Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie Herausgeberinnen und Herausgeber: Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster; Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Klagenfurt Verantwortliche Herausgeber: Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c, D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected] Gegründet von A. Dührssen und W. Schwidder Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl, M. Müller-Küppers, W. Schwidder, I. Seiffge-Krenke, F. Specht, A. Streeck-Fischer Manuskripteinsendungen werden an die Redaktion erbeten. Hinweise zur Manuskriptgestaltung bei der Redaktion oder unter www.v-r.de. Eingesandte Manuskripte werden von unabhängigen Gutachtern vor ihrer Annahme beurteilt (referee-Verfahren). Mit der Annahme des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift erhält der Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für alle Sprachen und Länder. Für die Rücksendung unverlangter Rezensionsexemplare keine Gewähr. Produkthaftung: Autoren und Verlag haben sich um größtmögliche Genauigkeit bemüht. Dennoch kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernommen werden. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint zehnmal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 800 Seiten. Der Bezugspreis beträgt jährlich € 84,–/86,40 (A)/sFr 105,–. Inst.-Preis: € 199,–/204,60 (A)/sFr 243,–. Einzelheft € 14,95/15,40 (A)/sFr 20,90. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich um ein Jahr, wenn keine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Übersetzungen, Nachdruck, Vervielfältigungen, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; E-Mail: [email protected], Tel.: 07071/9353-16 (für Bestellungen und Abonnementverwaltung). Verantwortlich für die Anzeigen: Ulrike Vockenberg, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. ONLINE unter www.v-r.de Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co, Göttingen. Die Zeitschrift wird regelmäßig von den Literaturdatenbanken DIMDI, ETHMED, Psyc-INFO und PSYNDEX und den Referatediensten „Current Contents“ (SSCI), „Psychological Abstracts“ und „Psychologischer Index“ ausgewertet. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225 ipabo_66.249.69.239 Inhalt Originalarbeiten / Original Articles Xaver Kienle, Verena Freiberger, Heide Greulich und Rainer Blank Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Autism Spectrum Disorder and DSM-5: Spectrum or Cluster? Jan Schultheiß, Franz Petermann und Ulrike Petermann Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit: Ein Vergleich unterschiedlicher Klassenstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 On the Effectiveness of the Prevention Program JobFit: A Comparison of Different Class Levels Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J): Entwicklung und Validierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Development and Validation of the Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J) Aus Klinik und Praxis / From Clinic and Practice Marie Gerlach und Bernd Traxl „Was ich am richtigen Leben nicht so schätze“. Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen – Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 “What I don‘t Appreciate in Real Life”: Online Role Playing Game Addiction of an Adolescent – Case Study Autoren und Autorinnen / Authors 480 | Buchbesprechungen / Book Reviews 481 Tagungskalender / Congress Dates 486 | Aus dem Inhalt des nächsten Heftes / Preview of the next Issue 487 Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 411 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ORIGINALARBEITEN Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? Xaver Kienle, Verena Freiberger, Heide Greulich und Rainer Blank Summary Autism Spectrum Disorder and DSM-5: Spectrum or Cluster? Within the new DSM-5, the currently differentiated subgroups of “Autistic Disorder” (299.0), „Asperger’s Disorder” (299.80) and “Pervasive Developmental Disorder” (299.80) are replaced by the more general “Autism Spectrum Disorder”. With regard to a patient-oriented and expedient advising therapy planning, however, the issue of an empirically reproducible and clinically feasible differentiation into subgroups must still be raised. Based on two Autism-rating-scales (ASDS and FSK), an exploratory two-step cluster analysis was conducted with N = 103 children (age: 5-18) seen in our social-pediatric health care centre to examine potentially autistic symptoms. In the two-cluster solution of both rating scales, mainly the problems in social communication grouped the children into a cluster “with communication problems” (51 % and 41 %), and a cluster “without communication problems”. Within the three-cluster solution of the ASDS, sensory hypersensitivity, cleaving to routines and social-communicative problems generated an “autistic” subgroup (22 %). The children of the second cluster (“communication problems”, 35 %) were only described by social-communicative problems, and the third group did not show any problems (38 %). In the three-cluster solution of the FSK, the “autistic cluster” of the two-cluster solution differentiated in a subgroup with mainly social-communicative problems (cluster 1) and a second subgroup described by restrictive, repetitive behavior. The different cluster solutions will be discussed with a view to the new DSM-5 diagnostic criteria, for following studies a further specification of some of the ASDS and FSK items could be helpful. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 412-428 Keywords Autism Spectrum Disorder – Asperger’s Disorder – cluster analysis – DSM-5 Zusammenfassung Im neuen DSM-5 werden die bisher klassifizierten Subgruppen der „Autistischen Störung“ (299.0), des „Asperger-Syndroms“ (299.80) und der „tiefgreifenden Entwicklungsstörung (299.80) zu Gunsten einer „Autismus-Spektrums-Störung“ aufgegeben. Mit Blick auf eine indiPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 412 – 428 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 413 viduelle und zielführende Beratung und Therapieplanung stellt sich daher die Frage nach einer empirisch begründbaren und klinisch praktikablen Subgruppendifferenzierung. Anhand der Variablen zweier Autismus-Ratingskalen (ASDS und FSK) wurde eine explorative clusteranalytische Untersuchung (Two-Step) von 103 Kindern (Alter: 5-18 Jahre), die wegen des Verdachts auf eine autistische Störung in einer sozialpädiatrischen Ambulanz vorgestellt wurden, durchgeführt. In dem 2-Clustermodell sind es in beiden Ratingskalen hauptsächlich Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation, die die Kinder in ein „kommunikativ auffälliges Cluster“ (51 % u. 41 %) und ein „unauffälliges“ Cluster gruppieren. Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS generieren sensorische Überempfindlichkeiten, die Fixierung auf Routinen und sozial-kommunikative Auffälligkeiten eine „autistische“ Subgruppe (22 %). Die Kinder des zweiten Clusters („sozial-kommunikativ auffällig, 35 %) haben nur sozial-kommunikative Probleme, die dritte Gruppe (38 %) zeigt keinerlei Auffälligkeiten. In der 3-Cluster-Lösung des FSK differenziert sich das auffällige Cluster in eine Subgruppe mit sozial-kommunikativen Problemen und eine andere mit restriktiven, repetitiven Verhaltensmustern. Die Clusterlösungen werden vor dem Hintergrund der neuen DSM-5-Diagnosekriterien diskutiert, für weitere Studien wäre eine Präzisierung mancher ASDS- und FSKItems wünschenswert. Schlagwörter Autismus-Spektrums-Störung – Asperger-Syndrom – Clusternanalyse – DSM-5 „The Short Life of a Diagnosis“ ist der Titel eines 2009 in der New York Times erschienenen kritischen Kommentars des englischen Autismusforschers Simon Baron-Cohen (New York Times, 11.10.09) zu der damals noch diskutierten und jetzt vollzogenen Streichung der Diagnose „Asperger Syndrom“ in dem nun gültigen DSM-5 der American Psychiatric Association (APA, 2013) zugunsten eines übergreifenden Störungsbildes “Autism Spectrum Disorder”. Zum einen hält der Autor, selbst Leiter des Autismus-Forschungszentrums der Cambridge University, den Zeitraum von 19 Jahren zwischen der Aufnahme des Asperger-Syndroms als eigenständige Diagnose in das DSM-IV (APA, 1994) und deren jetzige Streichung für zu kurz, um mögliche genetische und neurophysiologische Unterschiede zwischen dem Asperger-Syndrom und dem frühkindlichen Autismus zu beforschen. Zum anderen fragt er provokant, ob sich dann alle Patienten mit der bisherigen Diagnose „Asperger-Syndrom“ nochmals untersuchen lassen müssten, um einen neue Diagnose zu erhalten. 1 Vom DSM-IV zum DSM-5 Das seit 1994 gültige DSM-IV gliederte die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in die autistische Störung, das Rett-Syndrom, die desintegrativen Störungen, das 414 X. Kienle et al. Asperger-Syndrom und in eine Restkategorie der nicht näher bezeichneten Entwicklungsstörungen („atypischer Autismus“). Mit dem Argument, dass verhaltensgenetische und diagnostische Studien gezeigt hätten, dass sich diese Störungsbilder nicht klar kategorial abgrenzen ließen (z. B. Freitag, 2012; Wiggins, Robins, Adamson, Bakeman, Henrich, 2012), wurden im DSM-5 die drei autistischen Subgruppen zu einer „Autism Spectrum Disorder“ zusammengefasst und der bisher kategoriale Ansatz teilweise zugunsten eines dimensionalen Konzepts aufgegeben. Die Diagnosekriterien wurden dabei in mehreren Punkten geändert: Zum einen wird nun gefordert, dass die Symptome generell bereits in der frühen Entwicklung beobachtbar sind (Kriterium C – dieses Kriterium fehlte bei den bisherigen Kriterien für das Asperger-Syndrom). Zum zweiten wurde die klassische Autismus-Triade mit Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation, der sozialen Interaktion und der repetitiven und ritualisierten Verhaltensmuster zu einer Dyade „Soziale Kommunikation/Interaktion“ und „repetitives Verhalten und Interessen“ zusammengefasst. Die dritte Änderung bezieht sich darauf, dass nicht nur aktuelle Symptome, sondern auch solche, die in früheren Entwicklungsphasen beobachtet wurden, für die aktuelle Diagnose konstituierend sein können. Eine weitere wichtige Veränderung gegenüber dem DSM-IV beinhaltet, dass nun auch andere Diagnosen wie z. B. ADHS als Komorbiditäten zulässig sind, zudem soll nun als Differenzierung des Kontinuums zum einen der Schweregrad der Symptomatik anhand einer vorgegebenen Tabelle in drei Stufen spezifiziert werden, zum andern soll angegeben werden, ob kognitive oder sprachliche Einschränkungen (als so genannte „specifiers“) vorliegen. Für Kinder, die zwar autismustypische Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation und Interaktion zeigen, jedoch keine repetitiven Verhaltensmuster oder rigiden Interessensbereiche aufweisen, wurde im DSM-5 als neue Diagnose eine „soziale Kommunikationsstörung“ („Social (pragmatic) Communication Disorder“, 315.39) eingeführt (zur detaillierten Gegenüberstellung der Diagnosekriterien der ICD-10, des DSM-IV-TR und DSM-5 siehe Freitag, 2014). 2 Die Evolution des Autismus-Spektrums 2.1 Unterschiedliche Diagnoseschemata Einer der wesentlichen Gründe für die mangelnde Validität der Diagnose „Asperger-Syndrom“ und damit für deren jetzige Streichung im DSM-5 ist vermutlich bereits darin zu suchen, dass wichtige Aspekte der „autistischen Psychopathie“ nach Asperger (1938) nicht als diagnostische Kriterien in die ICD-10 (WHO, 1992) und das DSM-IV aufgenommen wurden, sondern die Störung lediglich als Autismus ohne kognitive und sprachliche Entwicklungsauffälligkeiten konzipiert wurde. Von verschiedenen Autoren (z. B. Klin, Pauls, Schultz, Volkmar, 2005) wurde zu Recht kritisiert, dass zwar in der Textbeschreibung des DSM-IV darauf hingewiesen ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 415 wird, dass Kinder mit frühkindlichem Autismus sich sozial eher isolieren, während Kinder mit einem Asperger-Syndrom sehr wohl Kontakt suchen, wenngleich in einer oft unpassenden Art und Weise, dass diese Unterscheidung aber nicht Eingang in die diagnoserelevanten Symptomlisten gefunden hat. Auch mögliche Unterschiede in der Sprachentwicklung seien auf die Frage reduziert worden, ob ein regulärer oder verzögerter Sprachbeginn vorliegt, statt mögliche differente Aspekte im Bereich der Pragmatik (bei frühkindlichem Autismus verzögerte, oft echolalische Sprache- beim Asperger-Syndrom oft elaborierter Wortschatz mit auffälliger Prosodie) zu berücksichtigen (Klin et al., 2005, S. 223). Auch die bereits von Asperger (1938) sehr anschaulich geschilderten Symptome der Hypo- und Hyperreaktivität auf sensorische Stimuli fanden zunächst keinen Eingang in das DSM-IV, sind nun aber Bestandteil der Symptomliste des DSM-5 (S. 50). Die beschriebenen Einschränkungen in der Rezeption des ursprünglichen Konzepts von Asperger in die ICD-10 und das DSM-IV begünstigte in der Folgezeit das Weiterbestehen der bereits Ende der 80er Jahre publizierten eigenen Diagnoseschemata der Arbeitsgruppen um Gillberg und Gillberg (1989) sowie Szatmari, Bremner und Nagy (1989) und des vor allem in Deutschland sehr einflussreichen australischen Autors Attwood (z. B. 2007). 2.2 Diagnostische Verfahren Entsprechend dieser recht unterschiedlich akzentuierten Konzepte des AspergerSyndroms wurden eine Reihe von Ratingskalen entwickelt und verbreitet, deren Validität inzwischen immer schwerer vergleichbar ist. Sowohl die Iteminhalte als auch die Standardisierungsstichproben und die davon abgeleiteten Cut-Offs sind sehr heterogen, auch die Angaben zur Sensitivität und Spezifität sind kaum vergleichbar. Selbst bei sehr zeitaufwändigen Verfahren wie dem „Autism Diagnostic Interview-R“ (ADI-R; Rutter, LeCouteur, Lord, 2003; deutsch: Bölte, Rühl, Schmötzer, Poustka, 2006) und der „diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen“ (ADOS; Bölte u. Poustka, 2004) wird der eigene Anspruch als „internationaler Goldstandard“ durch die tatsächlichen numerischen Validitätsparameter nicht hinreichend belegt. So weist der ADOS zwar mit 90 % eine gute Sensitivität auf, die Spezifität dieses Verfahrens ist jedoch mit 48,1 % unbefriedigend (Bölte u. Poustka, 2004) und scheint sich auch nach den neuen DSM-5-Kriterien nicht wesentlich zu verbessern (53 % nach Huerta, Bishop, Dunca, Hus, Lord, 2012). Obwohl das ADI-R als standardisiertes Interview konzipiert ist, ist die Interraterreliabilität mit rtc = .37 in manchen Skalenbereichen mäßig (Bölte u. Poustka, 2006, S. 57), die konkurrente Validität mit dem ADOS ist mit κ = .23 gering (Rühl, Bölte, Feineins-Matthews, Poustka, 2004). Selbst die Korrelation des „Fragebogens zur Sozialen Kommunikation“ (FSK) der als Kurzform des ADI-R konzipiert wurde, mit der Langform ist mit rtc = .40-.53 nicht zufriedenstellend (Bölte u. Poustka, 2006, S. 26). 416 X. Kienle et al. Bei der Diagnostik von Autismus-Verdachtsfällen dienen im ambulanten Bereich unserer Klinik Ratingskalen zunächst als erstes und zeitökonomisches ScreeningInstrument für Eltern und andere Bezugspersonen. Es erfolgt dann eine ausführliche störungsspezifische medizinische und psychologische Anamnese, Untersuchung und differentialdiagnostische Abklärung, bei unklaren Fällen und vor allem im stationären Bereich wird zusätzlich das ADI-R und/oder der ADOS durchgeführt. Unabhängig vom Umfang und der Komplexität der eingesetzten Verfahren bleibt für die Diagnose einer autistischen Störung, wie die amerikanische Akademie für Kinder- und Jugendpsychiatrie in ihren neuesten Leitlinien feststellt, letztendlich das fundierte klinische Urteil entscheidend: „The use of such instruments supplements, but does not replace, informed clinical judgement“ (Volkmar et al., 2014, S. 342). 2.3 Probleme der Forschung Die Aufgabe der bisherigen Subgruppendifferenzierung im DSM-IV zugunsten eines Spektrumskonzepts im jetzigen DSM-5 wird auf der einen Seite die Vergleichbarkeit früherer Autismusstudien mit künftigen erschweren (McPortland, Reichow, Volkmar, 2012). Andererseits ist es – hierin sehen Befürworter der dimensionalen Diagnosekonzeption einen wichtigen Vorteil – nun leichter möglich, innerhalb des definierten Autismus-Spektrums für verschiedene Fragestellungen spezifische homogene Subgruppen zu definieren (z. B. Grzadinski, Huerta, Lord, 2013). Die Ergebnisse clusteranalytischer Studien autistischer Kinder kommen bisher zu recht widersprüchlichen Ergebnissen: Eaves, Ho und Huerta (1994) sehen durch ihre clusteranalytische Untersuchung an 166 Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren die Subgruppendifferenzierung nach dem DSM-IV eher bestätigt, zudem fand sich in ihrer Studie ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem jeweiligen kognitiven Funktionsniveau und der Subgruppenzugehörigkeit. Wiggins et al. (2012) untersuchten clusteranalytisch 186 Kleinkinder, bei denen unter anderem anhand des ADI-R und des ADOS eine Autismusspektrumsstörung diagnostiziert worden war. Da sich ihre Cluster, analysiert wurden die Daten der CARS (Childhood Autism Rating Scale; Schopler, Reichler, Renner, 1988), nicht durch das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Symptome, sondern durch die Häufigkeit und Intensität der Symptome (S. 198) unterschieden, sahen die Autoren eher den dimensionalen Ansatz bestätigt. Möglicherweise ist dies jedoch darauf zurückzuführen, dass in dieser Studie nur solche Kinder untersucht wurden, die früh auffällig wurden und die vermutlich nach der ICD-10 die Diagnose eines „frühkindlichen Autismus“ erhalten hätten. Dass sich der kategoriale und der dimensionale Ansatz nicht ausschließen müssen, zeigen Hu und Steinberg (2009) in ihrer kombinierten clusteranalytischen Untersuchung der ADI-R-Scores von 1954 Personen (Alter zwischen 2 und 48 Jahren), die in einer Datenbank für genetische Analysen autistischer Störungen erfasst worden waren. Als optimale Gruppierung ergaben sich in dieser Studie vier Cluster, die sich vor allem durch das Ausmaß sprachlicher Defizite und die Häufigkeit von „savant skills“ unter- ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 417 schieden. Aus den genetischen Analysen folgern die Autoren, dass sich die Genexpressionen sowohl quantitativ als auch qualitativ über die genannten Cluster verteilen. 3 Fragestellung der eigenen Untersuchung Ausgangspunkt der eigenen Untersuchung war zunächst ganz allgemein die Frage, entlang welcher Variablen sich in einer Inanspruchnahmepopulation von AutismusVerdachtsfällen mit einem IQ > 85 Symptom-Muster (Cluster) erkennen und wie sich diese im Kontext des neuen DSM-5-Konzepts interpretieren lassen. Zudem sollte untersucht werden, ob konzeptionell unterschiedliche Skalen (Asperger-Skala vs. Autismusspektrums-Skala) auch unterschiedliche Kontinua oder Cluster generieren, wie sich die errechneten Cluster hinsichtlich Alter und Intelligenz differenzieren lassen und – angesichts der nicht nur in der Forschung, sondern auch von den Kostenträgern kritisch diskutierten Überdiagnose autistischer Störungen (vgl. Freitag, 2012) – wie groß der Anteil unserer Autismusverdachtsfälle ist, der einem „auffälligen“ Cluster zugeordnet wird. Zuletzt erhofften wir uns Hinweise auf mögliche Diagnosealternativen (z. B. Persönlichkeitsstörungen, vgl. Sevecke, Lehmkuhl, Petermann, Krischer, 2011). Aufgrund der aktuell sehr kontroversen Diskussionen über die Validität klinischer Autismus-Diagnostik sollten die endgültigen Diagnosen der untersuchten Kinder bewusst nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Da nur Kinder mit einem IQ über 85 in die Untersuchung aufgenommen wurden und die gewählten Intelligenztestverfahren sowohl verbale als auch nonverbale Intelligenzfunktionen erfassten, waren so genannte “hoch-funktionale“ frühkindliche Autisten (Gillberg, 1998) mit einem IQ zwischen 65 und 85 und Kinder, die nur in Teilbereichen gute oder sehr gute kognitive Leistungen erbringen, von der Untersuchung ausgeschlossen. 3.1 Stichprobe Die Stichprobe wurde sukzessiv aus der Ambulanz der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Maulbronn rekrutiert und umfasst 103 Kinder im Alter zwischen 5 und 18 Jahren, die im Zeitraum von März 2011 bis März 2013 primär aufgrund eines von Kindergarten, Schule oder Eltern geäußerten Verdachts auf eine autistische Störung (neben anderen Fragestellungen) vorgestellt wurden. Kinder mit einem IQ unter 85 wurde aus der Untersuchung ausgeschlossen. Die Stichprobe bestand aus 99 (96.1 %) Jungen und 4 (3.9 %) Mädchen, das durchschnittliche Alter lag bei 10,5 Jahren (SD = 3,2), der durchschnittliche IQ (gemessen mit HAWIVA-III bzw. WPPSI-III, HAWIK-IV bzw. WISC-IV, K-ABC oder AID 2) lag bei 106,8 (SD = 13,8). Um das Verständnis zum Ausfüllen der sprachlich recht anspruchsvollen Fragebögen zu gewährleisten, wurden nur Kinder mit Eltern berücksichtigt, deren Muttersprache Deutsch war. 418 X. Kienle et al. 3.2 Messinstrumente Die Eltern wurden im Rahmen der ambulanten Diagnostik gebeten, sowohl die „Asperger Syndrome Diagnostic Scale“ (ASDS; Myles, Bock, Simpson, 2001) als auch den „Fragebogen zur sozialen Kommunikation“ (FSK; Bölte u. Poustka, 2006) auszufüllen. Seit dem Jahr 2005 ist mit der „Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom“ (MBAS; Kamp-Becker, Mattejat, Wolf-Ostermann, Remschmidt, 2005) zwar auch ein im deutschen Sprachraum normiertes Screeningverfahren für autistische Störungen auf hohem Funktionsniveau verfügbar und wird in unserem klinischen Alltag auch eingesetzt. Im Unterschied zur dichotomen Skalierung des FSK und der ASDS erfolgt das Rating im MBAS jedoch über eine 5-stufige Ordinalskala. Da diese Skalierungsunterschiede bei der Clusteranalyse mit Two-Step zu unterschiedlichen Gewichtungen der Skalen führen (Schendera, 2010), erwies sich die MBAS für die vorliegende Untersuchung als nicht praktikabel. Seit seinem Erscheinen 2001 benutzen wir – neben anderen Verfahren – im klinischen Alltag die ASDS als Screening in einer eigenen Übersetzung. Die Skala besteht aus insgesamt 50 Items in fünf Subskalen mit binärem Antwortformat und ist an 115 Kindern und Jugendlichen (Alter 5-18) mit einer klinischen Aspergerdiagnose normiert. Aus den Itemwerten lässt sich ein so genannter „Asperger-Syndrom-Quotient“ (ASQ) errechnen (M = 100, SD = 15). Die Reliabilität (Cronbach’s α) der Skala ist mit α = .83 gut, bezüglich der diskriminanten Validität berichten die Autoren von 85 % korrekter diagnostischer Zuordnungen. Beim FSK (Fragebogen zur Sozialen Kommunikation), der deutschen Version des Social Communication Questionnaire (SCQ) von Rutter, Bailey und Lord (2003), handelt es sich um ein 40 Items umfassendes Screeninginstrument zur Erfassung von aktuellen (Aktuell-Version) oder früher beobachteten (Lebenszeit-Version) auffälligen sozialen Interaktions- und Kommunikationsmustern sowie stereotypen Verhaltensweisen. Das Verfahren wurde an 168 Personen mit einer Störung des autistischen Spektrums geeicht, 136 davon mit frühkindlichem Autismus, 25 mit einem atypischen Autismus und 7 mit einem Asperger-Syndrom. Mit Cronbach’s α von .83 (Bölte u. Poustka, 2006, S. 26) ist die Reliabilität der Gesamtskala identisch mit der des ASDS. Als Cut-off für das autistische Spektrum wird ein Summenscore von 15 angegeben. Obwohl die Autoren die „Lebenszeit-Version“ als diagnostisches Instrument empfehlen, haben wir in der vorliegenden Untersuchung die „Aktuell“-Version benutzt, um die Vergleichbarkeit mit der ASDS, die sich ebenfalls nur auf die aktuelle Symptomatik bezieht, zu gewährleisten. Trotz unserer Bitte an die Eltern, beide Fragebögen möglichst vollständig auszufüllen, lagen nur bei 87 (84.5 %) Kindern unserer Stichprobe die ASDS-Bögen komplett vor, beim FSK waren 90 (87.4 %) Bögen vollständig ausgefüllt. Als Gründe für die Nichtbeantwortung nannten die Eltern häufig bei beiden Skalen die Mehrdeutigkeit des jeweiligen Iteminhalts und speziell beim FSK bei älteren Kindern die mangelnde Altersadäquatheit der Formulierungen. ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 419 3.3 Methode und Auswertung Es erfolgte eine explorative clusteranalytische Gruppierung der Autismus-Verdachtsfälle anhand der durch die ASDS- und FSK-Variablen erfassten Merkmale. Grundsätzliches Ziel clusteranalytischer Verfahren ist die Gruppierung (Clusterung) von Objekten mit dem Ziel einer hohen Ähnlichkeit innerhalb der jeweiligen Gruppe (hohe Intracluster-Homogenität) und einer möglichst großen Verschiedenheit zwischen den Gruppen (geringe Intercluster-Homogenität; Bacher, Pöge, Wenzig, 2010). Die Berechnung erfolgte über die Two-Step-Clusteranalyse (SPSS 17). Der Vorteil dieses Verfahrens besteht unter anderem darin, die optimale Clusteranzahl entweder anhand des Akaikes oder Bayes Informationskriteriums (als Maß für die Modellgüte) bestimmen zu lassen oder die Anzahl der Cluster selbst zu wählen. Als Distanzmaß wird bei kategorialen Daten die LogLikelihood berechnet, die Wichtigkeit der verschiedenen Variablen für die einzelnen Cluster wird über χ2-Tests ermittelt (Schendera, 2010). 4 Ergebnisse 4.1 Stichprobe Für die Gesamtstichprobe ergab sich aus den ASDS-Ratings der Eltern ein Mittelwert von 28,25. Nach den Autoren der Ratingskala liegt der entsprechende ASQ von 88 im „möglichen Bereich für eine Asperger-Diagnose“. Der Mittelwert aller FSK-Ratings liegt mit 14,90 recht nahe am Cut-off von 15 für eine „Störung aus dem autistischen Formenkreis“. Die Reliabilität (interne Konsistenz) des ASDS liegt in der untersuchten Stichprobe mit Cronbach’s α = .90 über dem Wert der Normierungsstichprobe (α = .83), für den FSK ergibt sich ein Cronbach’s α von .80 (Normierungsstichprobe α = .83). 4.2 ASDS: 2-Cluster-Lösung Aus den ASDS-Ratings errechnet Two-Step als optimales Modell eine Gruppierung mit zwei Hauptclustern, die BIC (Schwarz Bayes Information Criteria) -Veränderung (-332.04) und das Verhältnis der Distanzmaße (2.05) sind bei dieser Lösung maximal. Acht Kinder aus der ASDS-Stichprobe werden einem „Ausreißercluster“ zugewiesen, da ihre Hinzunahme zu einem der beiden Hauptcluster deren Homogenität deutlich verringern würde. Für das ASDS-Cluster 1 („im Kontaktverhalten auffällig“) sind nach dem χ2-Test (df = 1; p ≤ .05) als Wichtigkeitsmaß 7 Variablen konstituierend, die sich hauptsächlich auf kommunikative und soziale Auffälligkeiten der Kinder beziehen: Die 44 Kinder, die diesem Cluster zugewiesen wurden, verstehen häufiger Äußerungen 420 X. Kienle et al. wörtlich und haben kein Gespür für angemessene Nähe oder Distanz. Sie haben mehr Probleme, Kontakt zu anderen aufzunehmen und Freunde zu finden. Zudem zeigen Sie wenig Interesse an anderen Kindern und sind in ihren mimischen Reaktionen auffällig. Zum ASDS-Cluster 2 („unauffällig“) gehören 35 Kinder, die im kommunikativen und sozialen Bereich eher unauffällig sind: Ihre Gestik und Mimik ist angemessen, sie zeigen Interesse an anderen Kindern und haben keine Probleme bei der Kontaktaufnahme. Sie verstehen Redewendungen und Metaphern und reagieren auch nicht abwehrend auf Umarmungen. Der ASDS-Summenscore liegt mit M = 36,02 (ASQ 105) im Cluster 1 signifikant über den entsprechenden Werten des Clusters 2 (M = 19.57, ASQ 69; t = 12.43; df = 77 ; p ≤ .001). Bezüglich der Intelligenz finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Clustern (IQCluster 1 = 105 ; IQCluster 2 = 110 ; t = - 1.71; df = 77 , p ≤ .09), auch in ihrem Alter unterscheiden sich die Kinder in beiden Clustern nicht (AlterCluster 1 = 10.9; AlterCluster 2 = 9.7; t = 1.59, df = 77, p ≤ .115). 4.3 FSK: 2-Cluster-Lösung Auch aus den FSK-Ratings errechnet sich eine 2-Cluster-Lösung als optimales Modell (BIC-Veränderung -157.7 ; Verhältnis der Distanzmaße 1.68), fünf Kinder werden wiederum in einem „Ausreißercluster“ zusammengefasst. Die 37 Kinder des FSK-Cluster 1 („im Kontaktverhalten auffällig“) verfügen nur über eine eingeschränkte mimische Bandbreite, zeigen kein reaktives Lächeln, schließen sich keinen Versteck- oder Ballspielen an und reagieren eher negativ auf die Annäherung anderer Kinder. Die 48 Kinder des FSK-Cluster 2 sind in den oben genannten Bereichen eher unauffällig. Der FSK-Summenscore ist bei Cluster 1 mit M1 = 20.08 erwartungsgemäß deutlich höher als bei Cluster 2 mit M2 = 10.40 (t = 11.05, df = 83, p ≤ .001). Der IQ der „kontaktauffälligen Kinder“ des Clusters 1 liegt mit M1 = 102.1 (SD = 11.3) signifikant unter dem IQ der „unauffälligen“ Kinder des Clusters 2 (M2 = 111.4; SD = 13.8; t = -3.32; df = 83, p ≤ .001), in ihrem Alter unterscheiden sich die Kinder beider Cluster nicht (M1 = 11.0; t = 1.17; df = 83; p ≤ .244). 4.4 Vergleich der ASDS- und FSK-Cluster Bei 81 Kindern (78.8 % der Gesamtstichprobe) konnte das Ausmaß der Übereinstimmung der ASDS- und FSK-Cluster überprüft werden, da die Eltern dieser Kinder beide Ratingskalen komplett ausgefüllt hatten. Mit einem κ = .460 (p ≤ .001) errechnet sich eine mittlere bis hohe Übereinstimmung der Clusterzugehörigkeit. ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 421 4.5 ASDS-3-Cluster-Lösung Neben der automatisch ermittelten 2-Cluster-Lösung wurde für beide Skalen ein Modell mit 3 Clustern vorgegeben. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, wird in diesem Modell das vorherige „auffällige“ Cluster 1 nun in zwei Cluster aufgeteilt, die Kinder des vorherigen „unauffälligen“ Clusters 2 werden – mit nur zwei Ausnahmen – dem neuen „unauffälligen“ Cluster 3 zugeteilt. Tabelle 1: Kreuztabelle zur Abbildung der Clusterübereinstimmung der 2-Cluster-Lösung und der 3-Cluster-Lösung für die „Asperger Syndrome Diagnostic Scale“ (ASDS) 3-Cluster-Lösung Cluster 1 2-Cluster-Lösung Cluster 2 Gesamt Cluster 1 19 0 19 Cluster 2 24 2 26 Cluster 3 0 33 33 Gesamt 43 35 78 Anmerkung: Die Kreuztabelle wurde aufgrund von Missing Data auf der Grundlage von n = 87 Kindern erstellt (84,5 % der Gesamtstichprobe). Zudem fehlen neun Kinder, die jeweils einem Outlier Cluster zugeteilt waren, der hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit dargestellt ist. Für das Cluster 1 (19 Kinder, „autistisches Cluster“) der 3-Cluster-Lösung errechnen sich jetzt (χ2-Test, df = 2, p ≤ .05) insgesamt zehn relevante ASDS-Variablen (s. Tab. 2)1: Die Kinder dieses Clusters reagieren empfindlich auf laute Geräusche, sie haben kein Gespür für angemessene Nähe und Distanz, sie benutzen oft die gleichen Formulierungen, verhalten sich nicht situationsangepasst, zeigen wenig oder eine unangemessene Mimik, sie haben wenig Verständnis für soziale Regeln, brauchen feste Routinen, sie simulieren Verständnis, reagieren panisch auf Überraschungen und verstehen viele Äußerungen wörtlich. Dem Cluster 2 („sozial-kommunikativ auffällig“) werden 26 Kinder zugeordnet. Bei diesen Kindern fehlen die „Autismus-typischen“ Auffälligkeiten im Bereich der Mimik, Sensorik und Sprache, sie haben lediglich Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten. Die Variablen „spielt lieber mit Erwachsenen“ und „hat keine Freunde, obwohl der Wunsch dazu besteht“ liegen knapp unter dem kritischen Wert für die Clusterwichtigkeit. Die 33 Kinder des Clusters 3 zeigen keine autistischen Symptome, auch im nur „sozial-kommunikativen“ Bereich sind sie unauffällig. Im varianzanalytischen Vergleich mit dem Faktor Clusterzugehörigkeit finden sich signifikante Altersunterschiede zwischen den Kindern der 3 ASDS-Cluster (F(2;83) = 3.037; p ≤ .034). Der post-hoc-Vergleich (Duncan) zeigt keine Altersunterschiede zwischen den Clustern 1 (MCluster 1 = 9.95) und 3 (MCluster 3 = 9.61), die Kinder des Clusters 2 sind jedoch im Mittel um etwa zwei Jahre älter (MCluster 2 = 11.77; p ≤ .05). Auch in ihrem Intelligenzniveau unterscheiden sich die drei Cluster (F(3;83) = 3.177; p ≤ .028). 1 Weiteres, ergänzendes Material ist online verfügbar. 422 X. Kienle et al. Im post-hoc-Vergleich finden sich zwischen den Kindern der beiden „auffälligen“ Cluster 1 (IQCluster 1 = 104.68) und 2 (IQCluster 2 = 102.93) keine Intelligenzunterschiede, die „unauffälligen“ Kinder des Clusters 3 zeigen jedoch einen höheren IQ (IQCluster 3 = 110.64; p ≤ .05). Tabelle 2: ASDS-Clusterwichtigkeit der einzelnen Variablen der 3-Cluster-Lösung nach BonferroniKorrektur Subskala/Itemnummer ASDS-Cluster 1 Sm-1 So-9 S-3 Sv-1 So-4 So-12 Sv-4 S-7 Sv-5 S-5 ASDS-Cluster 2 So-8 So-6 So- 7 ASDS-Cluster 3 So-4 So-3 S-5 So-5 So-8 So-1 So-10 So-7 Sm-2 Iteminhalt Χ2-Wert reagiert ungewöhnlich auf laute Geräusche kein Gespür für angemessene Nähe und Distanz benutzt oft gleiche Formulierungen verhält sich nicht situationsangepasst zeigt wenig oder unangemessene Mimik zeigt wenig Verständnis für soziale Regeln braucht feste Routinen simuliert Verständnis reagiert panisch auf Überraschungen versteht Äußerungen wörtlich 32,2 16,9 15,3 14,8 13,5 12,8 12,8 11,9 11,1 11,1 hat Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten spielt lieber mit Erwachsenen hat keine Freunde obwohl der Wunsch besteht 12,2 10,4 10,1 zeigt eine angemessene Mimik hat keine Probleme bei der Kontaktaufnahme versteht Redewendungen und Metaphern zeigt Interesse an andern Kindern hat keine Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten verwendet normale Gestik zeigt Verständnis für die Interessen anderer hat Freunde reagiert nicht abwehrend auf Umarmungen 22,3 21,4 18,3 16,0 13,6 12,3 12,2 12,0 11,6 Anmerkungen: Kritischer Χ2-Wert = 10,59, p ≤ .05; Subskalen: S = Sprache; So = Sozialverhalten; Sm = Sensomotorik; Sv = Situationsangemessenes Verhalten 4.6 FSK-3-Cluster-Lösung Auch die 3-Cluster-Lösung des FSK erfolgt im Wesentlichen durch die weitere Ausdifferenzierung des „auffälligen“ Cluster 1 der 2-Cluster-Lösung (s. Tab. 3). Tabelle 41 zeigt, dass für das neue FSK-Cluster 1 (26 Kinder) nun sechs Variablen konstituierend (χ2-Test; df = 2, p ≤ .05) sind, die sich vorwiegend auf den Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion beziehen: Die Kinder verfügen nur über eine eingeschränkte mimische Bandbreite, teilen nichts außer Nahrung und zeigen nicht ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 423 spontan auf Dinge. Sie spielen zudem keine Phantasiespiele mit anderen Kindern oder alleine und schließen sich auch keinen Versteck- oder Ballspielen an. Tabelle 3: Kreuztabelle zur Abbildung der Clusterübereinstimmung der 2-Cluster-Lösung und der 3-Cluster-Lösung für den „Fragebogen zur sozialen Kommunikation“ (FSK) Cluster 1 2-Cluster-Lösung Cluster 2 Gesamt Cluster 1 25 1 26 3-Cluster-Lösung Cluster 2 12 4 16 Cluster 3 0 43 43 Gesamt 37 48 85 Anmerkung: Die Kreuztabelle wurde aufgrund von Missing Data auf der Grundlage von n = 90 Kindern erstellt (87,4 % der Gesamtstichprobe). Zudem fehlen fünf Kinder, die jeweils einem Outlier Cluster zugeteilt waren, der hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit dargestellt ist. Tabelle 4: FSK-Clusterwichtigkeit der einzelnen Variablen der 3-Cluster-Lösung nach BonferroniKorrektur Subskala/Itemnummer FSK-Cluster 1 33 29 22 39 40 35 FSK-Cluster 2 11 15 14 7 3 11 FSK-Cluster 3 33 3 7 40 Iteminhalt Χ2-Wert zeigt eingeschränkte mimische Bandbreite teilt nichts außer Nahrung zeigt nicht spontan auf Dinge spielt keine Fantasiespiele mit anderen Kindern schließt sich keinen Versteck- und Ballspielen an spielt keine Fantasie- oder So-tun-als-ob-Spiele 23,0 19,3 16,3 13,3 12,0 11,0 ist eher auf Details fixiert zeigt ungewöhnliche Bewegungsstereotypien zeigt sensorische Auffälligkeiten wiederholt Sätze in genau demselben Wortlaut spricht merkwürdig hat Spezialinteressen 17,7 16,5 15,0 13,8 11,7 11,1 zeigt angemessene Mimik spricht mit normaler Prosodie kein stereotyper Sprachgebrauch schließt sich Versteck- und Ballspielen an 15,7 13,0 11,7 11,2 Anmerkungen: Kritischer Χ2-Wert = 10,59, p ≤ .05 Die Kinder des zweiten „auffälligen“ Clusters (16 Kinder) zeigen eher Auffälligkeiten im Bereich der restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen: Sie sind eher auf Details fixiert, zeigen ungewöhnliche Bewegungsstereotypien, sind in ihrer Sensorik auffällig, wiederholen Sätze in demselben Wortlaut, sprechen mit einer auffälligen Prosodie und haben Spezialinteressen. Die Kinder des FSK-Clusters 3 (43 Kinder) 424 X. Kienle et al. sind sowohl im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion als auch im Bereich der restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen unauffällig. Auch bei der FSK-3-Cluster-Lösung zeigen sich im varianzanalytischen Vergleich signifikante Altersunterschiede (F(3;86) = 5.290; p ≤ .001): Die Kinder des Clusters 2 sind jünger als die des Clusters 1 (MCluster 2 = 8.95; MCluster 1 = 11.77; Duncan p ≤ .05). Ähnlich wie bei der ASDS-3-Cluster-Lösung liegt der IQ der Kinder des „unauffälligen“ Clusters 3 über dem IQ der beiden „auffälligen“ Cluster (IQCluster 3 = 112; IQCluster 2 = 104; IQCluster 1 = 102; F(2;86) = 5.437; p ≤ .006; Duncan p ≤ .05), die Kinder in Cluster 1 und 2 unterscheiden sich nicht. 5 Diskussion Auch wenn es für verschiedene Forschungszweige vorteilhaft sein kann, je nach Fragestellung im autistischen Kontinuum homogene Subgruppen entlang jeweils unterschiedlicher Merkmalsvektoren bilden zu können (Grzadinski et al., 2013), so stellt sich im diagnostischen, therapeutischen, pädagogischen und sozialrechtlichen Alltag doch die Frage, welche Subgruppeneinteilung sich als empirisch begründbar und „klinisch nützlich“ erweisen könnte (Kendell u. Jablensky, 2003). Dies bezieht sich nicht nur auf mögliche Gemeinsamkeiten von Verlauf, Prognose und der sozialrechtlichen Teilhabe-Beeinträchtigung (vgl. Holtmann u. Schimmelmann, 2014), sondern auch auf die heuristische Funktion solcher Subgruppen im klinischen Alltag. Für die vorliegende Untersuchung ist zunächst festzuhalten, dass es bei der 2-ClusterLösung sowohl beim ASDS als auch beim FSK primär die Variablen der sozialen Kommunikation und Interaktion sind, die die Cluster differenzieren. Die adäquate Clusterbenennung wäre damit nicht „autistisch“ versus “nicht-autistisch“ sondern eher „auffällig in der sozialen Kommunikation und Interaktion “ versus „unauffällig“. Dass beim ASDS deutlich mehr Items als beim FSK für die Clusterung relevant sind, liegt an der insgesamt geringeren Trennschärfe vieler FSK-Items in der vorliegenden Stichprobe. Der IQ liegt sowohl im ASDS-Rating als auch beim FSK bei den Kindern des unauffälligen Clusters tendenziell höher (signifikant nur beim FSK-Cluster). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass ein Teil der sehr gut bis hochbegabten Kinder häufiger als emotional oder sozial auffällig wahrgenommen werden (Freeman, 1997). Zudem können möglicherweise intelligentere Kinder soziale Defizite eher kognitiv kompensieren. Insgesamt lässt sich für die 2-Cluster-Lösungen trotz der etwas unterschiedlichen inhaltlichen Konzeptionen des ASDS und des FSK eine mittlere bis hohe Übereinstimmung der Clusterzuweisung beider Skalen festhalten. Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS differenziert sich das kommunikativ-auffällige Cluster 1 der 2-Cluster-Lösung nun in ein klares „autistisches“ Cluster (Cluster 1), für das sowohl Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion (DSM-5-Kriterium A) als auch rigide und repetitive Verhaltens- und Interessemuster und sensorische Auffälligkeiten (Kriterium B) konstituierend sind. Davon abgrenzbar ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 425 ist ein Cluster (Cluster 2), dessen Kinder nur sozial-kommunikative Auffälligkeiten zeigen und bei denen die Symptome des Kriteriums B fehlen. Die Kinder des Clusters 3 sind in beiden Symptombereichen unauffällig. Beim Vergleich der beiden ASDSCluster-Lösungen zeigt sich zudem eine hohe Stabilität der Clusterzuweisung : Mit zwei Ausnahmen bleiben die Kinder bei beiden Lösungen in den „auffälligen“ oder „unauffälligen“ Clustern. Bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS entspricht das Cluster 1 den DSM-5-Kriterien für eine „autistische Störung“ (299.0). Auch wenn für das Cluster 2 nur das Item „hat Probleme, Freundschaften aufrecht zu erhalten“ signifikant gruppiert – die Items „spielt lieber mit Erwachsenen“ und „hat keine Freunde“ verfehlen die Signifikanzgrenze knapp – entspricht dieses Cluster möglicherweise der neuen DSM-5-Diagnose einer „Störung der sozialen Kommunikation (315.39)“. Da diese Diagnose aber nur für die Kinder vergeben wird, die auch in jüngerem Alter keine rigide und repetitiven Verhaltens- und Interessemuster aufwiesen, müssten zur weiteren Klärung dieser Frage nicht nur aktuelle sondern auch lebenszeitliche Daten vorliegen. Bemerkenswert ist bei der 3-Cluster-Lösung des ASDS, dass sich eine sensorische Auffälligkeit („reagiert ungewöhnlich auf laute Geräusche“) statistisch als deutlich relevanter für das „autistische“ Cluster erweist als repetitive oder rigide Muster und Interessen. Obwohl bereits von Hans Asperger (1938) beschrieben, waren ja sensorische Auffälligkeiten im DSM-IV noch nicht Bestandteil der Diagnosekriterien und wurden nun neu in das DSM-5 aufgenommen. In der vorliegenden Stichprobe sind die Kinder des „autistischen“ ASDS-Clusters circa zwei Jahre jünger als die nur kommunikativ-auffälligen Kinder des Clusters 2. Dies liegt vermutlich daran, dass diese Kinder aufgrund der komplexeren Probleme früher auffallen (Perry, 2004). Dass über die ASDS-Ratings nur 21,8 % der uns vorgestellten Autismus-Verdachtsfälle einem „autistischen Cluster“ zugewiesen werden, spricht gegen die Vermutung, eine zu breit angelegte Definition autistischer Störungen begünstige Überdiagnosen (vgl. Holtmann u. Schimmelmann, 2014). Auch bei der 3-Cluster-Lösung des FSK bleibt die Gruppe der „unauffälligen“ Kinder (Cluster 3) relativ konstant. Die Ausdifferenzierung des „auffälligen“ Clusters erfolgt beim FSK nun entlang der Variablen der sozialen Kommunikation und Interaktion (DSM-5-Kriterium A) (Cluster 1) und der Variablen der restriktiven und repetitiven Muster (DSM-5-Kriterium B) (Cluster 2). Ähnlich wie bei dem „autistischen“ Cluster 1 der ASDS-3-Cluster-Lösung sind auch die Kinder des Clusters 2 der FSK-3-ClusterLösung signifikant jünger als Kinder des Clusters 1, die primär sozial-kommunikativ auffällig sind. Dass bei der ASDS- und FSK-3-Cluster-Lösung die beiden auffälligen Cluster nicht deckungsgleich sind, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich die Iteminhalte der beiden autistischen Symptombereiche in beiden Skalen teilweise erheblich unterscheiden. Zudem sind einige FSK-Items (z. B. „schließt sich spontan Gruppenspielen an“, „spielt irgendwelche So-Tun-Als-Ob-Spiele“ oder „ahmt spontan Dinge nach (…) wie Staubsaugen“) eher für das Vorschulalter relevant als für die von uns untersuchte 426 X. Kienle et al. Altersgruppe. Dies ist vermutlich auch die Ursache dafür, dass beim FSK mit 48 % der Stichprobe deutlich mehr Kinder dem „unauffälligen“ Cluster 3 zugewiesen werden als beim ASDS (38 %). Leider ergaben sich weder aus den dargestellten Clusterlösungen noch aus der nachträglichen Analyse der Ausreißercluster (ein Kind bei der FSK-3-Cluster-Lösung, fünf Kinder beim ASDS) die erhofften Hinweise auf Diagnosealternativen. Einschränkend ist zunächst festzuhalten, dass die vorliegende exploratorische Clusteranalyse die Existenz von Subgruppen nicht „beweisen“ kann (Schendera, 2010). Nachteilig für die Güte der gefundenen Cluster war zudem der immer noch zu geringe Stichprobenumfang in Relation zu den untersuchten Variablen und die fehlende Validierung mit einem anderen clusteranalytischen Verfahren. Als nicht nur theoretisches, sondern sehr praktisches Problem erwies sich die Tatsache, dass in beiden Ratingskalen viele Items mehrdeutig formuliert sind (z. B. FSKItem 3: „spricht merkwürdig oder wiederholt Dinge gleichlautend (…)“), sich teilweise logisch widersprechen (z. B. die ASDS-Items „zeigt kaum Interesse an anderen Kindern“ und „hat keine Freunde, obwohl der Wunsch dazu besteht“) oder möglicherweise qualitativ unterschiedliche Merkmale in einem Item zusammenfassen (z. B. beim FSK-Item 1 das Lauschen an Wasserleitung mit dem Interesse an Fahrplänen). Dies erhöhte in unserer Untersuchung nicht nur den Anteil der unvollständigen Datensätze, da sich die Eltern in der Beantwortung unsicher waren, sondern verringerte auch die Trennschärfe und damit die Clusterrelevanz dieser Items. Zuletzt ist kritisch anzumerken, dass in der vorliegenden Untersuchung nur aktuelle Symptome in die Clusterbildung eingingen. Da für das DSM-5 aber auch Symptome früherer Entwicklungsphasen diagnoserelevant sein können, ist die Vergleichbarkeit der gefundenen Cluster mit den neuen DSM-5-Diagnosekriterien eingeschränkt. Fazit für die Praxis Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass sich auch bei einer dimensionalen Konzeption der autistischen Störung Subgruppen empirisch begründen lassen. Die Relevanz der einzelnen Variablen für die Clusterbildung macht deutlich, dass im diagnostischen Prozess primär Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion erfasst werden sollten und erst sekundär ritualisierte und rigide Verhaltensmuster und Interessen. Bei der Verwendung von Ratingskalen ist zu berücksichtigen, dass diese aufgrund unterschiedlicher Iteminhalte und unterschiedlicher Altersadäquatheit auch unterschiedliche Cluster generieren. Dass die Clusteranalyse nur 22 % der Verdachtsfälle tatsächlich dem autistischen Cluster zuweist, spricht gegen die häufig geäußerte Kritik, die zu breite Konzeption der autistischen Störung begünstige Überdiagnosen. ipabo_66.249.69.239 Autistische Störungen nach DSM-5: Spektrum oder Cluster? 427 Zusatzmaterial zu diesem Beitrag finden Sie zum Herunterladen auf der Detailseite von Jahrgang 64 der „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie“, Heft 64,6, unter www.v-r.de Literatur APA (1994). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-IV. Washington DC: American Psychiatric Association. APA (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5. Washington DC: American Psychiatric Association. Asperger, H. (1938). Das psychisch abnorme Kind. 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Petermann, 2010) is a well documented behavioural psychological prevention program for students from the eighth grade and up. The present study examines the results of the evaluation of the practical implementation of the training over the course of two years. Data from 828 students could be collected in two measurements, before and after the intervention, out of which 323 were eighth-graders and 505 were ninth-graders. The analysis showed that eighth-graders profit more with regards to acquiring knowledge through the training than ninth-graders do. However, unlike male eighth-graders, female eighth-graders were unable to furthermore improve their social competences through the training. On the other hand the ninth-graders profit from the training in both groups with regards to their social competences. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 429-442 Keywords adolescence – JobFit-Training – school-based prevention – social competences Zusammenfassung Mit dem JobFit-Training für Jugendliche (Petermann u. Petermann, 2010) liegt ein gut dokumentiertes verhaltenspsychologisch basiertes Präventionsprogramm für den Einsatz in Schulen ab der achten Klasse vor. Die vorliegende Studie fasst die Evaluationsergebnisse der praktischen Umsetzung des JobFit-Trainings zusammen. Es konnten Daten von insgesamt 828 Schülern zu zwei Erhebungszeitpunkten (vor und nach dem Training) analysiert werden, die sich auf 323 Achtklässler und 505 Neuntklässler verteilen. Die Auswertung zeigte, dass Achtklässler insbesondere beim Wissenszuwachs von dem Training mehr als die Neuntklässler profitieren; Schülerinnen der achten Klasse können sich in ihren sozialen Kompetenzen im Gegensatz zu den Schülern nicht verbessern. Die Neuntklässler hingegen steigern generell ihre sozialen Kompetenzen. Schlagwörter JobFit-Training – Jugendalter – schulbasierte Prävention – soziale Kompetenzen Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 429 – 442 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 430 J. Schultheiß et al. 1 Hintergrund Das Jugendalter ist im Leben eines jeden Menschen entscheidend für die Ausprägung der Identität (vgl. Fuhrer, 2013). Dieser Lebensabschnitt eröffnet zwar einerseits viele Möglichkeiten, beinhaltet andererseits jedoch auch entsprechende Risiken (vgl. z. B. Hackauf u. Ohlbrecht, 2010; Petermann u. Petermann, 2012). Aus den Ergebnissen der KiGGS-Studie ist bekannt, dass deutsche Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren zu knapp einem Fünftel nur grenzwertige oder gar defizitäre Ressourcen aufweisen (vgl. Erhart, Hölling, Bettge, Ravens-Sieberer, Schlack, 2007) und auf lange Sicht Gefahr laufen, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln (vgl. Hölling, Erhart, Ravens-Sieberer, Schlack, 2007). Erste Ergebnisse der KiGGS-Folgestudien haben gezeigt, dass die Anzahl an psychosozialen Auffälligkeiten in den letzten circa zehn Jahren auf diesem Niveau stabil geblieben ist (Hölling, Schlack, Petermann, Ravens-Sieberer, Mauz, 2014). Um Entwicklungsrisiken vorzubeugen, ist eine Unterstützung von Jugendlichen in diesen kritischen Lebensabschnitten oftmals hilfreich. Einen wichtigen Baustein der Identitätsentwicklung bildet in unserer Gesellschaft die Wahl eines Berufs und die damit verbundene Entscheidung über den zukünftigen Lebensstil (vgl. Hurrelmann u. Quenzel, 2013). Die wichtigste Rolle bei der Vorbereitung auf den kritischen Übergang in das Ausbildungs- und Berufsleben kommt der Schule zu, da ein erfolgreicher Schulabschluss allgemein als Voraussetzung für die Aufnahme einer weiterführenden Ausbildung angesehen wird. Lehrkräfte versuchen, durch das Hinführen ihrer Schüler zu einem erfolgreichen Schulabschluss diese bei der Aufnahme einer Ausbildung zu unterstützen. Einen weniger großen Stellenwert nimmt die Vorbereitung der Schüler auf ihre neue Rolle als Auszubildende ein, in der andere Fähigkeiten als in der Schülerrolle gefordert werden. Neben einem Schulabschluss erwarten Ausbildungsbetriebe zunehmend auch einen gewissen Grad an Ausbildungsreife der Jugendlichen (vgl. Eberhard u. Ulrich, 2010). Dies setzt soziale und emotionale Kompetenzen voraus (vgl. Burt, Obradović, Long, Masten, 2008; Srivastava, Tamir, McGonigal, John, Gross, 2009). Verschiedene Metaanalysen zeigen, dass Präventionsmaßnahmen die sozialen Kompetenzen der Teilnehmenden verbessern konnten (vgl. Beelmann u. Raabe, 2007; Durlak, Weissberg, Dymnicki, Taylor, Schellinger, 2011). Allerdings unterstreicht eine aktuelle Metaanalyse von Beelmann, Pfost und Schmitt (2014) speziell für den deutschsprachigen Raum, dass Effektstärken für Präventionsprogramme je nach Setting variieren und generell im moderaten Bereich liegen. Da durch die Schulpflicht Jugendliche gut erreichbar sind, sollten bereits in der Schule Präventionsprogramme zum Aufbau sozial-emotionaler Kompetenzen Bestandteil des Unterrichtsalltags sein. Schulische Leistungen und soziale Kompetenz beeinflussen sich gegenseitig (vgl. Endlich, Dummert, Schneider, Schwenck, 2014), wobei man von einem positiven Einfluss der sozialen Kompetenz auf die Schulleistungen und damit auf den Erfolg im Beruf ausgehen kann (z. B. Barbarin et al., 2013). Kinder mit Lernschwierigkeiten weisen besonders häufig eine geringe soziale Kompetenz auf (u. a. Wight u. Chapparo, 2008); ebenso wird die Beliebtheit bei Gleichaltrigen entscheidend durch ipabo_66.249.69.239 Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 431 die soziale Kompetenz bestimmt (Ronk, Hund, Landau, 2011) und immer wieder wird bestätigt, dass aggressive Jugendliche eine besonders niedrige soziale Kompetenz aufweisen (vgl. Burt et al., 2008), wobei diese bei weiblichen Jugendlichen höher ausgeprägt ist (Card, Stucky, Sawalani, Little, 2008; Dollar u. Stifter, 2012; Eisenberg u. Faber, 2006). Niedrige soziale Kompetenzen und Verhaltensprobleme stellen ein ausgeprägtes Handicap im Rahmen der beruflichen Orientierung dar. Will man diese Problemlage bearbeiten, findet man weder im deutschsprachigen Raum noch international eine ausreichende Anzahl an Präventionsansätzen, deren Wirksamkeit belegt ist (Beelmann u. Lösel, 2007; Jürgens u. Lübben, 2013). 2 JobFit-Training Einen Beitrag zur schulischen Berufsvorbereitung auf verhaltenspsychologischer Grundlage liefert das JobFit-Training für Jugendliche von Petermann und Petermann (2010). Es richtet sich vornehmlich an Haupt- und Realschüler ab der achten Klasse, die kurz vor dem Eintritt ins Ausbildungs- und Berufsleben oder vor dem Absolvieren von ersten Schulpraktika stehen. Das Training wird im Rahmen des regulären Schulunterrichtes von einem Trainertandem durchgeführt und findet einmal pro Woche statt. Die insgesamt zehn Sitzungen dauern jeweils 90 Minuten und behandeln Themen, die im Zusammenhang mit dem Berufseinstieg für die Jugendlichen von Relevanz sind. Das JobFit-Training wurde auf Basis des Therapieprogramms „Training mit Jugendlichen“ (Petermann u. Petermann, 2010) entwickelt und bereits in kleineren Stichproben auf seine Wirksamkeit hin überprüft. Hier konnten positive Kurz- und Langzeiteffekte nachgewiesen werden (Laakmann, Schultheiß, Petermann, Petermann, 2013; Schultheiß, Petermann, Petermann, 2012, 2013). Das JobFit-Training wird meist als universelle Präventionsmaßnahme in Schulklassen eingesetzt, um die sozial-emotionalen Kompetenzen der Teilnehmer zu fördern. Das JobFit-Training soll in erster Linie berufsbezogene soziale Kompetenzen steigern, die im Rahmen der beruflichen Ausbildung benötigt werden. Diese Kompetenzen schließen ein angemessenes Sozial- und Lernverhalten ein. Soziale Kompetenzen umfassen auch entsprechende emotionale Kompetenzen (vgl. Arsenio, Adams, Gold, 2009). Gut, Reimann und Grob (2012) konnten zeigen, dass eine hohe Ausprägung sozial-emotionaler Kompetenzen auch mit besseren Schulnoten einhergeht. Ebenso werden sozial-emotionale Kompetenzen mit positiverem Unterrichtserleben und höheren Lernerfolgen in bestimmten Gruppenunterrichtsformen in Verbindung gebracht (Jurkowski u. Hänze, 2010, 2012). Das methodische Vorgehen im JobFit-Training greift auf bewährte verhaltenspsychologische Methoden zurück, wie beispielsweise Selbstbeobachtung, Selbstkontrolltechniken, Feedback- und Verstärkungssysteme und Verhaltensübungen in Form von Rollenspielen. Eine Förderung der Selbstwirksamkeit wird durch selbst gesetzte Verhaltensziele und deren ritualisierte Überprüfung angestrebt. Bandura betont in 432 J. Schultheiß et al. seinem Grundlagenwerk „Self-Efficacy“ (2003) die Bedeutung, die der Schule im Zusammenhang mit der Entstehung von Selbstwirksamkeit zukommt (Bandura, 2003, S. 174ff.). Eine detaillierte Darstellung des JobFit-Trainings findet sich im Trainingsmanual (Petermann u. Petermann, 2010). 3 Methode 3.1 Fragestellungen Zurzeit ist noch weitgehend ungeklärt, in welcher Klassenstufe ein berufsvorbereitendes Training wie das JobFit-Training durchgeführt werden sollte. Es ist zu vermuten, dass jüngere Schüler (8. Klasse), die noch nicht stark den Druck einer beruflichen Entscheidung spüren, das Angebot weniger intensiv nutzen als ältere Schüler (9. Klasse). Es ist also zu klären, wann die Bereitschaft, sich mit den Trainingsinhalten auseinanderzusetzen, besonders stark ausgeprägt ist. Weiter ist zu vermuten, dass Mädchen aufgrund ihrer stärker ausgeprägten sozialen Kompetenzen einen geringeren Gewinn aus dem JobFit-Training ziehen. Um diese Fragestellungen mit Hilfe objektiver Informationen in Zukunft eventuell besser beantworten zu können, wurden die Daten, die im Rahmen der Evaluation des Trainings gesammelt wurden, mit besonderer Berücksichtigung der Klassenstufe und unter Einbezug des Geschlechtes ausgewertet. 3.2 Stichprobe Über Zeitungsanzeigen und einen Rundbrief der Senatorin für Bildung und Wissenschaft des Landes Bremen wurden die Schulen in Bremen und dem näheren Umland auf das Angebot aufmerksam gemacht. Vorrangig meldeten sich achte und neunte Klassen für das Training an, in wenigen Fällen auch zehnte Klassen, Werkschulklassen und Förderklassen. Da aus den drei letztgenannten Gruppen jedoch keine mit den beiden ersten Gruppen annähernd vergleichbaren Stichprobengrößen von N >100 gewonnen werden konnten, beschränkt sich die vorliegende Studie auf einen Vergleich zwischen den 19 achten und 44 neunten Klassen der 16 Regelschulen, die am Training teilnahmen. Insgesamt nahmen wesentlich mehr Schüler am Training teil, als am Ende in diese Untersuchung eingehen konnten. Aufgrund von fehlenden Daten zu einem der Messzeitpunkte oder aufgrund fehlender Einverständniserklärungen mindestens eines Elternteils konnte circa ein Drittel der Schüler, die am Training teilnahmen, nicht in die Analysen mit einbezogen werden, was ungefähr 450 Schülern entsprach. Insgesamt konnten für die achten Klassen jedoch Daten von N = 323 Schülern und für die neunten Klassen von N = 505 Schülern für die Auswertung genutzt werden, was einer Gesamtstichprobe von N = 828 Schülern entspricht. Die Geschlechterverteilung war in allen drei Gruppen ausgeglichen. In den achten Klassen befanden sich ipabo_66.249.69.239 Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 433 174 Jungen (53,9 %) und 149 Mädchen (46,1 %), während in den neunten Klassen 257 Jungen (50,9 %) und 248 Mädchen (49,1 %) in die Untersuchungen eingingen. Für die Gesamtgruppe ergibt dies eine Verteilung von 431 Jungen (52,1 %) und 397 Mädchen (47,9 %). Das Durchschnittsalter der Gesamtstichprobe lag zu Trainingsbeginn bei 14.72 Jahren (Standardabweichung (SD): 0,86), die Achtklässler waren dabei mit 14,05 Jahren (SD: 0,56) in etwa ein Jahr jünger als die Neuntklässler mit 15,15 Jahren (SD: 0,73), was den Erwartungen entspricht. 3.3 Design und Erhebungsinstrumente Von den am Training teilnehmenden Schülern, bei denen die Erziehungsberechtigten das Einverständnis erteilt hatten, wurden eine Woche vor (T1) und eine Woche nach dem Training (T2) Fragebögen ausgefüllt, in denen neben soziodemografischen Angaben auch die Schülereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (SSL; Petermann u. Petermann, 2014) und Fragen zum Trainingsinhalt bearbeitet wurden. Die SSL stellt ein ressourcenorientiertes Instrument dar, das auf Basis der Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (LSL; Petermann u. Petermann, 2013) entwickelt wurde und über eine der LSL vergleichbare Faktorenstruktur verfügt. Dem übergeordneten Bereich Sozialverhalten sind die sechs Skalen Kooperation, Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle, Einfühlungsvermögen, Angemessene Selbstbehauptung sowie Sozialkontakt zugeordnet. Die vier Skalen Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer, Konzentration, Selbstständigkeit beim Lernen und Sorgfalt beim Lernen bilden gemeinsam den übergeordneten Bereich Lernverhalten. Die SSL kann sowohl eine zufriedenstellende faktorielle Validität als auch eine angemessene Reliabilität (Cronbachs Alpha-Werte zwischen .74 und .88; RetestReliabilität zwischen r = .57 und r = .81) vorweisen (Petermann u. Petermann, 2014). Die Konstrukvalidität der SSL belegt eine Untersuchung von Lohbeck, Petermann, Nitkowski und Petermann (2014). Studien zur Korrelation mit Schulnoten (Lohbeck, Petermann, Petermann, 2014a) und aggressivem Verhalten (Lohbeck, Petermann, Petermann, 2014b) liefern Hinweise auf die konvergente Validität. Um zu bewerten, ob es gelungen war, die Inhalte des Trainings zu vermitteln, wurden sechs Items formuliert (s. Kasten 1), die zur Gesamtskala Trainingsinhalte zusammengefasst wurden. Die interne Konsistenz dieser Skala lag mit einem Cronbachs Alpha von 0.701 im zufriedenstellenden Bereich. Kasten 1: Aussagen zum Trainingsinhalt zur Evaluation des JobFit-Trainings (Wissenstest) 1. Ich weiß über die Vor- und Nachteile von verschiedenen Berufen Bescheid. 2. Ich weiß, wie ich meine eigene Meinung vertreten kann. 3. Ich weiß, wie die Menschen um mich herum sich fühlen. 4. Ich weiß, wie ich mich in einem Vorstellungsgespräch verhalten sollte. 5. Ich weiß, was ich in einem Vorstellungsgespräch gefragt werden könnte. 6. Ich weiß, wie ein Außenseiter sich fühlt. Bewertung: stimmt nicht = 0, stimmt kaum = 1, stimmt eher = 2, stimmt genau = 3 434 J. Schultheiß et al. 3.4 Statistische Auswertungsstrategie Die gewonnenen Daten wurden unter Nutzung von Microsoft Access 2007 in eine Datenbank eingegeben, aus der die für die Berechnungen notwendigen Tabellen erstellt wurden. Fragebögen mit einem offensichtlichen Antwortmuster oder mit einem Anteil von mehr als 10 % missing values gingen nicht in die Berechnungen ein. Fehlende Werte wurden mithilfe der Expectation maximization (EM) Methode ersetzt (vgl. Tabachnick u. Fidell, 2013). Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit dem Programm SPSS 22 nach dem allgemeinen linearen Modell mit Messwiederholung. Als Zwischensubjektfaktoren wurden die Klassenstufe und das Geschlecht gewählt. Die Post-hoc-Einzelvergleiche wurden nach Bonferroni alpha-adjustiert. Bei Verletzung der Spherizität wurde die Korrektur nach Greenhouse-Geisser angewandt (vgl. Field, 2013). Darüber hinaus wurden die Ergebnisse separat für beide Klassenstufen noch einmal getrennt nach Geschlecht ausgewertet, da eine einfache Post-Hoc-Analyse in SPSS die F-Werte dieser Berechnungen sowie ŋ2 nicht ausgibt. Die Effektstärke ŋ2 wird analog zu Cohen (1988) eingeteilt in klein (ŋ2 > 0.01), mittel (ŋ2 > 0.06) und groß (ŋ2 > 0.13). Um die gewonnenen Ergebnissen der Varianzanalysen kritisch zu betrachten, wurde das Signifikanzniveau auf p < .01 gesetzt. 3.5 Durchführung des JobFit-Trainings Praktisch umgesetzt wurde das Training von insgesamt 24 Studierenden der Studiengänge „Klinische Psychologie“ (M. Sc.) und „Psychologie“ (B. Sc.). Diese wurden von Mitarbeitern des Lehrstuhls für Klinische Kinderpsychologie in einer zweitägigen Intensivschulung (16 Schulungseinheiten à 45 Minuten) in der Trainingsdurchführung fortgebildet und mit Rollenspielen auf ihren Einsatz in der Schulklasse vorbereitet. Darüber hinaus fand eine eintägige Schulung (6 Schulungseinheiten à 45 Minuten) mit den Lehrkräften der teilnehmenden Schulklassen statt, die die Studierenden bei der Durchführung unterstützten; alle Trainer erhielten ein Supervisionsangebot, zudem wurde mindestens ein Hospitationstermin realisiert, der von den Projektbetreuern während des Trainings verbindlich angeboten wurde. 4 Ergebnisse Die Mittelwerte und Standardabweichungen der übergeordneten Bereiche Sozialverhalten und Lernverhalten der SSL sowie der dazugehörigen Skalen und die Ergebnisse des Wissenstests (Kasten 1) sind für beide Erhebungszeitpunkte in Tabelle 1 dargestellt. Die Ergebnisse sind für die beiden Klassenstufen und nach Geschlecht getrennt aufgeführt. Die Achtklässler erzielen vor Trainingsbeginn im Sozialverhalten insgesamt höhere Werte und berichteten damit von sozial angemessenerem Sozialverhalten als die Neuntklässler; erwartungsgemäß schätzen sich in ipabo_66.249.69.239 Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 435 beiden Klassenstufen die Schülerinnen als sozial kompetenter ein als die Schüler. Beim Lernverhalten bewerten sich die Achtklässler ebenfalls ein wenig besser als die Neuntklässler, wobei hier die Geschlechterunterschiede mit einer Ausnahme gering ausgeprägt sind; lediglich in der Skala Sorgfalt beim Lernen schätzen die Schülerinnen sich etwas besser ein als die Schüler. Was das Wissen um die Trainingsinhalte angeht, schätzen sich die Neuntklässler vor dem Training als kompetenter ein als die Achtklässler; hier sind jedoch keine Geschlechterunterschiede festzustellen. Tabelle 1: Mittelwerte der SSL-Skalen und der Trainingsinhalte zu T1 und T2 T1 8. Klasse M Bereich Sozialverhalten 70.40 Kooperation 12.31 Selbstwahrnehmung 11.31 Selbstkontrolle 11.61 Einfühlungsvermögen 12.31 Selbstbehauptung 11.36 Sozialkontakt 11.51 Bereich Lernverhalten 44.58 Anstrengungsbereitschaft 11.11 Konzentration 10.32 Selbstständigkeit beim Lernen 11.29 Sorgfalt beim Lernen 11.87 Trainingsinhalte 11.83 m w 68.94 72.10 12.19 12.45 11.10 11.55 11.53 11.69 11.66 13.07 11.06 11.71 11.41 11.63 44.37 44.83 11.29 10.89 10.29 10.36 11.41 11.14 11.37 12.44 11.81 11.85 T2 9. Klasse M 68.37 11.99 11.25 11.18 11.99 10.98 10.97 43.63 10.82 10.21 10.87 11.73 12.24 m w 66.31 70.47 11.78 12.20 10.94 11.57 11.10 11.27 11.16 12.84 10.64 11.32 10.69 11.26 42.68 44.61 10.77 10.86 10.10 10.32 10.79 10.96 11.02 12.47 12.16 12.32 8. Klasse M 71.37 12.55 11.45 11.70 12.27 11.66 11.75 44.69 10.99 10.49 11.33 11.89 13.88 m w 70.44 72.46 12.47 12.65 11.29 11.63 11.78 11.60 11.78 12.83 11.41 11.95 11.71 11.80 44.77 44.61 11.13 10.82 10.57 10.39 11.48 11.16 11.58 12.25 13.78 13.99 9. Klasse M 69.65 12.27 11.36 11.35 12.18 11.39 11.10 43.84 10.86 10.51 10.85 11.63 13.32 m w 67.69 71.67 12.01 12.55 11.05 11.68 11.18 11.52 11.37 13.02 11.09 11.70 11.00 11.21 42.84 44.87 10.75 10.96 10.36 10.66 10.80 10.91 10.93 12.34 13.11 13.54 Anmerkungen: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, m = männlich, w = weiblich, T1 = vor Trainingsbeginn, T2 = nach Trainingsende. Mögliche Rohwertspannen: Sozialverhalten: 0-90; Lernverhalten: 0-60; SSL Skalen: 0-15; Trainingsinhalte: 0-18 436 J. Schultheiß et al. Interessant für die vorliegende Studie ist jedoch insbesondere eine Betrachtung von Tabelle 2, die die Ergebnisse der varianzanalytischen Auswertung im Zeitverlauf wiedergibt. Es zeigt sich sowohl für die achten als auch die neunten Klassen ein signifikanter (p = .004 und p < .001) Anstieg der Mittelwerte mit kleinen Effektstärken (ŋ2 = 0.025 und ŋ2 = 0.041) in der SSL im übergeordneten Bereich Sozialverhalten (vgl. Tab. 2). Eine genauere Differenzierung nach Geschlechtern zeigt, dass die Effekte bei den Schülern der achten Klassen besonders ausgeprägt sind (p(m) = .002, ŋ2(m) = 0.056), während die Schülerinnen der achten Klasse sich in diesem Bereich nicht signifikant verbessern (p(w) = .453). Die männlichen Achtklässler schätzen sich jedoch auch nach Trainingsende immer noch schlechter ein als die Mädchen, wobei sich der Abstand zwischen den Werten verkleinert hat. Die Effekte im Bereich Sozialverhalten sind in der neunten Klasse hingegen in beiden Geschlechtergruppen deutlich (p(m) = .001, ŋ2(m) = 0.041; p(w) = .001, ŋ2(w) = 0.043). Eine Betrachtung der zum Sozialverhalten gehörigen Skalen zeigt in der achten Klasse lediglich eine signifikante Verbesserung in der Skala Selbstbehauptung in der Gesamtgruppe mit kleiner Effektstärke (p = .006, ŋ2 = 0.023), der getrennt nach Jungen und Mädchen nicht mehr die Signifikanz erreicht (p(m) = .019; p(w) = .138). In der neunten Klasse findet sich ebenfalls eine signifikante Verbesserung in der Skala Selbstbehauptung mit einem kleinen Effekt (p < .001, ŋ2 = 0.042), die sich hier sowohl bei Jungen (p(m) < .001, ŋ2(m) = 0.047) als auch bei Mädchen (p(w) = .002, ŋ2(w) = 0.037) zeigt. Darüber hinaus findet sich in der neunten Klasse noch eine signifikante Verbesserung in der Skala Kooperation mit kleiner Effektstärke (p = .001, ŋ2 = 0.022), der bei genauerer Betrachtung der Geschlechter nur bei den Mädchen als signifikant zu bewerten ist (p(w) = .002, ŋ2(w) = 0.039; p(m) = .080). In den restlichen Skalen finden sich zwar teilweise tendenzielle Verbesserungen, diese sind jedoch nicht als signifikant zu bewerten. Der übergeordnete Bereich Lernverhalten in der SSL wies in keiner der Gruppen signifikante Veränderungen auf. Bei den Achtklässlern zeigen sich in allen vier Skalen keine Veränderungen. Bei den Neuntklässlern findet sich auf der Skala Konzentration jedoch eine signifikante Verbesserung mit kleiner Effektstärke (p = .001, ŋ2 = 0.022), die allerdings wie bereits in der Skala Kooperation nur für die Mädchen die Signifikanz erreicht (p(w) = .004, ŋ2(w) = 0.032; p(m) = .56). Die restlichen drei Skalen im Bereich Lernverhalten weisen bei den Neuntklässlern ebenfalls keine signifikanten Veränderungen auf. Der Bereich Trainingsinhalte zeigt in der achten Klasse sowohl in der Gesamtgruppe (p < .001, ŋ2 = 0.279) als auch in den Geschlechtsgruppen (p(m) < .001, ŋ2(m) = 0.279; p(w) < .001, ŋ2(w) = 0.280) signifikante Verbesserungen mit großer Effektstärke. In der neunten Klasse findet sich ebenfalls in der Gesamtgruppe eine signifikante positive Veränderung mit großer Effektstärke (p < .001, ŋ2 = .138). Auch in den beiden Geschlechtergruppen zeigen sich signifikante Verbesserungen (p(m) < .001; p(w) < .001), die Effektstärken liegen hier bei den Jungen im mittleren (ŋ2(m) = 0.125) und bei den Mädchen im großen (ŋ2(w) = 0.151) Bereich. ipabo_66.249.69.239 Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 437 Tabelle 2: Ergebnisse der Varianzanalysen der SSL-Skalen und der Trainingsinhalte 8. Klasse F m w Bereich Sozial8.41 verhalten 10.20 Kooperation 3.97 6.46 0.57 2.48 Selbstwahrnehmung 1.66 1.57 Selbstkontrolle 2.87 0.65 Einfühlungsvermögen 0.13 Selbstbehauptung 7.62 Sozialkontakt 4.41 0.28 0.31 0.66 2.99 5.61 2.22 3.20 1.25 Bereich Lernverhalten 0.17 1.02 Anstrengungs1.09 bereitschaft 0.88 Konzentration 3.59 Selbstständig Lernen Sorgfalt beim Lernen Trainingsinhalte 2.44 0.17 0.04 124.86 0.29 0.24 0.05 0.19 0.02 1.65 1.20 67.08 57.66 p .004* .012 .198 .421 .715 .006* .037 .681 .298 .119 .678 .839 .000** 9. Klasse m w .002* .453 .048 .117 .212 .599 .092 .580 .416 .086 .019 .138 .075 .265 .314 .591 .349 .626 .060 .831 .664 .891 .200 .276 .000** .000** ŋ2 .025 .020 .005 .002 .000 .023 .014 .001 .003 .008 .001 .000 .279 m w .056 .004 .022 .016 .009 .002 .016 .002 .004 .020 .031 .015 .018 .008 .006 .002 .005 .002 .020 .000 .001 .000 .009 .008 .279 .280 F 21.77 11.46 1.44 3.10 5.09 22.08 1.98 0.79 0.23 11.18 0.03 1.32 80.39 m w 10.88 11.04 3.09 10.18 0.69 0.78 0.32 4.14 2.38 2.92 12.48 9.58 5.58 0.16 0.23 0.61 0.03 0.78 3.70 8.25 0.02 0.18 0.42 1.00 36.47 44.00 p .000** .001* .231 .079 .024 .000** .160 .374 .633 .001* .854 .250 .000** m w .001* .001* .080 .002* .408 .379 .572 .043 .124 .089 .000** .002* .019 .688 .630 .435 .873 .379 .056 .004* .889 .670 .518 .319 .000** .000** ŋ2 .041 .022 .003 .006 .010 .042 .004 .002 .000 .022 .000 .003 .138 m w .041 .043 .012 .039 .003 .003 .001 .016 .009 .012 .047 .037 .021 .001 .001 .002 .000 .003 .014 .032 .000 .001 .002 .004 .125 .151 Anmerkungen: *p < .01. **p < .001, Klassifikation der Effektstärken nach Cohen (1988): ŋ2 > 0.01 = klein, ŋ2 > 0.06 = mittel, ŋ2 > 0.13 = groß 5 Diskussion Die vorliegende Studie hatte die Analyse der klassenstufenspezifischen Wirksamkeit des JobFit-Trainings zum Ziel. Es muss darauf hingewiesen werden, dass alle Aussagen auf Selbsteinschätzungen der Schüler basieren. Auffällig ist ein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die sozialen Kompetenzen der Mädchen waren in beiden 438 J. Schultheiß et al. Klassenstufen erwartungsgemäß bereits vor Trainingsbeginn höher als die der Jungen (vgl. z. B. Dollar u. Stifter, 2012; Eisenberg u. Faber, 2006). Es fanden sich über den Trainingszeitraum hinweg einige signifikante Verbesserungen in sämtlichen möglichen Untergruppen. Es konnte zusammenfassend gezeigt werden, dass die Effekte im Bereich der Trainingsinhalte bei den Achtklässlern wesentlich deutlicher ausgeprägt sind als bei den Neuntklässlern, während diese sich hingegen deutlicher in den Skalen der SSL verbessern. Im Bereich Sozialverhalten finden sich sowohl in den achten als auch in den neunten Klassen signifikante Verbesserungen mit kleinen Effektstärken. Betrachtet man diese jedoch noch einmal nach Geschlecht getrennt, zeigt sich, dass diese positive Verhaltensänderung lediglich auf Effekte der männlichen Achtklässler zurückzuführen ist, während in der neunten Klasse beide Geschlechtergruppen ihre Werte signifikant verbessern. Die positiven Veränderungen im Sozialverhalten bei den männlichen Achtklässlern spiegeln sich nicht in den dazugehörigen Unterskalen wider. In den Skalen der SSL tritt in der achten Klasse lediglich eine signifikante Verbesserung in der Gesamtgruppe in der Skala Selbstbehauptung auf, bei den geschlechtsspezifischen Betrachtungen finden sich zwar tendenzielle Verbesserungen, diese erreichen allerdings nicht die Signifikanzgrenze. In der neunten Klasse berichten zwar beide Geschlechtergruppen im Bereich Sozialverhalten ähnlich starke Effekte, jedoch resultieren diese aus Veränderungen in unterschiedlichen Skalen. Während die Jungen sich lediglich in der Skala Selbstbehauptung signifikant verbesserten, zeigten sich solche Effekte für die Mädchen in den Skalen Selbstbehauptung und Kooperation. Darüber hinaus gaben Schülerinnen der neunten Klassen in der Skala Konzentration des Bereiches Lernverhalten kleine Veränderungen an. Diese Ergebnisse decken sich mit Ergebnissen der Studie von Laakmann et al. (2013), die in ihrer Stichprobe ebenfalls Verbesserungen in den Skalen Kooperation und Selbstbehauptung feststellen konnten. In der Studie von Schultheiß et al. (2013) waren Effekte auf diesen Skalen auch sechs Monate nach Trainingsende noch stabil. Eine besonders deutliche Verbesserung konnte für alle Gruppen im Bereich Trainingsinhalte erzielt werden. Hier lagen die Achtklässler – nach ihren eigenen Angaben – deutlich vor den Neuntklässlern, sie steigerten ihr Wissen über die Trainingsinhalte um etwa das Zweifache. Nach Betrachtung dieser Ergebnisse kann man schlussfolgern, dass über den Trainingszeitraum hinweg zwar alle Gruppen von dem Training profitierten, einige jedoch anscheinend mehr als andere. Neuntklässler waren eher in der Lage, ihre sozialen Kompetenzen im Rahmen des Trainings zu verbessern. Dies kann damit zusammenhängen, dass sie eventuell durch einen näheren zeitlichen Bezug zum bevorstehenden Berufsleben motivierter sind, Änderungen auf der Verhaltensebene anzustreben. Bemerkenswert ist, dass die Achtklässler im Bereich Trainingsinhalte nach dem Training sogar höhere Werte aufweisen als die Neuntklässler. Diese Ergebnisse lassen die Interpretation zu, dass in der achten Klassenstufe vor allem ein großes Interesse an der ipabo_66.249.69.239 Zur Wirksamkeit des Präventionsprogramms JobFit 439 kognitiven Auseinandersetzung mit dem Thema „Berufseinstieg“ besteht und daher der Wissenszuwachs besonders ausgeprägt ist. In der neunten Klasse wird das Wissen um die Trainingsinhalte bereits als höher eingeschätzt, weswegen das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Thema und damit auch der Wissenszuwachs hier geringer sein könnten. Es ist interessant, dass sich das Sozialverhalten der Neuntklässler einerseits in beiden Geschlechtergruppen und darüber hinaus in mehr Bereichen signifikant steigert als jenes der Achtklässler. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Werte der Neuntklässler vor Trainingsbeginn bereits niedriger sind. Es wäre zu überlegen, ob eventuell generell die Werte, insbesondere der weiblichen Achtklässler, ohne soziale Kompetenztrainings über die Zeit nicht abgenommen hätten. Der Gesamtwert im Sozialverhalten wird von den weiblichen Neuntklässlern niedriger eingeschätzt als von den weiblichen Achtklässlern. Eventuell hat das Training also zur Stabilisierung der sozialen Kompetenz der weiblichen Achtklässler beigetragen. Diese Hypothese ließe sich nur durch eine gründlich geplante Kontrollgruppenstudie überprüfen, die in der Praxis leider nur sehr schwer zu realisieren ist. Da in universellen Präventionsprogrammen generell oft nur kleinere Effekte erwartet werden können (vgl. Beelmann et al., 2014), wäre es möglich, dass für die Achtklässler eine noch größere Stichprobe notwendig wäre, um eventuell vorhandene, kleine Effekte sicher darstellen zu können. Dies würde jedoch nicht den Ergebnissen von Schultheiß et al. (2012, 2013) entsprechen, die in ihren Studien wesentlich deutlichere Effekte für Achtklässler – jedoch nicht nach Geschlecht getrennt – aufdecken konnten. Es stellt sich also auch die Frage, warum die Effekte in der vorliegenden Studie geringer ausfielen. Möglich wäre hier eine Verzerrung der Ergebnisse durch weniger erfahrene Trainer – in den zuvor genannten Studien waren aufgrund der wesentlich kleineren Stichproben auch wesentlich weniger Trainer zum Einsatz gekommen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie enger untereinander kooperieren konnten. Hinzu kommt, dass in diese früheren Studien nur Datensätze von Schülern einflossen, die an mindestens drei (Schultheiß et al., 2012) oder sogar vier (Schultheiß et al., 2013) Erhebungen teilgenommen hatten. Möglicherweise hat man auf diese Weise viele besonders gut motivierte Schüler als Studienteilnehmer rekrutieren können, die oft am Unterricht teilnahmen. In der vorliegenden Studie mussten die Befragten nur zu zwei Erhebungszeitpunkten anwesend sein, um in die Studie eingeschlossen zu werden. Abschließend bleibt noch die Frage, warum die Effekte im Bereich Sozialverhalten so viel deutlicher ausfallen als in den untergeordneten Skalen. Dies erklärt sich daraus, dass sich der Bereich Sozialverhalten aus den sechs oben genannten Skalen zusammensetzt. Somit erreicht dieser einen höheren Gesamtrohwert, der gegenüber einer Veränderung eher sensitiv ist. 440 J. Schultheiß et al. Fazit für die Praxis Es hat sich gezeigt, dass in der achten Klasse ein deutlicherer Wissenszuwachs stattfindet als in der neunten Klasse, was dafür spricht, das JobFit-Training in der achten Klasse durchzuführen – insbesondere, da die Achtklässler durch das Training am Ende sogar im Wissen den Neuntklässlern überlegen sind. Allerdings zeigten sich in der achten Klasse bei den Schülerinnen keine signifikanten Veränderungen im Bereich Sozialverhalten. In der neunten Klasse ist dafür in beiden Geschlechtergruppen ein positiver Effekt in dem Bereich Sozialverhalten zu verzeichnen. Somit ergibt sich die folgende Empfehlung: Wenn der Fokus auf dem Wissenszuwachs über die Inhalte des JobFit-Trainings liegen soll, scheint das Training in den achten Klassen seine beste Wirkung zu entfalten. Wenn man auf eine Verhaltensänderung zielt, dann scheint das Training in der neunten Klasse wirkungsvoller zu sein. Literatur Arsenio, W., Adams, E., Gold, J. (2009). Social information processing, moral reasoning, and emotion attributions: relations with adolescents‘ reactive and proactive aggression. Child Development, 80, 1739-1755. Bandura, A. (2003). Self-efficacy: The exercise of control (6. Aufl.). New York: Freeman. Barbarin, O., Iruka, I. U., Harradine, C., Winn, D. M., McKinney, M. K., Taylor, L. C. (2013). Development of social-emotional competence in boys of color: A cross-sectional cohort analysis from pre-K to second grade. American Journal of Orthopsychiatry, 83, 145-155. Beelmann, A., Lösel, F. (2007). 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Jan Schultheiß, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen, Grazer Str. 6, 28359 Bremen; E-Mail: [email protected] Jan Schultheiß, Ulrike Petermann und Franz Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J): Entwicklung und Validierung Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer Summary Development and Validation of the Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J) The Revenge Fantasy Inventory for Adolescents (RFI-J) is a paper-pencil-questionnaire that aims at assessing revenge fantasies of adolescents and facilitates an interpersonal comparison of revenge fantasies. The RFI-J assesses components concerning the subjective relevance of revenge fantasies, for example a coherence with emotion regulation and adolescent’s attitudes towards revenge. In addition, the content of revenge fantasies is measured. The psychometric properties of revenge fantasies were analysed in two studies: In the first study an early concept of the instrument (consisting of two parts: assessment of subjective relevance of the fantasies and assessment of revenge fantasy content) was presented to 248 students (123 males) with an average age of 14.9 years (SD = 0.89; Range = 14-18 years). Using Principal Component Analysis (PCA) both parts of the instrument were dimensionalised. Subsequently, scales were built and a first version of the inventory was developed. In a second study with another sample consisting of 88 students (48 males) with an average age of 14.9 years (SD = 0.72; Range = 14-17 years) four of the factors which had been found in the first study were replicated. Furthermore, correlations were found between the RFI-J and measures of aggression, measures of pro-sociality, as well as measures of physical and psychological complaints. The developed test in its current version consist of two parts (18 and 6 Items). Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 443-459 Keywords revenge fantasies – adolescents – emotion regulation – questionnaire Zusammenfassung Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) ist ein Paper-Pencil-Fragebogen zur Erfassung und zum interpersonellen Vergleich von Rachefantasien bei Jugendlichen. Dabei werden zum einen die Bedeutung von Rachefantasien für das Individuum, wie etwa die emotionsregulierende Wirkung oder die Einstellung zu Rache, und zum anderen Fantasieinhalte erhoben. In zwei Studien wurden dafür die psychometrischen Eigenschaften von Rachefantasien untersucht. In der ersten Testvorlage wurde der Konstruktionsentwurf des Verfahrens (unterteilt in zwei Teile, zur Erfassung der subjektiven Bedeutung der Fantasien und der Fantasieinhalte) 248 Schülern (davon: 123 männlich) mit einem durchschnittlichen Alter von 14.9 Jahren (SD = 0.89; Range: 14-18 Jahre) vorgelegt. Mittels Hauptkomponentenanalyse wurde eine Dimensionierung der beiden Verfahrensteile durchgeführt. Im Anschluss daran wurden Skalen gebildet. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 443 – 459 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 444 S. Warncke et al. Hieraus entstand eine erste Version des Inventars. In einer Folgeuntersuchung an einer zweiten Stichprobe mit 88 Schülern (davon: 48 männlich) mit einem durchschnittlichen Alter von 14.9 Jahren (SD = 0.72: Range: 14-17 Jahre) konnten vier der in der ersten Untersuchung gefundenen Faktoren repliziert werden. Zudem konnten Zusammenhänge zu Maßen der Aggression, der Prosozialität und körperlichen, sowie psychischen Beschwerden ermittelt werden. Die jetzige Version des Fragebogens besteht aus zwei Testteilen, die aus 18 bzw. 6 Items bestehen. Schlagwörter Rachefantasien – Jugendliche – Emotionsregulation – Fragebogen 1 Theoretischer Hintergrund und Testkonstruktion Rachefantasien stellen ein nicht direkt beobachtbares Phänomen menschlicher Erlebnisverarbeitung dar, das sich nicht auf der Verhaltensebene manifestieren muss (Singer, 1977). Bereits Rache selbst ist ein Phänomen, dessen Ausübung durch vielfältige, in einem komplexen Wirkungsgefüge verzahnte Faktoren beeinflusst wird. Rache wird dabei als Handlung definiert (Gollwitzer, 2004), die den Endpunkt verschiedener intrapsychischer Prozesse markiert und als „an effort by the victim of harm to inflict damage, injury, discomfort, or punishment on the party judged responsible for causing the harm“ (Aquino, Tripp, Bies, 2006, S. 654) angesehen werden kann. Die einer potenziellen Rachehandlung vorausgehenden intrapsychischen Prozesse sind dann Rachefantasien, -wünsche und -kognitionen, die durch eine – zumindest so vom Individuum erlebte – Schädigung ausgelöst wurden (z. B. Aquino et al., 2006; Baron u. Neuman, 1996; Gollwitzer, 2004, 2007; Orth, Maercker, Montada, 2003) und durch einstellungsbezogene (z. B. Rachelegitimation), emotionale (z. B. Wut, Katharsis), situative (z. B. Entschuldigung des Schädigers) und motivationale Faktoren (z. B. Wiederherstellung des Selbstwertes) beeinflusst werden. Da Rachefantasien per se nicht direkt beobachtbar sind, wurde bisher vor allem ihre potenzielle Manifestation in beobachtbaren Rachehandlungen untersucht. Die Forschung zeigt, dass Rachehandlungen ein breites Spektrum umfassen können: von der Verunglimpfung einer Person bis zum Begehen interpersoneller Gewalttaten (z. B. Baron, Neumann, Geddes, 1999; Baron u. Neumann, 1996; Bies u. Tripp, 1996; Crombag, Rassin, Horselenberg, 2003; Pfefferbaum u. Wood, 1994). Obwohl Rache- und Gewaltfantasien somit durchaus in Handlungen münden können, in manchen Deliktbereichen (z. B. Sexualstraftaten oder School Shootings) als tatbegünstigend, wenn nicht sogar tatgenerierend angenommen werden (Burgess, Garbarino, Carlson, 2006; Holmes u. Holmes, 1994) und einige Autoren einen positiven Zusammenhang zwischen aggressiven Fantasien und aggressives Verhalten vermuten (Greenwald u. Harder, 1997; Nagtegaal, Rassin, Murris, 2006), beschrieben hingegen andere Forscher in früheren Arbeiten (z. B. Feshbach, 1955) auch einen aggressionsreduzierenden ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 445 Charakter von Fantasien. Auch bei Nagtegaal et al. (2006) scheinen aggressive Fantasien das Ausmaß aggressiven Handelns zu reduzieren, allerdings nur, sofern sie vom Individuum zugelassen und nicht verdrängt werden. Existierende Rachefantasien bei einem Individuum können daher nicht als hinreichender Indikator für entsprechende Rachehandlungen herangezogen werden. Kenrick und Sheets (1993; s. auch Crabb, 2000) weisen in einer Normalpopulation regelmäßig auftretende Mordfantasien nach dem Erleben einer Schädigung nach. Rachefantasien sind also keineswegs Ausdruck psychopathologischer Symptommuster, sondern durchaus als alltägliches Phänomen und normale Bewältigungsstrategie aufzufassen (Bloom, 2001; Frijda, 1994; Gollwitzer, 2004; Kenrick u. Sheets, 1993). Unter welchen Bedingungen Rache- und Gewaltfantasien handlungsbegünstigend wirken, ist bis zum heutigen Zeitpunkt – trotz der verschiedenen Befunde zum Wirkungsgefüge von Rache – noch nicht geklärt. Die wissenschaftliche Erfassung von Rachehandlungen und der individuellen Ausführungsbereitschaft erfolgt meist mittels offener Fragen (z. B. Cota-McKinley, Woody, Bell, 2001; Schmid, 2005). Dieses Vorgehen beinhaltet jedoch verschiedene Schwierigkeiten, etwa die individuell unterschiedliche Abstraktionsfähigkeit der Teilnehmenden oder gegebenenfalls sozial erwünschtes Antwortverhalten. Andere Autoren erfassen die Bereitschaft zur Ausführung von Rache über Vignetten (Gollwitzer, 2004, 2007; s. auch Cota-McKinley et al., 2001), mithilfe derer sich einzelne Facetten leicht variieren lassen. Jedoch schränken das beim Vignettenverfahren jeweils spezifisch vorgegebene Szenario und die begrenzten, eng definierten Auswahlmöglichkeiten bei der Beantwortung das weite Spektrum möglicher Rachehandlungen ein, sodass stärker idiografische Komponenten des Phänomens nicht untersucht werden können und daher die Validität derartiger Ansätze nicht immer zufriedenstellend ist. Abgesehen von Verfahren, die hauptsächlich die (moralische) Einstellung zum Gegenstand haben, wie beispielsweise die Vengeance Scale (Stuckless u. Goranson, 1992), gibt es keine spezifischen Instrumente zur Erfassung von Rachefantasien. Auch im „Sustaining Fantasy Questionnaire“ (Zelin et al., 1983) werden Rachefantasien lediglich am Rande erfasst. Darüber hinaus ist im deutschen Sprachraum neben den Vignetten von Gollwitzer (2004) nur die Übersetzung der Vengeance Scale durch Maes (1994) verbreitet, wobei keine eigene Validierung für den deutschen Sprachraum erfolgte. Obwohl bereits 1966 Singer (s. auch Singer u. Antrobus, 1970) im „Daydreaming Questionnaire“ zwei mögliche Aspekte zur Operationalisierung von Fantasien vorschlägt, fand diese Vorgehensweise bisher keine weitere Verbreitung. Singer und Antrobus (1970) unterscheiden zwischen sogenannten „Strukturen“ von Fantasien, die die motivationale und emotionale Bedeutung des Phänomens für das jeweilige Individuum beschreiben, und den konkreten (episodischen) Fantasieinhalten. Allerdings spielen Rachefantasien auch im Daydreaming Questionnaire, der sich mit verschiedensten Formen von Tagträumen befasst, nur eine untergeordnete Rolle. Aus unserer Sicht ist die Operationalisierung von Rachefantasien analog zu Singers Vorgehensweise bei „Tagträumen“ ein viel versprechender Forschungsansatz, um das Phänomen mit einem nomothetischen Zugang zu untersuchen. Da es Hinweise darauf 446 S. Warncke et al. gibt, dass die Fantasietätigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt und insbesondere in Bezug auf die Fantasieinhalte von Jugendlichen noch ein großer Forschungsbedarf besteht (Giambra, 2000), richtet sich das hier beschriebene Rachefantasieinventar insbesondere an die Zielgruppe „Jugendliche“ (im Alter von 14-18 Jahren). Der Entwicklung des hier beschriebenen Fragebogens liegt die folgende Definition für Rachefantasien zugrunde, die das Ergebnis einer ausführlichen Literatursichtung ist: „Rachefantasien sind Vorstellungen und gedankliche Auseinandersetzungen als Folge einer vorangegangenen, subjektiv erlebten Ungerechtigkeit, die den Wunsch einer Schädigung des/der (vermeintlichen) Täter/s zum Inhalt haben. Rachefantasien können verschiedene strukturelle Eigenschaften aufweisen und für den Fantasierenden somit mit unterschiedlichen Emotionen, Wertigkeiten und unterschiedlicher Intensität verbunden sein“ (Warncke u. Lippok, 2009, S. 68). Dem Ordnungsschema von Singer und Antrobus (1970) folgend sind wir für das RFI-J von zwei Testteilen ausgegangen: (1) Strukturen (als Testteil, der die subjektive Bedeutung von Rachefantasien für das jeweilige Individuum erfassen soll) und (2) Fantasieinhalte. Für die Skalenkonstruktion wurde die von Fisseni (1997) beschriebene internale Testkonstruktionsstrategie gewählt. Entsprechend dienten die oben erläuterten Forschungsbefunde zu einzelnen Teilfacetten der Konstrukte Rache und Fantasie als Grundlage für die Generierung von potenziell geeigneten Items für das Testverfahren. Für den Testteil „Bedeutung von Rachefantasien für das jeweilige Individuum“ dienten im Wesentlichen folgende Themenfelder als Ausgangspunkte für die Itemgenerierung: 1. Emotionsregulation als Komponente der angenommenen positiven Wirkung von Rachefantasien für die eigene Emotionsregulation (Beispielitem: „Wenn ich in Gedanken meine Wut auslebe, geht es mir besser“). 2. Perseveration als Komponente der Dauer und Intensität von Rachefantasien (Beispielitem: „Je länger ich über meine Rache nachdenke, desto intensiver werden diese Gedanken“). 3. Rachelegitimation als moralische, individuelle Bewertung von Rache (Beispielitem: „Rache lohnt sich nicht, denn sie erzeugt nur neue Gewalt“). Dieser Themenbereich betrifft die Struktur von konkreten Rachefantasien eher indirekt, wurde aber zur Erforschung des Phänomens und seiner Bedeutung für das jeweilige Individuum als relevant angesehen und daher mit aufgenommen. 4. Handlungsbereitschaft als Bereitschaft, Rachefantasien auch in die Tat umzusetzen (Beispielitem: „Legt man sich mit mir an, bekommt man auf alle Fälle eine Abreibung verpasst“). Auch dieser Bereich betrifft eher indirekt die Struktur von Rachefantasien, erschien aber ebenfalls zur Erforschung der Bedeutung des Phänomens für ein Individuum wichtig und wurde daher mit einbezogen. Für die Fantasieinhalte wurden im Wesentlichen die folgenden vier Themenbereiche zu Grunde gelegt: 1. Physische Aggression für Fantasien, die körperliche Angriffe beinhalten (Beispielitem: „Ich male mir aus, diese Person in einem Kampf zu besiegen“). ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 447 2. Relationale Aggression für Fantasien, bei welchen der Status oder die Beziehung des vermeintlichen Schädigers in seiner sozialen Gruppe angegriffen werden (Beispielitem: „Ich male mir aus, Gerüchte über diese Person in Umlauf zu bringen“). 3. Passive Aggression, bei der dem Schädiger ein Unglück widerfährt, ohne dass der Fantasierende selbst handelt (Beispielitem: „Ich male mir aus, wie sich die Person in einer peinlichen Lage befindet“) und 4. Materielle Aggression, bei der in der Fantasie aggressive Handlungen gegen Eigentum des Schädigers ausgeführt werden (Beispielitem: „Ich male mir aus, wie ich Dinge von dieser Person kaputt mache“). Bei der Itemkonstruktion wurde besonderer Wert auf für Jugendliche möglichst lebensnahe Formulierungen gelegt. Um dies zu gewährleisten, wurden im Vorfeld Schüler, Studierende und Lehrkräfte in Bezug auf die Verständlichkeit und Akzeptanz der Items befragt und Verbesserungsvorschläge der Befragten berücksichtigt. Der erste Konstruktionsentwurf des RFI-J setzte sich aus 49 Strukturitems sowie 19 Items zur Erfassung von Fantasieinhalten zusammen, die auf Basis der zuvor beschriebenen Konzepte entworfen wurden. Als Beantwortungsschema wurde für alle Items eine vierstufige Likertskala mit den Ausprägungen „1 = trifft nicht zu“, „2 = trifft eher nicht zu“, „3 = trifft eher zu“ und „4 = trifft zu“ verwendet. Auf eine mittlere Antwortkategorie wurde dabei bewusst verzichtet, um Verfälschungen, die im Rahmen der Ambivalenz-Indifferenz-Problematik auftreten können, entgegenzuwirken (vgl. Bortz u. Döring, 2006) 2 Studie 1 2.1 Methode 2.1.1 Stichprobe Der Fragebogen mit den konstruierten 49 Items zur subjektiven Bedeutung von Rachefantasien- und 19 Fantasie-Inhaltsitems wurde in einer ersten Studie im Zeitraum von September bis Oktober 2008 248 Berliner Schülerinnen und Schülern aus zwei Gymnasien und je einer Haupt- und Realschule vorgelegt. Die Auswahl der Stichprobe erfolgte über eine Zufallsziehung von je 15 Schulen pro Schulform (Haupt-, Realschulen, Gymnasien) auf Grundlage des Berliner Gesamtschulverzeichnisses der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Allerdings erklärten sich dann nur vier Schulen zur Teilnahme bereit, sodass die ursprünglich intendierte Stichprobe nicht zu Stande kam. Insgesamt nahmen 123 Jungen und 121 Mädchen an der Untersuchung teil, dabei gaben zwei Jugendliche kein Geschlecht an. Das Durchschnittsalter der Befragten betrug 14.9 Jahre (SD = 0.89; Range: 14-18 Jahre). Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig. Zwei Fragebögen mussten aufgrund nicht ernsthafter Beantwortung bzw. Verweigerung der Teilnahme von den weiteren Auswertungen ausgeschlossen werden. 448 S. Warncke et al. 2.1.2 Durchführung und Instrumente Die Schüler füllten den Fragebogen, jeweils im Klassenverband in ihren Klassenräumen aus. Während der Teilnahme war eine Lehrkraft anwesend, griff jedoch nicht in die Testsituation ein. Für die gesamte Testdurchführung wurden jeweils 90 Minuten veranschlagt. Die eigentliche Bearbeitungszeit betrug etwa 60 Minuten. 2.2 Ergebnisse Die Items der beiden Testteile wurden mit einer Hauptkomponentenanalyse (Principle Component Analysis [PCA] mit Varimax-Rotation) und paarweisem Fallausschluss analysiert. Aufgrund der bisher nur sehr rudimentären Forschungslage zu Rachefantasien wurde lediglich eine Dimensionsreduktion der im Fragebogen enthaltenen Items angestrebt. Hier ist die Hauptkomponentenanalyse die geeignete Methode (vgl. Bortz u. Schuster, 2010). Items, die ungünstige Ladungsstrukturen zeigten, wurden zunächst sukzessive eliminiert. Die verbleibenden 25 Items (Testteil „subjektive Bedeutung von Rachefantasien“) ergaben nach der PCA eine fünfdimensionale Lösung mit den in Tabelle 1 (s. Online-Material)1 dargestellten Ladungsmustern. Die inhaltliche Zuordnung der Skalen wurde wie folgt vorgenommen: Ablehnende Einstellung gegenüber Rache (Skala Racheablehnung, Eigenwert 8.35), Emotionsregulierende Funktion von Rachefantasien (Eigenwert 2.81), die Bereitschaft dazu, Rachefantasien und -gedanken, Handlungen folgen zu lassen (Skala Handlungsbereitschaft, Eigenwert 1.97), Intensität und zeitliche Dauer von Rachefantasien (Skala Perseveration, Eigenwert 1.19) sowie negative Emotionalität bezüglich Rache (Skala Negative Emotionalität, Eigenwert 1.19). Die kumulierte Varianzaufklärung betrug 61.63 %. Die Faktorenstruktur der Inhaltsitems wurde ebenfalls mittels PCA mit VarimaxRotation und paarweisem Fallausschluss überprüft. Von den ursprünglich konstruierten 19 Items wurden 12 Items beibehalten, die anderen Items wurden wegen schlechter Ladungsmuster sukzessive eliminiert. Für diese 12 beibehaltenen, in Tabelle 2 (s. Online-Material) dargestellten Items ergab sich eine dreidimensionale Lösung mit den Eigenwerten 3.93 (Faktor 1), 1.97 (Faktor 2) und 1.06 (Faktor 3). Die kumulierte Gesamt-Varianzaufklärung betrug 58.02 %. Inhaltlich wurden die Faktoren wie folgt zugeordnet: Physische Aggression (5 Items, Ladungshöhen von 0.56 bis 0.84), Relationale Aggression (5 Items, Ladungshöhen von 0.56 bis 0.87) sowie Talionsprinzip „wie du mir, so ich Dir“ (2 Items, Ladungshöhen von 0.7 bis 0.84). 2.3 Zusammenfassung In der ersten Studie konnten Hinweise auf die Dimensionalität von Rachefantasien sowie die Akzeptanz und Nützlichkeit des konstruierten Rachefantasieinventars er1 Das ergänzende Material ist online verfügbar. ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 449 arbeitet werden. Die dimensionsreduzierenden Analysen erbrachten verschiedene, voneinander unterscheidbare Komponenten von Rachefantasieinhalten und der subjektiven Bedeutung von Rachefantasien. 3 Studie 2 3.1 Methode 3.1.1 Stichprobe In einer zweiten Studie wurden die in der ersten Version nach der statistischen Analyse beibehaltenen Items einer neuen Stichprobe vorgelegt, um erste Schritte einer Validierung und Weiterentwicklung des Verfahrens durchzuführen. Die zweite Stichprobe setzte sich aus 40 Schülerinnen und 48 Schülern eines sächsischen Gymnasiums zusammen. Das Durchschnittsalter in dieser Stichprobe betrug ebenfalls 14.9 Jahre (SD = 0.72: Range: 14-17 Jahre). 3.1.2 Durchführung und Instrumente Bei dieser Testvorlage wurde auch eine erste Validierung des Verfahrens vorgenommen. Zur Validierung wurden den Jugendlichen, neben den 37 Items der nach der ersten Studie entstandenen RFI-J-Version, die aus 5 Items bestehende Skala „prosoziales Verhalten“ der deutschsprachigen Version des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) nach Goodman (2001) vorgelegt. Zudem beinhaltete der Fragebogen die aus 27 Items bestehende deutsche Übersetzung des Aggressionsfragebogens von Buss und Perry AF-BP (Herzberg, 2003), zur Erfassung der Aggressionsdimensionen körperliche Aggression, verbale Aggression, Ärger und Feindseligkeit. Ferner wurden physische und psychische Belastungssymptome über die 9 Items umfassende, deutschsprachige Symptom-Checkliste Kurzversion (SCL-K9) (Klaghofer u. Brähler, 2001) erhoben. Die Vorlage noch weiterer Verfahren zur Validierung war in dieser Testung aus zeitlichen Gründen und um Überlastung auf Seiten der Jugendlichen durch lange Testungen zu vermeiden nicht realisierbar. Die Schüler füllten den Fragebogen in ihren Klassenräumen aus. Während der Teilnahme war eine Lehrkraft anwesend, griff jedoch nicht in die Testdurchführung ein. Der gesamten Durchführung wurden 90 Minuten zugestanden. Die eigentliche Bearbeitungszeit betrug etwa 60 Minuten. 450 S. Warncke et al. 3.2 Ergebnisse 3.2.1 Ergebnisse der Faktorenanalysen Die Items der beiden Testteile wurden erneut mit einer Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation und paarweisem Fallausschluss analysiert. In der zweiten Testvorlage ergab sich ebenfalls eine fünfdimensionale Lösung (vgl. Tab. 1). Die Eigenwerte der identifizierten fünf inhaltlichen Komponenten Racheablehnung, Emotionsregulation, Handlungsbereitschaft, negative Emotionalität und Perseveration betrugen 6.05, 4.44, 2.77, 2.55 und 1.52. Die kumulierte Varianz der fünf Dimensionen betrug 69 %. Vier der fünf Items, die bei der Ersterhebung der Skala Handlungsbereitschaft zugeordnet wurden, wiesen in der zweiten Studie starke Nebenladungen auf anderen Faktoren auf (vgl. Tab. 1). Zwei der drei Items der Perseverationsskala luden ebenfalls relativ hoch auf einen weiteren Faktor (> 0.5). Eine Bildung der Skala Handlungsbereitschaft wäre somit nur noch mittels zweier Items möglich gewesen. Die „Skala“ Perseveration hätte nur noch aus einem Item bestanden. Da Faktoren, welchen faktorenanalytisch weniger als drei Items zugeordnet werden können, kaum zu interpretieren sind (vgl. Costello u. Osborne, 2005), wurden beide Skalen aus der weiteren Analyse ausgeschlossen. Werden ausschließlich diejenigen Items berücksichtigt, die in beiden Untersuchungen einem vergleichbaren Faktor zugeordnet werden konnten, ergeben sich die Skala Racheablehnung aus 8 Items, die Skala Emotionsregulation aus 7 Items und die Skala Negative Emotionalität aus 3 Items. Eine Übersicht über diese Items, die Skalenzuordnung und die zugehörigen Antwortausprägungen der einzelnen Items aus beiden Studien findet sich in den Tabellen 3 und 4 (s. Online-Material). Die Faktorenstruktur der Inhaltsitems wurde wieder mittels PCA mit Varimax-Rotation und paarweisem Fallausschluss analysiert (vgl. Tab. 2). Die Eigenwerte der drei aus den zwölf Inhaltsitems extrahierten Komponenten betrug 3.27, 2.84, und 1.60. Die kumulierte Varianz der drei Faktoren betrug 64 %. Drei der fünf Items, die in Studie 1 der Skala Relationale Aggression zugeordnet wurden, luden in Studie 2 erneut auf eine gemeinsame Dimension. Drei der fünf Items der in Studie 1 gebildeten Skala Physische Aggression luden ebenfalls erneut hoch auf einen gemeinsamen Faktor. Die beiden Items der Skala Talionsprinzip luden hingegen in Studie 2 am höchsten auf einen Faktor, dem darüber hinaus vor allem die Items zur relationalen Aggression zuzuordnen waren. Die Skalen Physische Aggression und Relationale Aggression konnten somit in Studie 2 partiell bestätigt werden, die Skala Talionsprinzip hingegen nicht. Zudem ist auffällig, dass das Item „Ich male mir aus, wie ich allen die Wahrheit über die Person erzähle“ nun auf alle drei Skalen mit einem Wert von > 0.4 lud. Werden erneut nur die Items betrachtet, die in beiden Studien gleichen Faktoren zugeordnet werden konnten, ergeben sich zwei Skalen mit jeweils drei Items. Diese Items sind in den Tabellen 5 und 6 (s. Online-Material) mit ihren deskriptiven Kennwerten in der jeweiligen Studie aufgeführt. ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 451 Wie in Tabelle 7 ersichtlich ist, weisen die Alpha-Werte der drei Skalen Racheablehnung (α = .89 vs. .90), Emotionsregulation (α = .84 vs. .90) und Negative Emotionalität (α = .71 vs. .85) in beiden Studien auf eine gute Reliabilität der drei Skalen hin. Die Skala Racheablehnung wies sowohl einen Zusammenhang mit der Skala Negative Emotionalität (r = .35 vs. .43), als auch mit der Skala Emotionsregulation auf (r = -.35 vs. -.36). Die Inhaltskala relationale Aggression wies in der zweiten Studie eine gute Reliabilität von α = .86 (in der Erststudie α = .71) auf, die interne Konsistenz der Inhaltskala physische Aggression war mit einem Wert von α = .76 (in der Erststudie α = .78) zufriedenstellend. Die beiden Skalen korrelierten zu r = .42 (in der ersten Studie r =.29) miteinander. Die Inhalts- und Bedeutungsskalen des RFI-J untereinander weisen ebenfalls einige Zusammenhänge auf. So geben in der ersten Studie beispielsweise Rache ablehnende Jugendliche weniger physisch- und relational-aggressive Fantasieinhalte an (r = -.68 bzw. r = -.25). Jugendliche, die Rachefantasien als zuträglich für ihr emotionales Wohlbefinden erleben, berichten in beiden Studien häufiger von physischen und relationalaggressiven Rachefantasien (r = .49 bzw. r =.43). Eine genauere Analyse des Zusammenhanges zwischen Fantasieinhalten und der persönlichen Bedeutung der Fantasien bedarf als inhaltliche Fragestellung weiterer Untersuchung. Tabelle 7: Skaleninterkorrelationen, jeweils Studie 1/2, auf der Diagonalen α-Werte nach Cronbach der Skalen in Studie 1 bzw. 2 Racheablehnung Neg. Emotionalität Emotionsregulation Physische Aggression Relationale Aggression 4 Racheablehnung Negative Emotions- Physische Relationale Emotionalität regulation Aggression Aggression .89/ .90 .35/.43 .71/.85 -.35/-.36 -.30/-.02 .84/.90 -.68/-.39 -.34/-.19 .49/.47 .78/.76 -.25/-.59 -.12/-.30 .43/.47 .40/.42 .71/.86 Validierung Die Korrelationen zwischen den Inhalts- und Strukturskalen des RFI-J und Skalen des AF-BPs, der SCL-9 und des SDQ sind in Tabelle 8 (folgende Seite) dargestellt, eine genauere Darstellung der Korrelationen mit Einzelitems der SCL-9 findet sich in Tabelle 9 (s. Online-Material). Um die bivariaten Zusammenhänge zwischen den Variablen zu errechnen, wurde aufgrund der Schiefe der Antwortverteilung und der relativ kleinen Stichprobe Kendalls τ verwendet. 4.1 Korrelationen mit Maßen der Aggressionsneigung In Studie 2 wurde ein korrelativer Zusammenhang zwischen Form und Inhalt von Rachefantasien und der persönlichen Tendenz zu aggressivem Verhalten und Erleben mittels des AF-BP überprüft. Die Skala „physische Aggression“ des AF-BP 452 S. Warncke et al. wies signifikante positive Zusammenhänge zu beiden Inhaltsskalen des RFI-J auf und korrelierte negativ mit den Bedeutungsskalen Negative Emotionalität und Racheablehnung. Besonders fallen dabei der deutlich negative Zusammenhang der Skala des AF-BP mit der Skala zur Racheablehnung (-.35, p < .001) und der deutlich positive Zusammenhang zu Fantasieinhalten mit physischer Gewalt (r =.43, p < .001) auf. Kein signifikanter Zusammenhang zeigte sich zwischen der Bereitschaft zu physischer Aggression und der RFI-J Strukturskala zu Emotionsregulation. Die Bereitschaft zu verbaler Aggression wies, mit Ausnahme der Skala Negative Emotionalität, signifikante Korrelationen zu allen Skalen des RFI-J auf. So zeigte sich unter anderem ein mittlerer negativer Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zu verbaler Aggression und einer ablehnenden Einstellung gegenüber Rache. Beide Fantasieinhaltsskalen des RFI-J korrelierten positiv mit der Bereitschaft zu verbaler Aggression nach AF-BP. Tabelle 8: Korrelationen des RFI-J mit SCL-9, AF-BP und SDQ-Prosozialität SCL 9 1 AF-BP Phys AF-BP Verb AF-BP Feinds AF-BP Aerger SDQ-PROSO Emotionsregulation 3/9 .225** .124 .213** .289*** .261 *** -.077 Negative Emotionalität 4/9 .120* -.172* -.060 .177* .100 .191* Racheablehnung Physische Aggression 0/9 .051 2/9 .167* -.346*** .429*** -.349*** .313*** -.076 .273*** -.169* .309 *** .058 -.148 Relationale Aggression 5/9 .241** .163* .412*** .289 *** .385 *** -.045 * p < 0.05, ** p< 0.01, *** p<0.001 1 Angegeben sind die Anzahl der signifikanten Zusammenhänge mit einzelnen Symptomitems der SCL-9 sowie die Korrelation mit der Gesamtskala der SCL-9, für eine detaillierte Darstellung siehe Tabelle 9 (online verfügbar) Sämtliche Skalen des RFI-J, mit Ausnahme der Skala Racheablehnung, korrelierten positiv mit der Skala Feindseligkeit des AF-BP. Auffällig ist insbesondere der hoch signifikante Zusammenhang der Skala Feindseligkeit mit der Skala Emotionsregulation des RFI-J (r = .29, p < .001). Jugendliche, die sich selbst als verbittert oder misstrauisch beschrieben, gaben damit vergleichsweise häufig an, Rachefantasien zu nutzen um ihren Ärger zu regulieren. Die Skala Ärger des AF-BP wies Zusammenhänge mit den RFI-J Strukturskalen Emotionsregulation, Racheablehnung, physische Racheinhalte und relationale Racheinhalte auf. Wie zuvor schon bei der Skala Feindseligkeit, zeigte sich auch bei der Skala Ärger ein hochsignifikanter Zusammenhang mit der Tendenz, Rachefantasien als Mittel zur Emotionsregulation zu nutzen. Der Zusammenhang zwischen Ärgererleben und Racheablehnung fiel schwach negativ aus. ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 453 4.2 Korrelationen mit Maßen körperlicher und psychischer Beschwerden Mithilfe der neun Items des SCL-9 wurden Zusammenhänge zwischen psychischen und physischen Beschwerden und den Skalen des RFI-J überprüft. Mit Ausnahme der Skala Racheablehnung korrelierten alle Skalen des RFI-J positiv mit der aggregierten Ausprägung verschiedener mit dem Verfahren erfasster körperlicher oder psychischer Beschwerden. Insbesondere das Fantasieren über relationale Rache, das Einsetzen von Rachefantasien zur Emotionsregulation sowie negative Gefühle bezüglich Rachefantasien korrelierten positiv mit dem Ausmaß erlebter Belastungssymptome. Eine detaillierte Übersicht über Zusammenhänge zwischen den Skalen des RFI-J und den im SCL-9 erhobenen Einzelitems findet sich in Tabelle 9 (s. Online-Material). 4.3 Korrelationen mit Maßen der Prosozialität Die Skalen des RFI-J wiesen nur im Falle der negativen Emotionalität einen niedrigen, allerdings signifikanten positiven Zusammenhang zur Skala Prosozialität des SDQ auf. Jugendliche, die angaben, nach dem Erleben von Rachegefühlen negative Emotionen zu empfinden, berichteten demnach häufiger davon, prosoziales Verhalten zu zeigen. Die Skalen Emotionsregulation, Racheablehnung sowie die beiden Racheinhaltsskalen physische Aggression und relationale Aggression wiesen hingegen keine bedeutsame Korrelation zu mittels Selbsteinschätzung gezeigtem prosozialen Verhaltens auf. 5 Diskussion Das Ziel der beiden vorgestellten Studien war, Rachefantasien mittels eines nomothetischen Zugangs psychometrisch zu erfassen. Hierzu wurden zwei Testteile, zur Erfassung der subjektiven Bedeutung sowie zu Inhalten von Rachefantasien, konstruiert und mithilfe von Hauptkomponentenanalysen untersucht. Die in Studie 1 sich ergebenden Itemzusammenhänge zeigten sich zum Teil auch in Studie 2. Die Bedeutungs-Skalen Racheablehnung, Negative Emotionalität und Emotionsregulation konnten komplett repliziert werden. Die Skalen Handlungsbereitschaft und Perseveration konnten hingegen in Studie 2 nicht eindeutig repliziert werden. Für den Testteil Fantasieinhalte wurden die Skalen physische und relationale Inhalte bestätigt. Zukünftige Untersuchungen mit größerer Stichprobe bzw. unter zusätzlicher Berücksichtigung möglicherweise von der Norm abweichender Populationen könnten weitere Klarheit hinsichtlich der Dimensionalität der Konstrukte beider Testteile liefern. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht das Verfahren für den Testteil „subjektive Bedeutung von Rachefantasien“ aus 18 Items, die sich auf die Skalen Racheablehnung (8 Items), Negative Emotionalität (3 Items) und Emotionsregulation (7 Items) verteilen. Der Testteil Fantasieinhalte besteht aus 6 Items, die sich auf die Skalen Physische Aggression und Relationale Aggression (jeweils 3 Items) aufteilen. 454 S. Warncke et al. Der Fragebogen in seiner jetzigen Form sowie eine Auswertungsempfehlung sind im zu diesem Artikel gehörigen Online-Material verfügbar. Wir empfehlen, für die drei Skalen zum Testteil subjektive Bedeutung sowie analog für die beiden Skalen des Testteils Fantasieinhalte je separat einen Summenscore zu bilden und das jeweilige Ergebnis ohne eine weitere Verrechnung festzuhalten. Pro Item wird für „trifft nicht zu“ jeweils der Wert 1 vergeben, dann aufsteigend die Werte 2 und 3 bis zum Wert 4 für „trifft zu“. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der den verschiedenen Skalen zugrundeliegenden Dimensionen und der nur bedingt auftretenden Interskalenkorrelationen erscheint uns eine weitere Verrechnung im Sinne eines Gesamtscores für den jeweiligen Testteil bzw. sogar für das gesamte Testverfahren nicht angebracht. Da zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Untersuchungen mit einer repräsentativen Normstichprobe vorliegen, sind über den Vergleich der Werte zweier Testteilnehmer hinaus noch keine Aussagen im Hinblick auf einen Zusammenhang Individuum-Population möglich. Auch Aussagen, ab welcher Ausprägung der Testergebnisse eines Individuums ein „kritischer Wert“ vorliegt bzw. ein Einschreiten erforderlich wäre, können im Moment noch nicht aus den Ergebnissen abgeleitet werden. Hierzu kann eine bereits angelaufene Studie mit einer klinischen Population gegebenenfalls nähere Erkenntnisse bringen. Wie angenommen zeigen Rachefantasien inhaltliche Nähe zum Konstrukt Aggressivität, sodass mithilfe des AF-BP ein Nachweis einer konvergenten Validität erfolgen konnte. So korreliert die AF-BP-Skala „Physische Aggression“ hochsignifikant mit der RFI-JSkala für physische Rachefantasien, sodass hier ein Zusammenhang mit Rachefantasien physischen Inhalts und einer entsprechenden, dann folgenden, physisch-aggressiven Handlung angenommen werden kann. Die Skala „Relationale Rachefantasieinhalte“ hängt mit der AF-BP Skala physische Aggression wesentlich schwächer zusammen, wohingegen die AF-BP Skala „Verbale Aggression“ relativ hohe Zusammenhänge sowohl mit der Skala für physisch aggressive Rachefantasieinhalte als auch für relational aggressive Rachefantasieinhalte aufweist. Dies lässt darauf schließen, dass höhere Ausprägungen bei relationalen Rachefantasien aber auch bei physischen Rachefantasien eher in verbal-aggressive Handlungen münden können. Der Zusammenhang von gewalthaltigen Fantasien mit der berichteten Bereitschaft, tatsächlich aggressive Handlungen auszuüben, wurde bereits mehrfach bestätigt (Anestis, Anestis, Selby, Joiner, 2009; Nagtegaal et al., 2006). Darüber hinaus ist es plausibel, dass eine ablehnende Haltung gegenüber Rachehandlungen (RFI-J-Skala „Racheablehnung“) auch mit einer geringeren Bereitschaft, aggressive Handlungen auch auszuführen (signifikant negative Korrelationen mit den AF-BP-Skalen „physisch“ und „verbal“ von -.346 bzw. -.349) von aggressiven Handlungen im Allgemeinen einhergeht. Dieser Zusammenhang besteht hingegen mit den weniger handlungsbezogenen AF-BP-Skalen „Feindseligkeit“ und „Ärger“ in wesentlich geringerem Maß. Der positive Zusammenhang zwischen den RFI-J-Skalen Fantasieinhalte mit „Physischer Aggression“ sowie „Relationaler Aggression“ und den AF-BP-Skalen „Ärger“ und „Feindseligkeit“ war ebenfalls zu erwarten. Interessant ist der positive Zusammenhang zwischen der RFI-J Skala „Emotionsregulation“ mit allen Skalen des ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 455 AF-BP (hiervon dreimal signifikant). Daraus lässt sich schließen, dass Jugendliche mit stärkerem Aggressionspotenzial auch stärker dazu neigen, Rachefantasien dazu einzusetzen, ihre diesbezüglichen Emotionen zu regulieren, was in anderen Studien ebenfalls bereits berichtet wurde (vgl. Greenwald u. Harder, 1997). Die Zusammenhänge zwischen dem Berichten von Rachefantasien und dem Berichten von physischen und psychischen Beeinträchtigungen, so insbesondere starke positive Korrelationen zwischen negativer Emotionalität von Rachefantasien bzw. relational aggressiven Rachefantasien und Items der SCL-9, sind einleuchtend und deuten auf eine valide Erfassung hin. So wurden negative Folgen vom Fantasieren über Rache bereits bei Menschen mit zuvor erlebten Traumata nachgewiesen (vgl. Orth et al., 2003). Darüber hinaus konnten negative Folgen weiterer Fantasieinhalte auch in der Normalbevölkerung erkannt werden (vgl. Mar, Mason, Litvack, 2012). Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Rachefantasien zur Emotionsregulation und körperlichen sowie psychischen Symptomen ist ebenfalls plausibel, vergleicht man diese Ergebnisse mit Ergebnissen aus Studien zu ähnlichen dysfunktionalen Bewältigungsstilen (vgl. Vandervoort, 2006). Zwischen den mit der Skala „Prosozialität“ der SDQ erhobenen Ergebnissen und den Skalen Racheablehnung, Emotionsregulation und beiden Fantasieinhaltsskalen ergab sich kein signifikanter Zusammenhang, was auf eine Unabhängigkeit beider Konstrukte voneinander und somit diskriminante Validität hindeutet. Die niedrige, jedoch signifikante Korrelation zwischen Prosozialität und der Skala negative Emotionalität kann dadurch erklärt werden, dass insbesondere bei Jugendlichen prosoziales Verhalten auch mit moralischen Annahmen verknüpft ist (z. B. Malti, Gummerum, Keller, Buchmann, 2009). Es ist daher anzunehmen, dass Jugendliche, die oft prosoziales Verhalten zeigen, den Widerspruch zwischen dem eigenem Verhalten und den negativen Fantasien als stärker unangenehm erleben. 6 Limitationen und Perspektiven Die hier dargestellten Untersuchungen umfassen die Konstruktion des Instruments, die Dimensionalisierung zur Skalenbildung sowie erste Studien zu einer Validierung des Verfahrens. Trotz erster Validierungsnachweise erscheinen weitere Untersuchungen angebracht. So beanstandete bereits Gollwitzer (2004), dass bislang noch keine ausreichende konzeptuelle Abgrenzung zwischen den Konstrukten Rache, Rachefantasie und Aggression erfolgt ist. In diesem Zusammenhang scheint insbesondere auch das Konstrukt Vergebung relevant, da einzelne Forschungsbefunde auf negative Zusammenhänge zwischen Vergebungstendenzen und Rachefantasien sowie der Tendenz zu Rachehandlungen schließen lassen (z. B. Berry, Worthington, O´Connor, Parrott, Wade, 2005; Brown, 2004; McCullough, Bellah, Kilpatrick, Johnson, 2001). Weiterhin sollten auch die Zusammenhänge von Rachefantasien und Persönlichkeitseigenschaften wie Neurotizismus 456 S. Warncke et al. oder Extraversion in zukünftigen Studien noch genauer untersucht werden. Zudem sind zukünftige Erhebungen mit größerem Stichprobenumfang wünschenswert. Außerdem sind weitere Konstrukte denkbar, die mit Rachefantasien und einem sie beinhaltenden psychometrischen Instrument in Verbindung gebracht werden können. Es bietet sich beispielsweise an zu untersuchen, in welchen Fällen bei Jugendlichen Rachefantasien an die Stelle von external auf Handlungen hin gerichteten Bewältigungsverhaltens treten können. So könnte überprüft werden, ob chronische Verbitterung als Erlebensweise, die nach einem Trauma external ausgerichtetes Bewältigung bedingen kann, auch eine Grundlage für Rachefantasien darstellt (z. B. Linden, Schippan, Baumann, Spielberg, 2004; Gäbler u. Maercker, 2011) und ob diese in der Folge eine spezifische Form annehmen. Das Instrument soll daher auch als erster Anhaltspunkt und Anregung für weitere Forschungsgruppen dienen, sich diesem in der Psychologie als Wissenschaft bisher nur wenig beachteten Phänomen zu nähern. Unbefriedigend sind die bisherigen Ergebnisse zum Teilkonstrukt Perseveration, da diese Skala in der zweiten Testvorlage nicht bestätigt werden konnte. Da zum jetzigen Stand der Forschung auch noch nicht geklärt ist, ob sich langfristig gehegte Rachefantasien strukturell grundlegend von kurzfristigen, auf konkrete Ereignisse bezogenen Rachefantasien unterscheiden, sind hier weitere Untersuchungen angebracht. Megargee, Cook und Mendelssohn (1967) berichten in einer Validierungsstudie einer Skala zum Konstrukt „Overcontrolled Hostility“, die sie in einer US-amerikanischen Jugendarrestanstalt durchführten, von zwei sich grundlegend unterscheidenden Teilpopulationen – zum einen Jugendliche, die eine lange Liste kleiner, sich häufig bezüglich ihrer Schwere graduell steigernder Delikte aufwiesen, zum anderen Jugendliche, die in ihrem bisherigen Lebenslauf nicht straffällig geworden sind, dann aber quasi unvorhergesehen ein relativ schwerwiegendes, oft lange geplantes Delikt begangen haben. Sie stellen daher die These auf, dass Jugendliche der zuletzt genannten Gruppe über einen längeren Zeitraum ihre Aggressionen verbergen bzw. kontrollieren, schließlich aber die gesamte aufgestaute Aggression in einem Kapitalverbrechen mündet. In diese Richtung argumentiert auch Vidmar (2001). Es wäre daher interessant, in einer entsprechenden Stichprobe auch Untersuchungen zur Ausprägung der Perseveration von Rachefantasien durchzuführen. Hierzu sollte der RFI-J einer klinisch-psychiatrischen Population oder auch sich in Haft befindlichen Jugendlichen vorgelegt werden. Insbesondere im Fall von Jugendlichen mit der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, etwa mit narzisstischen oder passiv-aggressiven Tendenzen oder auch einer posttraumatischen Belastungsstörung, deuten verschiedene Befunde darauf hin, dass diese Störungsbilder mit erhöhten Rachewünschen und Rachefantasien einhergehen (Berenson, Downey, Rafaeli, Coifman, Paquin, 2011; Raskin u. Novacek, 1991). Eine entsprechende Untersuchung ist bereits angelaufen. Darüber hinaus ist in weiteren Studien eine Normierung des RFI-J mittels einer größeren Stichprobe anzustreben, ebenso wie eine Überprüfung des Verfahrens bei Erwachsenen. ipabo_66.249.69.239 Das Rachefantasieinventar für Jugendliche (RFI-J) 457 Fazit für die Praxis Das Rachefantasieinventar für Jugendliche ist ein neuer Ansatz, Erkenntnisse über ein bisher mit quantitativ-psychologischen Methoden wenig erforschtes Gebiet des menschlichen Erlebens zu gewinnen. Einsatzmöglichkeiten sehen wir etwa im Bereich der Diagnostik im schulpsychologischen oder jugendpsychiatrischen Kontext. Insbesondere bei eher introvertierten Jugendlichen, die dennoch Rachefantasien haben, unter denen sie unter Umständen leiden, bietet der RFI-J die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu erhalten. Diese können dann für eine möglichst individuell passende Planung der therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt werden. Zusatzmaterial zu diesem Beitrag finden Sie zum Herunterladen auf der Detailseite von Jahrgang 64 der „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie“, Heft 64,6, unter www.v-r.de Literatur Anestis, M. D., Anestis, J. C., Selby, E. A., Joiner, T. E. (2009). Anger rumination across forms of aggression. Personality and Individual Differences, 46, 192-196. doi:10.1016/j. paid.2008.09.026 Aquino, K., Tripp, T. M., Bies, R. J. (2006). Getting even or moving on? Power, procedural justice and types of offense as predictors of revenge, forgiveness, reconciliation and avoidance in organizations. Journal of Applied Psychology, 91, 653-668. Baron, R. A., Neuman, J. H. (1996). Workplace violence and workplace aggression: Evidence on their relative frequency and potential causes. Aggressive Behavior, 22, 161-173. Baron, R. A., Neuman, J. H., Geddes, D. (1999). 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Stephan Warncke, Freie Universität Berlin, FB Erziehungswissenschaft und Psychologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin; E-Mail: [email protected] Stephan Warncke, Felix Klapprott und Herbert Scheithauer, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Freie Universität Berlin AUS KLINIK UND PRAXIS „Was ich am richtigen Leben nicht so schätze“ Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen – Fallstudie Marie Gerlach und Bernd Traxl Summary “What I don‘t Appreciate in Real Life”: Online Role Playing Game Addiction of an Adolescent – Case Study The present article aims to provide an insight into the life story of a computer-game addicted adolescent. Here, the relationship between the symptom game addiction, the family as a reference framework, the game’s characteristics, as well as the subjective emotional state of the adolescent are of particular interest. An emphasis is also laid on the psychodynamically approached question of the impact of infantile and current relationship experiences (both within a family environment as well as with peers) on personal development. Last, still within a psychodynamic framework, we hope to provide a better understanding of the role of online computer-game addiction in the process of experiences potentially dominated by conflicts. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 460-479 Keywords computer-game addiction – adolescence – World of Warcraft – psychodynamics Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag soll einen Einblick in die Lebensgeschichte eines Jugendlichen mit Computerspielsucht vermitteln. Für uns von besonderem Interesse sind dabei die Verbindungen zwischen dem individuellen Symptom, dem Bezugsrahmen Familie, den Merkmalen des Spiels und dem subjektiven emotionalen Zustand des Jugendlichen. Im Vordergrund steht also die psychodynamisch orientierte Frage, welchen Einfluss frühkindliche und aktuelle Beziehungserfahrungen, sei es innerhalb der Familie oder im sozialen Umfeld von Gleichaltrigen, auf die persönliche Entwicklung nehmen und welche Rolle die Online-Computerspielsucht in einem potenziell konflikthaften Erleben und dessen Verarbeitung spielt. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 460 – 479 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 461 Schlagwörter Computerspielsucht – Jugendliche – World of Warcraft – Psychodynamik 1 Hintergrund Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der AG Sonderpädagogik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz werden die biografischen Verläufe von Jugendlichen mit Computerspielsucht untersucht. Die qualitativ angelegten Einzelfallstudien1 setzen sich aus einer Triangulation von teilnehmenden Beobachtungen in der Familie, narrativ biografischen Interviews mit den Jugendlichen und der Analyse von lebensgeschichtlichen Hintergrundinformationen in Form von familienanamnestischen Daten zusammen. Uns interessiert dabei einerseits, welche Rolle das eigene biografische Verständnis, die subjektiven Erfahrungen im familiären Kontext und das aktuelle Erleben der Jugendlichen an der Generierung des Suchtverhaltens spielen, und andererseits, welche Form von Selbstzuständen, emotionaler Erfahrung und Bedürfnisbefriedigung durch die spezielle Konzeption von Online-Rollenspielen gegeben sind. Mithilfe dieses differenzierten Forschungsansatzes ist es uns möglich, über den Zeitraum von mehreren Monaten einen ganzheitlichen Eindruck der Lebensgeschichte der Jugendlichen zu bekommen. Wie am Fall von Paul gezeigt werden wird, kann das vordergründig sichtbare Störungsbild der Computerspielsucht auf emotionalen Kränkungs- und Defiziterfahrungen der Kindheit beruhen, die sich letztlich als tiefgreifende narzisstische Not und Bedürftigkeit beschreiben lassen. 2 Der Zusammenhang von Online-Rollenspielen und Suchtverhalten Neben immer wieder aufkommenden Diskussionen zur schädlichen Auswirkung gewalthaltiger Computerspiele auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland spätestens mit der Veröffentlichung des Online-Rollenspiels World of Warcraft eine weitere Debatte hinzugekommen. Diese beschäftigt sich mit der Frage, ob Computerspiele, insbesondere Online-Rollenspiele, durch ihre Konzeption ein zu hohes Abhängigkeitspotenzial besitzen und damit die Entwicklung einer Computerspielsucht begünstigen (Rehbein, Kleinmann, Mößle, 2009). Dieses Phänomen findet sich insbesondere im Genre der Online-Rollenspiele, die so konzipiert sind, dass tausende von Spielern gleichzeitig in einer virtuellen Spielwelt miteinander agieren können. Der 1 Im Rahmen dieses Projektes werden in einer ersten Phase mehrere Einzelfälle mit einheitlich festgelegter Erhebungs- und Auswertungsmethodik im Rahmen von begleiteten studentischen Forschungsarbeiten aufgearbeitet und gesammelt. Ziel ist es über einen längeren Zeitraum ausreichend Einzelfallanalysen zu generieren, um dann auch Vergleiche und typische Muster herauszuarbeiten. 462 M. Gerlach, B. Traxl kommunikative Wahrnehmungs- und Sozialraum, der beispielsweise in World of Warcraft erschaffen wird und in dem sich dessen Nutzer mithilfe ihrer Spielfigur bewegen, enthält bestimmte Faktoren, die eine enorme Wirkung auf die Spieler haben und deren Spielmotivation erklären. Ein zentrales Element der Faszination scheint beispielsweise in der interaktiven Struktur dieser Spiele zu liegen (Fritz, 2008). Im Vergleich zu bisherigen Medien fordern Online-Rollenspiele die aktive Beteiligung des „Konsumenten“. Diese interaktive Struktur von Online-Rollenspielen hat einen enormen Einfluss auf das Erleben des Wahrnehmungsraums und des „Selbst als Agenten“. Bei World of Warcraft beispielsweise schlüpft der Rezipient in die aktive Rolle eines Akteurs, der das Geschehen und die Narration des Spiels selbst mitgestaltet (Vorderer, 2006; Kuhn, 2009). Mit dieser aktiven Beteiligung am Spiel geht auch einher, dass der Spieler gewissermaßen in die Pflicht genommen wird, Leistungsanforderungen zu erfüllen. So gehen vom Spiel vielfältige kognitive sowie soziale Forderungen aus, die sich, je erfolgreicher ein Spieler/eine Spielerin wird, deutlich steigern und die volle Aufmerksamkeit des Spielers/der Spielerin beanspruchen (Vorderer, 2006; Fritz u. Misek-Schneider, 2006). Eng verbunden mit den Spezifika Interaktivität und Leistungsanforderung ist der Aspekt der Selbstwirksamkeit. Dem Spiel inhärent sind deshalb Belohnungssysteme, die das Selbstwirksamkeitserleben der Spieler fördern und bei intensiver Auseinandersetzung Erfolg versprechen. Der Avatar stellt dabei die Schnittstelle zur virtuellen Spielwelt dar. Durch ihn wird der Spieler in der Spielwelt vertreten, andere Nutzer identifizieren den Spieler anhand seines ausgewählten Helden (Wedjelek, 2009). Für seine Handlungen in der virtuellen Spielwelt wird der Avatar belohnt, entwickelt sich weiter und wird im Laufe des Spiels zunehmend aufgewertet. Diese Erfolge sind in der Spielergemeinschaft sozial relevant, prestigeträchtig und dienen als wichtiges Motivationsinstrument. Dem Spieler wird also mittels direkt und unmittelbar erfahrbaren Rückmeldungen das Gefühl vermittelt, effektiv, wirkmächtig und im besten Fall erfolgreich zu sein (Klimmt, 2004). Aufgrund dieser kontinuierlichen Rückmeldungen und „Belohnungen“ und der damit einhergehenden leistungsorientierten Aktivität des Spielers, kann es zu einem so genannten Flow-Effekt (Csikszentmihalyi, 1992) kommen. Der Spieler geht dann völlig in seiner Tätigkeit auf und taucht regelrecht in die Tiefen der virtuellen Spielwelt ein. Ihm werden laufend neue Herausforderungen geboten, die keine Zeit für Langeweile oder Gedanken darüber, was außerhalb des Computerspiels wichtig wäre, zulassen. Aufgrund der kontinuierlichen Rückmeldungen verschmilzt die Handlung des Avatars regelrecht mit dem Bewusstsein des Spielers und dessen Aufmerksamkeit gilt ungeteilt seinem Handeln im Spiel (Fritz, 2008). Diese virtuellen Spielwelten basieren außerdem meist auf persistenten, sich fortwährend weiter entwickelnden Gemeinschaftsstrukturen, die auch zu engen, wenn auch virtuellen, Bindungen führen können. Die narrative Struktur des Spiels entsteht durch eine kontinuierlich sich entwickelnde Geschichte, welche in einen größeren erzählerischen Kontext eingebunden ist. In dieser Parallelwelt herrscht niemals Stillstand, da sie sich auch unabhängig davon, ob ein Spieler mit seinem Charakter aktiv am Spielgeschehen teilnimmt, permanent weiterentwickelt (Wedjelek, 2009). Den Nutzern wird umgekehrt aber auch rund um die Uhr die Möglichkeit geboten, wieder in die virtu- ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 463 elle Spielwelt einzusteigen und an der Gestaltung teilzunehmen. Als zentrale Spezifika von Online-Rollenspielen können deshalb Interaktivität, Leistungsanforderung, Selbstwirksamkeit, virtuelle Bindungen und die fortwährend, immer verfügbare narrative Struktur der Parallelwelt benannt werden. Bedingungen wie die massive zeitliche Beanspruchung, die soziale Eingebundenheit in eine virtuelle Gruppe und die zahlreichen Belohnungsmomente, die Online-Rollenspiele den Nutzern bieten, werden in der Forschung aber auch als entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeit diskutiert (Rehbein et al., 2009; Höschen, 2006; Beranek, Cramer-Düncher, Baier, 2009). Die Erforschung der Hintergründe und Ursachen des pathologischen Gebrauchs von Internet und Online-Rollenspielen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – gewinnt aufgrund der mittlerweile gut erhobenen Zahlen zunehmend an Bedeutung. Prävalenzschätzungen für das Störungsbild der Computerspiel- und Internetsucht liegen in der Gesamtbevölkerung bei circa 3-5 % (Müller u. Wölfling, 2010). Bei den 14- bis 24Jährigen werden Prävalenzraten von 2,4 % als abhängige und 13,6 % als problematische Internetnutzer angenommen (Rumpf, Meyer, Kreuzer, John, 2011). Im Rahmen einer repräsentativen Schülerbefragung wiesen in etwa 4,3 % der Mädchen und 15,8 % der Jungen ein exzessives Computerspielverhalten auf (Rehbein et al., 2009). Im DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) werden unter der Bezeichnung „internet gaming disorder“ bereits Kriterien2 für Forschungszwecke beschrieben. Die Betroffenen ziehen sich vielfach aus ihrem sozialen Umfeld zurück, vernachlässigen Schule oder Beruf und es droht Kontrollverlust, wenn der Drang zu Spielen kaum mehr steuerbar ist (Höschen, 2006; Rehbein et al., 2009). Auch die Entstehung von Selbsthilfegruppen für Online- und Computerspielsüchtige sowie die Etablierung von Computerspielsuchtambulanzen zeigen, dass das Phänomen der Computerspielsucht als ernst zu nehmendes Störungsbild angesehen werden muss (Rehbein et al., 2009) und die Entwicklung eines entsprechenden Angebots im Hilfe- und Therapiebereich (Möller, 2011; Frölich u. Lehmkuhl, 2012) dringend notwendig ist. Dafür ist jedoch zu allererst ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Problematik notwendig, um dem Phänomen nicht lediglich mit symptomlindernden Maßnahmen zu begegnen. 3 Die Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen – der Fall Paul3 Unser Vorgehen orientiert sich an der Psychoanalyse, die eben nicht nur als Heilverfahren, sondern auch als Forschungsinstrument angewandt werden kann. Sie dient der 2 1. Gedankliche Eingenommenheit, 2. Entzugssymptome, 3. Toleranzentwicklung, 4. Fehlende Kontrolle, 5. Interessenverlust, 6. Exzessive Nutzung, 7. Vertuschen, 8. Flucht, 9. Schwerwiegende Folgen; Fünf der neun Punkte müssen über einen Zeitraum von zwölf Monaten erfüllt sein um die Kriterien für das Störungsbild zu erfüllen. 3 Das zugrundeliegende Fallmaterial wurde speziell für den vorliegenden Beitrag von uns aufbereitet (Darstellung) und grundlegend überarbeitet (Auswertung und Interpretation). 464 M. Gerlach, B. Traxl „Erkundung der inneren Natur des Menschen, eine Methode, die der Eigenart ihres Gegenstandes – nämlich des subjektiven inneren Erlebens – angemessen ist. Die Psychoanalyse ist eine Methode des Verstehens. Genauer gesagt, eine Methode, die das Fremdpsychische dem Verstehen zugänglich macht“ (Ahlheim, 2000, S. 279). Dem fallorientierten psychoanalytischen Verstehen kommt gerade dann eine große Bedeutung und klinische Relevanz zu, wenn die „innere Welt“ des Probanden von Interesse ist. Diese liegt jedoch außerhalb des offensichtlich erfahrbaren Kommunikations- und Interaktionsgeschehens und kann nur durch ein Erweitern der logischen und psychologischen Verstehensmodi erfasst werden (Klein, 2009). Der auf der bewussten und faktischen Ebene erfahrbare manifeste Sinngehalt wird demnach durch die Methode des tiefenhermeneutischen Verstehens, also durch ein Erfassen der unbewussten Ebene ergänzt (Rauh, 2010). Hierbei werden Interaktionen zwischen dem Probanden, anderen beteiligten Personen und des Forschers als potenziell bedeutungsvolle „Szenen“ aufgefasst, die einer unbewussten Logik folgen und über den weiteren Verlauf des Zusammenspiels der Interaktionsteilnehmer entscheiden (Ahlheim, 2012). Das szenische Verstehen (Lorenzer, 1970) ermöglicht damit eine Annäherung an die inneren Prozesse der beteiligten Personen (Leithäuser u. Volmerg, 1988; Klein, 2009; Ahlheim, 2012). Rauh (2010) beschreibt das Verfahren als „einen Prozess, in dem ausgehend von eigenen Reaktionen auf reale oder vorgestellte Interaktionen unter Zuhilfenahme von Beobachtungen, anamnestischen Daten und theoretischen Konzepten auf Erlebens-, Verhaltens- und Handlungsdispositionen eines Interaktionspartners geschlossen wird“ (ebd., S. 174). Beim szenischen Verstehen geht es also darum zu hinterfragen, was der Proband von seiner inneren Gefühlswelt, seinen Konflikten und Nöten in reale Handlungen transformiert, das heißt „in Szene setzt“. Die inneren Problematiken der von uns untersuchten Jugendlichen und deren unbewältigte, innerseelische Lebenskonflikte, wurden im Laufe der Forschungsbemühungen deshalb vor allem in der Art und Weise ihres Erlebens und ihrer Beziehungsgestaltung im Rahmen von Peer-Group, Familie und Forscherteam deutlich. 3.1 Biografisch und klinisch relevante Informationen Der Kontakt zu Paul entstand über die Verbindung zu einer ambulanten Jugendhilfeeinrichtung, die aufgrund der innerfamiliären Konfliktlage und Pauls Computerspielsucht im Rahmen einer sozialpädagogischen Jugendhilfe bereits mit Pauls Familie befasst war. Hierüber wurde die erste Kommunikation mit der Familie hergestellt und die Erlaubnis eingeholt, mit Paul in Verbindung zu treten. Nach Zustimmung der Eltern erfolgte die Kontaktaufnahme zu Paul telefonisch. Nach einem ersten Kennenlernen und der Zustimmung der Familie konnte mit den teilnehmenden Beobachtungen, dem narrativ-biografischen Interview mit Paul als auch mit der Erhebung der lebensgeschichtlichen Daten begonnen werden. Die Verarbeitung und Verschriftlichung der Beobachtungs-, Interview- und lebensgeschichtlichen Daten geschahen im Einverständnis mit dem Probanden und seiner Familie. Nach Abschluss der Erhebung wurden therapeutische Maßnahmen empfohlen. ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 465 Es kam zu insgesamt fünf Begegnungen mit Paul, die jeweils drei bis fünf Stunden dauerten und in denen Gespräche mit Paul, die Teilnahme an seinen Computerspielaktivitäten und ein narrativ-biografisches Interview stattfanden. Des Weiteren erhielten wir Einblick in die biografischen Zusammenhänge durch die Eltern, durch die Berichte einer sozialpädagogischen Einrichtung und Gespräche mit dem bisher in der Familie tätigen Sozialpädagogen sowie durch die anamnestischen Informationen einer kinderpsychiatrischen Einrichtung, die Paul stationär aufgenommen hatte. So ließen sich die interfamiliären sowie individuellen Entwicklungsprozesse umfassender betrachten, um uns den Sinnstrukturen tiefenhermeneutisch anzunähern. 3.1.1 Einführung in das Fallbeispiel Paul (16) ist ein freundlicher, auffallend höflicher und etwas korpulenter Junge, der mit seiner Familie ein Eigenheim in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland bewohnt. Paul hat einen kleinen Bruder (6) der noch die Grundschule besucht. Der Vater (44) ist Arbeiter im Schichtdienst, die Mutter (43) Angestellte im Verwaltungsbereich. Paul ist im Moment auf einer Gesamtschule im Hauptschulzweig und wird voraussichtlich dieses Jahr den Hauptschulabschluss erreichen. Von seinem zwölften bis vierzehnten Lebensjahr erhielten Paul und seine Familie sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) durch eine Einrichtung für ambulante Erziehungshilfe und Erziehungsberatung, die Eltern-, Familien- sowie Einzelkontakte umfasste. Anschließend kam es zu einem sechsmonatigen Klinikaufenthalt in einer kinderpsychiatrischen Einrichtung, da sich die Eltern mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert sahen. Im Zuge der Testdiagnostik wurde bei Paul eine durchschnittliche Intelligenz festgestellt, eine Autismusdiagnose konnte ausgeschlossen werden. Der Alltag von Paul war in beträchtlicher Weise von der Computerspielthematik bestimmt. Er spielte praktisch den ganzen Tag, ging kaum noch zur Schule und schlief in manchen Nächten nur noch für zwei Stunden. Dieses Verhalten löste massive interfamiliäre Konflikte aus. Auf Reglementierungen seiner Computer-Spielzeit reagierte er aggressiv, in Form von verbalen Angriffen bis hin zu körperlichen Attacken gegenüber seinen Eltern. Er versuchte sein Spielverhalten zu verheimlichen, umging etwaige Sperren und brachte die Familie durch alternative Internetzugänge und Spielaccountkosten auch finanziell wiederholt in arge Bedrängnis. Von den im aktuellen DSM-5 genannten Kriterien trafen auch zum Zeitpunkt der Erhebung mindestens sieben von neun Kriterien auf Pauls Verhalten zu. So zeigte sich seine gedankliche Eingenommenheit (1) durch die pausenlose Beschäftigung mit den Charakteren, Aufgaben und Inhalten des Spiels. Währenddessen nahm er rund um sich herum nichts mehr wahr und sei, wie er sagt, in den „Bann“ des Spiels gezogen. Die exzessive Nutzung (2) und die fehlende Kontrolle (3) manifestierten sich in der zeitlichen Entgrenzung (Spieldauer von bis zu zwölf Stunden am Tag) und der Vernachlässigung grundlegender interaktioneller (Paul hatte keine Freunde) und physiologischer Bedürfnisse (unkontrollierte Nahrungseinnahme, unregelmäßiger Schlaf). Paul versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine Umwelt zu täuschen (4) und die 466 M. Gerlach, B. Traxl eingeführten Barrieren zu umgehen um sein Spielverhalten aufrecht zu erhalten. Er entzog (5) sich den Herausforderungen der Realität (Schulbesuch) und zeigte kaum noch Interesse (6) für andere Tätigkeiten (Sport, Musik) die er früher zumindest ansatzweise ausgeübt hatte. Insgesamt muss also von schwerwiegenden Folgen (7) für Paul ausgegangen werden, wenn sich durch den bereits jahrelangen Rückzug sowohl seine privaten wie beruflichen Perspektiven zunehmend einschränken. 3.1.2 Die frühe Kindheit4 Bereits in den frühen Lebensjahren werden erste Regulierungsstörungen physiologischer Entwicklungsprozesse (Nahrungsaufnahme und Ausscheidung) zwischen Mutter und Kind beschrieben. Es sind vor allem die wiederkehrenden interaktionellen Problematiken im zweiten Lebensjahr, die auf eine grundlegende Konfliktkonstellation (Unterwerfung vs. Kontrolle) in Form eines Machtkampfes in der Primärbeziehung hinweisen. In der Folge gerät Paul auch im Kindergarten, den er im Alter von drei bis sechs Jahren besuchte, zunehmend in Opposition zu den Pädagoginnen und konnte nur unzureichend in die Kindergruppe integriert werden. Er litt an Wutausbrüchen, zeigte deutliche Probleme in seinem Sozialverhalten (kaum Kontakt zu anderen Kindern, kontrollierend in Beziehungen), entwickelte eine regressive Symptomatik (Enuresis) sowie eine ausgeprägte somatoforme Funktionsstörung (Obstipation). Paul zeigte leichte Entwicklungsrückstände in seinen motorischen und kognitiven Fähigkeiten; diesbezügliche Herausforderungen lösten unmittelbar Stresszustände und Angstgefühle aus, weshalb er bei diesen Aufgaben schnell verkrampfte oder komplett verweigerte. Paul zeigte sich während seiner gesamten Kindheit anderen Kindern gegenüber sehr scheu und laut seiner Mutter sei es ihm schon immer schwer gefallen, einen Platz in Gruppen von Gleichaltrigen zu finden. Konnte er manchmal dann doch Kontakt zu anderen Kindern herstellen, habe er sich gegenüber diesen oft schwierig verhalten, es musste immer alles nach seinen Vorstellungen laufen und zu verlieren sei kaum aushaltbar für ihn gewesen. Sein Auftreten sei bereits im frühen Kindesalter nicht altersadäquat gewesen. So wirkte seine Sprache etwas gestelzt und altklug, mit etwas erhobener Stimme und angespannter Gesichtsmuskulatur. Seine gesamte Körperhaltung sowie sein mimischer und gestischer Ausdruck wirkten verkrampft. Er orientierte sich dabei stark an Erwachsenen und suchte überwiegend Kontakt zu ihnen. So habe er sich oft selbst zum Außenseiter unter den Kindern gemacht. Zudem kamen im Laufe seiner Entwicklung immer massivere aggressive Tendenzen und Wutausbrüche hinzu. Besonders zu Hause war Paul impulsiv, schrie laut, raufte sich die Haare, hyperventilierte, stampfte auf den Boden, äußerte Selbstmorddrohungen und richtete seine Aggressionen gegen sich selbst, indem er beispielsweise mit dem Kopf gegen die Wand schlug. 4 Die zugrundeliegenden Quellen für diesen Altersabschnitt sind elterliche Informationen und die Anamnese einer kinderpsychiatrischen Einrichtung. ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 467 3.1.3 Die schulische Entwicklung5 In der Schule (ab seinem 6. Lebensjahr) arbeitete Paul den Berichten zufolge sehr unordentlich und oberflächlich, genügte oft nur den Minimalanforderungen und erfasste die Arbeitsanweisungen nicht. Laut seiner damaligen Lehrerin zeigte Paul eindeutige Anzeichen von Überforderung und schien den Leistungsanforderungen nicht standhalten zu können. Dies habe sich in regressivem Verhalten, beispielsweise durch zusammengekauertes Liegen am Boden und massiven Selbstbeschimpfungen geäußert. Paul hatte offensichtlich das Gefühl ein schulischer Versager zu sein und, wie er auch im Interview äußert, „immer alles falsch“ zu machen. Die konstante Überforderung des Jungen führte zu massiver Schulangst und der Tendenz, schulischen Stress- und Überforderungssituationen mit Somatisierung und Vermeidung zu begegnen. Er klagte bereits in der Grundschule über Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzklopfen und Schwindelgefühle, die sich in der weiterführenden Schule verstärkten. So konnte er zeitweise die Schule gar nicht mehr besuchen und es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach dem Klinikaufenthalt wechselte er die Schule, was vorerst zu einer sichtbaren Entspannung führte. Er pflegte jedoch auch weiterhin keine sozialen Kontakte und widmete sich vermehrt dem nun immer wichtiger werdenden Computerspiel. Die schulischen Probleme und das suchtartige Verhalten von Paul führten zu massiven familiären Konflikten, die nicht selten eskalierten und vordergründig die familiäre Atmosphäre belasteten. Der Versuch das Computerverhalten durch Verbote und Kontrollen einzudämmen, führten zu immer trickreicheren Varianten Pauls, diese zu umgehen. Dieser maligne Kreislauf, der seinen Höhepunkt in den Handgreiflichkeiten von Paul gegenüber seinen Eltern fand, löste Gefühle von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Resignation bei allen Beteiligten aus. 3.1.4 Die aktuelle familiäre Einbettung5 Paul wächst in einem behüteten Umfeld und einer bürgerlichen Wohngegend auf. Die Mutter ist offensichtlich sehr darum bemüht, ein geordnetes Familienleben zu gestalten und den tagtäglichen gemeinsamen Alltag zu strukturieren. Pauls Eltern sind jedoch durch ihre eigene Lebensgeschichte stark belastet. So litt die Mutter jahrelang an traumatischen Erfahrungen, die unbehandelt zu stoffgebundenem Suchtverhalten führten. Die eigenen biografischen Erfahrungen schienen sich aber insbesondere beim Vater auf seine familiären Möglichkeiten und seine Beziehung zu Paul negativ auszuwirken. Er zeigte in Pauls gesamter Kindheit Schwierigkeiten, sich auf ein geregeltes Familienleben einzulassen und, wie er selbst sagte, war familiäre Nähe „schwer auszuhalten“, weshalb er sich immer wieder zurückzog. Die Beziehung zu seinem eigenen alkoholkranken Vater sei von Gewalt und Desinteresse geprägt gewesen. Sein bisheriger Lebensverlauf sei ge5 Die zugrundeliegenden Quellen für diesen Altersabschnitt sind elterliche Informationen und Berichte der sozialpädagogischen Einrichtung. 468 M. Gerlach, B. Traxl kennzeichnet von immer wiederkehrenden depressiven Phasen, starken Tendenzen zur Sucht (Alkohol) und daraus resultierenden Beziehungsproblematiken. Eine Therapie schien nur passager erfolgreich und die Vater-Sohn Beziehung litt stark unter den Rückzugstendenzen, die sich durch die Enttäuschung am Verhalten des eigenen Sohnes noch verstärkten. Insbesondere in den schwierigen Phasen mit Paul stieg das Suchtverhalten des Vaters wieder stark an, sodass er für längere Zeit arbeitsunfähig war. Es gelang ihm anscheinend nicht, sich von den eigenen, negativen Familienerfahrungen zu lösen und selbst als Vater eine ausreichend gute Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. 3.2 Interaktionsbeobachtungen und Interview 3.2.1 Die ersten Begegnungen Beim ersten Treffen mit Paul wurde die Untersucherin sehr freundlich und höflich von ihm empfangen und nach einem eher kurzen Gespräch mit den Eltern gebeten, ihm in sein Zimmer zu folgen. Nach der sehr angenehmen und offenen Begrüßung wurde der Fokus des Treffens von Paul dann sehr schnell auf die Computerspielthematik gelenkt. Diese aufgeschlossene und offene Haltung des Jungen der Untersucherin gegenüber erleichterte den Zugang erheblich. Er bezog sie von Anfang an in seine Gedanken ein, erzählte viel und ließ sie an seinen inneren Konflikten teilhaben. Er berichtete von „Freunden aus dem Internet“, die er jedoch noch nie persönlich getroffen habe, und erwähnte, dass er mit diesen virtuellen Freunden aber oft mehr teilen könne als mit Personen aus dem realen Leben, wie Schulkollegen oder Eltern. Die Untersucherin war überrascht, wie ausgeprägt seine Computerspielsucht war und dass seine Lebenswelt sich ausschließlich um das Spiel zu drehen schien. Die Bezeichnung des Spiels als seine „Liebe“ und „Leidenschaft“ sowie die euphorische Art und Weise seines detaillierten Erzählens machten deutlich, welche Glücksgefühle er während des Spielens erlebte und welch erheblichen Einfluss das Spiel auf seine Lebensgestaltung nahm. Er verhielt sich wie in einen Bann gezogen, als würde er um sich herum nichts mehr wahrnehmen und als könnte der sonst so kontrollierte Junge seine diesbezüglichen Impulse und Erregungen kaum mehr steuern. Die Begeisterung und Euphorie, mit der er erzählte, potenzierte sich phasenweise zu regelrechten Emotionsausbrüchen. Die folgende, aus der Perspektive der Untersucherin MG beschriebene Situation, die sich während eines der Treffen ereignete, zeigt das ausgeprägte Spielverhalten von Paul. Als ich sein Zimmer betrat, saß Paul schon an seinem Computer, die Augen starr und konzentriert auf den Bildschirm gerichtet und World of Warcraft spielend. Er erklärte mir sehr aufgeregt, er befände sich soeben in einem wichtigen Kampf mit einer Gruppe von 25 Leuten, der leider nicht unterbrochen werden könne. Ich erklärte mich bereit, einige Minuten zu warten, und beobachtete sein Verhalten während des Spiels. Während seine rechte Hand mit ständigem Betätigen der Maus dafür sorgte, die komplexen Koordinationsprozesse des Spiels zu steuern, ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 469 lenkte seine linke Hand seinen Avatar, den Helden des Spiels, der in einer Gruppe von Verbündeten gegen ihre Gegner kämpfte. Er saß während der gesamten Spielzeit angespannt vor dem Computer und schien um sich herum nichts mehr wahrzunehmen. Der Kampf musste etliche Male wiederholt werden, um diesen zu gewinnen. Die Zeit, die verstrich, und die Tatsache, dass ich darauf wartete mit ihm sprechen zu können, schienen keine Rolle mehr zu spielen. Er erklärte mir nach dieser Situation, viele solcher Kämpfe, auch „Raids“ genannt, dauerten über acht Stunden und er habe schon häufig während eines Kampfes die ganze Nacht lang „am ganzen Körper gezittert, gelitten und geschwitzt“ und bezeichnete das Gewinnen eines solchen Kampfes als „die Erlösung“. Die Betonung in seinen Erzählungen über solch einen Kampf lag stets auf der Bezeichnung des „Wir“. Immer wieder sagte er während des Kampfes Sätze wie „Wir müssen es schaffen, zusammen schaffen wir das“ und schilderte mir stolz, keiner würde einfach vom Computer weggehen und den Kampf verlassen, „auch bei einer ganzen Nacht nicht“. Immer wieder betonte er den Zusammenhalt der Gruppe in einer solchen Situation. Das Beobachtungsprotokoll und die Erzählungen von Paul verdeutlichen einerseits, welch enorme Faszination für Paul von dem Spiel auszugehen scheint, und andererseits, welch innerlicher Druck damit verbunden sein mag. Dieses intensive Spielverhalten beeinträchtigt die Lebensgestaltung von Paul seit einigen Jahren (vgl. Punkt 3.1.1) in einem derart hohen Ausmaß, dass von einem ausgeprägten Suchtverhalten ausgegangen werden kann. 3.2.2 Versuch eines vorläufigen Verständnisses Paul scheint im Internet, unabhängig ob im Spiel oder in Chat-Kontakten, eine Befriedigung von Bedürfnissen zu erhalten, die in realen Kontakten für ihn nicht erfüllt werden. Wenn Paul von seinen „Freunden“ erzählt, meint er eigentlich Menschen, die er in der realen Welt noch nie gesehen hat. Zu ihnen empfindet er ein Vertrauensverhältnis und kann ihnen über die Distanz des Internets von seinen Schwierigkeiten in der Schule und Familie erzählen. Er betont, wie geborgen und aufgehoben er sich in diesen Freundschaften fühle, mehr als dies jemals bei seinen realen Kontakten der Fall gewesen wäre. So scheinen diese virtuellen Freunde offensichtlich eine Ersatzbefriedigung von Bedürfnissen nach Freundschaft, Nähe, Anerkennung und Geborgenheit darzustellen. In der virtuellen Welt des Spiels kann Paul engagiert für die Gruppe, kompetent, erfolgreich und beliebt sein. Die virtuellen Freunde und das Spiel scheinen ihm für diese Bedürfnisse verlässlichere Lösungen zu sein und dienen ihm offensichtlich zur Kompensation von Gefühlen der Unsicherheit und Einsamkeit, die er im realen Leben erfährt. Pauls Selbstwertregulation scheint stark von dieser Parallelwelt abhängig zu sein, was sich auch im folgenden Gespräch zeigt. 470 M. Gerlach, B. Traxl Während Paul mir von seiner Online-Bekanntschaft berichtete, die ihn offensichtlich enorm beschäftigt und beeinflusse, kippte seine Stimmung von einer sehr euphorischen Art und Weise des Erzählens über das Spiel World of Warcraft in eine traurige, nachdenkliche Stimmung und die Gespräche bekamen eine neue Dimension. Paul schien sich in meiner Gegenwart sicher zu fühlen und ging dazu über, mich an seinen Gedanken, die ihn außerhalb der virtuellen Welt beschäftigten, teilhaben zu lassen. Auf meine Fragen, warum er für alles bei sich selbst die Schuld suche und wie er selbst über die Problematik der Computerspielsucht denke, reagierte er sehr niedergeschlagen. Er berichtete mir, er sei in der Schule gescheitert. Für ihn sei ohnehin schon alles „vorbei und sinnlos“ und er habe „nichts geschafft“. Außerdem sagte er über sich selbst, er habe „nun mal kein Selbstwertgefühl“ und „durch das ganze schon einen Knacks“. Er sei bei einigen Psychologen gewesen und habe sich außerdem einer Abnehm-Kur zur Verringerung seines Gewichts unterzogen, es habe jedoch „alles nichts gebracht“. Es scheint als hätte er bereits resigniert, die Therapien würden bei ihm nicht anschlagen und er habe wohl schlicht und einfach „einen Knacks“. Seine Selbstwertregulation ist augenscheinlich massiv beeinträchtigt und kann sich nur innerhalb des Spiels oder in Form von virtuellen Kontakten passager regenerieren. 3.2.3 Die Beziehung zur Untersucherin Die unbewältigten, innerseelischen Konflikte von Paul wurden nicht nur in dem ausgeprägten Spielverhalten und seinen diesbezüglichen Erklärungsversuchen deutlich, sondern auch in der Beziehung zur Untersucherin. Paul entwickelte ihr gegenüber ein starkes Mitteilungsbedürfnis und öffnete sich zunehmend. Ein starker Rededrang und ein fast anklammerndes Verhalten waren bezeichnend für die Treffen. Die Bereitschaft der Untersucherin ihm zuzuhören, kam seinem unerfüllten Bedürfnis nach Aufmerksamkeit wohl entgegen und er genoss es zunehmend, ihr seine Begeisterung für das Computerspiel näher zu bringen. Parallel dazu war es ihm aber auch möglich, sich emotional weiter zu öffnen und über seine Ängste und inneren Konflikte zu sprechen. Die Tatsache, dass sie sich mit ihm beschäftigte und sich für seine Welt interessierte, war für ihn so bedeutsam, dass er sie kaum mehr gehen lassen wollte. Wenn sie nach einer Stunde ankündigte, nun gehen zu müssen, sagte Paul, er müsse ihr noch so viel erklären und sie solle doch noch bleiben. Er forderte sie nach jedem Treffen nachhaltig auf wiederzukommen und sich für die nächste Begegnung mehr Zeit einzuplanen. Des Weiteren tat er immer wieder seine Begeisterung darüber kund, dass sie sich für ihn und sein Spiel interessiere und er „endlich mal jemandem länger davon erzählen könne“. Pauls starker Wunsch nach Nähe, Verständnis und Anerkennung in sozialen Kontakten kamen nun, in der Übertragung auf sie, zum Ausdruck. Er erzählte, dass er immer schon gemobbt wurde und schon sein ganzes Leben lang massive Schwierigkeiten in Gruppen habe. Er war offensichtlich sozial isoliert und hatte sich im Verlauf der Jahre zu einem Einzelgänger entwickelt. Als Adressatin dieses Übertragungsangebotes war der Unter- ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 471 sucherin in den Begegnungen mit Paul sowohl die unmittelbare Wahrnehmung seiner Ängste und verletzten Gefühle als auch seiner Hoffnungen und Wünsche möglich. In dieser Beziehung offenbarte sich seine tiefe Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung seiner eigentlichen Bezugspersonen, sein Bedürfnis nach einem angemessenen und stabilen Selbstwert und sozialen Kontakten mit denen er das Gefühl von Freundschaft und Gemeinschaft erleben könnte. In der unmittelbaren Übertragungssituation reinszenierten sich einerseits seine unbewussten Bedürfnisse, andererseits wiederholte sich damit aber auch eine unvermeidliche Enttäuschung. Das einnehmende Verhalten des Jungen brachte die Untersucherin in einen Konflikt, da ihr Fortgehen immer auch eine Kränkung implizierte. Die notwendige Abgrenzung nach jedem Treffen als auch der unvermeidliche Abschied nach Beendigung der Untersuchung führten zu Schuldgefühlen und Schwierigkeiten in der Nähe-Distanz Regulation. 3.2.4 Das narrativ-biografische Interview Nachdem bereits mehrere Treffen auf der Basis teilnehmender Beobachtungen und Gespräche stattgefunden hatten, führte die Untersucherin mit Paul ein narrativ-biografisches Interview. Dadurch sollte einerseits noch stärker sein subjektives Erleben, insbesondere hinsichtlich seines Verständnisses des biografischen Verlaufs erfahrbar werden. Andererseits sollte das Verfahren vertieft seine subjektiven Erklärungstheorien zur Suchtproblematik beleuchten. Paul sprach während des gesamten Interviews sehr viel über Werte wie Vertrauen und Akzeptanz. Er erklärte der Untersucherin, in der virtuellen Welt würde er nicht, wie im öffentlichen Leben, runtergestuft. „Da geht es nicht nach äußeren Werten, da geht es nach inneren Werten und das schätze ich so sehr, was ich am richtigen Leben nicht so schätze, weil es eben nicht so ist.“ In Pauls richtigem Leben, von dem er hier spricht, scheinen innere Werte wie Akzeptanz und Vertrauen nicht in der Weise vorzukommen, wie er es sich wünscht. Die für ihn so entscheidenden Momente, in denen er sich verstanden und akzeptiert fühlt, empfindet Paul nur in der virtuellen Welt des Computerspiels. In dieser Gemeinschaft werden schließlich auch seine Einsamkeitsgefühle aufgehoben. „[…] diese Computersucht, ja das ist so ein Thema, wie soll man so was erklären […] es gibt einem etwas, was man vielleicht nicht hat […] diese Einsamkeit […] diese zweite Welt […] man fühlt sich geborgen, ganz klar also, ich fühl mich da wenn ich Stress habe, fühl ich mich da wohl, weil man wird da so akzeptiert wie man ist […] in der Welt, ja, das ist alles, da ist dieses Thema nicht, also da sind alle gleich, man wird nicht irgendwie wie im öffentlichen Leben, ja runtergestuft […]“ Hier erfüllen sich seine Wünsche „jemand zu sein“, „ein guter Mensch zu sein“ und „nicht alleine zu sein“. In diesen Selbstzuständen wirken seine Ängste und Selbstwertproblematiken wie aufgehoben. Er spielt, um, wie er sagt, seine „tatsächliche Lebenswelt zu vergessen“. Entlang der Beschäftigung mit Paul und seiner virtuellen Welt, präsentiert sich seine Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung, nach Erfolgserlebnissen und einem befriedigenden Selbstwert sowie sozialen Kontakten, mit denen er das Gefühl der Freundschaft und Gemeinschaft erleben 472 M. Gerlach, B. Traxl kann. Pauls Sucht bezüglich des Spiels speist sich offensichtlich aus all diesen unerfüllten zwischenmenschlichen Bedürfnissen. Den großen Unterschied, der für ihn zwischen seiner realen Lebenswelt und seiner virtuellen Ersatzwelt existierte, führte er während des Interviews immer wieder deutlich an: „[…] dieses Gefühl sich schlecht zu fühlen, das ist halt auch scheiße […] Und wenn ich spiele, dann vergess ich das […] da bin ich dann halt wieder dieses Positive, die Akzeptanz ist da […] da kann man abschalten, da vergisst man das einfach, das ist das, warum’s so wichtig für mich ist … weil’s so das Einzige ist, womit ich diese Gedanken, diesen ... diesen Schmerz vergessen kann […] die sehen in mir halt einen guten Menschen irgendwo. Da kann ich’s vielleicht auch sein […] ich fühl mich besser ... weil ... weil ja man ist da was, man ist jemand […] da fühlt man sich nicht allein, ganz klar gesagt.“ Und etwas später erwähnte er: „[…] ich hab immer diese Erfolgs- …, diese Glücksmomente gehabt. Das man was erreicht, das man irgendwie was wert ist […]“ Paul beschreibt hier eindrucksvoll das Gemeinschafts- und Glücksgefühl, das er erlebt, wenn er sich mit seinem Avatar in der virtuellen Welt des Spiels befindet. Es wird deutlich, dass er hier vor allem jene Akzeptanz findet, die er in der realen Welt nicht erleben konnte. In seinem Verständnis wurde er seit jeher von anderen Kindern gemobbt und entwickelte sich zum Einzelgänger. Auch die Beziehung zu seinen Eltern wird von ihm als problematisch beschrieben. So schien es immer schon Schwierigkeiten in der VaterSohn-Beziehung gegeben zu haben und „bis heute“ zu geben. Es sei das Gefühl, „nichts richtig machen zu können“, beschuldigt zu werden, „obwohl man gar nichts getan hat“, und kontinuierlich Ablehnung zu spüren. Die daraus resultierenden Gefühle von Verzweiflung und Hilflosigkeit und das Unverständnis der Eltern ihm gegenüber, führten laut Paul immer wieder zu Wutausbrüchen. Er sagt, es habe ihm an positiver Bestätigung, Lob und Unterstützung gemangelt, er habe nie „etwas Gutes“ über sich gehört. In den Gesprächen wird deutlich, wie wenig Paul sich selbst zutraut und wie schwach das Gefühl von Selbstwirksamkeit ausgeprägt ist. Er gibt sich in jeder Hinsicht „für alles die Schuld“. Das unerträglich schmerzende Gefühl, für niemanden wirklich wichtig zu sein, begleitet ihn seit seiner Kindheit und kann seit Jahren anscheinend nur durch die soziale Bestätigung gelindert werden, die er in der virtuellen Spielwelt erfährt: „weil’s so das Einzige ist, womit ich diese Gedanken […] diesen Schmerz vergessen kann“. 3.3 Tiefenhermeneutische Analyse des Falls und psychodynamische Überlegungen Beim Betrachten der Entwicklungsgeschichte von Paul, den Interviewdaten und den Protokollen der teilnehmenden Beobachtungen lassen sich zumindest einige Hinweise finden, die eine Annäherung an die Beantwortung der eingangs formulierten Forschungsfrage, nach der Genese von Pauls Computerspielsucht, erlauben. Standen zu Beginn der Erhebungsphase vor allem das Spielverhalten und die virtuelle Welt im Vordergrund des Erkenntnisinteresses, wurden in den Gesprächen mit Paul die dahinterliegenden Bedürfnisse und seine Not deutlich spürbar. ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 473 3.3.1 Die Entwicklungsgeschichte Die ersten Schwierigkeiten in Pauls Geschichte zeigen sich anhand früher physiologischer Entwicklungsstörungen, die auf primäre, konflikthafte Regulierungsbemühungen im Abstimmungsverhältnis von Mutter und Kind hinweisen. Pauls Entwicklungsdefizite wirken sich dann auch auf seine Kindergartenzeit weiter aus, wenn in der Folge unempathischer Reaktionen der Erzieherinnen eine Integration Pauls verhindert und damit Gefühle der grundlegenden Akzeptanz und Anerkennung bereits früh verletzt wurden. Wie schwierig diese Situation für Paul war, wird anhand des Rückgriffs auf regressive Bewältigungsmechanismen (Enuresis) deutlich (Heinemann u. Hopf, 2012). Die Erfahrung des Ausgeschlossenwerdens und die daraus resultierenden Ängste führten nachvollziehbar zu einem Vermeidungsverhalten und verstärkt somatoformen Funktionsstörungen. Bereits im Kindergartenalter klagte Paul über starke Bauchschmerzen und äußerte häufig den Wunsch, den Kindergarten nicht besuchen zu müssen. Pauls Ängste verstärkten sich im Laufe seiner Entwicklung deutlich und schränkten ihn in weiterer Folge in seiner gesamten Entwicklung ein. Es kam zu schlechten schulischen Leistungen, aggressiven Ausbrüchen und einer sozialen Isolation. Neben dem regressiv psychosomatischen Modus (Mentzos, 2005) und den narzisstisch, aggressiven Selbstbehauptungsimpulsen gab es aber auch den Versuch Pauls, sich pseudoprogressiv von seinen kindlichen Seiten zu befreien und sich vor allem an erwachsenen Personen zu orientieren. Paul wirkte altklug und entwickelte eine gestelzte Sprechweise mit gehobener Stimme und angespanntem mimischen und gestischen Ausdruck. Diese Variante stellte wohl einerseits den Versuch dar, den Bezugspersonen doch noch durch Angleichung zu entsprechen, sich aber andererseits von seinen ungeliebten, kindlichen Persönlichkeitsanteilen zu lösen. So konnte er der direkten Rivalität und Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen und den Anforderungen einer Peer-Group zwar aus dem Weg gehen, gleichzeitig brachte er sich damit aber auch um die Chance, sich in einer Gruppe Gleichaltriger weiterzuentwickeln. Sein Verhalten führte bei Gleichaltrigen eher zu Verunsicherung und Ablehnung, Freundschaften und intensivere soziale Kontakte blieben damit aus. Paul erlebte sich immer als gehöre er nicht dazu und als sei er „fehl am Platz“. Sein Selbstwertgefühl war dermaßen brüchig, dass es keiner Belastung standhielt und Vergleiche mit Gleichaltrigen unmöglich waren. Das Gefühl „nie etwas richtig machen zu können“ formulierte er bereits für die Erfahrungen in der Familie. Dies traf aber natürlich auch auf die Schule zu. Er blieb in der Rolle des ungeschickten Versagers und eine Befriedigung seiner narzisstischen und intersubjektiven Grundbedürfnisse blieb aus. Die massive Schulproblematik und die somatoforme Symptomatik waren also offensichtlich die Folge von massiven Kränkungen und Ängsten, die Paul während seiner Kindheit erfahren und entwickelt hatte. Immer wieder gab er an, starke Bauchschmerzen, Übelkeit und Schwindelgefühle zu empfinden, sodass er phasenweise nicht in der Lage war, die Schule zu besuchen. Diese Verarbeitungsmodi, in denen frühe Versorgungswünsche reaktiviert werden, werden vor allem mit einer gescheiterten Autonomieentwicklung in Zusammenhang gebracht (Naumann, 2010). Der eigentliche Konflikt wird abge- 474 M. Gerlach, B. Traxl wehrt und eine Selbststabilisierung erfolgt durch die Somatisierung psychischer Prozesse (Heinemann u. Hopf, 2012). Die innerfamiliären und sozialen Kränkungen, die Paul während seiner ganzen Kindheit erlebte, führten also einerseits zu einer problematischen Erfahrung von Grundkonflikten (Mertens, 2005) wie „Versorgung versus Autarkie“ beziehungsweise „Selbst- versus Objektwert“, andererseits aber auch zu einer beeinträchtigten strukturellen Entwicklung (OPD, 2006), insbesondere in den Bereichen Selbstregulierung und Regulierung der Objektbeziehungen. Dies führte Paul vorerst in einen psychosomatischen Modus und erst später in den Modus der Sucht (Mentzos, 2005). 3.3.2 Die elterlichen Funktionen Die konfliktreiche und brüchige Beziehung der Eltern beeinträchtigte Paul in dem Grundgefühl, in einer sicheren Triade aufgehoben zu sein. Das Bedürfnis nach einer stabilen, haltenden Umwelt kam in seinen Aussagen immer wieder zum Vorschein. Diese elterlichen Funktionen werden von entwicklungspsychologischer Seite als bedeutende Determinante gesunder kindlicher Entwicklung betrachtet (Dornes, 2006; Diamond, 2010). Es ist diesbezüglich von großer Bedeutung, dass ein Kind seine Eltern als zusammengehörig repräsentieren kann, als Basis, auf der ein innerer „triangulärer Raum“ entstehen kann (Britton, 1998). Diese unbewusste innere Repräsentation, die die Eltern miteinander verbindet, bereitet „die Bühne für die Erfahrung des Kindes, von beiden Eltern zusammen wahrgenommen zu werden“ (ebd., S. 95). Beide Eltern weisen jedoch, aufgrund ihrer je eigenen, unverarbeiteten Entwicklungsgeschichte massive Defizite in ihren elterlichen Funktionen auf. Während sich die mütterlichen Aspekte in der Beziehung zu Paul als frühe Regulationsstörungen niederschlagen, kommt es in der Vater-Sohn-Beziehung vor allem zu einer Anerkennungsproblematik. Dieser war nicht in der Lage, sich durchgehend als strukturierendes, drittes Objekt (Klein, 1948; Rotmann, 1980) anzubieten, die damit einhergehenden Differenzerfahrungen (Buchholz, 1990) zu ermöglichen und als konstante, emotional verfügbare männliche Identifizierungsfigur zur Verfügung zu stehen (Dammasch, 2012a, b). Die Entwicklung einer reifen gesunden Identität ist, bei Jungen noch stärker als bei Mädchen, von einem emotional präsenten „männlichen Dritten“ abhängig, der die Spiegelung männlicher Selbstanteile forciert (Dammasch, 2009). Die positive männliche Spiegelung des Selbst durch den Vater konnte bei Paul jedoch aufgrund der unverarbeiteten Lebensgeschichte des Vaters und der daraus resultierenden Beziehungsgestaltung kaum stattfinden. Der als abweisend erlebte Vater, das spannungsreiche Verhältnis zu seiner Mutter und die innerfamiliären Konflikte erzeugten bei Paul zunehmend das Gefühl fehlender Sicherheit, mangelnder Anerkennung und schließlich auch die Erfahrung von Einsamkeit im Kontext von peer-groups. Diese Defizite versuchte er in Folge des auf Dauer nicht befriedigenden psychosomatischen Modus mithilfe einer neuen Verarbeitungsform auszugleichen. Sein starkes Verlangen, sich fast ausschließlich mit der virtuellen Welt zu beschäftigten, in der er sich neu erfinden konnte und genau jene unbefriedigten Bedürfnisse auch gestillt wurden, werden in diesem Verständnis gut ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 475 nachvollziehbar. Als subjektives Resultat jahrelanger Kränkungen, Niederlagen und Enttäuschungen konnte er nun in eine Welt flüchten, in der er zum ersten Mal in einer Gemeinschaft integriert zu sein schien. Deshalb betont er auch vielfach wie wichtig es sei, dass in diesem Spiel „alle gleich“ seien, für wie bedeutsam er diese Beziehungen erlebe und wie anerkannt er sich darin fühle. Bindungs- und Anerkennungsbedürfnisse, die bereits frühkindlich enttäuscht wurden und narzisstische Defizite verursacht hatten, konnten nun teilweise befriedigt werden (Hopf, 2012). Das depressive Grundgefühl, Versagensängste und das Gefühl der Einsamkeit sind in der virtuellen Welt passager aufgehoben und Paul kann sich in der Folge als kompetent, sozial integriert und geschätzt erleben. Hier empfindet und entwickelt Paul das Gefühl von Selbstwirksamkeit, und im Gegensatz zu seiner realen Lebenswelt erhält er hier auch positive Rückmeldungen auf sein Handeln. Er ist in dieser Lebensphase nicht in der Lage, seine Bedürfnisse auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, insbesondere da ihm reale und konstante emotional verfügbare Entwicklungsobjekte (Traxl, 2013a) fehlen. 4 Diskussion In dieser Arbeit haben wir uns, anhand der Analyse eines einzelnen Falls, dem Störungsbild der Online-Rollenspielsucht genähert und mithilfe von psychoanalytischen Ansätzen versucht, die Hintergründe des Suchtverhaltens zu erfassen, ohne vorschnell einfache und für alle Beteiligten entlastende Erklärungsmuster, beispielsweise in einer Schuldzuweisung an neue Medien, zu suchen. Obwohl bei Weitem nicht alle relevanten Faktoren (z. B. die Rolle der Aggression), mögliche Überlegungen und Erklärungsansätze berücksichtigt werden konnten, wirft dieser Versuch einer Annäherung hoffentlich etwas Licht auf die komplexen Hintergründe des Phänomens. Zunehmend geraten Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in eine suchtartige Nutzung von Computerspielen. Immer häufiger suchen Angehörige von Computerspielsüchtigen oder auch Betroffene deshalb nach Hilfen und speziellen Therapieangeboten. Allmählich nimmt sich auch die Forschung (Chakraborty, Basu, Vijaya Kumar, 2010; Cash, Rae, Steel, Winkler, 2012) mehr dem Thema und den damit zusammenhängenden Problematiken an. Die Behandlung der Computerspielsucht (Schuhler u. Vogelsang, 2012; Frölich u. Lehmkuhl, 2012) selbst ist aber noch ein sehr junges Behandlungsfeld, sodass deutschlandweit nur wenige Einrichtungen spezielle Therapieangebote anbieten (Wölfling, Jo, Bengesser, Beutel, Müller, 2013). Eine deutliche Reduktion des Suchtverhaltens, der Abhängigkeit und der Beschäftigungszeit mit den computerbasierten Inhalten, eine Verbesserung des Sozial- und Gesundheitsverhaltens, der schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit und ein Abbau von sozialen Ängsten und Vermeidungsverhalten werden als wichtigste therapeutische Zielerwartungen beschrieben. Wie an dem Beispiel hoffentlich sichtbar wurde, sollten vor allem auch die Hintergründe der pathologischen Lösung des Computerspielens erfasst und behandelt werden. Dies gilt auch für die in unserer Gesamtuntersuchung bislang gemachten Erfahrungen: In der Phase der frühen Adoleszenz 476 M. Gerlach, B. Traxl kommt es vielfach zu einem massiven Anstieg des Computerspielverhaltens, insbesondere dann, wenn Identitätsprozesse brüchig und die Anforderungen der Außenwelt als zu hoch erlebt werden. Fallübergreifend lassen sich durchgehend defizitär erlebte Entwicklungsbedingungen beziehungsweise subjektiv belastende Lebensereignisse finden, die zu narzisstischen und selbstregulatorischen Problematiken und letztlich zur Ausbildung spezifisch vulnerabler Persönlichkeitsstrukturen führen (Schneider, Scherer, Hefner, 2009). Eine Stabilisierung und Regulierung findet dann eben über die exzessive Nutzung von Computerspielen anstatt über den Austausch mit realen Bezugspersonen statt. So stellen aus unserer Sicht vor allem neue und korrigierende Beziehungserfahrungen in therapeutischen und heilpädagogischen Kontexten eine wesentliche und vielversprechende Variante dar. Bei Paul haben die diversen geschilderten Hilfsangebote (Klinikaufenthalt, sozialpädagogische Begleitung) bislang keine nachhaltige Loslösung erbracht. Bei Betrachtung des Falls besteht der Verdacht, dass die bisherigen Interventionsversuche entweder zu früh abgebrochen oder zu sehr an der Symptomatologie angesetzt waren. Fördermaßnahmen müssen demnach beim Kind ansetzen, was bedeutet, sich erst einmal auf dieses einzulassen und sich in jene virtuelle Welt zu begeben, in der es momentan lebt (Traxl, 2013a, b). Erst nach dem Aufbau einer stabilen und vertrauensvollen Beziehung zum Betroffenen kann es dann darum gehen, die innerpsychischen und innerfamiliären Dynamiken mit allen Beteiligten zu reflektieren. So müssten beispielsweise auch die negativen Kindheitserfahrungen der Eltern, die sich transgenerational und unbewusst in den Bindungsbeziehungen (Brisch, 2013) zu den eigenen Kindern wiederholen, aufgearbeitet werden. Fazit für die Praxis Es wird deutlich, dass sich hinter dem Phänomen Computerspielsucht in einigen Fällen weit mehr verbirgt als eine harmlose Adoleszenzkrise, und Sanktionierungen des Verhaltens offensichtlich zu kurz greifen. Diese Einzelfallstudie weist darauf hin, dass diesem Phänomen innere Konflikte und Defizite zu Grunde liegen können, die ihren Ursprung bereits in frühsten Kindheitsjahren haben und über den Entwicklungsverlauf unter malignen Bedingungen fortschreiten können. Die Begegnung mit Paul hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er ließ uns an seinen inneren Nöten, aber auch an seiner Begeisterungsfähigkeit teilhaben und zeigte durch seine interaktive Bereitschaft auch sein Entwicklungspotenzial. Wir hoffen, dass es ihm durch positive Beziehungserfahrungen in weiterer Zukunft gelingen wird, seinen Avatar auch im richtigen Leben so groß und stark werden zu lassen, dass die Anforderungen der realen Welt ebenfalls aushaltbar werden. ipabo_66.249.69.239 Online-Rollenspielsucht eines Jugendlichen 477 Literatur Ahlheim, R. (2000). Wie entsteht eine psychoanalytische Fallstudie? In F. Heinzel (Hrsg.), Methoden der Kindheitsforschung über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 279-294). Weinheim: Beltz. Ahlheim, R. (2012). Wie entsteht eine psychoanalytische Fallstudie? In F. Heinzel (Hrsg.), Methoden der Kindheitsforschung über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 306-318). Weinheim: Beltz. American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). Arlington: American Psychiatric Publishing. Beranek, A., Cramer-Düncher, U., Baier, S. (2009). 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Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Bernd Traxl, AG Sonderpädagogik, Institut für Erziehungswissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität, Jakob-Welder-Weg 12, 55128 Mainz; E-Mail: [email protected] Marie Gerlach und Bernd Traxl, Johannes Gutenberg-Universität in Mainz AUTOREN UND AUTORINNEN Rainer Blank, Prof. Dr. med., Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Leiter der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn. Verena Freiberger, Dr. phil., Dipl.-Psych., Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn. Marie Gerlach, Erziehungswissenschaftlerin (Bachelor of Arts), Masterstudentin der Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sonderpädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Heide Greulich, Dr. med., Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn. Xaver Kienle, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn. Felix Klapprott, B. Sc. Psy., 2013-2014 Mitarbeiter im Arbeitsbereichs „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin. Franz Petermann, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Diagnostik am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) an der Universität Bremen. Ulrike Petermann, Prof. Dr. phil., Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Kinderpsychologie am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen. Herbert Scheithauer, Univ.-Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., seit 2003 Leiter des Arbeitsbereichs „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin. Jan Schultheiß, Dipl.-Psych., in der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen. Bernd Traxl, Juniorprofessor für Sonderpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Dozent am Mainzer Psychoanalytischen Institut (DPV), Psychoanalytische Praxis am Institut für angewandte Psychoanalyse (IAP). Stephan Warncke, Dipl.-Psych. Dipl.-Kfm., seit 2007 Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 480 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.69.239 BUCHBESPRECHUNGEN Fricke, S., Armour, K. (2014). Dem Zwang die rote Karte zeigen. Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Köln: Balance Buch+Medien, 142 Seiten, 17,95 €. Schmidt-Traub, S. (2013). Zwänge bei Kindern und Jugendlichen. Ein Ratgeber für Kinder und Jugendliche, Eltern und Therapeuten (2., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe, 177 Seiten, 16,95 €. Wewetzer, G., Wewetzer, C. (2014). Ratgeber Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Informationen für Kinder, Jugendliche und Eltern. Göttingen: Hogrefe, 112 Seiten, 14,95 €. Innerhalb kurzer Zeit sind drei Ratgeber zu kindlichen Zwangsstörungen erschienen. Diese sollen hier vorgestellt und hinsichtlich ihrer praktischen Einsatzmöglichkeiten miteinander verglichen werden. Die Namen der Erstautoren werden dabei zu Kennzeichnung der verschiedenen Werke verwendet. Alle drei Bände erheben den Anspruch, Kinder mit Zwangsstörungen und ihre Angehörigen über diese sehr belastende und nicht nur für Laien befremdliche Störung zu informieren und Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gemeinsam ist allen Bänden ein multikausales auf empirischer Forschung basierendes Störungsverständnis sowie eine kognitiv-behaviorale Ausrichtung der Interventionsvorschläge. Die Exposition mit Reaktionsverhinderung wird in allen drei Ratgebern als Kernstück der Intervention angesehen. Alle Texte sind, zumindest in den Teilen, die für Kinder und Jugendliche verfasst sind, illustriert und die Autoren bemühen darum, die Patienten selbst direkt anzusprechen. Die Textaussagen werden durchweg durch zahlreiche Fallbeispiele veranschaulicht. Jahrelang war der 2006 erstmalig erschienene Ratgeber von Schmidt-Traub auf dem Buchmarkt nahezu konkurrenzlos. Dieses in der Praxis bewährte Buch, das sich an Patienten, ihre Angehörigen und auch an Therapeuten richtet, liegt nunmehr als überarbeitete Neuauflage vor. An die gut 100 Seiten umfassende Information für Eltern schließt sich darin ein vereinfachter 33 Seiten umfassender Teil zur direkten Information der Kinder an. Im Anhang des Buches finden sich klinische Diagnosekriterien, Symptomcheckliste, Zwangsprotokoll und kurze Sachtexte zu wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie eine Kurzanleitung zur Progressiven Muskelentspannung. Der Ratgeber von Wewetzer informiert gleichermaßen Eltern und Kinder, wobei der Fokus überwiegend auf der (kompakten) Sachinformation liegt. Der Anhang enthält Arbeitsblätter als Kopiervorlagen sowie eine Kurzinformation über Zwänge, die auch für Kinder ab circa sechs Jahren verständlich sein kann. Für Leser, die ausführlichere Informationen suchen, wird auf das von denselben Autoren herausgegebene Therapiemanual (Wewetzer u. Wewetzer, 2012) verwiesen. Die dritte Neuerscheinung (Fricke) kann als Manual für eine (Selbst-)Therapie verstanden werden. Es wendet sich überwiegend an (jugendliche) Leser und leitet Schritt Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 481 – 485 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 482 Buchbesprechungen für Schritt durch die Exploration der Zwänge und deren Extinktion. Passagen, die sich ausdrücklich an die Eltern richten, sind optisch vom übrigen Text abgesetzt und vergleichsweise kurz. Alle drei Bücher liefern in weiten Teilen übereinstimmende Informationen und können für den praktischen Einsatz nahezu uneingeschränkt empfohlen werden. Die nunmehr vorhandene Auswahlmöglichkeit führt zur Qual der Wahl, wann welcher Ratgeber vielleicht eher in Frage kommt. Die Textlängen differieren beträchtlich (s. o.), allerdings ergeben sich bei SchmidtTraub durch die Aufteilung in einen Eltern- und einen Kinderteil etliche Wiederholungen. Fricke und Schmidt-Traub sprechen die Patienten auch auf der Gefühlsebene an, während die Texte in Wewetzer meist neutraler abgefasst ist. Fricke personifiziert Zwänge als „Monster“. Das Buch motiviert die Leser, diesen auf die Schliche zu kommen und sie zu bekämpfen. Schmidt Traub appelliert am deutlichsten, sich den mit Zwängen verbundenen Belastungen zu stellen und schildert das Vorgehen bei der Zwangsexposition am eingehendsten. Wewetzer weist am klarsten auf prädisponierende Denkmuster hin. Der kognitiven Umstrukturierung als Behandlungsmethode wird in den Werken kein großer Raum gegeben. Fricke empfiehlt Gegenbehauptungen, Wewetzer thematisiert mentale Distanzierungstechniken und Schmidt-Traub fordert die Eltern auf, dem Kind immer wieder zu sagen, dass die Zwangsvorstellungen Unsinn sind. Spezifische kognitiv-behaviorale Fragtechniken wie die Pfeil-abwärts-Methode werden nicht thematisiert. Fricke ist als Selbsthilfebuch angelegt und leitet Kinder und ihre Eltern schrittweise dazu an, Zwangshierarchien aufzustellen und selbst Exposition durchzuführen. Wewetzer dagegen beschreibt Möglichkeiten der Selbsthilfe (Zwangsexploration, Distanzierungstechniken usw.), ordnet die Exposition mit Reaktionsunterdrückung aber den Maßnahmen zu, die unter psychotherapeutischer Anleitung erfolgen. Schmidt-Traub nimmt dahingehend eine Mittelstellung ein und macht die Entscheidung für oder gegen eine Psychotherapie unter anderem von der Zwangsdauer abhängig. In Anbetracht der oft hohen psychischen Belastung von Eltern zwangskranker Kinder sollte allerdings sorgfältig erwogen werden, wann professionelle therapeutische Unterstützung entbehrlich ist. Fricke und Wewetzer liefern auch Informationen zur stationären Therapie. SchmidtTraub beschreibt komorbide Störungen und thematisiert differenzialdiagnostische Erwägungen, was einige Leser durchaus verunsichern kann. Das Phänomen rascher Symptomwechsel wird vornehmlich bei Wewetzer und Schmidt-Traub thematisiert. Schmidt-Traub enthält auch eine Reihe praktischer Tipps, zum Teil auch differenziert nach verschiedenen Zwangsthemen, die in den anderen Büchern so nicht enthalten sind. Ob Zwänge von Patienten als unsinnig angesehen werden oder nicht, wird in den Büchern unterschiedlich gewertet. Fricke tendiert eher dazu, das Wissen um die Absurdität von Zwängen als konstitutiv anzusehen (S. 13, kleiner Widerspruch dazu auf S. 119), die anderen Autoren gehen von flukturierenden Gewissheiten aus. Die praktischen Hinweise zum Umgang mit Zwängen bei Kindern unter 8-10 Jahren sind in allen drei Werken eher spärlich, am ehesten wird der Leser hierzu bei Schmidt-Traub fündig, die entwicklungspsychologische Aspekte zumindest anreißt. ipabo_66.249.69.239 Buchbesprechungen 483 Gute Lesefertigkeiten und kompetenter Umgang mit längeren Sachtexten sind Voraussetzung, um von den Texten profitieren zu können (Ausnahme der kurze Infotext in Wewetzer). Dies dürfte im Allgemeinen erst ab einem Alter von etwa 14 Jahren zu erwarten sein. Ansonsten ist bei der Lektüre mehr oder weniger Unterstützung durch Erwachsene erforderlich. Bei der Empfehlung von Zwangsratgebern an Eltern sollte auch deren Bildungsgrad mitberücksichtigt werden. Der Vergleich der drei Ratgeber ergibt keine Präferenz für einen bestimmten Text. Alle haben, wie oben dargestellt, im Hinblick auf verschiedene Einsatzmöglichkeiten ihre Stärken und Schwächen. Als ergänzende Lektüre zur Unterstützung einer behavioral-kognitiven Psychotherapie sind sie allesamt geeignet. Die Chancen, durch die Buchlektüre eine Psychotherapie obsolet zu machen, dürften dagegen eher gering sein. Auch für Therapeuten stellen die drei besprochenen Bände eine anregende Lektüre dar, die mithilft, Störungsverständnis und therapeutische Kompetenz zu verbessern. Dieter Irblich, Auel Wahl, K. (2015). Wie kommt die Moral in den Kopf? Von der Werteerziehung zur Persönlichkeitsförderung. Berlin: Springer, 180 Seiten, 14,99 €. Was hält menschliche Schwäche, Unvernunft und Leidenschaft in Schach, bewahrt die Gesellschaft vor dem Sturz in Anarchie und macht uns zu moralisch handelnden Menschen? Das rezensierte Buch soll diese Fragen auf dem aktuellen Stand interdisziplinärer Forschung beantworten, und das auf nicht einmal 200 Seiten, leicht verständlich in Form eines populären Sachbuchs – ein ambitioniertes Unterfangen also. Das Werk umfasst zehn Kapitel, von denen jedes mit einer Frage überschrieben ist. In den Kapiteln 2-8 werden „neue Forschungsergebnisse ... aus der Genetik, den Neurowissenschaften, der Psychologie und den Sozialwissenschaften“ präsentiert. Diese Ergebnisse fasst der Autor in einem eigenen Modell der Verursachung moralisch erwarteten Verhaltens zusammen, aus dem er in den letzten beiden Kapiteln Strategien zur Förderung moralischen Handelns ableitet. Kapitel 1 führt den Leser mit einer ausführlichen Definition von Moral, Ethik und Werten in die Thematik ein. Wahl beklagt, dass Werte unscharf definiert werden und schlägt eine Differenzierung auf drei Ebenen vor: A) gesellschaftlich, politisch und religiös Gewünschtes („höhere Werte“), B) der individuelle subjektive Wunschkatalog, nach dem aber nicht zwangsläufig auch gehandelt wird und C) Bewertungsprozesse im Gehirn, die unser Verhalten tatsächlich motivieren. Ziele der Werteerziehung sind laut Wahl gutes Leben und Zusammenleben. In seinem die „Top-down-Perspektive“ veranschaulichenden Modell soll Werteerziehung zu internalisierten Werten führen, die sich auf Moral und Normen auswirken, entscheidend für besseres moralisches Handeln, das letztlich zu den Zielen beiträgt. Nachdem der Autor eine Fülle durchaus interessanter Studien referiert hat, gelangt er relativ zusammenhanglos zu der Aussage, moralisches Verhalten würde im Verlauf der 484 Buchbesprechungen Evolution eingeschliffenen Bahnen im Gehirn folgen. Bewusste Entscheidungen seien daher selten und der größte Teil unseres alltäglichen Verhaltens würde automatisch ablaufen. Ein argumentativ recht schwammiger Ausflug in die Willensfreiheits-Debatte lässt ihn schließlich feststellen, die subjektive Willensfreiheit sei wissenschaftlich widerlegt. Es schließen noch zwei Kapitel über Kardinaltugenden sowie die Werte der Französischen Revolution an. Warum die Tugenden Weisheit mit Intelligenz und Tapferkeit mit Risikobereitschaft gleichgesetzt werden, warum Mäßigung als Vorläufer von Impuls- und Selbstkontrolle angesehen wird, ist nur schwer nachzuvollziehen. Bei der Behauptung schließlich, „Der Gegenpol zur antiken Tugend der Tapferkeit … sind Mäßigung, Impuls- und Selbstkontrolle, Risikovermeidung und Friedlichkeit.“, vermochte der Rezensent dem Autor gar nicht mehr zu folgen. In Kapitel 8 wird schließlich resumiert, dass idealisierte Werte unser alltägliches Handeln kaum leiten und Werteerziehung somit relativ unnütz ist. Folgerichtig fordert Wahl einen Strategiewechsel von der Werteerziehung zur Kompetenz- und Persönlichkeitsförderung. Das Buch schließt mit Beispielen als innovativ bezeichneter psychologischer und (sozial-)pädagogischer Praxisprojekte. Fazit: Lobend zu erwähnen ist die einheitliche Struktur der Kapitel, die durch hervorgehobene Zwischenfragen gegliedert werden, ein abschließendes Fazit aufweisen und jeweils mit einem eigenem Literaturverzeichnis versehen sind. Dadurch wird das Buch insgesamt sehr übersichtlich. Auch den kritischen Bemerkungen zum Mangel an gut geprüften Förderprogrammen für die emotionalen und moralischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen sowie zum Kenntnisstand zur aktuellen Forschungslage über Persönlichkeitsentwicklung im Schulkontext kann nur zugestimmt werden. Leider lässt der Autor diese kritische Haltung an anderer Stelle vermissen. Er behauptet zwar, dass Werteerziehung nicht funktioniert, belegt das aber nicht mit Studienergebnissen, sondern zeigt nur, dass menschliches Verhalten eine Vielzahl von Ursachen haben kann. Auch seine spätere Aussage: „Schon die kleinen Erfolge solcher Persönlichkeitsförderung übertreffen jene der Werteerziehung!“ bleibt leider unbelegt. Zuguterletzt ist der Anspruch, „ein interdisziplinär unterfüttertes populäres Sachbuch“ zu schreiben, nicht hoch genug zu würdigen – wenn er denn von einem einzelnen Autor erfüllt werden kann. Behauptet dieser jedoch für verschiedene Merkmale (Intelligenz, Fähigkeit zur Selbstkontrolle etc.) formelhaft, diese seien „in erheblichem Maße genetisch geprägt“, und schiebt diese Aussage ganz allgemein „der Forschung“ unter oder lässt nicht näher bezeichnete Wissenschaftler die evolutionäre Verankerung grundlegender menschlicher Eigenschaften annehmen, so klingt das vielleicht nach einem populären Sachbuch, aber nicht nach Fachkenntnis. Ähnlich zweifelhaft wirkt es, wenn evolutionsbiologische Phantastereien ohne empirische Grundlage zitiert und zur Argumentation herangezogen werden. Zusammenfassend lässt sich dieses Buch vielleicht als anregende Diskussionsgrundlage sehen, aufgrund zahlreicher eher spekulativer Abschnitte aber nicht als tragfähiges wissenschaftliches Fundament für neue Entwicklungen im Bildungs-/Erziehungsbereich. Kay Niebank, Bremen ipabo_66.249.69.239 Buchbesprechungen 485 Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion angefordert werden: – Bonney, H., Bonney, J. (2015). Schulversagen? Eltern bitten Lehrer und Berater an den Runden Tisch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 163 Seiten, 14,99 €. – Borke, J. et al. (2015). Kultur – Entwicklung – Beratung. Kultursensitive Therapie und Beratung für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ca. 208 Seiten, ca. 24,99 €. – Büch, H., Döpfner, M., Petermann, U. (2015). Soziale Ängste und Leistungsängste. Göttingen: Hogrefe, 189 Seiten, 24,95 €. – Grams, N. (2015). Homöopathie neu gedacht. Was Patienten wirklich hilft. Heidelberg: Springer, 235 Seiten, 14,99 €. – Horlitz, T., Schütz, A. (2015). ADHS: Himmelweit und unter Druck. Ressourcen und Stressbewältigung für betroffene Erwachsene und Jugendliche. Heidelberg: Springer, 109 Seiten, 19,99 €. – Huber, J., Walter, H. (Hrsg.) (2015). Der Blick auf Vater und Mutter. Wie Kinder ihre Eltern erleben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 320 Seiten, ca. 29,99 €. – Jäger, M. (2015). Aktuelle psychiatrische Diagnostik. Ein Leitfaden für das tägliche Arbeiten mit ICD und DSM. Stuttgart: Thieme, 168 Seiten, 49,99 €. – Kühling, L. (2015). Das Problem, der Spruch, die Lösung. Aphorismen in Beratung, Therapie und Supervision. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ca. 132 Seiten mit 90 Karten, 34,99 €. – Müller, C. (2015). Geheilt aber nicht gesund. Spätfolgen nach Krebserkrankungen im Kindesund Jugendalter. Aachen: Shaker, 230 Seiten, 21,80 €. – Natho, F. (2014). Brauchen wir die Liebe noch? Die Entzauberung eines Beziehungsideals. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 222 Seiten, 19,99 €. – Nijenhuis, E. (2015). The Trinity of Trauma: Ignorance, Fragility, and Control. The Evolving Concept of Trauma/The Concept and Facts of Dissociation in Trauma. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 635 Seiten, 89,99 €. – Omer, H., Lebowitz, E. (2015). Ängstliche Kinder unterstützen (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 207 Seiten, 19,99 €. – Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Stärke statt Macht (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 360 Seiten, 24,99 €. – Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Autorität ohne Gewalt (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 214 Seiten, 24,99 €. – Omer, H., von Schlippe, A. (2015). Autorität durch Beziehung (8. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 262 Seiten, 24,99 €. – Stölzel, T. (2015). Die Welt erkunden. Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 192 Seiten, 24,99 €. – Streeck, U., Leichsenring, F. (2015). Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 280 Seiten, 29,99 €. – Warsitz, R.-P., Küchenhoff, J. (2015). Psychoanalyse als Erkenntnistheorie – psychoanalytische Erkenntnisverfahren. Stuttgart: Kohlhammer, 188 Seiten, 26,99 €. TAGUNGSKALENDER 19./20.9.2015 in Bremen: 65. Kindertherapietage an der Universität Bremen Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie, Grazer Str. 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629, E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de 24.-26.9.2015 in Magdeburg: 15. wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF. simply emotional – simply systemic. Wie Gefühle Systeme bewegen Auskunft: ISFT Magdeburg, Hegelstr. 18, 39104 Magdeburg; Tel.: 0391-50968999, E-Mail: [email protected], Internet: www.dgsf-tagung-2015.de 24.-26.9.2015 in Hannover: Wissenschaftliche Jahrestagung der BKE. Zeit Bindung Auskunft: Internet: www.bke.de 1./2.10.2015 in Freiburg: Fachtagung: Bilanz und Perspektiven der Resilienzforschung Auskunft: E-Mail: [email protected] 2.-4.10.2015 in Würzburg: 25. Jahrestagung der DGGN Auskunft: Prof. Dr. H. Collmann, Neurochirurgische Universitätsklinik, Josef-Schneider-Str. 11, 97080 Würzburg; E-Mail: [email protected] 15.-17.10.2015 in Alpbach, Tirol, Österreich: Kongress Essstörungen 2015, 23. Internationale Wissenschaftliche Tagung Auskunft: Netzwerk Essstörungen, Templstraße 22, 6020 Innsbruck, Österreich; Tel. +43-512-576026, Fax +43-512-58 36 54, E-Mail: [email protected], Internet: www.netzwerk-essstoerungen.at 23.-24.10.2015 in Wien/Österreich: 16. Jahrestagung der Österreichischen Adipositas Gesellschaft. Adipositas 2015, Vision & Wirklichkeit Auskunft: Österreichische Adipositas Gesellschaft, Währingerstraße 76/13, A-1090 Wien; Tel.: +43-650-7703378, Fax: +43-1-2645229, E-Mail: [email protected] Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 486 – 487 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.69.239 Tagungskalender 487 24./25.11.2015 in Essen: Workshop: Akute Trauma-Nachsorge und Arbeit mit traumatisierten Familien Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 30.11.2015 in Essen Beginn der Seminarreihe Marte Meo Grundkurs (Practitioner) Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 07.12.2015 in Essen Beginn der Seminarreihe Systemisch Kompakt – für Jugendhilfekontexte Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 21.01.2016 in Essen Beginn der Seminarreihe Systemische Traumapädagogik Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 12.02.2016 in Essen Beginn der Seminarreihe Hypno-Systemisches Arbeiten in Beratung und Therapie Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de Aus dem Inhalt des nächsten Heftes Angststörungen und Bindungsforschung P. Zimmermann et al.: Emotionsregulation und emotionale Verletzungssensitivität bei Jugendlichen mit Angststörungen – A. Herbst et al.: Kombiniert psychodynamisch-multisystemische Behandlung bei schwerer Schulphobie – S. Achtergarde et al.: Der Zusammenhang von Bindungsmustern und der Entwicklung von Angstsymptomen im Kindes- und Jugendalter – A. M. Klein et al.: Psychoanalytische Kurzzeittherapie für Kinder mit Angststörungen – K. Weitkamp et al.: Analytische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit klinischen Angstsyndromen Von Allergien bis Suchterkrankungen: ausgewählte Schreibübungen für verschiedene Krankheitsbilder Silke Heimes Schreib dich gesund Übungen für verschiedene Krankheitsbilder 2015. 125 Seiten, kartoniert € 14,99 D ISBN 978-3-525-40458-4 eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40458-5 Nicht alle Krankheiten lassen sich erfolgreich behandeln, doch mit allen Krankheiten lässt es sich leben. Schreibend kann es gelingen, eine größere Akzeptanz zu entwickeln und die Lebensqualität zu verbessern. Jeder seelisch oder körperlich Kranke kann aktiv werden und schreibend sich selbst helfen. Dazu gibt es in diesem Buch 170 Schreibübungen zu 16 Krankheitsbildern. Ob Angststörung, Depression, Essstörung oder Posttraumatische Belastungsstörung, ob Herz-Kreislauf-Beschwerden, Allergie, Krebs oder Hauterkrankung: Jeder kann individuell durch kreatives und therapeutisches Schreiben bei der Bewältigung seiner Krankheit unterstützt werden. Betroffene erfahren, wie sie konstruktiv mit ihren Beschwerden umgehen und zu ihrer Gesundheit beitragen können. Um sich selbst auf die Spur zu kommen, gibt es kein besseres Mittel als schreibende Selbsterkundung. www.v-r.de Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht ipabo_66.249.69.239 Skizzierung einer der wenigen Professorinnen der 20er Jahre im Kontext ihrer Zeit Lieselotte Ahnert (Hg.) Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie 2015. 78 Seiten, mit 12 Abbildungen, kartoniert € 19,99 D ISBN 978-3-8471-0430-8 eBook: € 15,99 D ISBN 978-3-8470-0430-1 Vienna University Press bei V&R unipress Wie gelang es den wenigen Frauen in der Wissenschaft der 1920er-Jahre, sich in einer Männerdomäne zu etablieren? Dieser Band beschreibt den Werdegang Charlotte Bühlers (1893–1974). Charlotte Bühler hat als Entwicklungspsychologin an der Universität Wien Geschichte geschrieben. Thema sind ihr wissenschaftliches Lebenswerk und die Resonanz darauf vor dem Hintergrund der Situation der Psychologie und des Wirkens ihres Mannes Karl Bühler. Ergänzt wird der Band durch ein KabarettManuskript aus dem Jahr 1929, das die wissenschaftliche Lage der damaligen Psychologie humoristisch verarbeitet. www.v-r.de American Psychiatric Association on Diagnostischess und Statistisches Manual Psychischer Störungen örungen – DSM-5® Deutsche Ausgabe herausgegebenn von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen, chen, mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel, bel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig 2015, LXIV/1.298 Seiten, geb., € 169,– / CHF 228,– ISBN 978-3-8017-2599-0 Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) ( ) ist ein weltweit l i anerkanntes und etabliertes Klassifikationssystem für psychische Störungen. Es ermöglicht eine zuverlässige Diagnostik psychischer Störungen und liefert zweckdienliche Anleitungen für Fachpersonen unterschiedlicher Orientierungen im klinischen und wissenschaftlichen Bereich. Alle Störungen sind anhand expliziter Kriterien detailliert beschrieben und erleichtern die objektive Beurteilung klinischer Erscheinungsbilder in psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen. Die Struktur des DSM-5 deckt sich mit der der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation. In der vorliegenden fünften Fassung wurden zahlreiche Modifikationen und Erweiterungen gegenüber der Vorgängerversion DSM-IV vorgenommen, wodurch der Einsatz in der klinischen Forschung und Praxis weiter verbessert werden kann. Dazu gehören die Berücksichtigung entwicklungsbezogener diagnostischer Aspekte und die Integration neuer Befunde der genetischen und bildgebenden Forschung. Für die einzelnen Störungsbilder werden u.a. Informationen zu diagnostischen Merkmalen, zu Entwicklung und Verlauf, zur Prävalenz, zu Risiko- und prognostischen Faktoren, zu kultur- und geschlechtsspezifischen Besonderheiten, zu funktionellen Folgen sowie zur Differenzialdiagnose und Komorbidität gegeben. Neben den bereits wissenschaftlich anerkannten Diagnosen werden in einem separaten Teil des Manuals neue Störungen und Syndrome, die weiterer Forschung bedürfen, dargestellt und diskutiert. Weiterhin werden verschiedene dimensionale Maße für Symptomschwere und Beeinträchtigungsgrad vorgestellt, die eine präzise und flexible Beurteilung von Einschränkungen und Behinderung ermöglichen sollen. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Merkelstraße 3 · 37085 Göttingen · Tel.: (0551) 99950-0 · Fax: -111 E-Mail: [email protected] · Internet: www.hogrefe.de ipabo_66.249.69.239 Empathie und Kooperation statt Konfrontation von »Helikoptereltern« und »Prechtianern« Helmut Bonney / Juliane Bonney Schulversagen? Eltern bitten Lehrer und Berater an den Runden Tisch 2015. 163 Seiten, mit 11 Abb., kartoniert € 14,99 D ISBN 978-3-525-40222-1 eBook: € 11,99 D ISBN 978-3-647-40222-2 Anliegen des systemisch arbeitenden Autorenpaars ist es, bei Schulproblemen Lösungen zu finden durch ein kooperatives Zusammenwirken von Familien, Pädagogen und Beratern – ohne Vorwürfe oder Schuldzuweisungen. Alle Eltern und Lehrer, die sich für den Schulerfolg ihrer Kinder und für Reformen in der Schule engagieren, verdienen aus systemischer Sicht per se Anerkennung. Das Schulsystem als gescheitert zu brandmarken oder mit dem Finger auf Eltern zu zeigen, denen es vielleicht nicht ausreicht, »gut genug« zu sein, oder die ihre Kinder vermeintlich nur unzureichend anleiten, ist nicht lösungswirksam. Stattdessen erweist es sich als hilfreich, wenn Familien, Pädagogen und Berater sich am Runden Tisch zusammenfinden und konstruktiv einen Stressabbau bei allen Beteiligten bewirken. Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de