmenden verbessern konnten (vgl. Beelmann u. Raabe, 2007;
Durlak, Weissberg, Dymnicki, Taylor, Schellinger, 2011). Allerdings unterstreicht
eine aktuelle Metaanalyse von Beelmann, Pfost und Schmitt (2014) speziell für den
deutschsprachigen Raum, dass Effektstärken für Präventionsprogramme je nach Setting variieren und generell im moderaten Bereich liegen.
Da durch die Schulpflicht Jugendliche gut erreichbar sind, sollten bereits in der Schule
Präventionsprogramme zum Aufbau sozial-emotionaler Kompetenzen Bestandteil des
Unterrichtsalltags sein. Schulische Leistungen und soziale Kompetenz beeinflussen sich
gegenseitig (vgl. Endlich, Dummert, Schneider, Schwenck, 2014), wobei man von einem
positiven Einfluss der sozialen Kompetenz auf die Schulleistungen und damit auf den
Erfolg im Beruf ausgehen kann (z. B. Barbarin et al., 2013). Kinder mit Lernschwierigkeiten weisen besonders häufig eine geringe soziale Kompetenz auf (u. a. Wight u.
Chapparo, 2008); ebenso wird die Beliebtheit bei Gleichaltrigen entscheidend durch
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Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 431
die soziale Kompetenz bestimmt (Ronk, Hund, Landau, 2011) und immer wieder wird
bestätigt, dass aggressive Jugendliche eine besonders niedrige soziale Kompetenz aufweisen (vgl. Burt et al., 2008), wobei diese bei weiblichen Jugendlichen höher ausgeprägt ist (Card, Stucky, Sawalani, Little, 2008; Dollar u. Stifter, 2012; Eisenberg u. Faber,
2006). Niedrige soziale Kompetenzen und Verhaltensprobleme stellen ein ausgeprägtes
Handicap im Rahmen der beruflichen Orientierung dar. Will man diese Problemlage
bearbeiten, findet man weder im deutschsprachigen Raum noch international eine ausreichende Anzahl an Präventionsansätzen, deren Wirksamkeit belegt ist (Beelmann u.
Lösel, 2007; Jürgens u. Lübben, 2013).
2
JobFit-Training
Einen Beitrag zur schulischen Berufsvorbereitung auf verhaltenspsychologischer
Grundlage liefert das JobFit-Training für Jugendliche von Petermann und Petermann
(2010). Es richtet sich vornehmlich an Haupt- und Realschüler ab der achten Klasse, die
kurz vor dem Eintritt ins Ausbildungs- und Berufsleben oder vor dem Absolvieren von
ersten Schulpraktika stehen. Das Training wird im Rahmen des regulären Schulunterrichtes von einem Trainertandem durchgeführt und findet einmal pro Woche statt. Die
insgesamt zehn Sitzungen dauern jeweils 90 Minuten und behandeln Themen, die im
Zusammenhang mit dem Berufseinstieg für die Jugendlichen von Relevanz sind.
Das JobFit-Training wurde auf Basis des Therapieprogramms „Training mit Jugendlichen“ (Petermann u. Petermann, 2010) entwickelt und bereits in kleineren Stichproben auf seine Wirksamkeit hin überprüft. Hier konnten positive Kurz- und Langzeiteffekte nachgewiesen werden (Laakmann, Schultheiß, Petermann, Petermann, 2013;
Schultheiß, Petermann, Petermann, 2012, 2013). Das JobFit-Training wird meist als
universelle Präventionsmaßnahme in Schulklassen eingesetzt, um die sozial-emotionalen Kompetenzen der Teilnehmer zu fördern.
Das JobFit-Training soll in erster Linie berufsbezogene soziale Kompetenzen steigern, die im Rahmen der beruflichen Ausbildung benötigt werden. Diese Kompetenzen schließen ein angemessenes Sozial- und Lernverhalten ein. Soziale Kompetenzen umfassen auch entsprechende emotionale Kompetenzen (vgl. Arsenio, Adams,
Gold, 2009). Gut, Reimann und Grob (2012) konnten zeigen, dass eine hohe Ausprägung sozial-emotionaler Kompetenzen auch mit besseren Schulnoten einhergeht.
Ebenso werden sozial-emotionale Kompetenzen mit positiverem Unterrichtserleben
und höheren Lernerfolgen in bestimmten Gruppenunterrichtsformen in Verbindung
gebracht (Jurkowski u. Hänze, 2010, 2012).
Das methodische Vorgehen im JobFit-Training greift auf bewährte verhaltenspsychologische Methoden zurück, wie beispielsweise Selbstbeobachtung, Selbstkontrolltechniken, Feedback- und Verstärkungssysteme und Verhaltensübungen in Form
von Rollenspielen. Eine Förderung der Selbstwirksamkeit wird durch selbst gesetzte
Verhaltensziele und deren ritualisierte Überprüfung angestrebt. Bandura betont in
432 J. Schultheiß et al.
seinem Grundlagenwerk „Self-Efficacy“ (2003) die Bedeutung, die der Schule im Zusammenhang mit der Entstehung von Selbstwirksamkeit zukommt (Bandura, 2003, S.
174ff.). Eine detaillierte Darstellung des JobFit-Trainings findet sich im Trainingsmanual (Petermann u. Petermann, 2010).
3
Methode
3.1
Fragestellungen
Zurzeit ist noch weitgehend ungeklärt, in welcher Klassenstufe ein berufsvorbereitendes Training wie das JobFit-Training durchgeführt werden sollte. Es ist zu vermuten, dass jüngere Schüler (8. Klasse), die noch nicht stark den Druck einer beruflichen Entscheidung spüren, das Angebot weniger intensiv nutzen als ältere Schüler
(9. Klasse). Es ist also zu klären, wann die Bereitschaft, sich mit den Trainingsinhalten auseinanderzusetzen, besonders stark ausgeprägt ist. Weiter ist zu vermuten,
dass Mädchen aufgrund ihrer stärker ausgeprägten sozialen Kompetenzen einen
geringeren Gewinn aus dem JobFit-Training ziehen.
Um diese Fragestellungen mit Hilfe objektiver Informationen in Zukunft eventuell
besser beantworten zu können, wurden die Daten, die im Rahmen der Evaluation des
Trainings gesammelt wurden, mit besonderer Berücksichtigung der Klassenstufe und
unter Einbezug des Geschlechtes ausgewertet.
3.2
Stichprobe
Über Zeitungsanzeigen und einen Rundbrief der Senatorin für Bildung und Wissenschaft des Landes Bremen wurden die Schulen in Bremen und dem näheren Umland
auf das Angebot aufmerksam gemacht. Vorrangig meldeten sich achte und neunte
Klassen für das Training an, in wenigen Fällen auch zehnte Klassen, Werkschulklassen
und Förderklassen. Da aus den drei letztgenannten Gruppen jedoch keine mit den
beiden ersten Gruppen annähernd vergleichbaren Stichprobengrößen von N >100 gewonnen werden konnten, beschränkt sich die vorliegende Studie auf einen Vergleich
zwischen den 19 achten und 44 neunten Klassen der 16 Regelschulen, die am Training
teilnahmen. Insgesamt nahmen wesentlich mehr Schüler am Training teil, als am Ende
in diese Untersuchung eingehen konnten. Aufgrund von fehlenden Daten zu einem
der Messzeitpunkte oder aufgrund fehlender Einverständniserklärungen mindestens
eines Elternteils konnte circa ein Drittel der Schüler, die am Training teilnahmen,
nicht in die Analysen mit einbezogen werden, was ungefähr 450 Schülern entsprach.
Insgesamt konnten für die achten Klassen jedoch Daten von N = 323 Schülern und
für die neunten Klassen von N = 505 Schülern für die Auswertung genutzt werden,
was einer Gesamtstichprobe von N = 828 Schülern entspricht. Die Geschlechterverteilung war in allen drei Gruppen ausgeglichen. In den achten Klassen befanden sich
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Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 433
174 Jungen (53,9 %) und 149 Mädchen (46,1 %), während in den neunten Klassen 257
Jungen (50,9 %) und 248 Mädchen (49,1 %) in die Untersuchungen eingingen. Für die
Gesamtgruppe ergibt dies eine Verteilung von 431 Jungen (52,1 %) und 397 Mädchen
(47,9 %). Das Durchschnittsalter der Gesamtstichprobe lag zu Trainingsbeginn bei
14.72 Jahren (Standardabweichung (SD): 0,86), die Achtklässler waren dabei mit 14,05
Jahren (SD: 0,56) in etwa ein Jahr jünger als die Neuntklässler mit 15,15 Jahren (SD:
0,73), was den Erwartungen entspricht.
3.3
Design und Erhebungsinstrumente
Von den am Training teilnehmenden Schülern, bei denen die Erziehungsberechtigten
das Einverständnis erteilt hatten, wurden eine Woche vor (T1) und eine Woche nach
dem Training (T2) Fragebögen ausgefüllt, in denen neben soziodemografischen Angaben auch die Schülereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (SSL; Petermann
u. Petermann, 2014) und Fragen zum Trainingsinhalt bearbeitet wurden. Die SSL stellt
ein ressourcenorientiertes Instrument dar, das auf Basis der Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (LSL; Petermann u. Petermann, 2013) entwickelt wurde und
über eine der LSL vergleichbare Faktorenstruktur verfügt. Dem übergeordneten Bereich
Sozialverhalten sind die sechs Skalen Kooperation, Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle,
Einfühlungsvermögen, Angemessene Selbstbehauptung sowie Sozialkontakt zugeordnet.
Die vier Skalen Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer, Konzentration, Selbstständigkeit
beim Lernen und Sorgfalt beim Lernen bilden gemeinsam den übergeordneten Bereich
Lernverhalten. Die SSL kann sowohl eine zufriedenstellende faktorielle Validität als auch
eine angemessene Reliabilität (Cronbachs Alpha-Werte zwischen .74 und .88; RetestReliabilität zwischen r = .57 und r = .81) vorweisen (Petermann u. Petermann, 2014).
Die Konstrukvalidität der SSL belegt eine Untersuchung von Lohbeck, Petermann,
Nitkowski und Petermann (2014). Studien zur Korrelation mit Schulnoten (Lohbeck,
Petermann, Petermann, 2014a) und aggressivem Verhalten (Lohbeck, Petermann, Petermann, 2014b) liefern Hinweise auf die konvergente Validität.
Um zu bewerten, ob es gelungen war, die Inhalte des Trainings zu vermitteln, wurden sechs Items formuliert (s. Kasten 1), die zur Gesamtskala Trainingsinhalte zusammengefasst wurden. Die interne Konsistenz dieser Skala lag mit einem Cronbachs Alpha von 0.701 im zufriedenstellenden Bereich.
Kasten 1: Aussagen zum Trainingsinhalt zur Evaluation des JobFit-Trainings (Wissenstest)
1. Ich weiß über die Vor- und Nachteile von verschiedenen Berufen Bescheid.
2. Ich weiß, wie ich meine eigene Meinung vertreten kann.
3. Ich weiß, wie die Menschen um mich herum sich fühlen.
4. Ich weiß, wie ich mich in einem Vorstellungsgespräch verhalten sollte.
5. Ich weiß, was ich in einem Vorstellungsgespräch gefragt werden könnte.
6. Ich weiß, wie ein Außenseiter sich fühlt.
Bewertung: stimmt nicht = 0, stimmt kaum = 1, stimmt eher = 2, stimmt genau = 3
434 J. Schultheiß et al.
3.4
Statistische Auswertungsstrategie
Die gewonnenen Daten wurden unter Nutzung von Microsoft Access 2007 in eine
Datenbank eingegeben, aus der die für die Berechnungen notwendigen Tabellen erstellt wurden. Fragebögen mit einem offensichtlichen Antwortmuster oder mit einem
Anteil von mehr als 10 % missing values gingen nicht in die Berechnungen ein. Fehlende Werte wurden mithilfe der Expectation maximization (EM) Methode ersetzt
(vgl. Tabachnick u. Fidell, 2013). Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit
dem Programm SPSS 22 nach dem allgemeinen linearen Modell mit Messwiederholung. Als Zwischensubjektfaktoren wurden die Klassenstufe und das Geschlecht
gewählt. Die Post-hoc-Einzelvergleiche wurden nach Bonferroni alpha-adjustiert.
Bei Verletzung der Spherizität wurde die Korrektur nach Greenhouse-Geisser angewandt (vgl. Field, 2013). Darüber hinaus wurden die Ergebnisse separat für beide
Klassenstufen noch einmal getrennt nach Geschlecht ausgewertet, da eine einfache
Post-Hoc-Analyse in SPSS die F-Werte dieser Berechnungen sowie ŋ2 nicht ausgibt.
Die Effektstärke ŋ2 wird analog zu Cohen (1988) eingeteilt in klein (ŋ2 > 0.01), mittel
(ŋ2 > 0.06) und groß (ŋ2 > 0.13). Um die gewonnenen Ergebnissen der Varianzanalysen kritisch zu betrachten, wurde das Signifikanzniveau auf p < .01 gesetzt.
3.5
Durchführung des JobFit-Trainings
Praktisch umgesetzt wurde das Training von insgesamt 24 Studierenden der Studiengänge „Klinische Psychologie“ (M. Sc.) und „Psychologie“ (B. Sc.). Diese wurden
von Mitarbeitern des Lehrstuhls für Klinische Kinderpsychologie in einer zweitägigen Intensivschulung (16 Schulungseinheiten à 45 Minuten) in der Trainingsdurchführung fortgebildet und mit Rollenspielen auf ihren Einsatz in der Schulklasse vorbereitet. Darüber hinaus fand eine eintägige Schulung (6 Schulungseinheiten
à 45 Minuten) mit den Lehrkräften der teilnehmenden Schulklassen statt, die die
Studierenden bei der Durchführung unterstützten; alle Trainer erhielten ein Supervisionsangebot, zudem wurde mindestens ein Hospitationstermin realisiert, der von
den Projektbetreuern während des Trainings verbindlich angeboten wurde.
4
Ergebnisse
Die Mittelwerte und Standardabweichungen der übergeordneten Bereiche Sozialverhalten und Lernverhalten der SSL sowie der dazugehörigen Skalen und die
Ergebnisse des Wissenstests (Kasten 1) sind für beide Erhebungszeitpunkte in
Tabelle 1 dargestellt. Die Ergebnisse sind für die beiden Klassenstufen und nach
Geschlecht getrennt aufgeführt. Die Achtklässler erzielen vor Trainingsbeginn im
Sozialverhalten insgesamt höhere Werte und berichteten damit von sozial angemessenerem Sozialverhalten als die Neuntklässler; erwartungsgemäß schätzen sich in
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Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 435
beiden Klassenstufen die Schülerinnen als sozial kompetenter ein als die Schüler.
Beim Lernverhalten bewerten sich die Achtklässler ebenfalls ein wenig besser als die
Neuntklässler, wobei hier die Geschlechterunterschiede mit einer Ausnahme gering
ausgeprägt sind; lediglich in der Skala Sorgfalt beim Lernen schätzen die Schülerinnen sich etwas besser ein als die Schüler. Was das Wissen um die Trainingsinhalte
angeht, schätzen sich die Neuntklässler vor dem Training als kompetenter ein als die
Achtklässler; hier sind jedoch keine Geschlechterunterschiede festzustellen.
Tabelle 1: Mittelwerte der SSL-Skalen und der Trainingsinhalte zu T1 und T2
T1
8. Klasse
M
Bereich Sozialverhalten
70.40
Kooperation
12.31
Selbstwahrnehmung
11.31
Selbstkontrolle
11.61
Einfühlungsvermögen
12.31
Selbstbehauptung
11.36
Sozialkontakt
11.51
Bereich Lernverhalten
44.58
Anstrengungsbereitschaft
11.11
Konzentration
10.32
Selbstständigkeit beim Lernen
11.29
Sorgfalt beim Lernen
11.87
Trainingsinhalte
11.83
m
w
68.94
72.10
12.19
12.45
11.10
11.55
11.53
11.69
11.66
13.07
11.06
11.71
11.41
11.63
44.37
44.83
11.29
10.89
10.29
10.36
11.41
11.14
11.37
12.44
11.81
11.85
T2
9. Klasse
M
68.37
11.99
11.25
11.18
11.99
10.98
10.97
43.63
10.82
10.21
10.87
11.73
12.24
m
w
66.31
70.47
11.78
12.20
10.94
11.57
11.10
11.27
11.16
12.84
10.64
11.32
10.69
11.26
42.68
44.61
10.77
10.86
10.10
10.32
10.79
10.96
11.02
12.47
12.16
12.32
8. Klasse
M
71.37
12.55
11.45
11.70
12.27
11.66
11.75
44.69
10.99
10.49
11.33
11.89
13.88
m
w
70.44
72.46
12.47
12.65
11.29
11.63
11.78
11.60
11.78
12.83
11.41
11.95
11.71
11.80
44.77
44.61
11.13
10.82
10.57
10.39
11.48
11.16
11.58
12.25
13.78
13.99
9. Klasse
M
69.65
12.27
11.36
11.35
12.18
11.39
11.10
43.84
10.86
10.51
10.85
11.63
13.32
m
w
67.69
71.67
12.01
12.55
11.05
11.68
11.18
11.52
11.37
13.02
11.09
11.70
11.00
11.21
42.84
44.87
10.75
10.96
10.36
10.66
10.80
10.91
10.93
12.34
13.11
13.54
Anmerkungen: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, m = männlich, w = weiblich, T1 = vor
Trainingsbeginn, T2 = nach Trainingsende. Mögliche Rohwertspannen: Sozialverhalten: 0-90; Lernverhalten: 0-60; SSL Skalen: 0-15; Trainingsinhalte: 0-18
436 J. Schultheiß et al.
Interessant für die vorliegende Studie ist jedoch insbesondere eine Betrachtung von
Tabelle 2, die die Ergebnisse der varianzanalytischen Auswertung im Zeitverlauf
wiedergibt. Es zeigt sich sowohl für die achten als auch die neunten Klassen ein signifikanter (p = .004 und p < .001) Anstieg der Mittelwerte mit kleinen Effektstärken
(ŋ2 = 0.025 und ŋ2 = 0.041) in der SSL im übergeordneten Bereich Sozialverhalten
(vgl. Tab. 2). Eine genauere Differenzierung nach Geschlechtern zeigt, dass die Effekte bei den Schülern der achten Klassen besonders ausgeprägt sind (p(m) = .002,
ŋ2(m) = 0.056), während die Schülerinnen der achten Klasse sich in diesem Bereich
nicht signifikant verbessern (p(w) = .453). Die männlichen Achtklässler schätzen
sich jedoch auch nach Trainingsende immer noch schlechter ein als die Mädchen,
wobei sich der Abstand zwischen den Werten verkleinert hat. Die Effekte im Bereich
Sozialverhalten sind in der neunten Klasse hingegen in beiden Geschlechtergruppen
deutlich (p(m) = .001, ŋ2(m) = 0.041; p(w) = .001, ŋ2(w) = 0.043). Eine Betrachtung
der zum Sozialverhalten gehörigen Skalen zeigt in der achten Klasse lediglich eine
signifikante Verbesserung in der Skala Selbstbehauptung in der Gesamtgruppe mit
kleiner Effektstärke (p = .006, ŋ2 = 0.023), der getrennt nach Jungen und Mädchen
nicht mehr die Signifikanz erreicht (p(m) = .019; p(w) = .138). In der neunten Klasse
findet sich ebenfalls eine signifikante Verbesserung in der Skala Selbstbehauptung
mit einem kleinen Effekt (p < .001, ŋ2 = 0.042), die sich hier sowohl bei Jungen
(p(m) < .001, ŋ2(m) = 0.047) als auch bei Mädchen (p(w) = .002, ŋ2(w) = 0.037)
zeigt. Darüber hinaus findet sich in der neunten Klasse noch eine signifikante Verbesserung in der Skala Kooperation mit kleiner Effektstärke (p = .001, ŋ2 = 0.022),
der bei genauerer Betrachtung der Geschlechter nur bei den Mädchen als signifikant
zu bewerten ist (p(w) = .002, ŋ2(w) = 0.039; p(m) = .080). In den restlichen Skalen
finden sich zwar teilweise tendenzielle Verbesserungen, diese sind jedoch nicht als
signifikant zu bewerten.
Der übergeordnete Bereich Lernverhalten in der SSL wies in keiner der Gruppen
signifikante Veränderungen auf. Bei den Achtklässlern zeigen sich in allen vier Skalen
keine Veränderungen. Bei den Neuntklässlern findet sich auf der Skala Konzentration
jedoch eine signifikante Verbesserung mit kleiner Effektstärke (p = .001, ŋ2 = 0.022),
die allerdings wie bereits in der Skala Kooperation nur für die Mädchen die Signifikanz
erreicht (p(w) = .004, ŋ2(w) = 0.032; p(m) = .56). Die restlichen drei Skalen im Bereich
Lernverhalten weisen bei den Neuntklässlern ebenfalls keine signifikanten Veränderungen auf.
Der Bereich Trainingsinhalte zeigt in der achten Klasse sowohl in der Gesamtgruppe
(p < .001, ŋ2 = 0.279) als auch in den Geschlechtsgruppen (p(m) < .001, ŋ2(m) = 0.279;
p(w) < .001, ŋ2(w) = 0.280) signifikante Verbesserungen mit großer Effektstärke. In
der neunten Klasse findet sich ebenfalls in der Gesamtgruppe eine signifikante positive Veränderung mit großer Effektstärke (p < .001, ŋ2 = .138). Auch in den beiden
Geschlechtergruppen zeigen sich signifikante Verbesserungen (p(m) < .001; p(w) <
.001), die Effektstärken liegen hier bei den Jungen im mittleren (ŋ2(m) = 0.125) und
bei den Mädchen im großen (ŋ2(w) = 0.151) Bereich.
ipabo_66.249.69.239
Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 437
Tabelle 2: Ergebnisse der Varianzanalysen der SSL-Skalen und der Trainingsinhalte
8. Klasse
F
m
w
Bereich Sozial8.41
verhalten
10.20
Kooperation
3.97
6.46
0.57
2.48
Selbstwahrnehmung 1.66
1.57
Selbstkontrolle
2.87
0.65
Einfühlungsvermögen
0.13
Selbstbehauptung
7.62
Sozialkontakt
4.41
0.28
0.31
0.66
2.99
5.61
2.22
3.20
1.25
Bereich
Lernverhalten 0.17
1.02
Anstrengungs1.09
bereitschaft
0.88
Konzentration
3.59
Selbstständig
Lernen
Sorgfalt
beim Lernen
Trainingsinhalte
2.44
0.17
0.04
124.86
0.29
0.24
0.05
0.19
0.02
1.65
1.20
67.08
57.66
p
.004*
.012
.198
.421
.715
.006*
.037
.681
.298
.119
.678
.839
.000**
9. Klasse
m
w
.002*
.453
.048
.117
.212
.599
.092
.580
.416
.086
.019
.138
.075
.265
.314
.591
.349
.626
.060
.831
.664
.891
.200
.276
.000**
.000**
ŋ2
.025
.020
.005
.002
.000
.023
.014
.001
.003
.008
.001
.000
.279
m
w
.056
.004
.022
.016
.009
.002
.016
.002
.004
.020
.031
.015
.018
.008
.006
.002
.005
.002
.020
.000
.001
.000
.009
.008
.279
.280
F
21.77
11.46
1.44
3.10
5.09
22.08
1.98
0.79
0.23
11.18
0.03
1.32
80.39
m
w
10.88
11.04
3.09
10.18
0.69
0.78
0.32
4.14
2.38
2.92
12.48
9.58
5.58
0.16
0.23
0.61
0.03
0.78
3.70
8.25
0.02
0.18
0.42
1.00
36.47
44.00
p
.000**
.001*
.231
.079
.024
.000**
.160
.374
.633
.001*
.854
.250
.000**
m
w
.001*
.001*
.080
.002*
.408
.379
.572
.043
.124
.089
.000**
.002*
.019
.688
.630
.435
.873
.379
.056
.004*
.889
.670
.518
.319
.000**
.000**
ŋ2
.041
.022
.003
.006
.010
.042
.004
.002
.000
.022
.000
.003
.138
m
w
.041
.043
.012
.039
.003
.003
.001
.016
.009
.012
.047
.037
.021
.001
.001
.002
.000
.003
.014
.032
.000
.001
.002
.004
.125
.151
Anmerkungen: *p < .01. **p < .001, Klassifikation der Effektstärken nach Cohen (1988): ŋ2 > 0.01 = klein,
ŋ2 > 0.06 = mittel, ŋ2 > 0.13 = groß
5
Diskussion
Die vorliegende Studie hatte die Analyse der klassenstufenspezifischen Wirksamkeit
des JobFit-Trainings zum Ziel. Es muss darauf hingewiesen werden, dass alle Aussagen auf Selbsteinschätzungen der Schüler basieren. Auffällig ist ein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die sozialen Kompetenzen der Mädchen waren in beiden
438 J. Schultheiß et al.
Klassenstufen erwartungsgemäß bereits vor Trainingsbeginn höher als die der Jungen (vgl. z. B. Dollar u. Stifter, 2012; Eisenberg u. Faber, 2006). Es fanden sich über
den Trainingszeitraum hinweg einige signifikante Verbesserungen in sämtlichen
möglichen Untergruppen. Es konnte zusammenfassend gezeigt werden, dass die
Effekte im Bereich der Trainingsinhalte bei den Achtklässlern wesentlich deutlicher
ausgeprägt sind als bei den Neuntklässlern, während diese sich hingegen deutlicher
in den Skalen der SSL verbessern. Im Bereich Sozialverhalten finden sich sowohl in
den achten als auch in den neunten Klassen signifikante Verbesserungen mit kleinen Effektstärken. Betrachtet man diese jedoch noch einmal nach Geschlecht getrennt, zeigt sich, dass diese positive Verhaltensänderung lediglich auf Effekte der
männlichen Achtklässler zurückzuführen ist, während in der neunten Klasse beide
Geschlechtergruppen ihre Werte signifikant verbessern.
Die positiven Veränderungen im Sozialverhalten bei den männlichen Achtklässlern
spiegeln sich nicht in den dazugehörigen Unterskalen wider. In den Skalen der SSL
tritt in der achten Klasse lediglich eine signifikante Verbesserung in der Gesamtgruppe in der Skala Selbstbehauptung auf, bei den geschlechtsspezifischen Betrachtungen
finden sich zwar tendenzielle Verbesserungen, diese erreichen allerdings nicht die
Signifikanzgrenze. In der neunten Klasse berichten zwar beide Geschlechtergruppen
im Bereich Sozialverhalten ähnlich starke Effekte, jedoch resultieren diese aus Veränderungen in unterschiedlichen Skalen. Während die Jungen sich lediglich in der
Skala Selbstbehauptung signifikant verbesserten, zeigten sich solche Effekte für die
Mädchen in den Skalen Selbstbehauptung und Kooperation. Darüber hinaus gaben
Schülerinnen der neunten Klassen in der Skala Konzentration des Bereiches Lernverhalten kleine Veränderungen an. Diese Ergebnisse decken sich mit Ergebnissen der
Studie von Laakmann et al. (2013), die in ihrer Stichprobe ebenfalls Verbesserungen
in den Skalen Kooperation und Selbstbehauptung feststellen konnten. In der Studie von
Schultheiß et al. (2013) waren Effekte auf diesen Skalen auch sechs Monate nach Trainingsende noch stabil.
Eine besonders deutliche Verbesserung konnte für alle Gruppen im Bereich Trainingsinhalte erzielt werden. Hier lagen die Achtklässler – nach ihren eigenen Angaben
– deutlich vor den Neuntklässlern, sie steigerten ihr Wissen über die Trainingsinhalte
um etwa das Zweifache.
Nach Betrachtung dieser Ergebnisse kann man schlussfolgern, dass über den
Trainingszeitraum hinweg zwar alle Gruppen von dem Training profitierten, einige
jedoch anscheinend mehr als andere. Neuntklässler waren eher in der Lage, ihre
sozialen Kompetenzen im Rahmen des Trainings zu verbessern. Dies kann damit
zusammenhängen, dass sie eventuell durch einen näheren zeitlichen Bezug zum bevorstehenden Berufsleben motivierter sind, Änderungen auf der Verhaltensebene
anzustreben.
Bemerkenswert ist, dass die Achtklässler im Bereich Trainingsinhalte nach dem Training sogar höhere Werte aufweisen als die Neuntklässler. Diese Ergebnisse lassen die
Interpretation zu, dass in der achten Klassenstufe vor allem ein großes Interesse an der
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Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 439
kognitiven Auseinandersetzung mit dem Thema „Berufseinstieg“ besteht und daher der
Wissenszuwachs besonders ausgeprägt ist. In der neunten Klasse wird das Wissen um
die Trainingsinhalte bereits als höher eingeschätzt, weswegen das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Thema und damit auch der Wissenszuwachs hier geringer
sein könnten. Es ist interessant, dass sich das Sozialverhalten der Neuntklässler einerseits in beiden Geschlechtergruppen und darüber hinaus in mehr Bereichen signifikant
steigert als jenes der Achtklässler. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Werte der Neuntklässler vor Trainingsbeginn bereits niedriger sind. Es wäre zu überlegen,
ob eventuell generell die Werte, insbesondere der weiblichen Achtklässler, ohne soziale Kompetenztrainings über die Zeit nicht abgenommen hätten. Der Gesamtwert im
Sozialverhalten wird von den weiblichen Neuntklässlern niedriger eingeschätzt als von
den weiblichen Achtklässlern. Eventuell hat das Training also zur Stabilisierung der sozialen Kompetenz der weiblichen Achtklässler beigetragen. Diese Hypothese ließe sich
nur durch eine gründlich geplante Kontrollgruppenstudie überprüfen, die in der Praxis
leider nur sehr schwer zu realisieren ist.
Da in universellen Präventionsprogrammen generell oft nur kleinere Effekte erwartet werden können (vgl. Beelmann et al., 2014), wäre es möglich, dass für die
Achtklässler eine noch größere Stichprobe notwendig wäre, um eventuell vorhandene, kleine Effekte sicher darstellen zu können. Dies würde jedoch nicht den Ergebnissen von Schultheiß et al. (2012, 2013) entsprechen, die in ihren Studien wesentlich deutlichere Effekte für Achtklässler – jedoch nicht nach Geschlecht getrennt
– aufdecken konnten. Es stellt sich also auch die Frage, warum die Effekte in der vorliegenden Studie geringer ausfielen. Möglich wäre hier eine Verzerrung der Ergebnisse durch weniger erfahrene Trainer – in den zuvor genannten Studien waren aufgrund der wesentlich kleineren Stichproben auch wesentlich weniger Trainer zum
Einsatz gekommen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie enger untereinander
kooperieren konnten. Hinzu kommt, dass in diese früheren Studien nur Datensätze
von Schülern einflossen, die an mindestens drei (Schultheiß et al., 2012) oder sogar
vier (Schultheiß et al., 2013) Erhebungen teilgenommen hatten. Möglicherweise hat
man auf diese Weise viele besonders gut motivierte Schüler als Studienteilnehmer
rekrutieren können, die oft am Unterricht teilnahmen. In der vorliegenden Studie
mussten die Befragten nur zu zwei Erhebungszeitpunkten anwesend sein, um in die
Studie eingeschlossen zu werden.
Abschließend bleibt noch die Frage, warum die Effekte im Bereich Sozialverhalten
so viel deutlicher ausfallen als in den untergeordneten Skalen. Dies erklärt sich daraus,
dass sich der Bereich Sozialverhalten aus den sechs oben genannten Skalen zusammensetzt. Somit erreicht dieser einen höheren Gesamtrohwert, der gegenüber einer
Veränderung eher sensitiv ist.
440 J. Schultheiß et al.
Fazit für die Praxis
Es hat sich gezeigt, dass in der achten Klasse ein deutlicherer Wissenszuwachs stattfindet als in der neunten Klasse, was dafür spricht, das JobFit-Training in der achten Klasse durchzuführen – insbesondere, da die Achtklässler durch das Training
am Ende sogar im Wissen den Neuntklässlern überlegen sind. Allerdings zeigten
sich in der achten Klasse bei den Schülerinnen keine signifikanten Veränderungen
im Bereich Sozialverhalten. In der neunten Klasse ist dafür in beiden Geschlechtergruppen ein positiver Effekt in dem Bereich Sozialverhalten zu verzeichnen. Somit
ergibt sich die folgende Empfehlung: Wenn der Fokus auf dem Wissenszuwachs
über die Inhalte des JobFit-Trainings liegen soll, scheint das Training in den achten
Klassen seine beste Wirkung zu entfalten. Wenn man auf eine Verhaltensänderung
zielt, dann scheint das Training in der neunten Klasse wirkungsvoller zu sein.
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Korrespondenzanschrift: Dipl.-Psych. Jan Schultheiß, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen, Grazer Str. 6, 28359 Bremen;
E-Mail: [email protected]
Jan Schultheiß, Ulrike Petermann und Franz Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J):
Entwicklung und Validierung
Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer
Summary
Development and Validation of the Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J)
The Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J) is a paper-pencil-questionnaire that aims
at assessing revenge fantasies of adolescents and facilitates an interpersonal comparison of revenge
fantasies. The RFI-J assesses components concerning the subjective relevance of revenge fantasies,
for example a coherence with emotion regulation and adolescent’s attitudes towards revenge. In
addition, the content of revenge fantasies is measured. The psychometric properties of revenge
fantasies were analysed in two studies: In the first study an early concept of the instrument (consisting of two parts: assessment of subjective relevance of the fantasies and assessment of revenge
fantasy content) was presented to 248 students (123 males) with an average age of 14.9 years (SD =
0.89; Range = 14-18 years). Using Principal Component Analysis (PCA) both parts of the instrument were dimensionalised. Subsequently, scales were built and a first version of the inventory
was developed. In a second study with another sample consisting of 88 students (48 males) with
an average age of 14.9 years (SD = 0.72; Range = 14-17 years) four of the factors which had been
found in the first study were replicated. Furthermore, correlations were found between the RFI-J
and measures of aggression, measures of pro-sociality, as well as measures of physical and psychological complaints. The developed test in its current version consist of two parts (18 and 6 Items).
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 443-459
Keywords
revenge fantasies – adolescents – emotion regulation – questionnaire
Zusammenfassung
Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) ist ein Paper-Pencil-Fragebogen zur Erfassung und zum interpersonellen Vergleich von Rachefantasien bei Jugendlichen. Dabei werden
zum einen die Bedeutung von Rachefantasien für das Individuum, wie etwa die emotionsregulierende Wirkung oder die Einstellung zu Rache, und zum anderen Fantasieinhalte erhoben.
In zwei Studien wurden dafür die psychometrischen Eigenschaften von Rachefantasien untersucht. In der ersten Testvorlage wurde der Konstruktionsentwurf des Verfahrens (unterteilt in
zwei Teile, zur Erfassung der subjektiven Bedeutung der Fantasien und der Fantasieinhalte)
248 Schülern (davon: 123 männlich) mit einem durchschnittlichen Alter von 14.9 Jahren (SD =
0.89; Range: 14-18 Jahre) vorgelegt. Mittels Hauptkomponentenanalyse wurde eine Dimensionierung der beiden Verfahrensteile durchgeführt. Im Anschluss daran wurden Skalen gebildet.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 443 – 459 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
444 S. Warncke et al.
Hieraus entstand eine erste Version des Inventars. In einer Folgeuntersuchung an einer zweiten
Stichprobe mit 88 Schülern (davon: 48 männlich) mit einem durchschnittlichen Alter von 14.9
Jahren (SD = 0.72: Range: 14-17 Jahre) konnten vier der in der ersten Untersuchung gefundenen
Faktoren repliziert werden. Zudem konnten Zusammenhänge zu Maßen der Aggression, der
Prosozialität und körperlichen, sowie psychischen Beschwerden ermittelt werden. Die jetzige
Version des Fragebogens besteht aus zwei Testteilen, die aus 18 bzw. 6 Items bestehen.
Schlagwörter
Rachefantasien – Jugendliche – Emotionsregulation – Fragebogen
1
Theoretischer Hintergrund und Testkonstruktion
Rachefantasien stellen ein nicht direkt beobachtbares Phänomen menschlicher Erlebnisverarbeitung dar, das sich nicht auf der Verhaltensebene manifestieren muss
(Singer, 1977). Bereits Rache selbst ist ein Phänomen, dessen Ausübung durch vielfältige, in einem komplexen Wirkungsgefüge verzahnte Faktoren beeinflusst wird.
Rache wird dabei als Handlung definiert (Gollwitzer, 2004), die den Endpunkt verschiedener intrapsychischer Prozesse markiert und als „an effort by the victim of harm
to inflict damage, injury, discomfort, or punishment on the party judged responsible for
causing the harm“ (Aquino, Tripp, Bies, 2006, S. 654) angesehen werden kann. Die
einer potenziellen Rachehandlung vorausgehenden intrapsychischen Prozesse sind
dann Rachefantasien, -wünsche und -kognitionen, die durch eine – zumindest so
vom Individuum erlebte – Schädigung ausgelöst wurden (z. B. Aquino et al., 2006;
Baron u. Neuman, 1996; Gollwitzer, 2004, 2007; Orth, Maercker, Montada, 2003)
und durch einstellungsbezogene (z. B. Rachelegitimation), emotionale (z. B. Wut,
Katharsis), situative (z. B. Entschuldigung des Schädigers) und motivationale Faktoren (z. B. Wiederherstellung des Selbstwertes) beeinflusst werden.
Da Rachefantasien per se nicht direkt beobachtbar sind, wurde bisher vor allem
ihre potenzielle Manifestation in beobachtbaren Rachehandlungen untersucht. Die
Forschung zeigt, dass Rachehandlungen ein breites Spektrum umfassen können: von
der Verunglimpfung einer Person bis zum Begehen interpersoneller Gewalttaten (z. B.
Baron, Neumann, Geddes, 1999; Baron u. Neumann, 1996; Bies u. Tripp, 1996; Crombag, Rassin, Horselenberg, 2003; Pfefferbaum u. Wood, 1994). Obwohl Rache- und
Gewaltfantasien somit durchaus in Handlungen münden können, in manchen Deliktbereichen (z. B. Sexualstraftaten oder School Shootings) als tatbegünstigend, wenn
nicht sogar tatgenerierend angenommen werden (Burgess, Garbarino, Carlson, 2006;
Holmes u. Holmes, 1994) und einige Autoren einen positiven Zusammenhang zwischen aggressiven Fantasien und aggressives Verhalten vermuten (Greenwald u. Harder, 1997; Nagtegaal, Rassin, Murris, 2006), beschrieben hingegen andere Forscher
in früheren Arbeiten (z. B. Feshbach, 1955) auch einen aggressionsreduzierenden
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 445
Charakter von Fantasien. Auch bei Nagtegaal et al. (2006) scheinen aggressive Fantasien das Ausmaß aggressiven Handelns zu reduzieren, allerdings nur, sofern sie vom
Individuum zugelassen und nicht verdrängt werden. Existierende Rachefantasien bei
einem Individuum können daher nicht als hinreichender Indikator für entsprechende
Rachehandlungen herangezogen werden. Kenrick und Sheets (1993; s. auch Crabb,
2000) weisen in einer Normalpopulation regelmäßig auftretende Mordfantasien nach
dem Erleben einer Schädigung nach. Rachefantasien sind also keineswegs Ausdruck
psychopathologischer Symptommuster, sondern durchaus als alltägliches Phänomen
und normale Bewältigungsstrategie aufzufassen (Bloom, 2001; Frijda, 1994; Gollwitzer, 2004; Kenrick u. Sheets, 1993). Unter welchen Bedingungen Rache- und Gewaltfantasien handlungsbegünstigend wirken, ist bis zum heutigen Zeitpunkt – trotz der
verschiedenen Befunde zum Wirkungsgefüge von Rache – noch nicht geklärt.
Die wissenschaftliche Erfassung von Rachehandlungen und der individuellen Ausführungsbereitschaft erfolgt meist mittels offener Fragen (z. B. Cota-McKinley, Woody,
Bell, 2001; Schmid, 2005). Dieses Vorgehen beinhaltet jedoch verschiedene Schwierigkeiten, etwa die individuell unterschiedliche Abstraktionsfähigkeit der Teilnehmenden
oder gegebenenfalls sozial erwünschtes Antwortverhalten. Andere Autoren erfassen
die Bereitschaft zur Ausführung von Rache über Vignetten (Gollwitzer, 2004, 2007; s.
auch Cota-McKinley et al., 2001), mithilfe derer sich einzelne Facetten leicht variieren
lassen. Jedoch schränken das beim Vignettenverfahren jeweils spezifisch vorgegebene
Szenario und die begrenzten, eng definierten Auswahlmöglichkeiten bei der Beantwortung das weite Spektrum möglicher Rachehandlungen ein, sodass stärker idiografische Komponenten des Phänomens nicht untersucht werden können und daher die
Validität derartiger Ansätze nicht immer zufriedenstellend ist.
Abgesehen von Verfahren, die hauptsächlich die (moralische) Einstellung zum Gegenstand haben, wie beispielsweise die Vengeance Scale (Stuckless u. Goranson, 1992),
gibt es keine spezifischen Instrumente zur Erfassung von Rachefantasien. Auch im
„Sustaining Fantasy Questionnaire“ (Zelin et al., 1983) werden Rachefantasien lediglich am Rande erfasst. Darüber hinaus ist im deutschen Sprachraum neben den Vignetten von Gollwitzer (2004) nur die Übersetzung der Vengeance Scale durch Maes
(1994) verbreitet, wobei keine eigene Validierung für den deutschen Sprachraum erfolgte. Obwohl bereits 1966 Singer (s. auch Singer u. Antrobus, 1970) im „Daydreaming Questionnaire“ zwei mögliche Aspekte zur Operationalisierung von Fantasien
vorschlägt, fand diese Vorgehensweise bisher keine weitere Verbreitung. Singer und
Antrobus (1970) unterscheiden zwischen sogenannten „Strukturen“ von Fantasien,
die die motivationale und emotionale Bedeutung des Phänomens für das jeweilige
Individuum beschreiben, und den konkreten (episodischen) Fantasieinhalten. Allerdings spielen Rachefantasien auch im Daydreaming Questionnaire, der sich mit verschiedensten Formen von Tagträumen befasst, nur eine untergeordnete Rolle.
Aus unserer Sicht ist die Operationalisierung von Rachefantasien analog zu Singers
Vorgehensweise bei „Tagträumen“ ein viel versprechender Forschungsansatz, um das
Phänomen mit einem nomothetischen Zugang zu untersuchen. Da es Hinweise darauf
446 S. Warncke et al.
gibt, dass die Fantasietätigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt und insbesondere in
Bezug auf die Fantasieinhalte von Jugendlichen noch ein großer Forschungsbedarf
besteht (Giambra, 2000), richtet sich das hier beschriebene Rachefantasieinventar insbesondere an die Zielgruppe „Jugendliche“ (im Alter von 14-18 Jahren).
Der Entwicklung des hier beschriebenen Fragebogens liegt die folgende Definition
für Rachefantasien zugrunde, die das Ergebnis einer ausführlichen Literatursichtung
ist: „Rachefantasien sind Vorstellungen und gedankliche Auseinandersetzungen als
Folge einer vorangegangenen, subjektiv erlebten Ungerechtigkeit, die den Wunsch einer Schädigung des/der (vermeintlichen) Täter/s zum Inhalt haben. Rachefantasien
können verschiedene strukturelle Eigenschaften aufweisen und für den Fantasierenden somit mit unterschiedlichen Emotionen, Wertigkeiten und unterschiedlicher
Intensität verbunden sein“ (Warncke u. Lippok, 2009, S. 68).
Dem Ordnungsschema von Singer und Antrobus (1970) folgend sind wir für das
RFI-J von zwei Testteilen ausgegangen: (1) Strukturen (als Testteil, der die subjektive
Bedeutung von Rachefantasien für das jeweilige Individuum erfassen soll) und (2) Fantasieinhalte. Für die Skalenkonstruktion wurde die von Fisseni (1997) beschriebene internale Testkonstruktionsstrategie gewählt. Entsprechend dienten die oben erläuterten
Forschungsbefunde zu einzelnen Teilfacetten der Konstrukte Rache und Fantasie als
Grundlage für die Generierung von potenziell geeigneten Items für das Testverfahren.
Für den Testteil „Bedeutung von Rachefantasien für das jeweilige Individuum“ dienten
im Wesentlichen folgende Themenfelder als Ausgangspunkte für die Itemgenerierung:
1. Emotionsregulation als Komponente der angenommenen positiven Wirkung von
Rachefantasien für die eigene Emotionsregulation (Beispielitem: „Wenn ich in Gedanken meine Wut auslebe, geht es mir besser“).
2. Perseveration als Komponente der Dauer und Intensität von Rachefantasien (Beispielitem: „Je länger ich über meine Rache nachdenke, desto intensiver werden diese
Gedanken“).
3. Rachelegitimation als moralische, individuelle Bewertung von Rache (Beispielitem:
„Rache lohnt sich nicht, denn sie erzeugt nur neue Gewalt“). Dieser Themenbereich betrifft die Struktur von konkreten Rachefantasien eher indirekt, wurde aber
zur Erforschung des Phänomens und seiner Bedeutung für das jeweilige Individuum als relevant angesehen und daher mit aufgenommen.
4. Handlungsbereitschaft als Bereitschaft, Rachefantasien auch in die Tat umzusetzen (Beispielitem: „Legt man sich mit mir an, bekommt man auf alle Fälle eine
Abreibung verpasst“). Auch dieser Bereich betrifft eher indirekt die Struktur von
Rachefantasien, erschien aber ebenfalls zur Erforschung der Bedeutung des Phänomens für ein Individuum wichtig und wurde daher mit einbezogen.
Für die Fantasieinhalte wurden im Wesentlichen die folgenden vier Themenbereiche
zu Grunde gelegt:
1. Physische Aggression für Fantasien, die körperliche Angriffe beinhalten (Beispielitem: „Ich male mir aus, diese Person in einem Kampf zu besiegen“).
ipabo_66.249.69.239
Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 447
2. Relationale Aggression für Fantasien, bei welchen der Status oder die Beziehung des
vermeintlichen Schädigers in seiner sozialen Gruppe angegriffen werden (Beispielitem: „Ich male mir aus, Gerüchte über diese Person in Umlauf zu bringen“).
3. Passive Aggression, bei der dem Schädiger ein Unglück widerfährt, ohne dass der
Fantasierende selbst handelt (Beispielitem: „Ich male mir aus, wie sich die Person
in einer peinlichen Lage befindet“) und
4. Materielle Aggression, bei der in der Fantasie aggressive Handlungen gegen Eigentum des Schädigers ausgeführt werden (Beispielitem: „Ich male mir aus, wie ich
Dinge von dieser Person kaputt mache“).
Bei der Itemkonstruktion wurde besonderer Wert auf für Jugendliche möglichst lebensnahe Formulierungen gelegt. Um dies zu gewährleisten, wurden im Vorfeld Schüler, Studierende und Lehrkräfte in Bezug auf die Verständlichkeit und Akzeptanz der
Items befragt und Verbesserungsvorschläge der Befragten berücksichtigt. Der erste
Konstruktionsentwurf des RFI-J setzte sich aus 49 Strukturitems sowie 19 Items zur
Erfassung von Fantasieinhalten zusammen, die auf Basis der zuvor beschriebenen Konzepte entworfen wurden. Als Beantwortungsschema wurde für alle Items eine vierstufige Likertskala mit den Ausprägungen „1 = trifft nicht zu“, „2 = trifft eher nicht zu“, „3 =
trifft eher zu“ und „4 = trifft zu“ verwendet. Auf eine mittlere Antwortkategorie wurde
dabei bewusst verzichtet, um Verfälschungen, die im Rahmen der Ambivalenz-Indifferenz-Problematik auftreten können, entgegenzuwirken (vgl. Bortz u. Döring, 2006)
2
Studie 1
2.1
Methode
2.1.1 Stichprobe
Der Fragebogen mit den konstruierten 49 Items zur subjektiven Bedeutung von Rachefantasien- und 19 Fantasie-Inhaltsitems wurde in einer ersten Studie im Zeitraum
von September bis Oktober 2008 248 Berliner Schülerinnen und Schülern aus zwei
Gymnasien und je einer Haupt- und Realschule vorgelegt. Die Auswahl der Stichprobe
erfolgte über eine Zufallsziehung von je 15 Schulen pro Schulform (Haupt-, Realschulen,
Gymnasien) auf Grundlage des Berliner Gesamtschulverzeichnisses der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Allerdings erklärten sich dann nur vier
Schulen zur Teilnahme bereit, sodass die ursprünglich intendierte Stichprobe nicht zu
Stande kam. Insgesamt nahmen 123 Jungen und 121 Mädchen an der Untersuchung teil,
dabei gaben zwei Jugendliche kein Geschlecht an. Das Durchschnittsalter der Befragten
betrug 14.9 Jahre (SD = 0.89; Range: 14-18 Jahre). Die Teilnahme an der Befragung war
freiwillig. Zwei Fragebögen mussten aufgrund nicht ernsthafter Beantwortung bzw. Verweigerung der Teilnahme von den weiteren Auswertungen ausgeschlossen werden.
448 S. Warncke et al.
2.1.2 Durchführung und Instrumente
Die Schüler füllten den Fragebogen, jeweils im Klassenverband in ihren Klassenräumen aus. Während der Teilnahme war eine Lehrkraft anwesend, griff jedoch nicht in
die Testsituation ein. Für die gesamte Testdurchführung wurden jeweils 90 Minuten
veranschlagt. Die eigentliche Bearbeitungszeit betrug etwa 60 Minuten.
2.2
Ergebnisse
Die Items der beiden Testteile wurden mit einer Hauptkomponentenanalyse (Principle
Component Analysis [PCA] mit Varimax-Rotation) und paarweisem Fallausschluss
analysiert. Aufgrund der bisher nur sehr rudimentären Forschungslage zu Rachefantasien wurde lediglich eine Dimensionsreduktion der im Fragebogen enthaltenen Items
angestrebt. Hier ist die Hauptkomponentenanalyse die geeignete Methode (vgl. Bortz
u. Schuster, 2010). Items, die ungünstige Ladungsstrukturen zeigten, wurden zunächst
sukzessive eliminiert. Die verbleibenden 25 Items (Testteil „subjektive Bedeutung von
Rachefantasien“) ergaben nach der PCA eine fünfdimensionale Lösung mit den in
Tabelle 1 (s. Online-Material)1 dargestellten Ladungsmustern. Die inhaltliche Zuordnung der Skalen wurde wie folgt vorgenommen: Ablehnende Einstellung gegenüber
Rache (Skala Racheablehnung, Eigenwert 8.35), Emotionsregulierende Funktion von
Rachefantasien (Eigenwert 2.81), die Bereitschaft dazu, Rachefantasien und -gedanken, Handlungen folgen zu lassen (Skala Handlungsbereitschaft, Eigenwert 1.97), Intensität und zeitliche Dauer von Rachefantasien (Skala Perseveration, Eigenwert 1.19)
sowie negative Emotionalität bezüglich Rache (Skala Negative Emotionalität, Eigenwert 1.19). Die kumulierte Varianzaufklärung betrug 61.63 %.
Die Faktorenstruktur der Inhaltsitems wurde ebenfalls mittels PCA mit VarimaxRotation und paarweisem Fallausschluss überprüft. Von den ursprünglich konstruierten 19 Items wurden 12 Items beibehalten, die anderen Items wurden wegen schlechter Ladungsmuster sukzessive eliminiert. Für diese 12 beibehaltenen, in Tabelle 2 (s.
Online-Material) dargestellten Items ergab sich eine dreidimensionale Lösung mit
den Eigenwerten 3.93 (Faktor 1), 1.97 (Faktor 2) und 1.06 (Faktor 3). Die kumulierte
Gesamt-Varianzaufklärung betrug 58.02 %. Inhaltlich wurden die Faktoren wie folgt
zugeordnet: Physische Aggression (5 Items, Ladungshöhen von 0.56 bis 0.84), Relationale Aggression (5 Items, Ladungshöhen von 0.56 bis 0.87) sowie Talionsprinzip „wie
du mir, so ich Dir“ (2 Items, Ladungshöhen von 0.7 bis 0.84).
2.3
Zusammenfassung
In der ersten Studie konnten Hinweise auf die Dimensionalität von Rachefantasien
sowie die Akzeptanz und Nützlichkeit des konstruierten Rachefantasieinventars er1 Das ergänzende Material ist online verfügbar.
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 449
arbeitet werden. Die dimensionsreduzierenden Analysen erbrachten verschiedene,
voneinander unterscheidbare Komponenten von Rachefantasieinhalten und der subjektiven Bedeutung von Rachefantasien.
3
Studie 2
3.1
Methode
3.1.1 Stichprobe
In einer zweiten Studie wurden die in der ersten Version nach der statistischen
Analyse beibehaltenen Items einer neuen Stichprobe vorgelegt, um erste Schritte einer Validierung und Weiterentwicklung des Verfahrens durchzuführen. Die zweite
Stichprobe setzte sich aus 40 Schülerinnen und 48 Schülern eines sächsischen Gymnasiums zusammen. Das Durchschnittsalter in dieser Stichprobe betrug ebenfalls
14.9 Jahre (SD = 0.72: Range: 14-17 Jahre).
3.1.2 Durchführung und Instrumente
Bei dieser Testvorlage wurde auch eine erste Validierung des Verfahrens vorgenommen. Zur Validierung wurden den Jugendlichen, neben den 37 Items der nach der
ersten Studie entstandenen RFI-J-Version, die aus 5 Items bestehende Skala „prosoziales Verhalten“ der deutschsprachigen Version des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) nach Goodman (2001) vorgelegt. Zudem beinhaltete der Fragebogen die aus 27 Items bestehende deutsche Übersetzung des Aggressionsfragebogens
von Buss und Perry AF-BP (Herzberg, 2003), zur Erfassung der Aggressionsdimensionen körperliche Aggression, verbale Aggression, Ärger und Feindseligkeit. Ferner wurden physische und psychische Belastungssymptome über die 9 Items umfassende, deutschsprachige Symptom-Checkliste Kurzversion (SCL-K9) (Klaghofer u.
Brähler, 2001) erhoben. Die Vorlage noch weiterer Verfahren zur Validierung war in
dieser Testung aus zeitlichen Gründen und um Überlastung auf Seiten der Jugendlichen durch lange Testungen zu vermeiden nicht realisierbar.
Die Schüler füllten den Fragebogen in ihren Klassenräumen aus. Während der Teilnahme war eine Lehrkraft anwesend, griff jedoch nicht in die Testdurchführung ein.
Der gesamten Durchführung wurden 90 Minuten zugestanden. Die eigentliche Bearbeitungszeit betrug etwa 60 Minuten.
450 S. Warncke et al.
3.2
Ergebnisse
3.2.1 Ergebnisse der Faktorenanalysen
Die Items der beiden Testteile wurden erneut mit einer Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation und paarweisem Fallausschluss analysiert. In der zweiten
Testvorlage ergab sich ebenfalls eine fünfdimensionale Lösung (vgl. Tab. 1). Die
Eigenwerte der identifizierten fünf inhaltlichen Komponenten Racheablehnung,
Emotionsregulation, Handlungsbereitschaft, negative Emotionalität und Perseveration betrugen 6.05, 4.44, 2.77, 2.55 und 1.52. Die kumulierte Varianz der fünf Dimensionen betrug 69 %.
Vier der fünf Items, die bei der Ersterhebung der Skala Handlungsbereitschaft zugeordnet wurden, wiesen in der zweiten Studie starke Nebenladungen auf anderen Faktoren auf (vgl. Tab. 1). Zwei der drei Items der Perseverationsskala luden ebenfalls relativ
hoch auf einen weiteren Faktor (> 0.5). Eine Bildung der Skala Handlungsbereitschaft
wäre somit nur noch mittels zweier Items möglich gewesen. Die „Skala“ Perseveration
hätte nur noch aus einem Item bestanden. Da Faktoren, welchen faktorenanalytisch weniger als drei Items zugeordnet werden können, kaum zu interpretieren sind (vgl. Costello u. Osborne, 2005), wurden beide Skalen aus der weiteren Analyse ausgeschlossen.
Werden ausschließlich diejenigen Items berücksichtigt, die in beiden Untersuchungen einem vergleichbaren Faktor zugeordnet werden konnten, ergeben sich die
Skala Racheablehnung aus 8 Items, die Skala Emotionsregulation aus 7 Items und die
Skala Negative Emotionalität aus 3 Items. Eine Übersicht über diese Items, die Skalenzuordnung und die zugehörigen Antwortausprägungen der einzelnen Items aus
beiden Studien findet sich in den Tabellen 3 und 4 (s. Online-Material).
Die Faktorenstruktur der Inhaltsitems wurde wieder mittels PCA mit Varimax-Rotation und paarweisem Fallausschluss analysiert (vgl. Tab. 2). Die Eigenwerte der drei
aus den zwölf Inhaltsitems extrahierten Komponenten betrug 3.27, 2.84, und 1.60. Die
kumulierte Varianz der drei Faktoren betrug 64 %.
Drei der fünf Items, die in Studie 1 der Skala Relationale Aggression zugeordnet wurden, luden in Studie 2 erneut auf eine gemeinsame Dimension. Drei der fünf Items der
in Studie 1 gebildeten Skala Physische Aggression luden ebenfalls erneut hoch auf einen
gemeinsamen Faktor. Die beiden Items der Skala Talionsprinzip luden hingegen in Studie
2 am höchsten auf einen Faktor, dem darüber hinaus vor allem die Items zur relationalen
Aggression zuzuordnen waren. Die Skalen Physische Aggression und Relationale Aggression konnten somit in Studie 2 partiell bestätigt werden, die Skala Talionsprinzip hingegen nicht. Zudem ist auffällig, dass das Item „Ich male mir aus, wie ich allen die Wahrheit
über die Person erzähle“ nun auf alle drei Skalen mit einem Wert von > 0.4 lud.
Werden erneut nur die Items betrachtet, die in beiden Studien gleichen Faktoren zugeordnet werden konnten, ergeben sich zwei Skalen mit jeweils drei Items. Diese Items
sind in den Tabellen 5 und 6 (s. Online-Material) mit ihren deskriptiven Kennwerten
in der jeweiligen Studie aufgeführt.
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 451
Wie in Tabelle 7 ersichtlich ist, weisen die Alpha-Werte der drei Skalen Racheablehnung (α = .89 vs. .90), Emotionsregulation (α = .84 vs. .90) und Negative Emotionalität
(α = .71 vs. .85) in beiden Studien auf eine gute Reliabilität der drei Skalen hin. Die Skala
Racheablehnung wies sowohl einen Zusammenhang mit der Skala Negative Emotionalität (r = .35 vs. .43), als auch mit der Skala Emotionsregulation auf (r = -.35 vs. -.36). Die
Inhaltskala relationale Aggression wies in der zweiten Studie eine gute Reliabilität von
α = .86 (in der Erststudie α = .71) auf, die interne Konsistenz der Inhaltskala physische
Aggression war mit einem Wert von α = .76 (in der Erststudie α = .78) zufriedenstellend.
Die beiden Skalen korrelierten zu r = .42 (in der ersten Studie r =.29) miteinander.
Die Inhalts- und Bedeutungsskalen des RFI-J untereinander weisen ebenfalls einige
Zusammenhänge auf. So geben in der ersten Studie beispielsweise Rache ablehnende
Jugendliche weniger physisch- und relational-aggressive Fantasieinhalte an (r = -.68
bzw. r = -.25). Jugendliche, die Rachefantasien als zuträglich für ihr emotionales Wohlbefinden erleben, berichten in beiden Studien häufiger von physischen und relationalaggressiven Rachefantasien (r = .49 bzw. r =.43). Eine genauere Analyse des Zusammenhanges zwischen Fantasieinhalten und der persönlichen Bedeutung der Fantasien
bedarf als inhaltliche Fragestellung weiterer Untersuchung.
Tabelle 7: Skaleninterkorrelationen, jeweils Studie 1/2, auf der Diagonalen α-Werte nach Cronbach der
Skalen in Studie 1 bzw. 2
Racheablehnung
Neg. Emotionalität
Emotionsregulation
Physische Aggression
Relationale Aggression
4
Racheablehnung Negative
Emotions- Physische
Relationale
Emotionalität regulation Aggression Aggression
.89/ .90
.35/.43
.71/.85
-.35/-.36
-.30/-.02
.84/.90
-.68/-.39
-.34/-.19
.49/.47
.78/.76
-.25/-.59
-.12/-.30
.43/.47
.40/.42
.71/.86
Validierung
Die Korrelationen zwischen den Inhalts- und Strukturskalen des RFI-J und Skalen
des AF-BPs, der SCL-9 und des SDQ sind in Tabelle 8 (folgende Seite) dargestellt,
eine genauere Darstellung der Korrelationen mit Einzelitems der SCL-9 findet sich
in Tabelle 9 (s. Online-Material). Um die bivariaten Zusammenhänge zwischen den
Variablen zu errechnen, wurde aufgrund der Schiefe der Antwortverteilung und der
relativ kleinen Stichprobe Kendalls τ verwendet.
4.1
Korrelationen mit Maßen der Aggressionsneigung
In Studie 2 wurde ein korrelativer Zusammenhang zwischen Form und Inhalt von
Rachefantasien und der persönlichen Tendenz zu aggressivem Verhalten und Erleben mittels des AF-BP überprüft. Die Skala „physische Aggression“ des AF-BP
452 S. Warncke et al.
wies signifikante positive Zusammenhänge zu beiden Inhaltsskalen des RFI-J auf
und korrelierte negativ mit den Bedeutungsskalen Negative Emotionalität und Racheablehnung. Besonders fallen dabei der deutlich negative Zusammenhang der
Skala des AF-BP mit der Skala zur Racheablehnung (-.35, p < .001) und der deutlich positive Zusammenhang zu Fantasieinhalten mit physischer Gewalt (r =.43, p
< .001) auf. Kein signifikanter Zusammenhang zeigte sich zwischen der Bereitschaft
zu physischer Aggression und der RFI-J Strukturskala zu Emotionsregulation. Die
Bereitschaft zu verbaler Aggression wies, mit Ausnahme der Skala Negative Emotionalität, signifikante Korrelationen zu allen Skalen des RFI-J auf. So zeigte sich
unter anderem ein mittlerer negativer Zusammenhang zwischen der Bereitschaft
zu verbaler Aggression und einer ablehnenden Einstellung gegenüber Rache. Beide
Fantasieinhaltsskalen des RFI-J korrelierten positiv mit der Bereitschaft zu verbaler
Aggression nach AF-BP.
Tabelle 8: Korrelationen des RFI-J mit SCL-9, AF-BP und SDQ-Prosozialität
SCL 9 1
AF-BP Phys
AF-BP Verb
AF-BP Feinds
AF-BP Aerger
SDQ-PROSO
Emotionsregulation
3/9
.225**
.124
.213**
.289***
.261 ***
-.077
Negative
Emotionalität
4/9
.120*
-.172*
-.060
.177*
.100
.191*
Racheablehnung Physische
Aggression
0/9
.051
2/9
.167*
-.346***
.429***
-.349***
.313***
-.076
.273***
-.169*
.309 ***
.058
-.148
Relationale
Aggression
5/9
.241**
.163*
.412***
.289 ***
.385 ***
-.045
* p < 0.05, ** p< 0.01, *** p<0.001
1
Angegeben sind die Anzahl der signifikanten Zusammenhänge mit einzelnen Symptomitems der
SCL-9 sowie die Korrelation mit der Gesamtskala der SCL-9, für eine detaillierte Darstellung siehe
Tabelle 9 (online verfügbar)
Sämtliche Skalen des RFI-J, mit Ausnahme der Skala Racheablehnung, korrelierten
positiv mit der Skala Feindseligkeit des AF-BP. Auffällig ist insbesondere der hoch
signifikante Zusammenhang der Skala Feindseligkeit mit der Skala Emotionsregulation des RFI-J (r = .29, p < .001). Jugendliche, die sich selbst als verbittert oder
misstrauisch beschrieben, gaben damit vergleichsweise häufig an, Rachefantasien zu
nutzen um ihren Ärger zu regulieren.
Die Skala Ärger des AF-BP wies Zusammenhänge mit den RFI-J Strukturskalen Emotionsregulation, Racheablehnung, physische Racheinhalte und relationale
Racheinhalte auf. Wie zuvor schon bei der Skala Feindseligkeit, zeigte sich auch bei
der Skala Ärger ein hochsignifikanter Zusammenhang mit der Tendenz, Rachefantasien als Mittel zur Emotionsregulation zu nutzen. Der Zusammenhang zwischen
Ärgererleben und Racheablehnung fiel schwach negativ aus.
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 453
4.2
Korrelationen mit Maßen körperlicher und psychischer Beschwerden
Mithilfe der neun Items des SCL-9 wurden Zusammenhänge zwischen psychischen
und physischen Beschwerden und den Skalen des RFI-J überprüft. Mit Ausnahme der
Skala Racheablehnung korrelierten alle Skalen des RFI-J positiv mit der aggregierten
Ausprägung verschiedener mit dem Verfahren erfasster körperlicher oder psychischer
Beschwerden. Insbesondere das Fantasieren über relationale Rache, das Einsetzen von
Rachefantasien zur Emotionsregulation sowie negative Gefühle bezüglich Rachefantasien korrelierten positiv mit dem Ausmaß erlebter Belastungssymptome. Eine detaillierte Übersicht über Zusammenhänge zwischen den Skalen des RFI-J und den im
SCL-9 erhobenen Einzelitems findet sich in Tabelle 9 (s. Online-Material).
4.3
Korrelationen mit Maßen der Prosozialität
Die Skalen des RFI-J wiesen nur im Falle der negativen Emotionalität einen niedrigen,
allerdings signifikanten positiven Zusammenhang zur Skala Prosozialität des SDQ auf.
Jugendliche, die angaben, nach dem Erleben von Rachegefühlen negative Emotionen
zu empfinden, berichteten demnach häufiger davon, prosoziales Verhalten zu zeigen.
Die Skalen Emotionsregulation, Racheablehnung sowie die beiden Racheinhaltsskalen
physische Aggression und relationale Aggression wiesen hingegen keine bedeutsame
Korrelation zu mittels Selbsteinschätzung gezeigtem prosozialen Verhaltens auf.
5
Diskussion
Das Ziel der beiden vorgestellten Studien war, Rachefantasien mittels eines nomothetischen Zugangs psychometrisch zu erfassen. Hierzu wurden zwei Testteile, zur
Erfassung der subjektiven Bedeutung sowie zu Inhalten von Rachefantasien, konstruiert und mithilfe von Hauptkomponentenanalysen untersucht. Die in Studie 1
sich ergebenden Itemzusammenhänge zeigten sich zum Teil auch in Studie 2. Die
Bedeutungs-Skalen Racheablehnung, Negative Emotionalität und Emotionsregulation konnten komplett repliziert werden. Die Skalen Handlungsbereitschaft und
Perseveration konnten hingegen in Studie 2 nicht eindeutig repliziert werden.
Für den Testteil Fantasieinhalte wurden die Skalen physische und relationale Inhalte
bestätigt. Zukünftige Untersuchungen mit größerer Stichprobe bzw. unter zusätzlicher
Berücksichtigung möglicherweise von der Norm abweichender Populationen könnten
weitere Klarheit hinsichtlich der Dimensionalität der Konstrukte beider Testteile liefern.
Zum jetzigen Zeitpunkt besteht das Verfahren für den Testteil „subjektive Bedeutung von Rachefantasien“ aus 18 Items, die sich auf die Skalen Racheablehnung (8
Items), Negative Emotionalität (3 Items) und Emotionsregulation (7 Items) verteilen.
Der Testteil Fantasieinhalte besteht aus 6 Items, die sich auf die Skalen Physische Aggression und Relationale Aggression (jeweils 3 Items) aufteilen.
454 S. Warncke et al.
Der Fragebogen in seiner jetzigen Form sowie eine Auswertungsempfehlung sind
im zu diesem Artikel gehörigen Online-Material verfügbar. Wir empfehlen, für die
drei Skalen zum Testteil subjektive Bedeutung sowie analog für die beiden Skalen des
Testteils Fantasieinhalte je separat einen Summenscore zu bilden und das jeweilige Ergebnis ohne eine weitere Verrechnung festzuhalten. Pro Item wird für „trifft nicht zu“
jeweils der Wert 1 vergeben, dann aufsteigend die Werte 2 und 3 bis zum Wert 4 für
„trifft zu“. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der den verschiedenen Skalen zugrundeliegenden Dimensionen und der nur bedingt auftretenden Interskalenkorrelationen
erscheint uns eine weitere Verrechnung im Sinne eines Gesamtscores für den jeweiligen Testteil bzw. sogar für das gesamte Testverfahren nicht angebracht.
Da zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Untersuchungen mit einer repräsentativen
Normstichprobe vorliegen, sind über den Vergleich der Werte zweier Testteilnehmer
hinaus noch keine Aussagen im Hinblick auf einen Zusammenhang Individuum-Population möglich. Auch Aussagen, ab welcher Ausprägung der Testergebnisse eines
Individuums ein „kritischer Wert“ vorliegt bzw. ein Einschreiten erforderlich wäre,
können im Moment noch nicht aus den Ergebnissen abgeleitet werden. Hierzu kann
eine bereits angelaufene Studie mit einer klinischen Population gegebenenfalls nähere
Erkenntnisse bringen.
Wie angenommen zeigen Rachefantasien inhaltliche Nähe zum Konstrukt Aggressivität, sodass mithilfe des AF-BP ein Nachweis einer konvergenten Validität erfolgen konnte. So korreliert die AF-BP-Skala „Physische Aggression“ hochsignifikant mit der RFI-JSkala für physische Rachefantasien, sodass hier ein Zusammenhang mit Rachefantasien
physischen Inhalts und einer entsprechenden, dann folgenden, physisch-aggressiven
Handlung angenommen werden kann. Die Skala „Relationale Rachefantasieinhalte“
hängt mit der AF-BP Skala physische Aggression wesentlich schwächer zusammen, wohingegen die AF-BP Skala „Verbale Aggression“ relativ hohe Zusammenhänge sowohl
mit der Skala für physisch aggressive Rachefantasieinhalte als auch für relational aggressive Rachefantasieinhalte aufweist. Dies lässt darauf schließen, dass höhere Ausprägungen bei relationalen Rachefantasien aber auch bei physischen Rachefantasien eher
in verbal-aggressive Handlungen münden können. Der Zusammenhang von gewalthaltigen Fantasien mit der berichteten Bereitschaft, tatsächlich aggressive Handlungen auszuüben, wurde bereits mehrfach bestätigt (Anestis, Anestis, Selby, Joiner, 2009; Nagtegaal et al., 2006). Darüber hinaus ist es plausibel, dass eine ablehnende Haltung gegenüber
Rachehandlungen (RFI-J-Skala „Racheablehnung“) auch mit einer geringeren Bereitschaft, aggressive Handlungen auch auszuführen (signifikant negative Korrelationen mit
den AF-BP-Skalen „physisch“ und „verbal“ von -.346 bzw. -.349) von aggressiven Handlungen im Allgemeinen einhergeht. Dieser Zusammenhang besteht hingegen mit den
weniger handlungsbezogenen AF-BP-Skalen „Feindseligkeit“ und „Ärger“ in wesentlich
geringerem Maß. Der positive Zusammenhang zwischen den RFI-J-Skalen Fantasieinhalte mit „Physischer Aggression“ sowie „Relationaler Aggression“ und den AF-BP-Skalen „Ärger“ und „Feindseligkeit“ war ebenfalls zu erwarten. Interessant ist der positive
Zusammenhang zwischen der RFI-J Skala „Emotionsregulation“ mit allen Skalen des
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 455
AF-BP (hiervon dreimal signifikant). Daraus lässt sich schließen, dass Jugendliche mit
stärkerem Aggressionspotenzial auch stärker dazu neigen, Rachefantasien dazu einzusetzen, ihre diesbezüglichen Emotionen zu regulieren, was in anderen Studien ebenfalls
bereits berichtet wurde (vgl. Greenwald u. Harder, 1997).
Die Zusammenhänge zwischen dem Berichten von Rachefantasien und dem Berichten von physischen und psychischen Beeinträchtigungen, so insbesondere starke
positive Korrelationen zwischen negativer Emotionalität von Rachefantasien bzw. relational aggressiven Rachefantasien und Items der SCL-9, sind einleuchtend und deuten auf eine valide Erfassung hin. So wurden negative Folgen vom Fantasieren über
Rache bereits bei Menschen mit zuvor erlebten Traumata nachgewiesen (vgl. Orth et
al., 2003). Darüber hinaus konnten negative Folgen weiterer Fantasieinhalte auch in
der Normalbevölkerung erkannt werden (vgl. Mar, Mason, Litvack, 2012). Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Rachefantasien zur Emotionsregulation und
körperlichen sowie psychischen Symptomen ist ebenfalls plausibel, vergleicht man
diese Ergebnisse mit Ergebnissen aus Studien zu ähnlichen dysfunktionalen Bewältigungsstilen (vgl. Vandervoort, 2006).
Zwischen den mit der Skala „Prosozialität“ der SDQ erhobenen Ergebnissen und
den Skalen Racheablehnung, Emotionsregulation und beiden Fantasieinhaltsskalen
ergab sich kein signifikanter Zusammenhang, was auf eine Unabhängigkeit beider
Konstrukte voneinander und somit diskriminante Validität hindeutet. Die niedrige,
jedoch signifikante Korrelation zwischen Prosozialität und der Skala negative Emotionalität kann dadurch erklärt werden, dass insbesondere bei Jugendlichen prosoziales
Verhalten auch mit moralischen Annahmen verknüpft ist (z. B. Malti, Gummerum,
Keller, Buchmann, 2009). Es ist daher anzunehmen, dass Jugendliche, die oft prosoziales Verhalten zeigen, den Widerspruch zwischen dem eigenem Verhalten und den
negativen Fantasien als stärker unangenehm erleben.
6
Limitationen und Perspektiven
Die hier dargestellten Untersuchungen umfassen die Konstruktion des Instruments,
die Dimensionalisierung zur Skalenbildung sowie erste Studien zu einer Validierung
des Verfahrens.
Trotz erster Validierungsnachweise erscheinen weitere Untersuchungen angebracht.
So beanstandete bereits Gollwitzer (2004), dass bislang noch keine ausreichende konzeptuelle Abgrenzung zwischen den Konstrukten Rache, Rachefantasie und Aggression
erfolgt ist. In diesem Zusammenhang scheint insbesondere auch das Konstrukt Vergebung relevant, da einzelne Forschungsbefunde auf negative Zusammenhänge zwischen
Vergebungstendenzen und Rachefantasien sowie der Tendenz zu Rachehandlungen
schließen lassen (z. B. Berry, Worthington, O´Connor, Parrott, Wade, 2005; Brown,
2004; McCullough, Bellah, Kilpatrick, Johnson, 2001). Weiterhin sollten auch die Zusammenhänge von Rachefantasien und Persönlichkeitseigenschaften wie Neurotizismus
456 S. Warncke et al.
oder Extraversion in zukünftigen Studien noch genauer untersucht werden. Zudem sind
zukünftige Erhebungen mit größerem Stichprobenumfang wünschenswert.
Außerdem sind weitere Konstrukte denkbar, die mit Rachefantasien und einem sie
beinhaltenden psychometrischen Instrument in Verbindung gebracht werden können.
Es bietet sich beispielsweise an zu untersuchen, in welchen Fällen bei Jugendlichen Rachefantasien an die Stelle von external auf Handlungen hin gerichteten Bewältigungsverhaltens treten können. So könnte überprüft werden, ob chronische Verbitterung
als Erlebensweise, die nach einem Trauma external ausgerichtetes Bewältigung bedingen kann, auch eine Grundlage für Rachefantasien darstellt (z. B. Linden, Schippan,
Baumann, Spielberg, 2004; Gäbler u. Maercker, 2011) und ob diese in der Folge eine
spezifische Form annehmen. Das Instrument soll daher auch als erster Anhaltspunkt
und Anregung für weitere Forschungsgruppen dienen, sich diesem in der Psychologie
als Wissenschaft bisher nur wenig beachteten Phänomen zu nähern.
Unbefriedigend sind die bisherigen Ergebnisse zum Teilkonstrukt Perseveration, da
diese Skala in der zweiten Testvorlage nicht bestätigt werden konnte. Da zum jetzigen
Stand der Forschung auch noch nicht geklärt ist, ob sich langfristig gehegte Rachefantasien strukturell grundlegend von kurzfristigen, auf konkrete Ereignisse bezogenen
Rachefantasien unterscheiden, sind hier weitere Untersuchungen angebracht. Megargee, Cook und Mendelssohn (1967) berichten in einer Validierungsstudie einer Skala
zum Konstrukt „Overcontrolled Hostility“, die sie in einer US-amerikanischen Jugendarrestanstalt durchführten, von zwei sich grundlegend unterscheidenden Teilpopulationen – zum einen Jugendliche, die eine lange Liste kleiner, sich häufig bezüglich
ihrer Schwere graduell steigernder Delikte aufwiesen, zum anderen Jugendliche, die in
ihrem bisherigen Lebenslauf nicht straffällig geworden sind, dann aber quasi unvorhergesehen ein relativ schwerwiegendes, oft lange geplantes Delikt begangen haben.
Sie stellen daher die These auf, dass Jugendliche der zuletzt genannten Gruppe über
einen längeren Zeitraum ihre Aggressionen verbergen bzw. kontrollieren, schließlich
aber die gesamte aufgestaute Aggression in einem Kapitalverbrechen mündet. In diese Richtung argumentiert auch Vidmar (2001). Es wäre daher interessant, in einer
entsprechenden Stichprobe auch Untersuchungen zur Ausprägung der Perseveration
von Rachefantasien durchzuführen. Hierzu sollte der RFI-J einer klinisch-psychiatrischen Population oder auch sich in Haft befindlichen Jugendlichen vorgelegt werden. Insbesondere im Fall von Jugendlichen mit der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, etwa mit narzisstischen oder passiv-aggressiven Tendenzen oder auch einer
posttraumatischen Belastungsstörung, deuten verschiedene Befunde darauf hin, dass
diese Störungsbilder mit erhöhten Rachewünschen und Rachefantasien einhergehen
(Berenson, Downey, Rafaeli, Coifman, Paquin, 2011; Raskin u. Novacek, 1991). Eine
entsprechende Untersuchung ist bereits angelaufen. Darüber hinaus ist in weiteren
Studien eine Normierung des RFI-J mittels einer größeren Stichprobe anzustreben,
ebenso wie eine Überprüfung des Verfahrens bei Erwachsenen.
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Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 457
Fazit für die Praxis
Das Rachefantasieinventar für Jugendliche ist ein neuer Ansatz, Erkenntnisse über
ein bisher mit quantitativ-psychologischen Methoden wenig erforschtes Gebiet des
menschlichen Erlebens zu gewinnen. Einsatzmöglichkeiten sehen wir etwa im Bereich der Diagnostik im schulpsychologischen oder jugendpsychiatrischen Kontext.
Insbesondere bei eher introvertierten Jugendlichen, die dennoch Rachefantasien
haben, unter denen sie unter Umständen leiden, bietet der RFI-J die Möglichkeit,
neue Erkenntnisse zu erhalten. Diese können dann für eine möglichst individuell
passende Planung der therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt werden.
Zusatzmaterial zu diesem Beitrag finden Sie zum Herunterladen auf der Detailseite
von Jahrgang 64 der „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie“, Heft 64,6,
unter www.v-r.de
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Korrespondenzanschrift: Dipl.-Psych. Stephan Warncke, Freie Universität Berlin, FB
Erziehungswissenschaft und Psychologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin;
E-Mail: [email protected]
Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Freie Universität Berlin
AUS KLINIK UND PRAXIS
„Was ich am richtigen Leben nicht so schätze“
Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen – Fallstudie
Marie Gerlach und Bernd Traxl
Summary
“What I don‘t Appreciate in Real Life”: Online Role Playing Game Addiction of an Adolescent –
Case Study
The present article aims to provide an insight into the life story of a computer-game
addicted adolescent. Here, the relationship between the symptom game addiction, the
family as a reference framework, the game’s characteristics, as well as the subjective emotional state of the adolescent are of particular interest. An emphasis is also laid on the
psychodynamically approached question of the impact of infantile and current relationship experiences (both within a family environment as well as with peers) on personal
development. Last, still within a psychodynamic framework, we hope to provide a better
understanding of the role of online computer-game addiction in the process of experiences potentially dominated by conflicts.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 460-479
Keywords
computer-game addiction – adolescence – World of Warcraft – psychodynamics
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag soll einen Einblick in die Lebensgeschichte eines Jugendlichen
mit Computerspielsucht vermitteln. Für uns von besonderem Interesse sind dabei die
Verbindungen zwischen dem individuellen Symptom, dem Bezugsrahmen Familie, den
Merkmalen des Spiels und dem subjektiven emotionalen Zustand des Jugendlichen. Im
Vordergrund steht also die psychodynamisch orientierte Frage, welchen Einfluss frühkindliche und aktuelle Beziehungserfahrungen, sei es innerhalb der Familie oder im sozialen Umfeld von Gleichaltrigen, auf die persönliche Entwicklung nehmen und welche
Rolle die Online-Computerspielsucht in einem potenziell konflikthaften Erleben und
dessen Verarbeitung spielt.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 460 – 479 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 461
Schlagwörter
Computerspielsucht – Jugendliche – World of Warcraft – Psychodynamik
1
Hintergrund
Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der AG Sonderpädagogik der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz werden die biografischen Verläufe von Jugendlichen
mit Computerspielsucht untersucht. Die qualitativ angelegten Einzelfallstudien1 setzen sich aus einer Triangulation von teilnehmenden Beobachtungen in der Familie,
narrativ biografischen Interviews mit den Jugendlichen und der Analyse von lebensgeschichtlichen Hintergrundinformationen in Form von familienanamnestischen
Daten zusammen. Uns interessiert dabei einerseits, welche Rolle das eigene biografische Verständnis, die subjektiven Erfahrungen im familiären Kontext und das
aktuelle Erleben der Jugendlichen an der Generierung des Suchtverhaltens spielen,
und andererseits, welche Form von Selbstzuständen, emotionaler Erfahrung und
Bedürfnisbefriedigung durch die spezielle Konzeption von Online-Rollenspielen
gegeben sind. Mithilfe dieses differenzierten Forschungsansatzes ist es uns möglich,
über den Zeitraum von mehreren Monaten einen ganzheitlichen Eindruck der Lebensgeschichte der Jugendlichen zu bekommen. Wie am Fall von Paul gezeigt werden wird, kann das vordergründig sichtbare Störungsbild der Computerspielsucht
auf emotionalen Kränkungs- und Defiziterfahrungen der Kindheit beruhen, die sich
letztlich als tiefgreifende narzisstische Not und Bedürftigkeit beschreiben lassen.
2
Der Zusammenhang von Online-Rollenspielen und Suchtverhalten
Neben immer wieder aufkommenden Diskussionen zur schädlichen Auswirkung gewalthaltiger Computerspiele auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist in
Deutschland spätestens mit der Veröffentlichung des Online-Rollenspiels World of
Warcraft eine weitere Debatte hinzugekommen. Diese beschäftigt sich mit der Frage, ob
Computerspiele, insbesondere Online-Rollenspiele, durch ihre Konzeption ein zu hohes Abhängigkeitspotenzial besitzen und damit die Entwicklung einer Computerspielsucht begünstigen (Rehbein, Kleinmann, Mößle, 2009). Dieses Phänomen findet sich
insbesondere im Genre der Online-Rollenspiele, die so konzipiert sind, dass tausende
von Spielern gleichzeitig in einer virtuellen Spielwelt miteinander agieren können. Der
1 Im Rahmen dieses Projektes werden in einer ersten Phase mehrere Einzelfälle mit einheitlich festgelegter Erhebungs- und Auswertungsmethodik im Rahmen von begleiteten studentischen Forschungsarbeiten aufgearbeitet und gesammelt. Ziel ist es über einen längeren Zeitraum ausreichend
Einzelfallanalysen zu generieren, um dann auch Vergleiche und typische Muster herauszuarbeiten.
462 M. Gerlach, B. Traxl
kommunikative Wahrnehmungs- und Sozialraum, der beispielsweise in World of Warcraft erschaffen wird und in dem sich dessen Nutzer mithilfe ihrer Spielfigur bewegen,
enthält bestimmte Faktoren, die eine enorme Wirkung auf die Spieler haben und deren
Spielmotivation erklären. Ein zentrales Element der Faszination scheint beispielsweise in
der interaktiven Struktur dieser Spiele zu liegen (Fritz, 2008). Im Vergleich zu bisherigen
Medien fordern Online-Rollenspiele die aktive Beteiligung des „Konsumenten“. Diese
interaktive Struktur von Online-Rollenspielen hat einen enormen Einfluss auf das Erleben des Wahrnehmungsraums und des „Selbst als Agenten“. Bei World of Warcraft beispielsweise schlüpft der Rezipient in die aktive Rolle eines Akteurs, der das Geschehen
und die Narration des Spiels selbst mitgestaltet (Vorderer, 2006; Kuhn, 2009). Mit dieser
aktiven Beteiligung am Spiel geht auch einher, dass der Spieler gewissermaßen in die
Pflicht genommen wird, Leistungsanforderungen zu erfüllen. So gehen vom Spiel vielfältige kognitive sowie soziale Forderungen aus, die sich, je erfolgreicher ein Spieler/eine
Spielerin wird, deutlich steigern und die volle Aufmerksamkeit des Spielers/der Spielerin
beanspruchen (Vorderer, 2006; Fritz u. Misek-Schneider, 2006). Eng verbunden mit den
Spezifika Interaktivität und Leistungsanforderung ist der Aspekt der Selbstwirksamkeit.
Dem Spiel inhärent sind deshalb Belohnungssysteme, die das Selbstwirksamkeitserleben der Spieler fördern und bei intensiver Auseinandersetzung Erfolg versprechen.
Der Avatar stellt dabei die Schnittstelle zur virtuellen Spielwelt dar. Durch ihn wird
der Spieler in der Spielwelt vertreten, andere Nutzer identifizieren den Spieler anhand
seines ausgewählten Helden (Wedjelek, 2009). Für seine Handlungen in der virtuellen
Spielwelt wird der Avatar belohnt, entwickelt sich weiter und wird im Laufe des Spiels
zunehmend aufgewertet. Diese Erfolge sind in der Spielergemeinschaft sozial relevant,
prestigeträchtig und dienen als wichtiges Motivationsinstrument. Dem Spieler wird also
mittels direkt und unmittelbar erfahrbaren Rückmeldungen das Gefühl vermittelt, effektiv, wirkmächtig und im besten Fall erfolgreich zu sein (Klimmt, 2004). Aufgrund dieser
kontinuierlichen Rückmeldungen und „Belohnungen“ und der damit einhergehenden
leistungsorientierten Aktivität des Spielers, kann es zu einem so genannten Flow-Effekt
(Csikszentmihalyi, 1992) kommen. Der Spieler geht dann völlig in seiner Tätigkeit auf
und taucht regelrecht in die Tiefen der virtuellen Spielwelt ein. Ihm werden laufend neue
Herausforderungen geboten, die keine Zeit für Langeweile oder Gedanken darüber, was
außerhalb des Computerspiels wichtig wäre, zulassen. Aufgrund der kontinuierlichen
Rückmeldungen verschmilzt die Handlung des Avatars regelrecht mit dem Bewusstsein
des Spielers und dessen Aufmerksamkeit gilt ungeteilt seinem Handeln im Spiel (Fritz,
2008). Diese virtuellen Spielwelten basieren außerdem meist auf persistenten, sich fortwährend weiter entwickelnden Gemeinschaftsstrukturen, die auch zu engen, wenn auch
virtuellen, Bindungen führen können. Die narrative Struktur des Spiels entsteht durch
eine kontinuierlich sich entwickelnde Geschichte, welche in einen größeren erzählerischen Kontext eingebunden ist. In dieser Parallelwelt herrscht niemals Stillstand, da
sie sich auch unabhängig davon, ob ein Spieler mit seinem Charakter aktiv am Spielgeschehen teilnimmt, permanent weiterentwickelt (Wedjelek, 2009). Den Nutzern wird
umgekehrt aber auch rund um die Uhr die Möglichkeit geboten, wieder in die virtu-
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 463
elle Spielwelt einzusteigen und an der Gestaltung teilzunehmen. Als zentrale Spezifika
von Online-Rollenspielen können deshalb Interaktivität, Leistungsanforderung, Selbstwirksamkeit, virtuelle Bindungen und die fortwährend, immer verfügbare narrative
Struktur der Parallelwelt benannt werden. Bedingungen wie die massive zeitliche Beanspruchung, die soziale Eingebundenheit in eine virtuelle Gruppe und die zahlreichen
Belohnungsmomente, die Online-Rollenspiele den Nutzern bieten, werden in der Forschung aber auch als entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeit
diskutiert (Rehbein et al., 2009; Höschen, 2006; Beranek, Cramer-Düncher, Baier, 2009).
Die Erforschung der Hintergründe und Ursachen des pathologischen Gebrauchs von
Internet und Online-Rollenspielen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – gewinnt aufgrund der mittlerweile gut erhobenen Zahlen zunehmend an Bedeutung. Prävalenzschätzungen für das Störungsbild der Computerspiel- und Internetsucht liegen in
der Gesamtbevölkerung bei circa 3-5 % (Müller u. Wölfling, 2010). Bei den 14- bis 24Jährigen werden Prävalenzraten von 2,4 % als abhängige und 13,6 % als problematische
Internetnutzer angenommen (Rumpf, Meyer, Kreuzer, John, 2011). Im Rahmen einer
repräsentativen Schülerbefragung wiesen in etwa 4,3 % der Mädchen und 15,8 % der
Jungen ein exzessives Computerspielverhalten auf (Rehbein et al., 2009).
Im DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) werden unter der Bezeichnung
„internet gaming disorder“ bereits Kriterien2 für Forschungszwecke beschrieben. Die
Betroffenen ziehen sich vielfach aus ihrem sozialen Umfeld zurück, vernachlässigen
Schule oder Beruf und es droht Kontrollverlust, wenn der Drang zu Spielen kaum
mehr steuerbar ist (Höschen, 2006; Rehbein et al., 2009). Auch die Entstehung von
Selbsthilfegruppen für Online- und Computerspielsüchtige sowie die Etablierung von
Computerspielsuchtambulanzen zeigen, dass das Phänomen der Computerspielsucht
als ernst zu nehmendes Störungsbild angesehen werden muss (Rehbein et al., 2009)
und die Entwicklung eines entsprechenden Angebots im Hilfe- und Therapiebereich
(Möller, 2011; Frölich u. Lehmkuhl, 2012) dringend notwendig ist. Dafür ist jedoch zu
allererst ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Problematik notwendig, um
dem Phänomen nicht lediglich mit symptomlindernden Maßnahmen zu begegnen.
3
Die Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen – der Fall Paul3
Unser Vorgehen orientiert sich an der Psychoanalyse, die eben nicht nur als Heilverfahren, sondern auch als Forschungsinstrument angewandt werden kann. Sie dient der
2 1. Gedankliche Eingenommenheit, 2. Entzugssymptome, 3. Toleranzentwicklung, 4. Fehlende Kontrolle, 5. Interessenverlust, 6. Exzessive Nutzung, 7. Vertuschen, 8. Flucht, 9. Schwerwiegende Folgen;
Fünf der neun Punkte müssen über einen Zeitraum von zwölf Monaten erfüllt sein um die Kriterien
für das Störungsbild zu erfüllen.
3 Das zugrundeliegende Fallmaterial wurde speziell für den vorliegenden Beitrag von uns aufbereitet
(Darstellung) und grundlegend überarbeitet (Auswertung und Interpretation).
464 M. Gerlach, B. Traxl
„Erkundung der inneren Natur des Menschen, eine Methode, die der Eigenart ihres Gegenstandes – nämlich des subjektiven inneren Erlebens – angemessen ist. Die Psychoanalyse ist
eine Methode des Verstehens. Genauer gesagt, eine Methode, die das Fremdpsychische dem
Verstehen zugänglich macht“ (Ahlheim, 2000, S. 279). Dem fallorientierten psychoanalytischen Verstehen kommt gerade dann eine große Bedeutung und klinische Relevanz
zu, wenn die „innere Welt“ des Probanden von Interesse ist. Diese liegt jedoch außerhalb
des offensichtlich erfahrbaren Kommunikations- und Interaktionsgeschehens und kann
nur durch ein Erweitern der logischen und psychologischen Verstehensmodi erfasst
werden (Klein, 2009). Der auf der bewussten und faktischen Ebene erfahrbare manifeste
Sinngehalt wird demnach durch die Methode des tiefenhermeneutischen Verstehens,
also durch ein Erfassen der unbewussten Ebene ergänzt (Rauh, 2010). Hierbei werden
Interaktionen zwischen dem Probanden, anderen beteiligten Personen und des Forschers als potenziell bedeutungsvolle „Szenen“ aufgefasst, die einer unbewussten Logik
folgen und über den weiteren Verlauf des Zusammenspiels der Interaktionsteilnehmer
entscheiden (Ahlheim, 2012). Das szenische Verstehen (Lorenzer, 1970) ermöglicht
damit eine Annäherung an die inneren Prozesse der beteiligten Personen (Leithäuser
u. Volmerg, 1988; Klein, 2009; Ahlheim, 2012). Rauh (2010) beschreibt das Verfahren
als „einen Prozess, in dem ausgehend von eigenen Reaktionen auf reale oder vorgestellte
Interaktionen unter Zuhilfenahme von Beobachtungen, anamnestischen Daten und theoretischen Konzepten auf Erlebens-, Verhaltens- und Handlungsdispositionen eines Interaktionspartners geschlossen wird“ (ebd., S. 174). Beim szenischen Verstehen geht es
also darum zu hinterfragen, was der Proband von seiner inneren Gefühlswelt, seinen
Konflikten und Nöten in reale Handlungen transformiert, das heißt „in Szene setzt“. Die
inneren Problematiken der von uns untersuchten Jugendlichen und deren unbewältigte,
innerseelische Lebenskonflikte, wurden im Laufe der Forschungsbemühungen deshalb
vor allem in der Art und Weise ihres Erlebens und ihrer Beziehungsgestaltung im Rahmen von Peer-Group, Familie und Forscherteam deutlich.
3.1
Biografisch und klinisch relevante Informationen
Der Kontakt zu Paul entstand über die Verbindung zu einer ambulanten Jugendhilfeeinrichtung, die aufgrund der innerfamiliären Konfliktlage und Pauls Computerspielsucht im Rahmen einer sozialpädagogischen Jugendhilfe bereits mit Pauls Familie befasst war. Hierüber wurde die erste Kommunikation mit der Familie hergestellt
und die Erlaubnis eingeholt, mit Paul in Verbindung zu treten. Nach Zustimmung
der Eltern erfolgte die Kontaktaufnahme zu Paul telefonisch. Nach einem ersten
Kennenlernen und der Zustimmung der Familie konnte mit den teilnehmenden
Beobachtungen, dem narrativ-biografischen Interview mit Paul als auch mit der Erhebung der lebensgeschichtlichen Daten begonnen werden. Die Verarbeitung und
Verschriftlichung der Beobachtungs-, Interview- und lebensgeschichtlichen Daten
geschahen im Einverständnis mit dem Probanden und seiner Familie. Nach Abschluss der Erhebung wurden therapeutische Maßnahmen empfohlen.
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 465
Es kam zu insgesamt fünf Begegnungen mit Paul, die jeweils drei bis fünf Stunden dauerten und in denen Gespräche mit Paul, die Teilnahme an seinen Computerspielaktivitäten und ein narrativ-biografisches Interview stattfanden. Des Weiteren
erhielten wir Einblick in die biografischen Zusammenhänge durch die Eltern, durch
die Berichte einer sozialpädagogischen Einrichtung und Gespräche mit dem bisher in
der Familie tätigen Sozialpädagogen sowie durch die anamnestischen Informationen
einer kinderpsychiatrischen Einrichtung, die Paul stationär aufgenommen hatte. So
ließen sich die interfamiliären sowie individuellen Entwicklungsprozesse umfassender
betrachten, um uns den Sinnstrukturen tiefenhermeneutisch anzunähern.
3.1.1 Einführung in das Fallbeispiel
Paul (16) ist ein freundlicher, auffallend höflicher und etwas korpulenter Junge, der
mit seiner Familie ein Eigenheim in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland bewohnt. Paul hat einen kleinen Bruder (6) der noch die Grundschule besucht. Der
Vater (44) ist Arbeiter im Schichtdienst, die Mutter (43) Angestellte im Verwaltungsbereich. Paul ist im Moment auf einer Gesamtschule im Hauptschulzweig und
wird voraussichtlich dieses Jahr den Hauptschulabschluss erreichen. Von seinem
zwölften bis vierzehnten Lebensjahr erhielten Paul und seine Familie sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) durch eine Einrichtung für ambulante Erziehungshilfe
und Erziehungsberatung, die Eltern-, Familien- sowie Einzelkontakte umfasste. Anschließend kam es zu einem sechsmonatigen Klinikaufenthalt in einer kinderpsychiatrischen Einrichtung, da sich die Eltern mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert sahen. Im Zuge der Testdiagnostik wurde bei Paul eine durchschnittliche
Intelligenz festgestellt, eine Autismusdiagnose konnte ausgeschlossen werden.
Der Alltag von Paul war in beträchtlicher Weise von der Computerspielthematik bestimmt. Er spielte praktisch den ganzen Tag, ging kaum noch zur Schule und schlief in
manchen Nächten nur noch für zwei Stunden. Dieses Verhalten löste massive interfamiliäre Konflikte aus. Auf Reglementierungen seiner Computer-Spielzeit reagierte er aggressiv,
in Form von verbalen Angriffen bis hin zu körperlichen Attacken gegenüber seinen Eltern.
Er versuchte sein Spielverhalten zu verheimlichen, umging etwaige Sperren und brachte
die Familie durch alternative Internetzugänge und Spielaccountkosten auch finanziell wiederholt in arge Bedrängnis. Von den im aktuellen DSM-5 genannten Kriterien trafen auch
zum Zeitpunkt der Erhebung mindestens sieben von neun Kriterien auf Pauls Verhalten
zu. So zeigte sich seine gedankliche Eingenommenheit (1) durch die pausenlose Beschäftigung mit den Charakteren, Aufgaben und Inhalten des Spiels. Währenddessen nahm er
rund um sich herum nichts mehr wahr und sei, wie er sagt, in den „Bann“ des Spiels gezogen. Die exzessive Nutzung (2) und die fehlende Kontrolle (3) manifestierten sich in der
zeitlichen Entgrenzung (Spieldauer von bis zu zwölf Stunden am Tag) und der Vernachlässigung grundlegender interaktioneller (Paul hatte keine Freunde) und physiologischer
Bedürfnisse (unkontrollierte Nahrungseinnahme, unregelmäßiger Schlaf). Paul versuchte
mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine Umwelt zu täuschen (4) und die
466 M. Gerlach, B. Traxl
eingeführten Barrieren zu umgehen um sein Spielverhalten aufrecht zu erhalten. Er entzog
(5) sich den Herausforderungen der Realität (Schulbesuch) und zeigte kaum noch Interesse (6) für andere Tätigkeiten (Sport, Musik) die er früher zumindest ansatzweise ausgeübt
hatte. Insgesamt muss also von schwerwiegenden Folgen (7) für Paul ausgegangen werden,
wenn sich durch den bereits jahrelangen Rückzug sowohl seine privaten wie beruflichen
Perspektiven zunehmend einschränken.
3.1.2 Die frühe Kindheit4
Bereits in den frühen Lebensjahren werden erste Regulierungsstörungen physiologischer Entwicklungsprozesse (Nahrungsaufnahme und Ausscheidung) zwischen
Mutter und Kind beschrieben. Es sind vor allem die wiederkehrenden interaktionellen
Problematiken im zweiten Lebensjahr, die auf eine grundlegende Konfliktkonstellation (Unterwerfung vs. Kontrolle) in Form eines Machtkampfes in der Primärbeziehung
hinweisen. In der Folge gerät Paul auch im Kindergarten, den er im Alter von drei bis
sechs Jahren besuchte, zunehmend in Opposition zu den Pädagoginnen und konnte
nur unzureichend in die Kindergruppe integriert werden. Er litt an Wutausbrüchen,
zeigte deutliche Probleme in seinem Sozialverhalten (kaum Kontakt zu anderen Kindern, kontrollierend in Beziehungen), entwickelte eine regressive Symptomatik (Enuresis) sowie eine ausgeprägte somatoforme Funktionsstörung (Obstipation). Paul
zeigte leichte Entwicklungsrückstände in seinen motorischen und kognitiven Fähigkeiten; diesbezügliche Herausforderungen lösten unmittelbar Stresszustände und
Angstgefühle aus, weshalb er bei diesen Aufgaben schnell verkrampfte oder komplett
verweigerte. Paul zeigte sich während seiner gesamten Kindheit anderen Kindern gegenüber sehr scheu und laut seiner Mutter sei es ihm schon immer schwer gefallen,
einen Platz in Gruppen von Gleichaltrigen zu finden. Konnte er manchmal dann doch
Kontakt zu anderen Kindern herstellen, habe er sich gegenüber diesen oft schwierig
verhalten, es musste immer alles nach seinen Vorstellungen laufen und zu verlieren
sei kaum aushaltbar für ihn gewesen. Sein Auftreten sei bereits im frühen Kindesalter nicht altersadäquat gewesen. So wirkte seine Sprache etwas gestelzt und altklug,
mit etwas erhobener Stimme und angespannter Gesichtsmuskulatur. Seine gesamte
Körperhaltung sowie sein mimischer und gestischer Ausdruck wirkten verkrampft.
Er orientierte sich dabei stark an Erwachsenen und suchte überwiegend Kontakt zu
ihnen. So habe er sich oft selbst zum Außenseiter unter den Kindern gemacht. Zudem kamen im Laufe seiner Entwicklung immer massivere aggressive Tendenzen und
Wutausbrüche hinzu. Besonders zu Hause war Paul impulsiv, schrie laut, raufte sich
die Haare, hyperventilierte, stampfte auf den Boden, äußerte Selbstmorddrohungen
und richtete seine Aggressionen gegen sich selbst, indem er beispielsweise mit dem
Kopf gegen die Wand schlug.
4 Die zugrundeliegenden Quellen für diesen Altersabschnitt sind elterliche Informationen und die
Anamnese einer kinderpsychiatrischen Einrichtung.
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 467
3.1.3 Die schulische Entwicklung5
In der Schule (ab seinem 6. Lebensjahr) arbeitete Paul den Berichten zufolge sehr unordentlich und oberflächlich, genügte oft nur den Minimalanforderungen und erfasste
die Arbeitsanweisungen nicht. Laut seiner damaligen Lehrerin zeigte Paul eindeutige
Anzeichen von Überforderung und schien den Leistungsanforderungen nicht standhalten zu können. Dies habe sich in regressivem Verhalten, beispielsweise durch zusammengekauertes Liegen am Boden und massiven Selbstbeschimpfungen geäußert. Paul
hatte offensichtlich das Gefühl ein schulischer Versager zu sein und, wie er auch im Interview äußert, „immer alles falsch“ zu machen. Die konstante Überforderung des Jungen führte zu massiver Schulangst und der Tendenz, schulischen Stress- und Überforderungssituationen mit Somatisierung und Vermeidung zu begegnen. Er klagte bereits
in der Grundschule über Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzklopfen und
Schwindelgefühle, die sich in der weiterführenden Schule verstärkten. So konnte er zeitweise die Schule gar nicht mehr besuchen und es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach dem Klinikaufenthalt wechselte er die Schule,
was vorerst zu einer sichtbaren Entspannung führte. Er pflegte jedoch auch weiterhin
keine sozialen Kontakte und widmete sich vermehrt dem nun immer wichtiger werdenden Computerspiel. Die schulischen Probleme und das suchtartige Verhalten von
Paul führten zu massiven familiären Konflikten, die nicht selten eskalierten und vordergründig die familiäre Atmosphäre belasteten. Der Versuch das Computerverhalten
durch Verbote und Kontrollen einzudämmen, führten zu immer trickreicheren Varianten Pauls, diese zu umgehen. Dieser maligne Kreislauf, der seinen Höhepunkt in den
Handgreiflichkeiten von Paul gegenüber seinen Eltern fand, löste Gefühle von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Resignation bei allen Beteiligten aus.
3.1.4 Die aktuelle familiäre Einbettung5
Paul wächst in einem behüteten Umfeld und einer bürgerlichen Wohngegend auf. Die
Mutter ist offensichtlich sehr darum bemüht, ein geordnetes Familienleben zu gestalten
und den tagtäglichen gemeinsamen Alltag zu strukturieren. Pauls Eltern sind jedoch
durch ihre eigene Lebensgeschichte stark belastet. So litt die Mutter jahrelang an traumatischen Erfahrungen, die unbehandelt zu stoffgebundenem Suchtverhalten führten.
Die eigenen biografischen Erfahrungen schienen sich aber insbesondere beim Vater auf
seine familiären Möglichkeiten und seine Beziehung zu Paul negativ auszuwirken. Er
zeigte in Pauls gesamter Kindheit Schwierigkeiten, sich auf ein geregeltes Familienleben
einzulassen und, wie er selbst sagte, war familiäre Nähe „schwer auszuhalten“, weshalb er
sich immer wieder zurückzog. Die Beziehung zu seinem eigenen alkoholkranken Vater
sei von Gewalt und Desinteresse geprägt gewesen. Sein bisheriger Lebensverlauf sei ge5 Die zugrundeliegenden Quellen für diesen Altersabschnitt sind elterliche Informationen und Berichte der sozialpädagogischen Einrichtung.
468 M. Gerlach, B. Traxl
kennzeichnet von immer wiederkehrenden depressiven Phasen, starken Tendenzen zur
Sucht (Alkohol) und daraus resultierenden Beziehungsproblematiken. Eine Therapie
schien nur passager erfolgreich und die Vater-Sohn Beziehung litt stark unter den Rückzugstendenzen, die sich durch die Enttäuschung am Verhalten des eigenen Sohnes noch
verstärkten. Insbesondere in den schwierigen Phasen mit Paul stieg das Suchtverhalten
des Vaters wieder stark an, sodass er für längere Zeit arbeitsunfähig war. Es gelang ihm
anscheinend nicht, sich von den eigenen, negativen Familienerfahrungen zu lösen und
selbst als Vater eine ausreichend gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen.
3.2
Interaktionsbeobachtungen und Interview
3.2.1 Die ersten Begegnungen
Beim ersten Treffen mit Paul wurde die Untersucherin sehr freundlich und höflich von
ihm empfangen und nach einem eher kurzen Gespräch mit den Eltern gebeten, ihm in
sein Zimmer zu folgen. Nach der sehr angenehmen und offenen Begrüßung wurde der
Fokus des Treffens von Paul dann sehr schnell auf die Computerspielthematik gelenkt.
Diese aufgeschlossene und offene Haltung des Jungen der Untersucherin gegenüber erleichterte den Zugang erheblich. Er bezog sie von Anfang an in seine Gedanken ein, erzählte viel und ließ sie an seinen inneren Konflikten teilhaben. Er berichtete von „Freunden aus dem Internet“, die er jedoch noch nie persönlich getroffen habe, und erwähnte,
dass er mit diesen virtuellen Freunden aber oft mehr teilen könne als mit Personen aus
dem realen Leben, wie Schulkollegen oder Eltern. Die Untersucherin war überrascht, wie
ausgeprägt seine Computerspielsucht war und dass seine Lebenswelt sich ausschließlich
um das Spiel zu drehen schien. Die Bezeichnung des Spiels als seine „Liebe“ und „Leidenschaft“ sowie die euphorische Art und Weise seines detaillierten Erzählens machten
deutlich, welche Glücksgefühle er während des Spielens erlebte und welch erheblichen
Einfluss das Spiel auf seine Lebensgestaltung nahm. Er verhielt sich wie in einen Bann
gezogen, als würde er um sich herum nichts mehr wahrnehmen und als könnte der
sonst so kontrollierte Junge seine diesbezüglichen Impulse und Erregungen kaum mehr
steuern. Die Begeisterung und Euphorie, mit der er erzählte, potenzierte sich phasenweise zu regelrechten Emotionsausbrüchen. Die folgende, aus der Perspektive der Untersucherin MG beschriebene Situation, die sich während eines der Treffen ereignete, zeigt
das ausgeprägte Spielverhalten von Paul.
Als ich sein Zimmer betrat, saß Paul schon an seinem Computer, die Augen starr
und konzentriert auf den Bildschirm gerichtet und World of Warcraft spielend.
Er erklärte mir sehr aufgeregt, er befände sich soeben in einem wichtigen Kampf
mit einer Gruppe von 25 Leuten, der leider nicht unterbrochen werden könne.
Ich erklärte mich bereit, einige Minuten zu warten, und beobachtete sein Verhalten während des Spiels. Während seine rechte Hand mit ständigem Betätigen der
Maus dafür sorgte, die komplexen Koordinationsprozesse des Spiels zu steuern,
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 469
lenkte seine linke Hand seinen Avatar, den Helden des Spiels, der in einer Gruppe von Verbündeten gegen ihre Gegner kämpfte. Er saß während der gesamten
Spielzeit angespannt vor dem Computer und schien um sich herum nichts mehr
wahrzunehmen. Der Kampf musste etliche Male wiederholt werden, um diesen zu
gewinnen. Die Zeit, die verstrich, und die Tatsache, dass ich darauf wartete mit
ihm sprechen zu können, schienen keine Rolle mehr zu spielen. Er erklärte mir
nach dieser Situation, viele solcher Kämpfe, auch „Raids“ genannt, dauerten über
acht Stunden und er habe schon häufig während eines Kampfes die ganze Nacht
lang „am ganzen Körper gezittert, gelitten und geschwitzt“ und bezeichnete das
Gewinnen eines solchen Kampfes als „die Erlösung“. Die Betonung in seinen Erzählungen über solch einen Kampf lag stets auf der Bezeichnung des „Wir“. Immer
wieder sagte er während des Kampfes Sätze wie „Wir müssen es schaffen, zusammen schaffen wir das“ und schilderte mir stolz, keiner würde einfach vom Computer weggehen und den Kampf verlassen, „auch bei einer ganzen Nacht nicht“. Immer wieder betonte er den Zusammenhalt der Gruppe in einer solchen Situation.
Das Beobachtungsprotokoll und die Erzählungen von Paul verdeutlichen einerseits,
welch enorme Faszination für Paul von dem Spiel auszugehen scheint, und andererseits, welch innerlicher Druck damit verbunden sein mag. Dieses intensive Spielverhalten beeinträchtigt die Lebensgestaltung von Paul seit einigen Jahren (vgl. Punkt
3.1.1) in einem derart hohen Ausmaß, dass von einem ausgeprägten Suchtverhalten
ausgegangen werden kann.
3.2.2 Versuch eines vorläufigen Verständnisses
Paul scheint im Internet, unabhängig ob im Spiel oder in Chat-Kontakten, eine
Befriedigung von Bedürfnissen zu erhalten, die in realen Kontakten für ihn nicht
erfüllt werden. Wenn Paul von seinen „Freunden“ erzählt, meint er eigentlich Menschen, die er in der realen Welt noch nie gesehen hat. Zu ihnen empfindet er ein
Vertrauensverhältnis und kann ihnen über die Distanz des Internets von seinen
Schwierigkeiten in der Schule und Familie erzählen. Er betont, wie geborgen und
aufgehoben er sich in diesen Freundschaften fühle, mehr als dies jemals bei seinen
realen Kontakten der Fall gewesen wäre. So scheinen diese virtuellen Freunde offensichtlich eine Ersatzbefriedigung von Bedürfnissen nach Freundschaft, Nähe, Anerkennung und Geborgenheit darzustellen. In der virtuellen Welt des Spiels kann Paul
engagiert für die Gruppe, kompetent, erfolgreich und beliebt sein. Die virtuellen
Freunde und das Spiel scheinen ihm für diese Bedürfnisse verlässlichere Lösungen
zu sein und dienen ihm offensichtlich zur Kompensation von Gefühlen der Unsicherheit und Einsamkeit, die er im realen Leben erfährt. Pauls Selbstwertregulation
scheint stark von dieser Parallelwelt abhängig zu sein, was sich auch im folgenden
Gespräch zeigt.
470 M. Gerlach, B. Traxl
Während Paul mir von seiner Online-Bekanntschaft berichtete, die ihn offensichtlich
enorm beschäftigt und beeinflusse, kippte seine Stimmung von einer sehr euphorischen
Art und Weise des Erzählens über das Spiel World of Warcraft in eine traurige, nachdenkliche Stimmung und die Gespräche bekamen eine neue Dimension. Paul schien
sich in meiner Gegenwart sicher zu fühlen und ging dazu über, mich an seinen Gedanken, die ihn außerhalb der virtuellen Welt beschäftigten, teilhaben zu lassen. Auf
meine Fragen, warum er für alles bei sich selbst die Schuld suche und wie er selbst über
die Problematik der Computerspielsucht denke, reagierte er sehr niedergeschlagen. Er
berichtete mir, er sei in der Schule gescheitert. Für ihn sei ohnehin schon alles „vorbei
und sinnlos“ und er habe „nichts geschafft“. Außerdem sagte er über sich selbst, er habe
„nun mal kein Selbstwertgefühl“ und „durch das ganze schon einen Knacks“. Er sei bei
einigen Psychologen gewesen und habe sich außerdem einer Abnehm-Kur zur Verringerung seines Gewichts unterzogen, es habe jedoch „alles nichts gebracht“.
Es scheint als hätte er bereits resigniert, die Therapien würden bei ihm nicht anschlagen und er habe wohl schlicht und einfach „einen Knacks“. Seine Selbstwertregulation ist augenscheinlich massiv beeinträchtigt und kann sich nur innerhalb des
Spiels oder in Form von virtuellen Kontakten passager regenerieren.
3.2.3 Die Beziehung zur Untersucherin
Die unbewältigten, innerseelischen Konflikte von Paul wurden nicht nur in dem ausgeprägten Spielverhalten und seinen diesbezüglichen Erklärungsversuchen deutlich,
sondern auch in der Beziehung zur Untersucherin. Paul entwickelte ihr gegenüber
ein starkes Mitteilungsbedürfnis und öffnete sich zunehmend. Ein starker Rededrang
und ein fast anklammerndes Verhalten waren bezeichnend für die Treffen. Die Bereitschaft der Untersucherin ihm zuzuhören, kam seinem unerfüllten Bedürfnis nach Aufmerksamkeit wohl entgegen und er genoss es zunehmend, ihr seine Begeisterung für
das Computerspiel näher zu bringen. Parallel dazu war es ihm aber auch möglich, sich
emotional weiter zu öffnen und über seine Ängste und inneren Konflikte zu sprechen.
Die Tatsache, dass sie sich mit ihm beschäftigte und sich für seine Welt interessierte,
war für ihn so bedeutsam, dass er sie kaum mehr gehen lassen wollte. Wenn sie nach
einer Stunde ankündigte, nun gehen zu müssen, sagte Paul, er müsse ihr noch so viel
erklären und sie solle doch noch bleiben. Er forderte sie nach jedem Treffen nachhaltig
auf wiederzukommen und sich für die nächste Begegnung mehr Zeit einzuplanen. Des
Weiteren tat er immer wieder seine Begeisterung darüber kund, dass sie sich für ihn
und sein Spiel interessiere und er „endlich mal jemandem länger davon erzählen könne“.
Pauls starker Wunsch nach Nähe, Verständnis und Anerkennung in sozialen Kontakten
kamen nun, in der Übertragung auf sie, zum Ausdruck. Er erzählte, dass er immer schon
gemobbt wurde und schon sein ganzes Leben lang massive Schwierigkeiten in Gruppen
habe. Er war offensichtlich sozial isoliert und hatte sich im Verlauf der Jahre zu einem
Einzelgänger entwickelt. Als Adressatin dieses Übertragungsangebotes war der Unter-
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 471
sucherin in den Begegnungen mit Paul sowohl die unmittelbare Wahrnehmung seiner
Ängste und verletzten Gefühle als auch seiner Hoffnungen und Wünsche möglich. In
dieser Beziehung offenbarte sich seine tiefe Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung seiner eigentlichen Bezugspersonen, sein Bedürfnis nach einem angemessenen
und stabilen Selbstwert und sozialen Kontakten mit denen er das Gefühl von Freundschaft und Gemeinschaft erleben könnte. In der unmittelbaren Übertragungssituation
reinszenierten sich einerseits seine unbewussten Bedürfnisse, andererseits wiederholte
sich damit aber auch eine unvermeidliche Enttäuschung. Das einnehmende Verhalten
des Jungen brachte die Untersucherin in einen Konflikt, da ihr Fortgehen immer auch
eine Kränkung implizierte. Die notwendige Abgrenzung nach jedem Treffen als auch
der unvermeidliche Abschied nach Beendigung der Untersuchung führten zu Schuldgefühlen und Schwierigkeiten in der Nähe-Distanz Regulation.
3.2.4 Das narrativ-biografische Interview
Nachdem bereits mehrere Treffen auf der Basis teilnehmender Beobachtungen und
Gespräche stattgefunden hatten, führte die Untersucherin mit Paul ein narrativ-biografisches Interview. Dadurch sollte einerseits noch stärker sein subjektives Erleben,
insbesondere hinsichtlich seines Verständnisses des biografischen Verlaufs erfahrbar werden. Andererseits sollte das Verfahren vertieft seine subjektiven Erklärungstheorien zur Suchtproblematik beleuchten.
Paul sprach während des gesamten Interviews sehr viel über Werte wie Vertrauen und
Akzeptanz. Er erklärte der Untersucherin, in der virtuellen Welt würde er nicht, wie im
öffentlichen Leben, runtergestuft. „Da geht es nicht nach äußeren Werten, da geht es nach
inneren Werten und das schätze ich so sehr, was ich am richtigen Leben nicht so schätze,
weil es eben nicht so ist.“ In Pauls richtigem Leben, von dem er hier spricht, scheinen
innere Werte wie Akzeptanz und Vertrauen nicht in der Weise vorzukommen, wie er
es sich wünscht. Die für ihn so entscheidenden Momente, in denen er sich verstanden
und akzeptiert fühlt, empfindet Paul nur in der virtuellen Welt des Computerspiels. In
dieser Gemeinschaft werden schließlich auch seine Einsamkeitsgefühle aufgehoben.
„[…] diese Computersucht, ja das ist so ein Thema, wie soll man so was erklären […] es
gibt einem etwas, was man vielleicht nicht hat […] diese Einsamkeit […] diese zweite Welt
[…] man fühlt sich geborgen, ganz klar also, ich fühl mich da wenn ich Stress habe, fühl
ich mich da wohl, weil man wird da so akzeptiert wie man ist […] in der Welt, ja, das ist
alles, da ist dieses Thema nicht, also da sind alle gleich, man wird nicht irgendwie wie im
öffentlichen Leben, ja runtergestuft […]“ Hier erfüllen sich seine Wünsche „jemand zu
sein“, „ein guter Mensch zu sein“ und „nicht alleine zu sein“. In diesen Selbstzuständen
wirken seine Ängste und Selbstwertproblematiken wie aufgehoben. Er spielt, um, wie
er sagt, seine „tatsächliche Lebenswelt zu vergessen“. Entlang der Beschäftigung mit Paul
und seiner virtuellen Welt, präsentiert sich seine Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung, nach Erfolgserlebnissen und einem befriedigenden Selbstwert sowie sozialen Kontakten, mit denen er das Gefühl der Freundschaft und Gemeinschaft erleben
472 M. Gerlach, B. Traxl
kann. Pauls Sucht bezüglich des Spiels speist sich offensichtlich aus all diesen unerfüllten
zwischenmenschlichen Bedürfnissen. Den großen Unterschied, der für ihn zwischen
seiner realen Lebenswelt und seiner virtuellen Ersatzwelt existierte, führte er während
des Interviews immer wieder deutlich an: „[…] dieses Gefühl sich schlecht zu fühlen, das
ist halt auch scheiße […] Und wenn ich spiele, dann vergess ich das […] da bin ich dann
halt wieder dieses Positive, die Akzeptanz ist da […] da kann man abschalten, da vergisst
man das einfach, das ist das, warum’s so wichtig für mich ist … weil’s so das Einzige ist,
womit ich diese Gedanken, diesen ... diesen Schmerz vergessen kann […] die sehen in mir
halt einen guten Menschen irgendwo. Da kann ich’s vielleicht auch sein […] ich fühl mich
besser ... weil ... weil ja man ist da was, man ist jemand […] da fühlt man sich nicht allein,
ganz klar gesagt.“ Und etwas später erwähnte er: „[…] ich hab immer diese Erfolgs- …,
diese Glücksmomente gehabt. Das man was erreicht, das man irgendwie was wert ist […]“
Paul beschreibt hier eindrucksvoll das Gemeinschafts- und Glücksgefühl, das er erlebt,
wenn er sich mit seinem Avatar in der virtuellen Welt des Spiels befindet. Es wird deutlich, dass er hier vor allem jene Akzeptanz findet, die er in der realen Welt nicht erleben
konnte. In seinem Verständnis wurde er seit jeher von anderen Kindern gemobbt und
entwickelte sich zum Einzelgänger. Auch die Beziehung zu seinen Eltern wird von ihm
als problematisch beschrieben. So schien es immer schon Schwierigkeiten in der VaterSohn-Beziehung gegeben zu haben und „bis heute“ zu geben. Es sei das Gefühl, „nichts
richtig machen zu können“, beschuldigt zu werden, „obwohl man gar nichts getan hat“,
und kontinuierlich Ablehnung zu spüren. Die daraus resultierenden Gefühle von Verzweiflung und Hilflosigkeit und das Unverständnis der Eltern ihm gegenüber, führten
laut Paul immer wieder zu Wutausbrüchen. Er sagt, es habe ihm an positiver Bestätigung, Lob und Unterstützung gemangelt, er habe nie „etwas Gutes“ über sich gehört. In
den Gesprächen wird deutlich, wie wenig Paul sich selbst zutraut und wie schwach das
Gefühl von Selbstwirksamkeit ausgeprägt ist. Er gibt sich in jeder Hinsicht „für alles die
Schuld“. Das unerträglich schmerzende Gefühl, für niemanden wirklich wichtig zu sein,
begleitet ihn seit seiner Kindheit und kann seit Jahren anscheinend nur durch die soziale
Bestätigung gelindert werden, die er in der virtuellen Spielwelt erfährt: „weil’s so das Einzige ist, womit ich diese Gedanken […] diesen Schmerz vergessen kann“.
3.3
Tiefenhermeneutische Analyse des Falls und psychodynamische
Überlegungen
Beim Betrachten der Entwicklungsgeschichte von Paul, den Interviewdaten und den
Protokollen der teilnehmenden Beobachtungen lassen sich zumindest einige Hinweise finden, die eine Annäherung an die Beantwortung der eingangs formulierten
Forschungsfrage, nach der Genese von Pauls Computerspielsucht, erlauben. Standen zu Beginn der Erhebungsphase vor allem das Spielverhalten und die virtuelle
Welt im Vordergrund des Erkenntnisinteresses, wurden in den Gesprächen mit Paul
die dahinterliegenden Bedürfnisse und seine Not deutlich spürbar.
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 473
3.3.1 Die Entwicklungsgeschichte
Die ersten Schwierigkeiten in Pauls Geschichte zeigen sich anhand früher physiologischer
Entwicklungsstörungen, die auf primäre, konflikthafte Regulierungsbemühungen im
Abstimmungsverhältnis von Mutter und Kind hinweisen. Pauls Entwicklungsdefizite
wirken sich dann auch auf seine Kindergartenzeit weiter aus, wenn in der Folge unempathischer Reaktionen der Erzieherinnen eine Integration Pauls verhindert und damit
Gefühle der grundlegenden Akzeptanz und Anerkennung bereits früh verletzt wurden.
Wie schwierig diese Situation für Paul war, wird anhand des Rückgriffs auf regressive Bewältigungsmechanismen (Enuresis) deutlich (Heinemann u. Hopf, 2012). Die Erfahrung
des Ausgeschlossenwerdens und die daraus resultierenden Ängste führten nachvollziehbar zu einem Vermeidungsverhalten und verstärkt somatoformen Funktionsstörungen.
Bereits im Kindergartenalter klagte Paul über starke Bauchschmerzen und äußerte häufig den Wunsch, den Kindergarten nicht besuchen zu müssen. Pauls Ängste verstärkten
sich im Laufe seiner Entwicklung deutlich und schränkten ihn in weiterer Folge in seiner
gesamten Entwicklung ein. Es kam zu schlechten schulischen Leistungen, aggressiven
Ausbrüchen und einer sozialen Isolation. Neben dem regressiv psychosomatischen Modus (Mentzos, 2005) und den narzisstisch, aggressiven Selbstbehauptungsimpulsen gab
es aber auch den Versuch Pauls, sich pseudoprogressiv von seinen kindlichen Seiten zu
befreien und sich vor allem an erwachsenen Personen zu orientieren. Paul wirkte altklug
und entwickelte eine gestelzte Sprechweise mit gehobener Stimme und angespanntem
mimischen und gestischen Ausdruck. Diese Variante stellte wohl einerseits den Versuch
dar, den Bezugspersonen doch noch durch Angleichung zu entsprechen, sich aber andererseits von seinen ungeliebten, kindlichen Persönlichkeitsanteilen zu lösen. So konnte
er der direkten Rivalität und Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen und den Anforderungen einer Peer-Group zwar aus dem Weg gehen, gleichzeitig brachte er sich damit
aber auch um die Chance, sich in einer Gruppe Gleichaltriger weiterzuentwickeln. Sein
Verhalten führte bei Gleichaltrigen eher zu Verunsicherung und Ablehnung, Freundschaften und intensivere soziale Kontakte blieben damit aus. Paul erlebte sich immer als
gehöre er nicht dazu und als sei er „fehl am Platz“. Sein Selbstwertgefühl war dermaßen
brüchig, dass es keiner Belastung standhielt und Vergleiche mit Gleichaltrigen unmöglich waren. Das Gefühl „nie etwas richtig machen zu können“ formulierte er bereits für
die Erfahrungen in der Familie. Dies traf aber natürlich auch auf die Schule zu. Er blieb
in der Rolle des ungeschickten Versagers und eine Befriedigung seiner narzisstischen
und intersubjektiven Grundbedürfnisse blieb aus.
Die massive Schulproblematik und die somatoforme Symptomatik waren also offensichtlich die Folge von massiven Kränkungen und Ängsten, die Paul während seiner
Kindheit erfahren und entwickelt hatte. Immer wieder gab er an, starke Bauchschmerzen,
Übelkeit und Schwindelgefühle zu empfinden, sodass er phasenweise nicht in der Lage
war, die Schule zu besuchen. Diese Verarbeitungsmodi, in denen frühe Versorgungswünsche reaktiviert werden, werden vor allem mit einer gescheiterten Autonomieentwicklung in Zusammenhang gebracht (Naumann, 2010). Der eigentliche Konflikt wird abge-
474 M. Gerlach, B. Traxl
wehrt und eine Selbststabilisierung erfolgt durch die Somatisierung psychischer Prozesse
(Heinemann u. Hopf, 2012). Die innerfamiliären und sozialen Kränkungen, die Paul
während seiner ganzen Kindheit erlebte, führten also einerseits zu einer problematischen
Erfahrung von Grundkonflikten (Mertens, 2005) wie „Versorgung versus Autarkie“ beziehungsweise „Selbst- versus Objektwert“, andererseits aber auch zu einer beeinträchtigten
strukturellen Entwicklung (OPD, 2006), insbesondere in den Bereichen Selbstregulierung
und Regulierung der Objektbeziehungen. Dies führte Paul vorerst in einen psychosomatischen Modus und erst später in den Modus der Sucht (Mentzos, 2005).
3.3.2 Die elterlichen Funktionen
Die konfliktreiche und brüchige Beziehung der Eltern beeinträchtigte Paul in dem
Grundgefühl, in einer sicheren Triade aufgehoben zu sein. Das Bedürfnis nach einer
stabilen, haltenden Umwelt kam in seinen Aussagen immer wieder zum Vorschein.
Diese elterlichen Funktionen werden von entwicklungspsychologischer Seite als bedeutende Determinante gesunder kindlicher Entwicklung betrachtet (Dornes, 2006;
Diamond, 2010). Es ist diesbezüglich von großer Bedeutung, dass ein Kind seine Eltern als zusammengehörig repräsentieren kann, als Basis, auf der ein innerer „triangulärer Raum“ entstehen kann (Britton, 1998). Diese unbewusste innere Repräsentation,
die die Eltern miteinander verbindet, bereitet „die Bühne für die Erfahrung des Kindes,
von beiden Eltern zusammen wahrgenommen zu werden“ (ebd., S. 95).
Beide Eltern weisen jedoch, aufgrund ihrer je eigenen, unverarbeiteten Entwicklungsgeschichte massive Defizite in ihren elterlichen Funktionen auf. Während sich die mütterlichen Aspekte in der Beziehung zu Paul als frühe Regulationsstörungen niederschlagen,
kommt es in der Vater-Sohn-Beziehung vor allem zu einer Anerkennungsproblematik.
Dieser war nicht in der Lage, sich durchgehend als strukturierendes, drittes Objekt (Klein,
1948; Rotmann, 1980) anzubieten, die damit einhergehenden Differenzerfahrungen
(Buchholz, 1990) zu ermöglichen und als konstante, emotional verfügbare männliche
Identifizierungsfigur zur Verfügung zu stehen (Dammasch, 2012a, b). Die Entwicklung
einer reifen gesunden Identität ist, bei Jungen noch stärker als bei Mädchen, von einem
emotional präsenten „männlichen Dritten“ abhängig, der die Spiegelung männlicher
Selbstanteile forciert (Dammasch, 2009). Die positive männliche Spiegelung des Selbst
durch den Vater konnte bei Paul jedoch aufgrund der unverarbeiteten Lebensgeschichte
des Vaters und der daraus resultierenden Beziehungsgestaltung kaum stattfinden.
Der als abweisend erlebte Vater, das spannungsreiche Verhältnis zu seiner Mutter
und die innerfamiliären Konflikte erzeugten bei Paul zunehmend das Gefühl fehlender Sicherheit, mangelnder Anerkennung und schließlich auch die Erfahrung von
Einsamkeit im Kontext von peer-groups. Diese Defizite versuchte er in Folge des auf
Dauer nicht befriedigenden psychosomatischen Modus mithilfe einer neuen Verarbeitungsform auszugleichen. Sein starkes Verlangen, sich fast ausschließlich mit der
virtuellen Welt zu beschäftigten, in der er sich neu erfinden konnte und genau jene
unbefriedigten Bedürfnisse auch gestillt wurden, werden in diesem Verständnis gut
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 475
nachvollziehbar. Als subjektives Resultat jahrelanger Kränkungen, Niederlagen und
Enttäuschungen konnte er nun in eine Welt flüchten, in der er zum ersten Mal in einer
Gemeinschaft integriert zu sein schien. Deshalb betont er auch vielfach wie wichtig es
sei, dass in diesem Spiel „alle gleich“ seien, für wie bedeutsam er diese Beziehungen
erlebe und wie anerkannt er sich darin fühle. Bindungs- und Anerkennungsbedürfnisse, die bereits frühkindlich enttäuscht wurden und narzisstische Defizite verursacht
hatten, konnten nun teilweise befriedigt werden (Hopf, 2012). Das depressive Grundgefühl, Versagensängste und das Gefühl der Einsamkeit sind in der virtuellen Welt
passager aufgehoben und Paul kann sich in der Folge als kompetent, sozial integriert
und geschätzt erleben. Hier empfindet und entwickelt Paul das Gefühl von Selbstwirksamkeit, und im Gegensatz zu seiner realen Lebenswelt erhält er hier auch positive
Rückmeldungen auf sein Handeln. Er ist in dieser Lebensphase nicht in der Lage, seine
Bedürfnisse auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, insbesondere da ihm reale
und konstante emotional verfügbare Entwicklungsobjekte (Traxl, 2013a) fehlen.
4
Diskussion
In dieser Arbeit haben wir uns, anhand der Analyse eines einzelnen Falls, dem Störungsbild der Online-Rollenspielsucht genähert und mithilfe von psychoanalytischen
Ansätzen versucht, die Hintergründe des Suchtverhaltens zu erfassen, ohne vorschnell
einfache und für alle Beteiligten entlastende Erklärungsmuster, beispielsweise in einer
Schuldzuweisung an neue Medien, zu suchen. Obwohl bei Weitem nicht alle relevanten
Faktoren (z. B. die Rolle der Aggression), mögliche Überlegungen und Erklärungsansätze berücksichtigt werden konnten, wirft dieser Versuch einer Annäherung hoffentlich etwas Licht auf die komplexen Hintergründe des Phänomens. Zunehmend geraten
Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in eine suchtartige Nutzung von Computerspielen. Immer häufiger suchen Angehörige von Computerspielsüchtigen oder auch Betroffene deshalb nach Hilfen und speziellen Therapieangeboten. Allmählich nimmt sich
auch die Forschung (Chakraborty, Basu, Vijaya Kumar, 2010; Cash, Rae, Steel, Winkler,
2012) mehr dem Thema und den damit zusammenhängenden Problematiken an. Die
Behandlung der Computerspielsucht (Schuhler u. Vogelsang, 2012; Frölich u. Lehmkuhl, 2012) selbst ist aber noch ein sehr junges Behandlungsfeld, sodass deutschlandweit
nur wenige Einrichtungen spezielle Therapieangebote anbieten (Wölfling, Jo, Bengesser,
Beutel, Müller, 2013). Eine deutliche Reduktion des Suchtverhaltens, der Abhängigkeit
und der Beschäftigungszeit mit den computerbasierten Inhalten, eine Verbesserung des
Sozial- und Gesundheitsverhaltens, der schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit
und ein Abbau von sozialen Ängsten und Vermeidungsverhalten werden als wichtigste
therapeutische Zielerwartungen beschrieben. Wie an dem Beispiel hoffentlich sichtbar
wurde, sollten vor allem auch die Hintergründe der pathologischen Lösung des Computerspielens erfasst und behandelt werden. Dies gilt auch für die in unserer Gesamtuntersuchung bislang gemachten Erfahrungen: In der Phase der frühen Adoleszenz
476 M. Gerlach, B. Traxl
kommt es vielfach zu einem massiven Anstieg des Computerspielverhaltens, insbesondere dann, wenn Identitätsprozesse brüchig und die Anforderungen der Außenwelt als
zu hoch erlebt werden. Fallübergreifend lassen sich durchgehend defizitär erlebte Entwicklungsbedingungen beziehungsweise subjektiv belastende Lebensereignisse finden,
die zu narzisstischen und selbstregulatorischen Problematiken und letztlich zur Ausbildung spezifisch vulnerabler Persönlichkeitsstrukturen führen (Schneider, Scherer,
Hefner, 2009). Eine Stabilisierung und Regulierung findet dann eben über die exzessive
Nutzung von Computerspielen anstatt über den Austausch mit realen Bezugspersonen
statt. So stellen aus unserer Sicht vor allem neue und korrigierende Beziehungserfahrungen in therapeutischen und heilpädagogischen Kontexten eine wesentliche und vielversprechende Variante dar. Bei Paul haben die diversen geschilderten Hilfsangebote
(Klinikaufenthalt, sozialpädagogische Begleitung) bislang keine nachhaltige Loslösung
erbracht. Bei Betrachtung des Falls besteht der Verdacht, dass die bisherigen Interventionsversuche entweder zu früh abgebrochen oder zu sehr an der Symptomatologie angesetzt waren. Fördermaßnahmen müssen demnach beim Kind ansetzen, was bedeutet,
sich erst einmal auf dieses einzulassen und sich in jene virtuelle Welt zu begeben, in der
es momentan lebt (Traxl, 2013a, b). Erst nach dem Aufbau einer stabilen und vertrauensvollen Beziehung zum Betroffenen kann es dann darum gehen, die innerpsychischen
und innerfamiliären Dynamiken mit allen Beteiligten zu reflektieren. So müssten beispielsweise auch die negativen Kindheitserfahrungen der Eltern, die sich transgenerational und unbewusst in den Bindungsbeziehungen (Brisch, 2013) zu den eigenen Kindern
wiederholen, aufgearbeitet werden.
Fazit für die Praxis
Es wird deutlich, dass sich hinter dem Phänomen Computerspielsucht in einigen
Fällen weit mehr verbirgt als eine harmlose Adoleszenzkrise, und Sanktionierungen des Verhaltens offensichtlich zu kurz greifen. Diese Einzelfallstudie weist
darauf hin, dass diesem Phänomen innere Konflikte und Defizite zu Grunde liegen
können, die ihren Ursprung bereits in frühsten Kindheitsjahren haben und über
den Entwicklungsverlauf unter malignen Bedingungen fortschreiten können. Die
Begegnung mit Paul hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er ließ uns an
seinen inneren Nöten, aber auch an seiner Begeisterungsfähigkeit teilhaben und
zeigte durch seine interaktive Bereitschaft auch sein Entwicklungspotenzial. Wir
hoffen, dass es ihm durch positive Beziehungserfahrungen in weiterer Zukunft gelingen wird, seinen Avatar auch im richtigen Leben so groß und stark werden zu
lassen, dass die Anforderungen der realen Welt ebenfalls aushaltbar werden.
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 477
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Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 479
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Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Bernd Traxl, AG Sonderpädagogik, Institut für
Erziehungswissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität, Jakob-Welder-Weg 12,
55128 Mainz; E-Mail: [email protected]
Marie Gerlach und Bernd Traxl, Johannes Gutenberg-Universität in Mainz
AUTOREN UND AUTORINNEN
Rainer Blank, Prof. Dr. med., Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Leiter der Klinik für Kinderneurologie und
Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn.
Verena Freiberger, Dr. phil., Dipl.-Psych., Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie,
Kinderzentrum Maulbronn.
Marie Gerlach, Erziehungswissenschaftlerin (Bachelor of Arts), Masterstudentin der Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sonderpädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.
Heide Greulich, Dr. med., Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, Klinik für
Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn.
Xaver Kienle, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinik für Kinderneurologie
und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn.
Felix Klapprott, B. Sc. Psy., 2013-2014 Mitarbeiter im Arbeitsbereichs „Entwicklungswissenschaft
und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin.
Franz Petermann, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Diagnostik am
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) an der Universität Bremen.
Ulrike Petermann, Prof. Dr. phil., Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Kinderpsychologie
am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen.
Herbert Scheithauer, Univ.-Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., seit 2003 Leiter des Arbeitsbereichs „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin.
Jan Schultheiß, Dipl.-Psych., in der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen.
Bernd Traxl, Juniorprofessor für Sonderpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Dozent am Mainzer Psychoanalytischen Institut (DPV),
Psychoanalytische Praxis am Institut für angewandte Psychoanalyse (IAP).
Stephan Warncke, Dipl.-Psych. Dipl.-Kfm., seit 2007 Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 480 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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BUCHBESPRECHUNGEN
Fricke, S., Armour, K. (2014). Dem Zwang die rote Karte zeigen. Ein Ratgeber für
Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Köln: Balance Buch+Medien, 142 Seiten, 17,95 €.
Schmidt-Traub, S. (2013). Zwänge bei Kindern und Jugendlichen. Ein Ratgeber für
Kinder und Jugendliche, Eltern und Therapeuten (2., überarb. Aufl.). Göttingen:
Hogrefe, 177 Seiten, 16,95 €.
Wewetzer, G., Wewetzer, C. (2014). Ratgeber Zwangsstörungen bei Kindern und
Jugendlichen. Informationen für Kinder, Jugendliche und Eltern. Göttingen: Hogrefe,
112 Seiten, 14,95 €.
Innerhalb kurzer Zeit sind drei Ratgeber zu kindlichen Zwangsstörungen erschienen. Diese sollen hier vorgestellt und hinsichtlich ihrer praktischen Einsatzmöglichkeiten miteinander verglichen werden. Die Namen der Erstautoren werden dabei zu
Kennzeichnung der verschiedenen Werke verwendet. Alle drei Bände erheben den
Anspruch, Kinder mit Zwangsstörungen und ihre Angehörigen über diese sehr belastende und nicht nur für Laien befremdliche Störung zu informieren und Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gemeinsam ist allen Bänden ein multikausales auf
empirischer Forschung basierendes Störungsverständnis sowie eine kognitiv-behaviorale Ausrichtung der Interventionsvorschläge. Die Exposition mit Reaktionsverhinderung wird in allen drei Ratgebern als Kernstück der Intervention angesehen. Alle
Texte sind, zumindest in den Teilen, die für Kinder und Jugendliche verfasst sind,
illustriert und die Autoren bemühen darum, die Patienten selbst direkt anzusprechen.
Die Textaussagen werden durchweg durch zahlreiche Fallbeispiele veranschaulicht.
Jahrelang war der 2006 erstmalig erschienene Ratgeber von Schmidt-Traub auf dem
Buchmarkt nahezu konkurrenzlos. Dieses in der Praxis bewährte Buch, das sich an
Patienten, ihre Angehörigen und auch an Therapeuten richtet, liegt nunmehr als überarbeitete Neuauflage vor. An die gut 100 Seiten umfassende Information für Eltern
schließt sich darin ein vereinfachter 33 Seiten umfassender Teil zur direkten Information der Kinder an. Im Anhang des Buches finden sich klinische Diagnosekriterien,
Symptomcheckliste, Zwangsprotokoll und kurze Sachtexte zu wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie eine Kurzanleitung zur Progressiven Muskelentspannung.
Der Ratgeber von Wewetzer informiert gleichermaßen Eltern und Kinder, wobei
der Fokus überwiegend auf der (kompakten) Sachinformation liegt. Der Anhang enthält Arbeitsblätter als Kopiervorlagen sowie eine Kurzinformation über Zwänge, die
auch für Kinder ab circa sechs Jahren verständlich sein kann. Für Leser, die ausführlichere Informationen suchen, wird auf das von denselben Autoren herausgegebene
Therapiemanual (Wewetzer u. Wewetzer, 2012) verwiesen.
Die dritte Neuerscheinung (Fricke) kann als Manual für eine (Selbst-)Therapie verstanden werden. Es wendet sich überwiegend an (jugendliche) Leser und leitet Schritt
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 481 – 485 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
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für Schritt durch die Exploration der Zwänge und deren Extinktion. Passagen, die
sich ausdrücklich an die Eltern richten, sind optisch vom übrigen Text abgesetzt und
vergleichsweise kurz.
Alle drei Bücher liefern in weiten Teilen übereinstimmende Informationen und
können für den praktischen Einsatz nahezu uneingeschränkt empfohlen werden. Die
nunmehr vorhandene Auswahlmöglichkeit führt zur Qual der Wahl, wann welcher
Ratgeber vielleicht eher in Frage kommt.
Die Textlängen differieren beträchtlich (s. o.), allerdings ergeben sich bei SchmidtTraub durch die Aufteilung in einen Eltern- und einen Kinderteil etliche Wiederholungen. Fricke und Schmidt-Traub sprechen die Patienten auch auf der Gefühlsebene an,
während die Texte in Wewetzer meist neutraler abgefasst ist. Fricke personifiziert Zwänge
als „Monster“. Das Buch motiviert die Leser, diesen auf die Schliche zu kommen und sie
zu bekämpfen. Schmidt Traub appelliert am deutlichsten, sich den mit Zwängen verbundenen Belastungen zu stellen und schildert das Vorgehen bei der Zwangsexposition am
eingehendsten. Wewetzer weist am klarsten auf prädisponierende Denkmuster hin. Der
kognitiven Umstrukturierung als Behandlungsmethode wird in den Werken kein großer
Raum gegeben. Fricke empfiehlt Gegenbehauptungen, Wewetzer thematisiert mentale
Distanzierungstechniken und Schmidt-Traub fordert die Eltern auf, dem Kind immer
wieder zu sagen, dass die Zwangsvorstellungen Unsinn sind. Spezifische kognitiv-behaviorale Fragtechniken wie die Pfeil-abwärts-Methode werden nicht thematisiert.
Fricke ist als Selbsthilfebuch angelegt und leitet Kinder und ihre Eltern schrittweise dazu
an, Zwangshierarchien aufzustellen und selbst Exposition durchzuführen. Wewetzer dagegen beschreibt Möglichkeiten der Selbsthilfe (Zwangsexploration, Distanzierungstechniken usw.), ordnet die Exposition mit Reaktionsunterdrückung aber den Maßnahmen
zu, die unter psychotherapeutischer Anleitung erfolgen. Schmidt-Traub nimmt dahingehend eine Mittelstellung ein und macht die Entscheidung für oder gegen eine Psychotherapie unter anderem von der Zwangsdauer abhängig. In Anbetracht der oft hohen psychischen Belastung von Eltern zwangskranker Kinder sollte allerdings sorgfältig erwogen
werden, wann professionelle therapeutische Unterstützung entbehrlich ist.
Fricke und Wewetzer liefern auch Informationen zur stationären Therapie. SchmidtTraub beschreibt komorbide Störungen und thematisiert differenzialdiagnostische Erwägungen, was einige Leser durchaus verunsichern kann. Das Phänomen rascher Symptomwechsel wird vornehmlich bei Wewetzer und Schmidt-Traub thematisiert. Schmidt-Traub
enthält auch eine Reihe praktischer Tipps, zum Teil auch differenziert nach verschiedenen
Zwangsthemen, die in den anderen Büchern so nicht enthalten sind.
Ob Zwänge von Patienten als unsinnig angesehen werden oder nicht, wird in den
Büchern unterschiedlich gewertet. Fricke tendiert eher dazu, das Wissen um die Absurdität von Zwängen als konstitutiv anzusehen (S. 13, kleiner Widerspruch dazu auf
S. 119), die anderen Autoren gehen von flukturierenden Gewissheiten aus. Die praktischen Hinweise zum Umgang mit Zwängen bei Kindern unter 8-10 Jahren sind in
allen drei Werken eher spärlich, am ehesten wird der Leser hierzu bei Schmidt-Traub
fündig, die entwicklungspsychologische Aspekte zumindest anreißt.
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Gute Lesefertigkeiten und kompetenter Umgang mit längeren Sachtexten sind Voraussetzung, um von den Texten profitieren zu können (Ausnahme der kurze Infotext
in Wewetzer). Dies dürfte im Allgemeinen erst ab einem Alter von etwa 14 Jahren zu
erwarten sein. Ansonsten ist bei der Lektüre mehr oder weniger Unterstützung durch
Erwachsene erforderlich. Bei der Empfehlung von Zwangsratgebern an Eltern sollte
auch deren Bildungsgrad mitberücksichtigt werden.
Der Vergleich der drei Ratgeber ergibt keine Präferenz für einen bestimmten Text.
Alle haben, wie oben dargestellt, im Hinblick auf verschiedene Einsatzmöglichkeiten
ihre Stärken und Schwächen. Als ergänzende Lektüre zur Unterstützung einer behavioral-kognitiven Psychotherapie sind sie allesamt geeignet. Die Chancen, durch die
Buchlektüre eine Psychotherapie obsolet zu machen, dürften dagegen eher gering sein.
Auch für Therapeuten stellen die drei besprochenen Bände eine anregende Lektüre
dar, die mithilft, Störungsverständnis und therapeutische Kompetenz zu verbessern.
Dieter Irblich, Auel
Wahl, K. (2015). Wie kommt die Moral in den Kopf? Von der Werteerziehung
zur Persönlichkeitsförderung. Berlin: Springer, 180 Seiten, 14,99 €.
Was hält menschliche Schwäche, Unvernunft und Leidenschaft in Schach, bewahrt
die Gesellschaft vor dem Sturz in Anarchie und macht uns zu moralisch handelnden
Menschen? Das rezensierte Buch soll diese Fragen auf dem aktuellen Stand interdisziplinärer Forschung beantworten, und das auf nicht einmal 200 Seiten, leicht verständlich in Form eines populären Sachbuchs – ein ambitioniertes Unterfangen also.
Das Werk umfasst zehn Kapitel, von denen jedes mit einer Frage überschrieben ist.
In den Kapiteln 2-8 werden „neue Forschungsergebnisse ... aus der Genetik, den Neurowissenschaften, der Psychologie und den Sozialwissenschaften“ präsentiert. Diese
Ergebnisse fasst der Autor in einem eigenen Modell der Verursachung moralisch erwarteten Verhaltens zusammen, aus dem er in den letzten beiden Kapiteln Strategien
zur Förderung moralischen Handelns ableitet.
Kapitel 1 führt den Leser mit einer ausführlichen Definition von Moral, Ethik und
Werten in die Thematik ein. Wahl beklagt, dass Werte unscharf definiert werden und
schlägt eine Differenzierung auf drei Ebenen vor: A) gesellschaftlich, politisch und religiös Gewünschtes („höhere Werte“), B) der individuelle subjektive Wunschkatalog,
nach dem aber nicht zwangsläufig auch gehandelt wird und C) Bewertungsprozesse
im Gehirn, die unser Verhalten tatsächlich motivieren.
Ziele der Werteerziehung sind laut Wahl gutes Leben und Zusammenleben. In seinem die „Top-down-Perspektive“ veranschaulichenden Modell soll Werteerziehung
zu internalisierten Werten führen, die sich auf Moral und Normen auswirken, entscheidend für besseres moralisches Handeln, das letztlich zu den Zielen beiträgt.
Nachdem der Autor eine Fülle durchaus interessanter Studien referiert hat, gelangt er
relativ zusammenhanglos zu der Aussage, moralisches Verhalten würde im Verlauf der
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Evolution eingeschliffenen Bahnen im Gehirn folgen. Bewusste Entscheidungen seien
daher selten und der größte Teil unseres alltäglichen Verhaltens würde automatisch ablaufen. Ein argumentativ recht schwammiger Ausflug in die Willensfreiheits-Debatte lässt
ihn schließlich feststellen, die subjektive Willensfreiheit sei wissenschaftlich widerlegt. Es
schließen noch zwei Kapitel über Kardinaltugenden sowie die Werte der Französischen
Revolution an. Warum die Tugenden Weisheit mit Intelligenz und Tapferkeit mit Risikobereitschaft gleichgesetzt werden, warum Mäßigung als Vorläufer von Impuls- und
Selbstkontrolle angesehen wird, ist nur schwer nachzuvollziehen. Bei der Behauptung
schließlich, „Der Gegenpol zur antiken Tugend der Tapferkeit … sind Mäßigung, Impuls- und Selbstkontrolle, Risikovermeidung und Friedlichkeit.“, vermochte der Rezensent dem Autor gar nicht mehr zu folgen. In Kapitel 8 wird schließlich resumiert, dass idealisierte Werte unser alltägliches Handeln kaum leiten und Werteerziehung somit relativ
unnütz ist. Folgerichtig fordert Wahl einen Strategiewechsel von der Werteerziehung zur
Kompetenz- und Persönlichkeitsförderung. Das Buch schließt mit Beispielen als innovativ bezeichneter psychologischer und (sozial-)pädagogischer Praxisprojekte.
Fazit: Lobend zu erwähnen ist die einheitliche Struktur der Kapitel, die durch hervorgehobene Zwischenfragen gegliedert werden, ein abschließendes Fazit aufweisen und
jeweils mit einem eigenem Literaturverzeichnis versehen sind. Dadurch wird das Buch
insgesamt sehr übersichtlich. Auch den kritischen Bemerkungen zum Mangel an gut
geprüften Förderprogrammen für die emotionalen und moralischen Fähigkeiten von
Kindern und Jugendlichen sowie zum Kenntnisstand zur aktuellen Forschungslage über
Persönlichkeitsentwicklung im Schulkontext kann nur zugestimmt werden. Leider lässt
der Autor diese kritische Haltung an anderer Stelle vermissen. Er behauptet zwar, dass
Werteerziehung nicht funktioniert, belegt das aber nicht mit Studienergebnissen, sondern zeigt nur, dass menschliches Verhalten eine Vielzahl von Ursachen haben kann.
Auch seine spätere Aussage: „Schon die kleinen Erfolge solcher Persönlichkeitsförderung übertreffen jene der Werteerziehung!“ bleibt leider unbelegt.
Zuguterletzt ist der Anspruch, „ein interdisziplinär unterfüttertes populäres Sachbuch“ zu schreiben, nicht hoch genug zu würdigen – wenn er denn von einem einzelnen Autor erfüllt werden kann. Behauptet dieser jedoch für verschiedene Merkmale
(Intelligenz, Fähigkeit zur Selbstkontrolle etc.) formelhaft, diese seien „in erheblichem
Maße genetisch geprägt“, und schiebt diese Aussage ganz allgemein „der Forschung“
unter oder lässt nicht näher bezeichnete Wissenschaftler die evolutionäre Verankerung
grundlegender menschlicher Eigenschaften annehmen, so klingt das vielleicht nach
einem populären Sachbuch, aber nicht nach Fachkenntnis. Ähnlich zweifelhaft wirkt
es, wenn evolutionsbiologische Phantastereien ohne empirische Grundlage zitiert und
zur Argumentation herangezogen werden. Zusammenfassend lässt sich dieses Buch
vielleicht als anregende Diskussionsgrundlage sehen, aufgrund zahlreicher eher spekulativer Abschnitte aber nicht als tragfähiges wissenschaftliches Fundament für neue
Entwicklungen im Bildungs-/Erziehungsbereich.
Kay Niebank, Bremen
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Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion
angefordert werden:
– Bonney, H., Bonney, J. (2015). Schulversagen? Eltern bitten Lehrer und Berater an den Runden
Tisch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 163 Seiten, 14,99 €.
– Borke, J. et al. (2015). Kultur – Entwicklung – Beratung. Kultursensitive Therapie und Beratung
für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ca. 208
Seiten, ca. 24,99 €.
– Büch, H., Döpfner, M., Petermann, U. (2015). Soziale Ängste und Leistungsängste. Göttingen:
Hogrefe, 189 Seiten, 24,95 €.
– Grams, N. (2015). Homöopathie neu gedacht. Was Patienten wirklich hilft. Heidelberg: Springer, 235 Seiten, 14,99 €.
– Horlitz, T., Schütz, A. (2015). ADHS: Himmelweit und unter Druck. Ressourcen und Stressbewältigung für betroffene Erwachsene und Jugendliche. Heidelberg: Springer, 109 Seiten, 19,99 €.
– Huber, J., Walter, H. (Hrsg.) (2015). Der Blick auf Vater und Mutter. Wie Kinder ihre Eltern
erleben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 320 Seiten, ca. 29,99 €.
– Jäger, M. (2015). Aktuelle psychiatrische Diagnostik. Ein Leitfaden für das tägliche Arbeiten
mit ICD und DSM. Stuttgart: Thieme, 168 Seiten, 49,99 €.
– Kühling, L. (2015). Das Problem, der Spruch, die Lösung. Aphorismen in Beratung, Therapie
und Supervision. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ca. 132 Seiten mit 90 Karten, 34,99 €.
– Müller, C. (2015). Geheilt aber nicht gesund. Spätfolgen nach Krebserkrankungen im Kindesund Jugendalter. Aachen: Shaker, 230 Seiten, 21,80 €.
– Natho, F. (2014). Brauchen wir die Liebe noch? Die Entzauberung eines Beziehungsideals. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 222 Seiten, 19,99 €.
– Nijenhuis, E. (2015). The Trinity of Trauma: Ignorance, Fragility, and Control. The Evolving
Concept of Trauma/The Concept and Facts of Dissociation in Trauma. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 635 Seiten, 89,99 €.
– Omer, H., Lebowitz, E. (2015). Ängstliche Kinder unterstützen (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 207 Seiten, 19,99 €.
– Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Stärke statt Macht (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, 360 Seiten, 24,99 €.
– Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Autorität ohne Gewalt (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 214 Seiten, 24,99 €.
– Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Autorität durch Beziehung (8. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 262 Seiten, 24,99 €.
– Stölzel, T. (2015). Die Welt erkunden. Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und
Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 192 Seiten, 24,99 €.
– Streeck, U., Leichsenring, F. (2015). Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie (3.
Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 280 Seiten, 29,99 €.
– Warsitz, R.-P., Küchenhoff, J. (2015). Psychoanalyse als Erkenntnistheorie – psychoanalytische
Erkenntnisverfahren. Stuttgart: Kohlhammer, 188 Seiten, 26,99 €.
TAGUNGSKALENDER
19./20.9.2015 in Bremen:
65. Kindertherapietage an der Universität Bremen
Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie, Grazer Str. 6, 28359 Bremen;
Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629, E-Mail: [email protected],
Internet: www.zrf.uni-bremen.de
24.-26.9.2015 in Magdeburg:
15. wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF. simply emotional – simply systemic. Wie Gefühle Systeme bewegen
Auskunft: ISFT Magdeburg, Hegelstr. 18, 39104 Magdeburg; Tel.: 0391-50968999, E-Mail:
[email protected], Internet: www.dgsf-tagung-2015.de
24.-26.9.2015 in Hannover:
Wissenschaftliche Jahrestagung der BKE. Zeit Bindung
Auskunft: Internet: www.bke.de
1./2.10.2015 in Freiburg:
Fachtagung: Bilanz und Perspektiven der Resilienzforschung
Auskunft: E-Mail: [email protected]
2.-4.10.2015 in Würzburg:
25. Jahrestagung der DGGN
Auskunft: Prof. Dr. H. Collmann, Neurochirurgische Universitätsklinik, Josef-Schneider-Str.
11, 97080 Würzburg; E-Mail: [email protected]
15.-17.10.2015 in Alpbach, Tirol, Österreich:
Kongress Essstörungen 2015, 23. Internationale Wissenschaftliche Tagung
Auskunft: Netzwerk Essstörungen, Templstraße 22, 6020 Innsbruck, Österreich;
Tel. +43-512-576026, Fax +43-512-58 36 54, E-Mail: [email protected], Internet:
www.netzwerk-essstoerungen.at
23.-24.10.2015 in Wien/Österreich:
16. Jahrestagung der Österreichischen Adipositas Gesellschaft. Adipositas 2015, Vision &
Wirklichkeit
Auskunft: Österreichische Adipositas Gesellschaft, Währingerstraße 76/13, A-1090 Wien;
Tel.: +43-650-7703378, Fax: +43-1-2645229, E-Mail: [email protected]
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 486 – 487 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015
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Tagungskalender 487
24./25.11.2015 in Essen:
Workshop: Akute Trauma-Nachsorge und Arbeit mit traumatisierten Familien
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
30.11.2015 in Essen
Beginn der Seminarreihe Marte Meo Grundkurs (Practitioner)
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
07.12.2015 in Essen
Beginn der Seminarreihe Systemisch Kompakt – für Jugendhilfekontexte
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
21.01.2016 in Essen
Beginn der Seminarreihe Systemische Traumapädagogik
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
12.02.2016 in Essen
Beginn der Seminarreihe Hypno-Systemisches Arbeiten in Beratung und Therapie
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Angststörungen und Bindungsforschung
P. Zimmermann et al.: Emotionsregulation und emotionale Verletzungssensitivität bei Jugendlichen mit Angststörungen – A. Herbst et al.: Kombiniert psychodynamisch-multisystemische Behandlung bei schwerer Schulphobie – S. Achtergarde et al.: Der Zusammenhang von Bindungsmustern und der Entwicklung von Angstsymptomen im Kindes- und
Jugendalter – A. M. Klein et al.: Psychoanalytische Kurzzeittherapie für Kinder mit Angststörungen – K. Weitkamp et al.: Analytische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
mit klinischen Angstsyndromen
Von Allergien bis Suchterkrankungen: ausgewählte
Schreibübungen für verschiedene Krankheitsbilder
Silke Heimes
Schreib dich gesund
Übungen für verschiedene Krankheitsbilder
2015. 125 Seiten, kartoniert
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ISBN 978-3-525-40458-4
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Nicht alle Krankheiten lassen sich erfolgreich behandeln, doch mit allen Krankheiten lässt es sich leben. Schreibend kann es gelingen, eine größere Akzeptanz
zu entwickeln und die Lebensqualität zu verbessern.
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selbst helfen. Dazu gibt es in diesem Buch 170 Schreibübungen zu 16 Krankheitsbildern. Ob Angststörung, Depression, Essstörung oder Posttraumatische
Belastungsstörung, ob Herz-Kreislauf-Beschwerden, Allergie, Krebs oder Hauterkrankung: Jeder kann individuell durch kreatives und therapeutisches
Schreiben bei der Bewältigung seiner Krankheit unterstützt werden. Betroffene
erfahren, wie sie konstruktiv mit ihren Beschwerden umgehen und zu ihrer Gesundheit beitragen können. Um sich selbst auf die Spur zu kommen, gibt es kein
besseres Mittel als schreibende Selbsterkundung.
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der 20er Jahre im Kontext ihrer Zeit
Lieselotte Ahnert (Hg.)
Charlotte Bühler und
die Entwicklungspsychologie
2015. 78 Seiten, mit 12 Abbildungen, kartoniert
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eBook: € 15,99 D
ISBN 978-3-8470-0430-1
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Wie gelang es den wenigen Frauen in der Wissenschaft der 1920er-Jahre, sich
in einer Männerdomäne zu etablieren? Dieser Band beschreibt den Werdegang
Charlotte Bühlers (1893–1974).
Charlotte Bühler hat als Entwicklungspsychologin an der Universität Wien Geschichte geschrieben. Thema sind ihr wissenschaftliches Lebenswerk und die
Resonanz darauf vor dem Hintergrund der Situation der Psychologie und des
Wirkens ihres Mannes Karl Bühler. Ergänzt wird der Band durch ein KabarettManuskript aus dem Jahr 1929, das die wissenschaftliche Lage der damaligen
Psychologie humoristisch verarbeitet.
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Statistisches Manual
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Deutsche Ausgabe herausgegebenn von
Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen,
chen, mitherausgegeben von
Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel,
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2015, LXIV/1.298 Seiten, geb.,
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Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM)
(
) ist ein weltweit
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anerkanntes und etabliertes Klassifikationssystem für psychische Störungen. Es ermöglicht
eine zuverlässige Diagnostik psychischer Störungen und liefert zweckdienliche Anleitungen
für Fachpersonen unterschiedlicher Orientierungen im klinischen und wissenschaftlichen
Bereich. Alle Störungen sind anhand expliziter Kriterien detailliert beschrieben und erleichtern die objektive Beurteilung klinischer Erscheinungsbilder in psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen. Die Struktur des DSM-5 deckt sich mit der der International
Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation.
In der vorliegenden fünften Fassung wurden zahlreiche Modifikationen und Erweiterungen
gegenüber der Vorgängerversion DSM-IV vorgenommen, wodurch der Einsatz in der klinischen Forschung und Praxis weiter verbessert werden kann. Dazu gehören die Berücksichtigung entwicklungsbezogener diagnostischer Aspekte und die Integration neuer Befunde
der genetischen und bildgebenden Forschung. Für die einzelnen Störungsbilder werden u.a.
Informationen zu diagnostischen Merkmalen, zu Entwicklung und Verlauf, zur Prävalenz, zu
Risiko- und prognostischen Faktoren, zu kultur- und geschlechtsspezifischen Besonderheiten,
zu funktionellen Folgen sowie zur Differenzialdiagnose und Komorbidität gegeben. Neben
den bereits wissenschaftlich anerkannten Diagnosen werden in einem separaten Teil des
Manuals neue Störungen und Syndrome, die weiterer Forschung bedürfen, dargestellt und
diskutiert. Weiterhin werden verschiedene dimensionale Maße für Symptomschwere und
Beeinträchtigungsgrad vorgestellt, die eine präzise und flexible Beurteilung von Einschränkungen und Behinderung ermöglichen sollen.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
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Empathie und Kooperation statt Konfrontation
von »Helikoptereltern« und »Prechtianern«
Helmut Bonney / Juliane Bonney
Schulversagen?
Eltern bitten Lehrer und Berater an den Runden Tisch
2015. 163 Seiten, mit 11 Abb., kartoniert
€ 14,99 D
ISBN 978-3-525-40222-1
eBook: € 11,99 D
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Anliegen des systemisch arbeitenden Autorenpaars ist es, bei Schulproblemen
Lösungen zu finden durch ein kooperatives Zusammenwirken von Familien,
Pädagogen und Beratern – ohne Vorwürfe oder Schuldzuweisungen.
Alle Eltern und Lehrer, die sich für den Schulerfolg ihrer Kinder und für Reformen in der Schule engagieren, verdienen aus systemischer Sicht per se Anerkennung. Das Schulsystem als gescheitert zu brandmarken oder mit dem Finger auf
Eltern zu zeigen, denen es vielleicht nicht ausreicht, »gut genug« zu sein, oder
die ihre Kinder vermeintlich nur unzureichend anleiten, ist nicht lösungswirksam. Stattdessen erweist es sich als hilfreich, wenn Familien, Pädagogen und Berater sich am Runden Tisch zusammenfinden und konstruktiv einen Stressabbau
bei allen Beteiligten bewirken.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de
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