„Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch“

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„Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch“
Theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen
zum Thema Lernen in einem Auslandsjahr am Beispiel des AFS (American Field Service Deutschland) und des Stipendienprogramms der Landesstiftung Baden-Württemberg
Zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil.
von
Jana Lohmann
vorgelegte Dissertation
am Lehrstuhl Prof. Dr. Georg Hansen
Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften
Fernuniversität Hagen
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Danksagung
5
1. Einleitung – Soziales und interkulturelles Lernen
7
1.1. Internationale Studie zum Schüleraustausch
1.1.1. Untersuchungsmodell der interkulturellen Kompetenz
1.1.2. Testergebnisse der Hammer - Studie
1.1.3. Kritische Bewertung der Methode von Bennett und Hammer
1.1.4. Fragestellung und Erkenntnisgewinne
7
8
12
17
21
1.2. Klassifikationsmöglichkeiten der Austauschformen
23
1.3. Interkulturelles Lernen im langfristigen Schüleraustausch
25
1.3.1. Geplantes, erfahrungsorientiertes und entdeckendes Lernen im Austausch
25
1.3.2. Interkulturelles Lernen im AFS
26
1.3.3. Kulturdefinition und interkulturelles Lernen im AFS
28
1.3.4.Theoretisches Konzept des interkulturellen Lernens im AFS
30
1.3.5. Hypothesen der Untersuchung des AFS - Konzeptes
35
1.4. Voruntersuchungen zur Teilnehmerstruktur
1.4.1. Soziogramme Regelauswahl
1.4.2. Soziogramme - Stipendienauswahl
1.4.3. Erwartungen an ein Auslandsjahr
36
36
39
42
1.5. Von der Bewerberin zur Teilnehmerin
48
2. Theoretische Fundierung des sozialen Lernens
50
2.1. Theoretische Fundierung – Rolle und Sozialisation
50
2.1.1. Parsons Handlungs- und Systemtheorie
50
2.1.1.1. Handlungstheorie
51
2.1.1.2. Funktionalistische Systemtheorie
55
2.1.1.3. Funktionalistische Rollentheorie
58
2.1.2. Sozialisationstheorien
59
2.1.3. Kritische Würdigung und Anwendung der Theorien auf das interkulturelle
Lernen
62
2.2. Alternative theoretische Fundierung des sozialen Lernens
2.2.1. Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung
2.2.1.1. Stufen der intellektuellen Entwicklung
2.2.1.2. Lernen durch Assimilation und Akkommodation
2.2.1.3. Kognitives Lernen und Entwicklung eines Weltbildes
2.2.1.4. Kritische Würdigung Piagets
2.2.2. Bourdieu
2.2.2.1. Sozialer Raum
2.2.2.2. Das Konzept des Habitus
2.2.2.3. Kapitalien
2.2.3. Fazit für das interkulturelle Lernen als soziales Lernen
2.2.3.1. Piaget und das interkulturelle Lernen
2.2.3.2. Bourdieu und das interkulturelle Lernen
68
68
68
73
74
77
79
80
82
84
87
87
89
3
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3. Empirische Untersuchung des sozialen und interkulturellen
im Schüleraustausch
Lernens
95
3.1. Der soziale Raum
3.1.1. Voruntersuchungen zur Positionierung im sozialen Raum
3.1.2. Sozialer Raum - Regelprogramm
3.1.3. Der soziale Raum – Stipendienprogramm
3.1.4. Sozialer Raum - Gastschülerinnen in Deutschland
96
96
97
102
105
3.2. Untersuchung des sozialen Lernens
107
3.2.1. Soziales und interkulturelles Lernen bei sozialer Gleichheit von Herkunftsund Gastfamilie
108
3.2.1.1. Fallbeispiele
109
3.2.1.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Gleichheit
114
3.2.2. Soziales und interkulturelles Lernen bei sozialer Ungleichheit von
Herkunfts- und Gastfamilie
115
3.2.2.1. Fallbeispiele
116
3.2.2.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Ungleichheit
121
3.3. Ausländische Gastschülerinnen in Deutschland
122
3.3.1. Soziale Gleichheit zwischen Gast- und Herkunftsfamilie
122
3.3.1.1. Fallbeispiele
123
3.3.1.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Gleichheit
125
3.3.2. Soziale Unterschiede zwischen Gast- und Herkunftsfamilie
127
3.3.2.1. Fallbeispiele bei sozialer Ungleichheit
128
3.3.2.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Ungleichheit – Stipendiatinnen
in Deutschland
131
3.4. Fazit der empirischen Überprüfung
3.4.1. Soziale Gleichheit und ihr Einfluss auf das soziale Lernen
3.4.2. Soziale Ungleichheit und ihr Einfluss auf das soziale Lernen
3.4.3. Soziales und habituelles Lernen im Ausland
4. Zugänge zum interkulturellen Lernen
133
133
134
135
137
4.1. Modell des sozialen Lernens nach Bourdieu
4.1.1. Modell des interkulturellen Lernens nach Bourdieu
4.1.1.1. Vorbereitungskonzept
4.1.1.2. Begleitkonzept
4.1.1.3. Nachbereitungskonzept
4.1.2. Situation der Gastfamilie
4.1.3. Evaluationsbasis
137
138
140
149
154
156
162
4.2. Zusammenfassung und Ausblick
4.2.1. Vom interkulturellen Lernen zum soziales Lernen
4.2.2. Ergebnisse der Untersuchung zum sozialen und interkulturellen Lernen
4.2.3. Bourdieu, Bennett und Hammer
4.2.4. Offene Fragen und Ausblick
167
168
171
174
175
Anhang
179
I. Tabellenverzeichnis
180
II. Übersichtenverzeichnis
181
III. Literaturverzeichnis
182
4
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Es sind die Begegnungen mit Menschen die das Leben lebenswert machen
Guy de Maupassant
Danksagung
Als im September 2001 die Flugzeuge ins World Trade Center rasten, schien der
Clash of Cultures Wirklichkeit geworden zu sein.
Schüleraustauschorganisationen wie der AFS, YFU, GIVE, Partnership und andere,
die sich seit Jahrzehnten bemühen Jugendlichen einen direkten Weg zu anderen Ländern und deren Menschen zu öffnen, um das Verständnis der Menschen zu verbessern, schienen in ihren Ambitionen widerlegt. Es gab Anlass für die schlimmsten
Befürchtungen. Der deutsche Schüler- und Studentenaustausch wurde durch die Ereignisse des September 2001 nur kurzfristig zurückgeworfen, um dann einen Boom zu
erleben, an dem immer mehr Schüler und Studenten partizipieren.
Die Landesstiftung Baden-Württemberg richtet unabhängig von diesen Ereignissen ihr
Augenmerk des Schüler- und Studierendenaustausches auf Russland und die Staaten
Mittel- und Osteuropas und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Verständigung
durch Austausch in Europa.
Die Beispiele belegen den Wert von Austausch ad se, wie aber kann der Gewinn eines
Austauschjahres beziffert werden fragte ich mich immer dringlicher, je mehr Schülerinnen, Schüler und Studierende mir in diesem besonderen Jahr begegneten. Immer
mehr drängte sich die Frage auf, ob nicht mehr und Besseres in einem Auslandsjahr
zu erreichen ist, wenn man mit klaren Vorstellungen an dieses Jahr herangeht. Weder
schwebte mir eine Ökonomisierung, noch eine Pädagogisierung dieses außergewöhnlichen Jahres vor, sondern die Erweiterung der Möglichkeiten, bei besserer Kenntnis
der Grenzen, um Menschen in fremden Ländern schnell näher zu kommen. Als
Migrantin bin auch ich auf diese Fähigkeiten besonders angewiesen.
Die Möglichkeit sich mit dem Thema Schüleraustausch wissenschaftlich zu beschäftigen war für mich Chance und Herausforderung in einem. Meine langjährigen Begegnungen mit Gastschülerinnen und Gastschülern, sowie deren Gasteltern und ihrem
Willen eine Wahlverwandtschaft auf Zeit einzugehen, waren immer bereichernd. Genauso bereichernd waren die Begegnungen mit Menschen, die sich in beeindruckender Weise ehrenamtlich engagieren, um diese Wahlverwandtschaften und ein gelin-
5
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
gendes Jahr zu ermöglichen. Diese Begegnungen waren der Auslöser für meine Arbeit, die ohne Herrn Prof. Dr. Hansen nicht möglich geworden wäre, um für alle Seiten
ein bereicherndes und außergewöhnliches Jahr zu ermöglichen.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Hansen, für hervorragende Gespräche und
wichtige Anregungen und seine Fähigkeit das Ziel nie aus den Augen zu verlieren.
Den Komiteevorsitzenden des AFS in Baden – Württemberg danke ich für ihre Unterstützung, im Besonderen Michael Kaiser, Saskia Schittenhelm und Christine Sturm, mit
denen neue Ideen praktisch erprobt und umgesetzt werden konnten. Margret Eisenbart
und Silke Schubert haben mir in meiner aktiven Zeit immer wieder wichtige Anregungen gegeben, die für das Komitee wertvoll waren und manches Austauchjahr zu einem
Highlight machen konnten. Sie haben mir gezeigt, dass interkulturelles Lernen ohne
soziale Fähigkeiten nicht möglich ist.
Dem Geschäftsführer des AFS Deutschland Herrn Petersmann und Frau Gesevius
danke ich für Ihre Unterstützung.
Und last but not least sei Monika Jekelius für ihr hilfreiches Korrekturlesen gedankt.
Eine Arbeit, die in gebundener Form vorliegt, sieht nicht mehr aufregend aus und man
sieht ihr kaum mehr die Zeit an, die für empirische Untersuchungen und die theoretische Fundierung notwendig war. Diese Zeit fehlte meiner Familie, die dies fast geduldig ertragen hat.
Die Erfahrungen mit den Gasttöchtern Amanda (USA 1996/97) und Rio (Japan 2001/
02) und mit meinen Söhnen Thorsten (Hong Kong 2004/05) und Sven (Venezuela
2006/07) im Austausch haben mir immer wieder einen klaren Realitätsbezug gegeben,
diese Arbeit ist ihnen gewidmet.
6
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
1. Einleitung – Soziales und interkulturelles Lernen
Den Begriff des interkulturellen Lernens gab es bis in die 1980er Jahre nicht, erst seit
der Einführung der interkulturellen Pädagogik und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit dem interkulturellen Lernen, wurde in den letzten Jahren dieser Begriff
weit ausgefächert und wenig einheitlich entwickelt. Zwar besteht weitgehend Konsens,
dass unter dem interkulturellen Lernen diejenigen Lerntätigkeiten zu verstehen sind,
mit denen Kompetenzen entwickelt werden, die beim Umgang mit Menschen einer
anderen Kultur oder eines anderen Kulturkreises nötig sind. Aber bisher konnte kein
Konsens darüber hergestellt werden, wie Kultur und Kulturkreis eindeutig und allgemeingültig zu definieren sind, so dass über den Konsens des Lernens hinaus, aus den
unterschiedlichsten Anwendungen und Verbindungen des Lernens divergierende Annahmen resultieren. Teilweise wird interkulturell mit international gleichgesetzt, während andere Bezeichnungen auf die Beherrschung einer Fremdsprache und wieder
andere auf eine besondere Handlungskompetenz oder Sensibilität gegenüber Angehörigen einer anderen Kultur, ohne die Sprachkompetenz zu berücksichtigen, fokussieren. Der Schüleraustausch nimmt in dieser Begriffsbildung keine Sonderstellung ein.
Zwar nehmen die Austauschorganisationen für sich in Anspruch eine besonders intensive Möglichkeit des interkulturellen Lernens durch den direkten Kontakt mit Menschen
in fremden Ländern zu ermöglichen, gleichzeitig können sie aber keine einheitliche
Definition von interkulturellem Lernen anbieten. Manche Austauchorganisationen verstehen interkulturelles Lernen als umfassenden Bildungsprozess, der im Jugendalter
besonders effizient sein kann, andere Organisationen sehen dagegen das Zentrum im
Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen.
Erschwert wird die Eingrenzung des Begriffs durch die fehlenden wissenschaftlichen
Untersuchungen des interkulturellen Lernens im langfristigen Schüleraustausch. Umso
erfreulicher ist es, dass der American Field Service (AFS) im Jahr 2005 die erste wissenschaftliche Studie zur Wirksamkeit des Schüleraustausches vorgelegt hat.
1.1. Internationale Studie zum Schüleraustausch
Die älteste deutsche Schüleraustauschorganisation, der AFS, hat in den Jahren 2002 –
2004 zusammen mit Mitchell R. Hammer eine Untersuchung durchgeführt, um die
Wirksamkeit des interkulturellen Lernens im langfristigen Schüleraustausch feststellen
zu lassen. Die Untersuchung diente nicht der Evaluation des interkulturellen Lernkonzeptes von AFS, oder der Begriffsbildung, sondern sollte unter den gegebenen Bedingungen die Wirksamkeit eines Austauschjahres untersuchen. Implizit wurde die
7
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Richtigkeit des Konzeptes unterstellt und Rückwirkungen von Konzept und interkulturellem Lernen ausgeklammert. Die Auseinandersetzung mit der offiziellen Studie
bringt Erkenntnisgewinne über den derzeitigen Stand des interkulturellen Lernens im
Schüleraustausch, besonders im AFS, und soll deshalb als Einstieg in die eigene Untersuchung vorgestellt und hinterfragt werden.
Alle anderen wissenschaftlichen Untersuchungen haben nicht den langfristigen Schüleraustausch im Fokus, sondern Kurzzeitmaßnahmen von Vereinen oder Schulpartnerschaften.
1.1.1. Untersuchungsmodell der interkulturellen Kompetenz
Milton J. Bennett hat in den 1970er Jahren das 'Developmental Model of Intercultural
Sensitivity', kurz DMIS, zur Entwicklung der interkulturellen Kompetenz vorgestellt.
Dieses Modell wurde in den letzten Jahren von Mitchell R. Hammer zum IDI- Messinstrument modifiziert, mit dem die interkulturelle Sensibilität als individuelle Kompetenz
gemessen werden kann.
Das Entwicklungsmodell und das Testsverfahren basieren auf einem teils behavioristischen, teils konstruktivistischen Stufenmodell, in dem Bennett und Hammer davon
ausgehen, dass Menschen nicht lernen weil sie an etwas teilhaben, sondern weil sie
den exogenen Phänomenen eine Bedeutung beimessen. Dabei bezieht sich Bennett
auf Kelly: „Ein Mensch kann Zeuge einer massiven Parade von Episoden sein und
dennoch: wenn er nichts daraus macht, gewinnt er wenig Erfahrung daraus, dabei gewesen zu sein. Ein Mensch wird nicht erfahren, weil um ihn herum etwas geschieht –
es sind die Folgen des Konstruierens und Rekonstruierens der Ereignisse, während sie
passieren, die die Erfahrungen seines Lebens bereichern.“ (Georg Kelly 1963 zitiert
nach Bennett 1993, S. 36)
Mit Kelly nimmt auch Bennett an, dass es keinen Automatismus des Erkennens gibt,
sondern, dass exogene Effekte durch aktives Tun verarbeitet werden müssen, um Erkenntnisgewinne zu realisieren.
„Erfahrungen werden als 'interkulturelle Sensibilität' bezeichnet, und es wird angenommen, dass solche Sensibilität besser als Entwicklung beschrieben werden kann,
denn als Sammlung spezifischer Verhaltensweisen. Anders ausgedrückt ist Entwicklung eine Konstruktion der Wirklichkeit, welche zunehmend fähig ist kulturelle Unterschiede zu akkommodieren; Verhalten wie Vorurteile werden als Verkörperung der verschiedenen Konstruktionsphasen gehandelt.“ (Bennett 1993, S. 37)
Das Entwicklungsmodell baut Bennett auf der Annahme affektiver Entwicklungen auf,
die durch die Bedrohungen des eigenen Weltbildes und eigener Überzeugungen durch
8
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
behavioristische Verhaltensänderung und kognitive Prozesse notwendig werden. Die
Entwicklung der interkulturellen Sensibilität auf der Grundlage der behavioristischen
Anpassung und kognitiven Verarbeitung unterscheidet Bennett in sechs Stufen, die in
zwei Hauptstufen, die ethnozentrische und die ethnorelativistische, gegliedert werden.
Ethnozentrismus definiert Bennett als „Annahme, dass die Weltanschauung der eigenen Kultur zentral zu aller Wirklichkeit liegt. Damit ist Ethnozentrismus eine Parallele
des Egozentrismus, in dem der Betroffene glaubt, dass seine oder ihre Existenz notwendiger Weise im Zentrum des Wirklichkeitsempfindens anderer liegt.“ (Bennett 1993,
S. 29) Auf der ethnozentrischen Ebene reagieren Menschen auf affektive Verunsicherungen durch anderskulturelle Denkweisen oder anderes Verhalten indem sie diese
anderen Kulturen und Verhaltensweisen negativ abwerten. Die ethnozentrische Stufe
wird in drei Unterstufen unterteilt:
I.
Verleugnung = Denial (kultureller Unterschiede) durch:
Isolation und Absonderung
II.
Verteidigung = Defense (der eigenen Kultur) durch:
Verunglimpfung anderer Kulturen, Überlegenheit der eigenen Kultur, Umkehrung
III.
Minimierung = Minimizing (kultureller Unterschiede)
Physischer Universalismus, Transzendenter Universalismus
Gelingt auf der ersten Stufe der Entwicklungsskala der Abbau von Verunsicherung
nicht, kann das Individuum im Extremfall bis zur physischen Isolation gehen, um die
verunsichernden Verhaltensweisen zu vermeiden. Da in dieser Isolation kein Lernprozess möglich ist, gibt es auch kein endogenes Entkommen. Bennett schlägt daher exogene Maßnahmen, wie eine internationale Nacht oder eine multikulturelle Woche, zur
Sensibilitätsentwicklung vor. Auf der nächsten Stufe der interkulturellen Sensibilität
werden andere Kulturen entweder durch negative Vorurteile verunglimpft, oder die
eigene Kultur wird überhöht. Auf der dritten Stufe werden kulturelle Unterschiede verharmlost, um die eigene affektive Verunsicherung zu minimieren. „Was Minimierung zu
einer ethnozentrischen Phase macht ist die naive Feststellung, dass trotz aller Unterschiede, alle Menschen einige grundlegende Charakteristika (..) teilen. Diese angenommenen universellen Charakteristika werden fast immer von der heimischen Kultur
her abgeleitet.“ (Bennett 1993, S. 29) Im Extremfall der Minimierung werden Feststellungen, wie 'alle Menschen sind gleich, weil alle essen, sich fortpflanzen und sterben',
gemacht (physischer Universalismus), oder es werden abstrakte Gemeinsamkeiten,
wie die Herkunft der Menschheit aus der Schöpfung durch ein höheres Wesens bemüht (transzendenter Universalismus). Beide Verhaltensweisen können andere Kulturen nicht als gleichwertig anerkennen.
9
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die zweite Hauptgruppe der interkulturellen Sensibilitätsstufen wird als ethnorelativ
beschrieben. Grundlage des Ethnorelativismus ist die Annahme, dass Kulturen keine
absoluten Werte darstellen, sondern relativ zueinander gesehen werden müssen. Individuelle Verhaltensweisen sind dann in einem relativen kulturellen Kontext zu verstehen. „Es gibt keine absoluten Standards der Richtigkeit oder des 'Guten', welche auf
kulturelle Verhaltensweisen nur in einem kulturellen Kontext verstanden werden können.“ (Bennett 1993, S. 19)
Die drei Stufen der ethnorelastivistischen Gruppe sind:
IV.
Akzeptanz= Acceptance (kultureller Unterschiede)
Respekt für unterschiedliches Verhalten und Werte
V.
Anpassung = Adaption (an fremde Kultur) durch:
Empathie und Pluralismus
VI.
Integration = Integration (in fremde Kultur) durch:
Kontextuelle Bewertung und konstruktive Marginalität
Ab der vierten Stufe der Akzeptanz können Verunsicherungen durch kulturelle Unterschiede nicht mehr eintreten, da verbale und nonverbale Unterschiede, wie auch unterschiedliche Wertvorstellungen akzeptiert und respektiert werden. Tiefer liegende Unterschiede, also Unterschiede unterhalb oberflächlicher Äußerlichkeiten, werden auf dieser Stufe als kulturell anders determiniert und akzeptiert. Die Unterscheidung von oberflächlichen und tieferen Unterschieden ist bei Bennett allerdings nicht trennscharf nachvollziehbar.
Auf der fünften Sensibilitätsstufe werden andere Kulturen respektiert. „In der Akzeptanz
wurde der Rahmen für die Würdigung kultureller Unterschiede etabliert. Während dieser Phase - Anpassung - werden Fähigkeiten für den Bezug zu und Verständigung mit
Menschen anderer Kulturen verstärkt und verbessert.“(Bennett 1993) Ausdrücklich
betont Bennett, dass der Begriff Anpassung nicht als Assimilierung verstanden werden
sollte, da Assimilierung ein Aufsaugen der eigenen Identität durch andere Kulturen
bedeute.
Auf der letzten Entwicklungsstufe gelingt dem multikulturellen Menschen die Integration
in eine fremde Kultur. „Der multikulturelle Mensch ist einer, dessen grundlegend andere
Lebensmuster, die sich von dem eigenen unterscheiden, einschließt und der sich psychologisch und sozial mit einer Vielfalt von Wirklichkeiten abgefunden hat.“ (Peter Adler
1977aus Bennett 1993)
Multikulturelle Integration wird durch kontextuelle, nicht durch konstruktivistische Bewertungen von Kultur erreicht. Wer die höchste interkulturelle Sensibilitätsstufe erreicht, dem wird es möglich Unterschiede zwischen den Kulturen zu benennen, ohne
die eigene kulturelle Gebundenheit zu verletzen. Auf dieser Stufe befinden sich Men-
10
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
schen außerhalb aller konstruktivistischen Normen und erreichen die Außenseiterposition der Marginalisierung. Diese Marginalisierung kultureller Unterschiede will Bennett nicht negativ deuten und führt dazu aus: „dass Marginalität genau das subjektive
Erleben von Menschen, die mit der totalen Integration des Ethnorelativismus kämpfen,
beschreibt. Sie sind außerhalb aller kulturellen Referenzrahmen, da sie bewusst jede
Annahme auf eine Metaebene (Ebene der Selbstreferenz) heben können. Oder anders
formuliert, es gibt keine natürliche kulturelle Identität für eine marginale Person.“ (Bennett 1993)
Auf der höchsten Stufe der interkulturellen Sensibilität werden entscheidende Annahmen des Entwicklungsmodells modifiziert. Die Verarbeitung von Erfahrungen wird
nicht mehr konstruktivistisch, sondern kontextuell angenommen, so dass jede kulturelle
Annahme reflexiv auf die Metaebene der Selbstreferenz gehoben werden kann. Ein
Mechanismus der Entwicklung wird nicht definiert, so dass diese Annahmen mehrere
theoretische Probleme aufwerfen. Zunächst soll jedoch die Modifikation des BennettModells durch Mitchell R. Hammer vorgestellt werden, auf dessen Modell die aktuelle
AFS - Studie basiert.
Die Modifikation des Modells durch Mitchell R. Hammer erfolgte, um die Messbarkeit
der einzelnen Stufen in Tests zu verbessern. Hammer hat aus Bennetts behauptetem
Entwicklungsmodell ein Messinstrument entwickelt, dass Stufen der interkulturellen
Sensibilität klar abgrenzt, um sie zu messen. Die Probleme des unklaren Entwicklungsmechanismus mit der Endstufe des interkulturellen Menschen spielen bei der Messung
der Stufen eine untergeordnete Rolle, denn Hammer will die aktuell erreichte Stufe
nachweisen und nicht den Prozess, der zu dieser Stufe führt. Die sechs Stufen von
Bennett erfüllen die Kriterien einer trennscharfen Abgrenzung nicht und wurden daher
von Hammer auf fünf reduziert.
Übersicht 1: Intercultural Development Inventory (IDI)
DD
R
M
AA
EM
Defense & Denial
Verleugnung und Verteidigung
Reverse
Umkehr
Minimalization
Acceptance & Adaption
Akzeptanz und Anpassung
Emphaty & Marginalization
Empathie und Marginalisierung
Ethnozentrisch
Übergangsstufe
Ethnorelativistisch
Die Revision der Stufen ergibt eine Zusammenfassung der Verleugnung und der Verteidigung zu einer Stufe, während die Umkehrung – bei Bennett noch eine Unterstufe
11
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
der Verteidigung – zu einer eigenständigen Stufe aufgewertet wird. Die Stufe der Minimalisierung wird zu einer Übergangsstufe, die weder eindeutig ethnozentrisch, noch
ethnorelativistisch ist und damit ein Zwischenstadium der interkulturellen Sensibilität
bildet. Hat Bennett noch eine einleuchtende Begründung für die ethnozentrische Bewertung dieser Stufe geliefert, kann Hammer keine eindeutige Begründung anführen.
Akzeptanz und Anpassung werden zu einer Stufe vereint, während Integration und
kontextuelle Bewertung durch Empathie und Marginalisierung ersetzt werden. Diese
fünf Stufen liegen der Messung der interkulturellen Sensibilität von AFS- Austauschschülern zugrunde.
1.1.2. Testergebnisse der Hammer - Studie
Am IDI-Test des AFS waren Schülerinnen und Schüler aus Deutschland (32%), Japan
(15%), Italien (14%), USA (12%) sowie aus Österreich, Brasilien, Hong Kong, Equador
und Costa Rica (insgesamt 27%) beteiligt. Diese Länder wurden in den Test aufgenommen, weil sie für die Untersuchung ausreichend große Schülerzahlen erreichen. 64%
der Teilnehmer waren weiblich und 36% männlich. 97% der Befragten waren, vermutlich beim Pre-Test, unter 17 Jahren und hatten noch keinen Schulabschluss. Die soziographischen Daten berücksichtigen weder die besuchten Schularten noch die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler.
Eine Kontrollgruppe wurde entlang der Eckdaten Länder, Geschlecht und Alter zusammengestellt, eventuelle soziale Unterschiede zwischen den Programmteilnehmern
und der Kontrollgruppe wurde nicht berücksichtigt. Ein erstes Ergebnis verglich die
erreichten Stufen im Pre-Test mit den Ergebnissen des Post-Tests. Die Auswertung
der Fragebögen vor und nach dem Austauschjahr ergab das folgende Bild für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Austauschjahr mit dem AFS (Veröffentlicht
2006).
Übersicht 2: Interkulturelle Sensibilität nach M. Hammer
Interkulturell
Sensibilitätsstufe
Integration
Akzeptanz& Anpassung
Minimalisierung
Umkehrung
Leugnung und Abwehr
Pretest Posttest
0
3%
56%
0
41%
0
5
61
0
34
12
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Im Pre-Test hatten 41% der Befragten Austauschschülerinnen die Sensibilitätsstufe
DD/R, 56% die Übergangsstufe der Minimierung (Minimalisation) und 3 % hatten bereits vor dem Austauschjahr die Stufe AA der Akzeptanz erreicht. Alle Werte wurden im
Posttest verbessert, während die Kontrollgruppe im Pre-Test zu 57% auf der Stufe
DD/R, zu 41% auf die Stufe der Minimierung und zu 2% auf der AA – Stufe stand, haben sich alle Ergebnisse der Kontrollgruppe im Post-Test verschlechtert. Die höchste
Stufe der Minimalisierung konnte keiner der Befragten erreichen. Aus den Ergebnissen
ergeben sich zwei methodische Fragen. Zum einen warum die Ergebnisse der Stufen
DD und R aggregiert wurden und warum keine Auswertung der Verbesserungen und
Verschlechterungen vorgenommen wurde.
Eine isolierte Untersuchung der Stufe DD (Verleugnung und Verteidigung) und R (Abwehr und Umkehrung) wäre sinnvoll, denn jede Stufe für sich ist ein Aggregat so dass
eine weitere Zusammenfassung eine Unterscheidung der Einstellungen zu kulturellen
Unterschieden deutlich verwässert. Die Zusammenfassung dieser Untergruppen in der
Studie irritierte und die diesbezüglichen Bedenken konnten durch Hammer während
seiner Präsentation in Berlin im April 2005 nicht ausgeräumt werden. Ebenfalls unbefriedigend war die Erklärung der allgemeinen Verschlechterung der Kontrollgruppe, vor
allem da der Test nur die Verschlechterung feststellt, ohne eine Binnendifferenzierung
vorzunehmen. Da der IDI-Test die Entwicklung in beide Richtungen messen kann, hätte man die Darstellung der positiven und der negativen Entwicklungen erwartet und
nicht nur die Summen. Die Ergebnisse des IDI-Test sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst.
Übersicht 3: Ergebnisse des IDI – Tests
Ergebnisse nach dem Austausch
DD
R
Defense & Denial
Ethno-
Verleugnung und Verteidigung
zentrisch
AFS
Kontrollgruppe
34% (-7%)
61% (+4%)
61% (+ 5%)
39% (-2%)
3% (+1%)
0% (-2%)
0%
0%
Reverse
Umkehr
Übergangs-
M
AA
Minimalization
stufe
Acceptance & Adaption
Ethnorelativistisch
Akzeptanz und Anpassung
EM
Emphaty & Marginalization
Empathie und Marginalisierung
13
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Auffällig ist, dass die Ergebnisse der ethnozentrischen Stufe zusammengefasst werden. Eine Differenzierung der Zahlen auf dieser Stufe wäre wünschenswert, denn es
macht einen Unterschied ob sich 34% der Schülerinnen von Verleugnung & Verteidigung auf die Stufe der Umkehr weiterentwickeln, oder ob sie mehr oder weniger unbeeindruckt vom Austauschjahr auf der Stufe der Verleugnung verharren.
Als Endergebnis der Studie wurde festgestellt, dass die Wirksamkeit eines AFS - Auslandsaufenthaltes grundsätzlich durch die Studie nachgewiesen sei, weil der Anteil der
Befragten auf der Stufe der Minimierung von 57% auf 61% gestiegen ist.
Dieses Ergebnis muss relativiert werden, da genaue Veränderungen der Befragten von
DD nach R und von R nach DD, bzw. von M nach AA und DD oder nicht aufgezeigt
wurden. Vielmehr analysiert die Studie immer nur in globalen Summen, was den Wert
des Ergebnisses deutlich mindert.
Neben der Wirksamkeit des Austauschjahres hat Hammer die Ergebnisse als stabile
Entwicklung interpretiert, da die Schülerinnen auch nach dem Auslandsjahr über ihre
gewonnenen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen. Darüber hinaus merkte er an,
dass diese Wirkungen nicht bei Schülerinnen mit normalem Schulverlauf im jeweiligen
Heimatland zu finden waren.
Diese Interpretation erscheint fragwürdig, denn die erreichte Stufe der interkulturellen
Sensibilität nach dem IDI - Modell kann nur eine Momentaufnahme sein. Bei der Vorstellung des Instruments durch Hammer gab es keine Hinweise auf die Stabilität der
ermittelten Werte und auch in Bennetts Basismodell gibt es keine Definitionsgrundlage
für stabile oder labile Entwicklungen. Das Bennett - Modell erklärt weder wie eine bestimmte Stufe erreicht wird, noch wie lange diese Stufe gehalten wird. Die Interpretation der Stabilität ist außerdem durch die Zusammenfassung der Stufen DD und R
problematisch. Da im Test die Stufen DD und R nicht eindeutig zu trennen waren, kann
Stabilität nur durch die Aggregation der Stufen erreicht werden, nicht aber durch die
Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Ein Vergleich mit der Kontrollgruppe ist
unter den soziographischen Bedingungen problematisch, eine identische Zusammensetzung der Gruppen wurde weder festgestellt, noch behautet. Die sozialen Rahmenbedingungen der Schülerinnen und Schüler wurden vernachlässigt, was die Vergleichbarkeit deutlich mindert.
Unter diesen Gesichtspunkten muss das Gesamtergebnis der interkulturellen Sensibilität auf einer Skala von 50 bis 150 Punkten kritisch betrachten werden. Im Endergebnis erreichten die ehemaligen Gastschülerinnen einen Durchschnittswert von 90,
den Hammer als Beginn der Minimalisierungsphase bezeichnet. Damit ergibt sich lediglich eine Verbesserung um zwei Punkte gegenüber dem Pre-Test. „Das vorherrschende Niveau ihrer Kompetenz lag am Beginn der Minimalisierung. Daher hinter-
14
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
fragen sie nicht die Grenzen ihrer Weltsicht, die Übereinstimmung und Allgemeingültigkeit betont. Das geschieht häufig auf Kosten des Erkennens grundlegender Muster von kulturellen Unterschieden. Jedoch haben Sie auch noch am Ende ihres Auslandsaufenthaltes Weltanschauungen, die bei der Reversal- Weltsicht einzuordnen
sind.“ (Hammer, in Berlin 2005)
Die Kontrollgruppe erreichte auf derselben Skala einen Wert von 83 Punkten im PreTest, nach Hammer das Ende der ethnozentrischen Phase, die durch eine abwertende
Haltung gegenüber anderen Kulturen gekennzeichnet ist. Ein Wert der Kontrollgruppe
im Post-Test konnte unbegründung nicht angegeben.
Übersicht 4: Skala der interkulturellen Sensibilität
Ethnozentrisch
Minimalistisch
50
84
90
Ethnorelativistisch
115
150
Die Werte 50 – 84 repräsentieren die ethnozentrische Phase (DD/R), 85 bis 115 die Minimalisierungsphase, die Werte über 115 die ethnorelativistische Phase (AA). Bei der
Präsentation dieser Werte in Berlin konnte nicht geklärt werden warum die Skalierung
von 50 bis 150 reicht, anstatt von 0 bis 100 und auch die Punkteverteilung blieb unklar.
Weiter unterstellt Hammer, dass die interkulturelle Sensibilität normalverteilt ist und die
ethnozentrische Phase 34 Punkte, die Minimalisierung 30 und die ethnorelative Phase
35 Punkte auf der Skala hat. Den Mittelwert bezifferte Hammer mit 95 und entzog sich
einer weiteren Diskussion mit dem Hinweis auf einen zu tiefen methodischen Einstieg.
So konnten die deutlichen Parallelen zur Skalierung von Intelligenztests und der fehlende Nachweis für die Normalverteilung nicht geklärt werden.
Neben der behaupteten Wirksamkeit des Austausches, wurden bei der Präsentation
der Studie am 08.04.2005 in Berlin weitere Ergebnisse vorgestellt, die hier der Vollständigkeit halber zusammengefasst werden. Neben dem IDI-Test wurde ein Englischtest des „Foreign Service Institute of Amerika“ durchgeführt, um die Sprachfähigkeit
nach einem Austauschjahr zu überprüfen. Dieser Test bildet die Sprachfähigkeit der
englischen Sprache auf einer Skala von 1 bis 5 ab. Level 1. entspricht keinen und Level 5. bilingualen Fremdsprachenkenntnissen. Knappe 15% der Befragten haben nach
einem Auslandsjahr Level 2, also minimale Fremdsprachenkenntnisse und 50% der
Austauschschülerinnen haben Level 4 und 5 erreicht. Die Ergebnisse des Sprachtest
wurden nicht nach Ländern aufgeschlüsselt und das obwohl z.B. Hong Kong Chinesen
15
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
mit einem sehr guten Sprachlevel neben südamerikanischen Schülerinnen ohne vorherige Sprachkenntnisse gleichzeitig getestet wurden. Hammer gab an, der Test hätte
eine Länderdifferenzierung nicht zugelassen. Der nach Ländern differenzierte Sprachtest in der AFS-Broschüre wurde nicht vorgestellt, divergiert in den Stufen vom Englischsprachtest und kann nicht nachvollzogen werden.
Ein weiterer Erfolg des Auslandsjahres ist nach Hammer und seiner Studie ein Anstieg
der interkulturellen Freundschaften und ein Rückgang der Angst vor fremden Kulturen.
Im Pre-Test gaben 11% der Befragten an interkulturelle Freundschaften zu pflegen, im
Post-Test waren es 23%. Eine Definition von interkultureller Freundschaft, ob einmalige
oder wiederkehrende Kontakte, war nicht zu erhalten. Die Angst vor anderen Kulturen
ist leicht gesunken, im Pre-Test wurde ein Wert von 3 erreicht, der auf ca. 2,5 im PostTest sank. Diese Bewertung wird anhand von zehn psychologischen Testfragen ermittelt, die Gefühle beim Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen erfassen. Die
Skalierung der zehn Fragen fällt unter das Betriebsgeheimnis von Bennett und Hammer. Die Kontrollgruppe konnte nach Angaben von Hammer weder den Angstlevel von
3,1 reduzieren, noch interkulturelle Freundschaften aufbauen. Im Begleitschreiben zur
Studie stellt M. Hammer fest:
„AFS- Schüler erreichen darüber hinaus nicht die Stadien der weiterreichenden kulturellen Anpassung, während sie in ihrer Gastkultur leben. Sie machen keine problematischen Erfahrungen, wenn es um ihre eigene kulturelle Identität geht, da sie während
ihres Jahres weder die kulturellen Perspektiven der beiden Kulturen miteinander vermischen, noch sich von ihrer eigenen Identität entfremden.“(AFS-IDI 2006)
Die Bewertung, dass Schülerinnen im Austausch keine problematischen Erfahrungen
mit der eigenen kulturellen Identität machen erscheint weltfremd. Deutsche Schülerinnen und Schüler machen immer wieder kritische Erfahrungen mit ihrem deutsch sein, so wie dunkelhäutige Austauschschülerinnen in Deutschland problematische Erfahrungen machen. Wenn mit problematischen Erfahrungen nur die Vermischung der
alten und neuen kulturellen Identität gemeint sein sollte, dann kann man dem Ergebnis
zustimmen, aus der Studie von Hammer kann man das aber nicht unmittelbar ableiten.
Ergebnisse der zusätzlichen Untersuchungen mit Schülern der untersten und obersten
Ebene wurden nicht vorgestellt, Unterschiede die sich aus der Nationalität der Schülerinnen ergeben, wurden nur in zusammengefasster Form referiert:
AFS- Schülerinnen aus verschiedenen Ländern unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer interkulturellen Kompetenz zu Beginn der Austauscherfahrung gravierend.
Das Niveau der interkulturellen Kompetenz bis zum Abschluss des Programms
bleibt unterschiedlich.
16
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Je nach Land sind die Vorkenntnissen der Sprachen des Gastlandes sehr unterschiedlich (.) daher sind auch Unterschiede bei der Verbesserung der
sprachlichen Kompetenz bis zum Ende des Jahres feststellbar.
Es bestehen wesentliche Unterschiede im Abbau von „interkulturellem Stress“
bis zum Ende des Austauschprogramms bei den Schülerinnen aus verschiedenen Ländern.
Damit werden die oben genannten Globalwerte nochmals deutlich relativiert. Eine nach
Ländern differenzierte Darstellung der Ergebnisse erscheint nach diesen Aussagen
zwingend notwendig, denn die behauptete interkulturelle Wirksamkeit des Austauschjahres ist je nach Herkunft der Schülerinnen und Schüler doch deutlich zu unterscheiden. Die generellen Aussagen sind entweder banal oder nicht nachvollziehbar.
1.1.3. Kritische Bewertung der Methode von Bennett und Hammer
Die kritische Betrachtung der Ergebnisse muss noch durch eine methodische Auseinandersetzung ergänzt werden.
Methodische Probleme des Modells von Bennett resultieren aus der behavioristischen
Stufentheorie. Jede Stufentheorie steht im Zwang einen logischen Entwicklungsprozess der definierten Stufen zu erklären, die auf eine Endstufe hinzielen. Damit suggerieren Stufenmodelle einen Automatismus der nicht existiert, trotz der Annahmen, dass
es keine eindeutige Entwicklungsrichtung der interkulturellen Sensibilität gibt, suggeriert auch das Modell von Bennett und Hammer diesen Eindruck. Die Endstufe des
Modells mit dem multikulturellen Menschen ist problematisch und hat deutliche Parallelen zu Habermas Modell des moralisch entwickelten Menschen, der auf der Endstufe seine Ich-Identität mit universaler Sprachethik verbindet.
Die Entwicklung der moralischen Identität nach Habermas ist als Entwicklung in Stufen
organisiert, die mit den kognitiven Entwicklungsstufen von Kohlberg1 und Piaget2 verbunden sind und die Ich-Identität oder das Ich-Bewusstsein des Individuums zum Ziel
haben. Die Entwicklung der Wahrnehmung von moralischen Normen erfolgt nach dem
Grad der Reflexion, so dass jede höhere Stufe auch einen höheren Reflexionsgrad
darstellt. Entwicklung ist in Habermas Modell durch Reflexion möglich.
1
2
Nach Habermas 1976
Piaget 1976, 1980
17
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 5: Moralstufen von Habermas
Kognitive
Voraussetzungen
I. Präoperationales Denken
Wahrnehmung von
Norm
Motiv
Akteur
VerhaltenserwarHandlungsintentioKonkrete Handlungen
tungen verstehen
nen (Wünsche)
und Akteure wahrnehund befolgen
äußern und erfüllen men
Niveaus der
Interaktion
Akteure
Unvollständige Interaktion
Natürliche Identität
II. Konkretoperationales
Denken
Reflexive Verhaltenserwartungen
(Normen) verstehen und befolgen
Zwischen Sollen
und Wollen (Pflicht/
Neigung)
unterscheiden
Zwischen Handlungen/
Norm und individuellen
Subjekten/ Rollenträgern unterscheiden
Vollständige
Interaktion
Rollenidentität
III. Formaloperationales
Denken
Reflexive Normen
(Prinzipien)
verstehen und
anwenden
Zwischen Heteronomie und Autonomie unterscheiden
Zwischen partikularen /
allgem. Normen und
Individualität/ Ich
unterscheiden
Kommunikatives Handeln
und Diskurs
Ich-Identität
Univers. Bedürfnisinterpretationen
Moralische
und politische
Freiheit
(Habermas 1976 S. 78)
Auf der ersten Stufe beginnt das Lernen von Normen, die Reflexion einer Vorstufe ist
noch nicht möglich. Habermas bezieht sich auf Kohlbergs System der Entwicklung und
fügt diesem eine siebte Stufe der höchsten Identität an. „Erst auf der Stufe einer universalen Sprachethik können auch die Bedürfnisinterpretationen selber, also das, was
jeder Einzelne als seine „wahren“ Interessen verstehen und vertreten zu sollen glaubt,
Gegenstand des praktischen Diskurses werden.“ (Habermas 1976, S. 84)
Habermas beschreibt auf der letzten Stufe einen von moralischen Normen unabhängigen Menschen mit einer unabhängigen Identität, der in der Lage ist Kants moralischen Imperativ mit den eigenen Bedürfnispositionen zu verbinden. Der Weg zu dieser
Unabhängigkeit ist die Reflexion der bereits erreichten Stufen und die Modifikation der
eigenen Identität, abhängig von den moralischen Normen. Die Endstufe kann, muss
aber nicht, erreicht werden.
Bennetts Entwicklungsmodell ist dagegen uneindeutig, da sowohl Verbesserungen, wie
Verschlechterungen der interkulturellen Sensibilität möglich sind und eine eindeutige
Entwicklungsrichtung nicht festgelegt wird. Diese Annahmen stehen zum einen im Gegensatz zu Piagets kognitiven Entwicklungsmodell, das abgeschlossene Entwicklungsstufen für irreversibel erklärt, wie auch zu Habermas Entwicklungsmodell der Reflexion. Bennetts Mechanismus der Verbesserungen oder Verschlechterungen ist in
keiner Weise deutlich und muss mit den konstruktivistischen und behavioristischen Annahmen korrespondieren, so dass nur exogene Einflüsse zu affektiven und kognitiven
Anpassungen führen können, die sowohl eine höhere, wie auch eine niedrigere Stufe
der interkulturellen Sensibilität nach sich ziehen. Warum allerdings ein bereits erreich-
18
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ter höherer Zustand durch exogene Einflüsse in eine Verschlechterung mündet, wird
weder von Bennett, noch von Hammer erklärt.
Die Problematik eines Stufemodells, das eine Endstufe formulieren muss, löst Piaget
dadurch, dass er das Erreichen des abstrakten Denkens als Endstufe annimmt. Von
dieser Stufe des abstrakten Denkens aus können strukturell weitere Ebene erreicht
werden, die nicht als Endstufe definiert sind und deren Entwicklung dann auch nicht mit
einem Endstadium endet. Habermas beschreibt auf der letzten Stufe, die er dem Kohlbergmodell noch anfügt, die Sprachethik als Voraussetzung für das Erreichen der
höchsten Identitätsstufe und verbindet diese mit dem klar nachvollziehbaren Entwicklungszusammenhang der Reflexion. Bei Bennett wird dagegen die Problematik des
Stufenmodells durch das Fehlen eines entwicklungslogischen Zusammenhangs verschärft. Die selbstreferenzielle Loslösung des Menschen von kultureller Identität ist
weder theoretisch noch praktisch eine Lösung, da selbstreferenzielle Bezüge kein gesellschaftliches Umfeld für die Identitätsbildung benötigen. Eine weitere Problematik
Bennetts kann parallel zu Piagets kognitiver Entwicklung abgeleitet werden. Wenn
nach Piaget jede abgeschlossene Stufe der kognitiven Entwicklung irreversibel ist,
dann muss eine der beiden letzten Stufen erreichbar sein. Nimmt man die Stufe des
abstrakten Denkens als Voraussetzung für Bennetts interkulturelle Stufen, dann muss
die altersgemäße Entwicklung auch Effekte auf die interkulturelle Sensibilität ausüben.
Die Stufe der intellektuellen Egozentrik des formal operativen Stadium (siehe auch
Kap.2.2.1.) kann z.B. zu egozentrischen kulturellen Bewertungen führen, so dass Jugendliche, die das Stadium der intellektuellen Egozentrik noch nicht überwunden haben auch zu ethnozentrischen Meinungen neigen werden. Erst auf der Stufe des abstrakten Denkens können die Stufen der ethorelativen Entwicklung erreicht werden. Eine
Verbindung der interkulturellen Entwicklungsstufen mit dem Alter, der altersgemäßen
kognitiven Entwicklung und der sozialen Herkunft wäre also notwendig, um differenzierte Urteile der interkulturellen Sensibilität ableiten zu können. Die interkulturelle Sensibilität ist kein absoluter Wert, sondern ein relativer, der zu anderen individuellen Ausprägungen passen muss, diese Verquickung leistet das Modell von Hammer an keiner
Stelle, vielmehr bildet es die relative kulturelle Sensibilität in absoluten Zahlen ab.
Ein weiteres methodisches Problem ergibt sich aus der Validität der re-formulierten
Stufen. Hammer hat den Validitätsnachweis seiner revidierten Stufen anhand von
120.000 Probanden geführt, die alle US-Amerikaner verschiedener ethnischer Herkunft
waren. Diesen Tatbestand sieht Hammer als ausreichende Begründung für die kulturelle Unabhängigkeit. Dieses Testverfahren für die Validität der Stufen konnte nicht verifiziert werden, so dass sich zum Modell und der Messbarkeit der interkulturellen Sensibilität mehrere Fragen ergeben.
19
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Sind Verteidigung & Verleugnung, Akzeptanz & Anpassung und Empathie &
Marginalisierung jeweils zwei gleichwertige Strategien des Umgangs mit kulturellem Dissens?
Worin unterscheidet sich die Umkehr von der Minimalisierung kultureller Unterschiede?
Kann der interkulturelle Mensch auf der Marginalisierungsebene von Hammer
wieder mit einem selbstreferenziellen Rahmen, so wie bei Bennett, beschrieben werden?
Ist interkulturelle Sensibilität auf der Basis eines konstruktivistischen Modells
objektiv messbar?
Zwar ist auch Piagets Modell der kognitiven Entwicklung konstruktivistisch, im Unterschied zu Bennett und Hammer beschreibt es Stufen ohne sie in absoluten Zahlen zu
bewerten.
Der Test von Hammer muss, nach den beschriebenen Annahmen, Konstruktionen von
Einstellungen der Befragten messen und kann daher nicht mit gängigen Intelligenztests
verglichen werden, was Hammer nahe legt. Vieles deutet darauf hin, dass Hammer ein
Instrument entwickelt hat, um subjektive Konstruktionen von Teilrealitäten des Fremden zu messen, so dass die interkulturelle Sensibilität Stufen der Einstellungen zum
Fremden messen will, ohne dieses Fremde schon als kulturell fremd bezeichnen zu
können, da eine Kulturdefinition fehlt. Interkulturelles Lernen und interkulturelle Sensibilität sind aber als Begriff an einer Kulturdefinition fest zu machen.
Das positive Ergebnis der Studie von Hammer, dass der Schüleraustausch einen interkulturellen Nutzwert habe, muss daher methodisch relativiert werden.
Zusammengefasst ergeben sich die folgenden Fragen:
Wäre eine Differenzierung der Schülerinnen nach der sozialen Herkunft nicht
dringend notwendig, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten?
Wäre eine Differenzierung der Stufen DD und R nicht dringend notwendig?
Wäre eine Differenzierung der Ergebnisse nach den Herkunftsländern nicht
dringend notwendig?
Wie kann man die Normalverteilung der Skalierungen nachweisen?
Die Interpretationen von Hammer sind nicht mit den Annahmen des Modells
vereinbar.
Eine Überprüfbarkeit der Stufen ist methodisch nicht möglich.
Wenn eine kulturrelativistische Position eingenommen wird, wäre dann nicht
eine Kulturdefinition dringend notwendig?
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert ist, dass die gemessenen Kompetenzgewinne bei Weitem nicht so hoch waren, wie von vielen angenommen. Der IDI-Test
20
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
kann für die marginale Verbesserung um zwei Punkte auf der Skala keine Erklärung
geben. Mögliche Interpretationen von M. Hammer waren die Jugend der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, deren geringe Erfahrungen mit anderskulturellen Bezügen,
kein funktionierendes Vergleichssystem und keine Anleitung zum sozialen Lernen im
Ausland. In diesem Zusammenhang betonte Hammer den Stellenwert der Gastfamilien. Er führte aus, dass den Gastfamilien bei der Verarbeitung der gemachten Beobachtungen und Erfahrung eine wichtigere Bedeutung zukommt als das bislang allgemein anerkannt wird. Die Gastfamilien wurden in der Studie nur marginal berücksichtigt, ihre interkulturelle Sensibilität wurde nicht gemessen. Dieser Nebeneffekt des
Tests kann als bedeutsam gelten. Hammer gab in Berlin an, die Gastfamilien sollten
am Besten über interkulturelle Kompetenzen verfügen, um die Selbstreflexion der
Schülerinnen begleiten und ihre Interaktionen steuern zu können. Damit ist mit dem
IDI-Test der Nachweis gelungen, dass ein automatisches Lernen im Ausland nicht
stattfindet, vielmehr muss das Lernen vorbereitet und begleitet werden. Wie groß der
Unterschied bei unterschiedlich kompetenten Familien auf die Lerngewinne der Schülerinnen und Schüler ist, wurde in dieser Studien nicht untersucht.
Die im Ausland erworbenen Kompetenzen sind vielfältig und können weder mit einem
Globalwert auf einer Skala von 50 bis 150 Punkten, noch mit aggregierten Stufen hinreichend erklärt werden. Eine saubere Trennung der Kompetenzen in soziale, habituelle, sprachliche und kognitive wäre aussagekräftiger.
1.1.4. Fragestellung und Erkenntnisgewinne
Die Studie von Mitchell R. Hammer ist die einzige Studie zum langfristigen Schüleraustausch, ihre Methodik und Interpretation damit die bisher einzige wissenschaftliche
Aussage.
Aus den Ergebnissen muss man schlussfolgern, dass eine Wirksamkeit des langfristigen Schüleraustausches feststellbar ist, die genauen Wirkungen aber mit der Methodik von Hammer und Bennett nicht nachvollziehbar sind. Was die im Test einbezogenen Schülerinnen und Schüler genau gelernt haben und was davon als interkulturell zu bezeichnen ist, blieb im Dunkeln, da sowohl ein transparentes und nachvollziehbares Modell des sozialen Lernens, wie eine nachvollziehbare Kulturdefinition
fehlt. Hammers Umgang mit dem Begriff der interkulturellen Sensibilität ist nahezu
sorglos.
Für mich blieb die Frage, was ein Jugendlicher in einem Auslandsjahr interkulturell
tatsächlich lernt, unbeantwortet. Die Frage, wie man die Lerngewinne eines Auslandsjahres genau beziffern kann, trieb mich weiter um.
21
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Erste Versuche einen Zugang zum Lernen im Auslandsjahr über Kulturdefinitionen zu
erreichen, machten zwar die Problematik der Gleichsetzung von Interkultur und kulturellen Differenzen deutlich, konnten aber, trotz einiger Bemühungen, kein handhabbares Kulturmodell generieren. Ein solches Modell wäre aber notwendig, um kulturelle
Unterschiede zu benennen und so die Lerneffekte zu erklären.
Als Beispiel der Problematik sei die Kulturdefinition von Götz angeführt: „In Kulturkonzepten spiegeln sich auch die jeweiligen Erwartungen wider, die ein Sozialkörper an
den Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft stellt und beschreibt die in einer Gesellschaft bestehenden Denk-, Fühl- und Handlungsmuster. Versucht man diesem Verständnis für den Wortinhalt von Kultur das Gemeinschaftsleben eines Sozialkörpers auf
eine Kultur hin zu untersuchen, kann die Analyse daraufhin abzielen, für den Fremdbetrachter Auffallendes – weil von der eigenen Kultur verschieden – herauszuarbeiten,
damit diejenigen, die sich im untersuchten Kulturkreis als Fremde bewegen, mit der
neuen Umgebung zurecht kommen können.“ (Götz, K. S.13)
Kultur wird zum einen als das definiert, was der Sozialkörper erwartet und zum anderen als das was dieser Sozialkörper als fremd empfindet. Zur Eingrenzung führt Götz
den fiktiven Fremdbetrachter ein. Die Definition des Fremdbetrachters und Kulturkreises bleibt aber undeutlich und ist daher problematisch. Ist ein Münchner in Hamburg
nicht auch ein Fremdbetrachter und kann daher Unterschiede feststellen, die man als
kulturelle Unterschiede betrachten könnte, oder sind kulturelle Unterschiede eher mit
nationalstaatlichen Unterschieden gleich zu setzen?
So mündet die Frage, was man in einem Jahr interkulturell lernen kann, in eine Auseinandersetzung von kulturellem und sozialem Lernen als Gegensatzpaar, denn auch
Hammers Hinweis auf die Bedeutung der Gastfamilien im Prozess des interkulturellen
Lernens macht die Bedeutung des sozialen Lernens deutlich.
Je problematischer die Kulturdefinition ist, desto näher liegt es vom interkulturellen
Lernen ganz abzurücken und einen Alternativbegriff zu suchen. Mein Interesse galt den
Lernprozessen die eine Gastschülerin innerhalb einer Gastfamilie in einem fremden
Land und in einer fremden Sprache bewältigen muss. Ich ging von der Überlegung aus,
dass man in einer fremden Familie nur dann handlungsfähig wird, wenn man die gängigen soziale Interaktionen beherrscht. In diesem Sinne muss nicht interkulturell, sondern sozial gelernt werden. Da man aber auch in der Familie der deutschen Freundin
sozial lernen kann, stellte sich die Frage wie soziales Lernen im Ausland vom sozialen
Lernen im Inland abzugrenzen ist.
Zunächst nehme ich an, dass Lernen im Ausland vor allem soziale Aspekte hat, die mit
dem Begriff des interkulturellen Lernens eher verdeckt werden. Damit stellt sich die
Frage wie man das spezifische soziale Lernen des Auslandsjahres fassen kann, um
22
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
die Lernprozesse die nur im Ausland möglich sind in den Mittelpunkt zu stellen und zu
erklären. Eine Auseinandersetzung mit den sozialen Lerntheorien muss daher nicht nur
den aktuellen Stand der sozialisationstheoretischen Diskussion aufzeigen, sondern die
Anwendbarkeit auf den Sonderfall des sozialen Lernens im Ausland ermöglichen. Die
konkrete Problemstellung heißt daher ein transparentes und nachvollziehbares Lernmodellen des Lernens im Ausland abzubilden und mit Zahlen des AFS –Schüleraustausches aus den Jahren 2002 – 2005 in Baden- Württemberg zu überprüfen. Gegenüber der Studie von Mitchell R. Hammer geht es nicht um die Wirksamkeit, sondern
um das konkrete Lernen und die Lernerfolge des Austausches.
1.2. Klassifikationsmöglichkeiten der Austauschformen
Für die Klassifikation der Formen des Schüler- und Jugendsaustausches werden die
Kriterien Träger und der Länge des Austausches herangezogen. Bei den Trägern können einmal die Schulen als Organisatoren von Schüleraustausch auftreten, dann ehrenamtlich organisierte Vereine, die Jugendbegegnungen anbieten und kommerzielle
Anbieter von Schülersprachreisen. Vielfach sind die ehrenamtlichen Veranstalter nicht
von den kommerziellen zu unterscheiden, da die Marketinginstrumente identisch sind.
Was allerdings auch bedeutet, dass im Bereich des interkulturellen Lernens für Jugendliche ein Markt entstanden ist, der inzwischen hart umkämpft wird. Die folgende
Systematik unterscheidet die Formen des Austausches nach der Dauer und den Trägern, als schulische und außerschulische Träger, wie auch kommerzielle und ehrenamtliche Träger.
Übersicht 6: Formen des Schüler- und Jugendaustausches
Träger
Dauer
Kurz
Mittel
Schulisch
Schulpartnerschaften
Individueller Schüleraustausch
Außerschulisch
ehrenamtlich
Workcamps Jugendbegegnungen
bei Projekten
kommerziell
Sprachreisen
Schüleraustausch
Sprachreisen
Schüleraustausch
Schüleraustausch
Ferienkurse
z.B. Oberschulämter
Baden-Württemberg
Lang
Eigene Darstellung
Die Einteilung der Dauer internationaler Begegnungen ist nicht verbindlich festgelegt.
In dieser Untersuchung werden alle Austauschmaßnahmen bis zu vier Wochen als
23
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
kurzfristige Begegnung eingestuft. Austauschmaßnahmen mit einer Dauer von vier Wochen bis sechs Monaten werden als mittelfristige Maßnahme und Austauschmaßnahmen die länger als sechs Monate dauern als langfristig eingestuft.
Die außerschulischen Träger können sowohl gewinnorientierte Unternehmen wie auch
ehrenamtliche Vereine sein. Die Unterschiede zwischen den beiden Trägertypen sind
marginal. Da der langfristige Schüleraustausch von der ehrenamtlichen Organisationen
AFS und YFU wurde und diese am längsten Austauschmöglichkeiten anbieten, kann
von einer Markt beherrschenden Stellung dieser Organisationen gesprochen werden.
Beide Organisationen zusammen entsenden pro Jahr ca. 2.200 Jugendliche aus Deutschland in die Welt. Alle kleineren Organisationen (ca. 30-40) kommen zusammen
vermutlich auf nochmals 1.000 bis 1.500 Schülerinnen und Schüler. Die Zahlen werden
nicht aufgeschlüsselt veröffentlicht, so dass bei den ca. 15.000 Austauschschülern pro
Jahr alle Austauschmaßnahmen zusammen genommen werden. Alle Organisationen
haben im langfristigen Austausch ein individuelles Entsendekonzept ohne pädagogische Begleitung, während die Schulen ihre Begegnungen und Partnerschaften auf
einer pädagogischen Basis aufbauen und mit einem pädagogischen Begleitprogramm
ausgestatten.
Eine weitere Unterscheidung stellt die interkulturelle Zielsetzung der Begegnungsmaßnahme dar. Sprachreisen verfolgen die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ohne eine umfassende interkulturelle Zielsetzung. Dennoch verwenden die Anbieter von Sprachreisen in ihren Prospekten das
Attribut des interkulturellen Lernens, da der Spracherwerb in einem fremden Land stattfindet.
Die Dauer der Entsendung wurde in drei Stufen differenziert, weil unterstellt werden
kann, dass Lernen und Erfahrung, umso intensiver sind, je länger ein Aufenthalt im
Ausland dauert. Diese Untersuchung konzentriert sich aus zwei Gründen auf den langfristigen Schüleraustausch. Zum einen werden durch die Länge des Austausches nachvollziehbare und messbare Lernerfolge angenommen, die nach drei oder vier Wochen
noch nicht zu erwarten sind, zum anderen ist der langfristige Schüleraustausch ein individueller Austausch ohne pädagogisches Begleitprogramm, so dass die sozialen Kompetenzen der Teilnehmer an Wichtigkeit gewinnen. Für die Datenbasis konnten Untersuchungen dem AFS erhoben werden.
24
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
1.3. Interkulturelles Lernen im langfristigen Schüleraustausch
Aus der Systematik geht deutlich hervor, dass viele Formen der Jugendbegegnung mit
dem Attribut der Interkulturalität arbeiten, ohne die interkulturellen Möglichkeiten der
jeweiligen Begegnung nach Zeit und Art zu differenzieren. Wie bereits weiter oben
festgestellt muss jede Feststellung, dass interkulturelles Lernen und interkulturelle
Kompetenz in Jugendbegegnungen möglich sind, immer von der Frage ausgehen, welche Fähigkeiten, Kompetenzen, Qualifikationen, Fertigkeiten, Verhaltensweisen oder
andere Merkmale erforderlich sind, um das Attribut „interkulturell“ zu rechtfertigen. Je
nach Art der Begegnung ob in Projekten, bei einer kurzfristigen Begegnung zum gemeinsamen Musizieren oder zum Sport, müssen die Kompetenzen, Fähigkeiten und
Fertigkeiten andere sein, als bei einem langfristigen Aufenthalt in einer Gastfamilie. So
kann eine internationale Musikbegegnung nicht erfolgreich verlaufen, wenn die Jugendlichen keine Instrumente spielen, die Fertigkeit des Musizierens ist dann eine
Vorbedingung zur interkulturellen Begegnungen und Erfahrungen auf diesem Gebiet.
Für den langfristigen Schüleraustausch sind auf der einen Seite soziale Kompetenzen
der Teilnehmerinnen notwendig, auf der anderen Seite sind Konzepte für den Ablauf
des Austausches und Lernziele notwendig, um gemeinsames Lernen zu ermöglichen.
Diese Konzepte und Lernziele werden in diesem Teilkapitel beleuchtet.
1.3.1. Geplantes, erfahrungsorientiertes und entdeckendes Lernen im
Austausch
Die schulischen Austauschmaßnahmen haben ein pädagogisches Begleitkonzept,
während der langfristige Austausch auf individuelle und nichtpädagogische Konzepte
setzt.
Der langfristige Schüleraustausch bedient sich der Methoden des professionellen Austausches von Hilfsorganisationen und Unternehmen, deren Mitarbeiter auf einen Auslandseinsatz vorbereitet werden, um die vorher definierten Ziele des Einsatzes zu erreichen und einen vorzeitigen Abbruch zu verhindern. Im professionellen Bereich werden Trainings im gesamten Verlauf des Auslandseinsatzes angeboten.
25
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
>
Reflexionstraining
>
Reintegrationstraining
>
Verlaufstraining
Orientierungstraining
Übersicht 7 : Formen interkultureller Trainings
(nach Kammhuber 2000)
Organisationstraining
Orientierungstrainings dienen der eigenkulturellen Sensibilisierung der Teilnehmer. Ziel
der Trainings ist es den Teilnehmern die eigene kulturelle Prägung zu verdeutlichen.
Die Verlaufstrainings stellen auf die Aufarbeitung kultureller Unterschiede im Gastland
ab und werden meist als Interaktionstrainings durchgeführt, um die Handlungsfähigkeit
der Rückkehrer schneller an die Umgebungskultur anzupassen. Die Reintegrationstrainings dienen der Wiedereingliederung in die Herkunftskultur und sollen die Veränderung der inneren Maßstäbe und äußeren Verhaltensweisen verdeutlichen.
Reflexionstrainings sollen nach der Rückkehr bei der Verarbeitung der Vielfalt der Eindrücke helfen, während Organisationstrainings der entsendenden Organisation als feed
back dienen, um ihre Auslandseinsätze zu optimieren. Organisationstrainings sind
keine Trainings im eigentlichen Sinne.
Die Lernerfahrung im Auslandseinsatz kann als erfahrungsorientiertes und individuelles
Lernen angesehen werden, wenn die Interaktionen zwischen Menschen ad hoc in der
jeweiligen Situation bewältigt werden müssen. Dieser Grundsatz geht von der Erfahrung aus, dass nicht alle Eventualitäten von sozialen Situationen in Trainings vorab
bewältig werden können, sondern in der konkreten Situation erfahren und gelernt werden müssen.
1.3.2. Interkulturelles Lernen im AFS
Der AFS betrachtet den Schüleraustausch nicht als ein Jahr im Ausland, das mit der
Ausreise beginnt und der Wiedereinreise endet, sondern als einen Prozess, der mit der
Bewerbung und Auswahl beginnt, mit der Vorbereitung auf das Auslandsjahr und der
26
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Entsendung fortgesetzt wird, und mit der Re-Orientierung in der Herkunftskultur abschließt. Daraus ergibt sich die folgende zeitliche Abfolge:
•
Bewerbung ca. ein Jahr vor der Ausreise
•
Auswahl ca. neun Monate vor der Ausreise
•
Erste Vorbereitung ca. sechs Monate vor der Ausreise
•
Zweite Vorbereitung ca. vier Monate vor der Ausreise
•
Dritte Vorbereitung ca. zwei Monate vor der Ausreise
•
Entsendung für ca. zehn Monate (Begleitung wird angeboten)
•
Kleine Nachbereitung ca. drei Wochen nach der Rückkehr
•
Große Nachbereitung ca. drei Monate nach der Rückkehr
Insgesamt dauert der Austauschprozess ab der Bewerbung bis zur Reintegration ca.
2
Jahre. Die Begleitung dieses Prozesses erfüllt bestimmte, in der jeweiligen Phase
als notwendig unterstellte, Aufgaben. Durch die Auswahl soll sichergestellt werden,
dass die am besten geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten in den langfristigen
Schüleraustausch gehen. Als geeignet gilt, wer sozial kompetent, belastbar und mit
Humor ausgestattet ist. Diese Eignung wird bei den meisten Organisationen mit einem
Einzel- oder Gruppeninterview, bei AFS mit einem Assessment Center überprüft.
Die Vorbereitungsphase dauert insgesamt eine Woche und wird an drei Wochenenden
angeboten. Dabei werden Vorbereitungstrainings zur Sensibilisierung der eignen kulturellen Prägung und eine spezielle Vorbereitung auf die Zielkultur kombiniert. Ziel der
Vorbereitung ist es, den Kandidatinnen und Kandidaten die eigene kulturelle Prägung
durch die Umgebungskultur zu vermitteln und klar zu machen, dass aus dieser Prägung bestimmte Erwartungen an Menschen, ihr Verhalten und ihre Handlungen resultieren.
In der Entsendephase sind die Jugendlichen in einer Gastfamilie, die für ihre Bereitschaft einen Gastschüler oder eine Gastschülerin aufzunehmen, nicht bezahlt wird.
Nach Angabe von AFS wird dadurch sichergestellt, dass die Familien ein interkulturelles und kein kommerzielles Interesse am Austausch haben, da sie keinen kommerziellen Nutzen aus der Austauschschülerin ziehen. Alle Teilnehmerinnen sind vertraglich verpflichtet den Unterricht einer Sekundarschule oder einer Schule mit Sekundarstufe im Ausland zu besuchen. Einfluss auf die Gastschule können die Teilnehmer in
aller Regel nicht nehmen, der Besuch von Privatschulen ist nur in Ausnahmefällen
möglich, z.B. wenn sich in der Nähe des Wohnortes einer Gastfamilie keine staatliche
Schule befindet.
Verlaufstrainings werden länderspezifisch angeboten, um die Erfahrungen im Ausland
zu reflektieren. Dieses Angebot kann vom jeweiligen Gastland individuell variiert wer-
27
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
den, es gibt seitens des AFS keine Vorgaben für die Verlaufstrainings. Für individuelle
Probleme sind persönliche Betreuer im Einsatz, die meistens in Notsituationen eingreifen.
Nach der Rückkehr werden ein bis zwei Nachbereitungswochenenden zur Verarbeitung der Auslandserfahrungen angeboten. Die Begleitung der Wiederkehr verdeutlicht,
dass auch diese Phase nicht problemlos ist und sich sowohl die Entsandten, wie auch
die Daheimgebliebenen weiterentwickelt und auseinander gelebt haben können. Spezielle Reflexionstrainings, wie im professionellen Bereich üblich, werden nicht angeboten. Ziel dieser Trainings – der AFS spricht von Camps - ist es den Akkulturationsprozess der Jugendlichen zu begleiten, Kulturschocks zu mildern oder zu vermeiden und
die Rückkehr zu vereinfachen.
Die Aufteilung des Austausches in eine Vorbereitungs-, Entsende- und Rückkehrphase
und die Begleitung mit entsprechenden Camps macht die Anlehnung an den professionellen Bereich deutlich. Die Trainingskonzepte wurden aus dem professionellen Trainingsbereich übernommen und durch Erfahrungen von Rückkehrern an die Bedürfnisse der Jugendlichen angepasst. Eine systematische Trainingsevaluation fand bis zum
Jahr 2005 nicht statt, so dass die Wirksamkeit der adaptierten Konzepte nicht sichergestellt werden kann.
1.3.3. Kulturdefinition und interkulturelles Lernen im AFS
Wie bereits an Hand der Studie von Mitchell R. Hammer im ersten Kapitel festgestellt,
muss interkulturelles Lernen dann mit einer Kulturdefinition einhergehen, wenn der
Kernbegriff des Vergleiches zweier Länder deren Kultur ist. Die Probleme dieser Kulturdefinition sind beträchtlich, da ein zu enger Kulturbegriff Bereiche ausklammert, ein
zu weiter Kulturbegriff aber keinen Erklärungswert mehr bietet. Der AFS löst dieses
Problem durch die Verwendung eines allgemeinen und umfassenden Kulturbegriffs:
„Kultur ist die Gesamtheit der Elemente der Lebensweise einer Gesellschaft und ihrer
Struktur.“ (Handbuch Vorbereitung, S.2) Diesem umfassenden Begriff wird der so genannte enge Begriff der Hochkultur gegenüber gestellt. Damit wird Kultur nicht nur
relativ zwischen zwei Kulturen, sondern auch innerhalb der Kulturdefinition betrachtet.
Die Vorbereitungstrainings für das Auslandsjahr sollen den Teilnehmern den erweiterten, im Kontrast zum engen, Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens
nahe bringen. Dieser erweiterte Kulturbegriff wird im Eisbergmodell konkretisiert.
„Die Komplexität des Begriffs 'Kultur' lässt sich anhand des Eisbergmodells anschaulich darstellen. Kultur ist wie ein Eisberg, der unter Wasser liegt und von dem nur die
28
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Spitze aus dem Wasser ragt. Die restlichen 90% liegen unter Wasser und sind für uns
nicht sichtbar.“ (Handbuch Vorbereitung 1998, S. 2)
Übersicht 8: Eisbergmodell
Musik
Literatur
Architektur
Natur
Schule
Mode
Familie
Bildung
Umgang mit Außenseiter
Umgang mit Generationen
Umgang mit Zeit
Dieses Bild soll verdeutlichen, dass interkulturelles Lernen im Schüleraustausch des
AFS mit dem Ziel des Erkennens der unter Wasser liegenden Anteile von Kultur verfolgt wird. Der Schüleraustausch bietet damit einen privilegierten Zugang zu den unter
Wasser liegenden Kulturaneilen, die annahmegemäß komplex und unsichtbar sind. Die
Anschaulichkeit dieses Modells macht die Problematik des interkulturellen Lernens
deutlich. Das Leben in einem fremden Land soll als Chance begriffen werden die unsichtbaren Teile gesellschaftlicher Zusammenhänge zu erkennen. So richtig das Bild
der verschleierten Anteile gesellschaftlicher Zusammenhänge ist, stellt sich doch die
Frage, ob der Kulturbegriff diese Zusammenhänge vollständig erklären kann und wie
interkulturelles Lernen konkret gestaltet werden muss, um diese Zusammenhänge
nicht zufällig, sondern umfassend zu erkennen.
Es stellt sich also die Frage ob die Kulturdefinition des AFS, trotz aller Betonung der
kulturellen Unterschiede im Kulturbegriff, nicht vielmehr auf soziales Lernen abzielt. Im
AFS- Handbuch heißt es dazu: „Wir können annehmen, dass Kultur:
Ein Muster ist, in dem Menschen eines Landes zusammen leben.
Aus verschiedenen Elementen besteht, die in einer Struktur angeordnet sind.“
(Handbuch zur Vorbereitung 1998, S 2)
Die Struktur des Zusammenlebens kann nur als soziales Zusammenleben interpretiert
werden, denn sie wird explizit in Institutionen wie Familie, Kirche und Schule konkretisiert, deren Funktionen als Bildung in der Schule, Erziehung in der Familie und das
Erlernen von Normen und Werten in der Gesellschaft erklärt werden.
29
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Es stellt sich die Frage, wie diese Kulturdefinition mit ihrem umfassenden Verständnis
von Kultur der sozialen Gegebenheiten in einem stringenten Modell des interkulturellen
Lernens umgesetzt werden kann.
1.3.4.Theoretisches Konzept des interkulturellen Lernens im AFS
Für die theoretische Basis des interkulturellen Lernens als soziales Lernen werden die
folgenden Bestandteile erwartet und untersucht:
Definition des Lernens im Ausland
Ein theoretisches Lernkonzept: Chancen und Probleme des Lernens
Ziele des Lernens im Ausland
In den Handbüchern des AFS wird das Lernen im Ausland immer als interkulturelles
Lernen bezeichnet, soziale und kulturelle Bestandteile werden konsequent nicht unterschieden, so dass Unklarheiten bestehen bleiben. Das interkulturelle Lernen wird von
AFS, auf der Basis des Eisbergmodells, mit drei Mechanismen beschrieben:
Mechanismen der Wahrnehmung
Mechanismen der Sozialisation im Ausland
Mechanismus der Verarbeitung nach der Rückkehr
Mit dem Mechanismus der Wahrnehmung wird die Möglichkeit beschrieben, die ein
Auslandsjahr den Teilnehmern eröffnet. Diese Möglichkeiten sind alte und neue kulturelle Zusammenhänge durch die eigene Wahrnehmung zu begreifen, zu vergleichen
und dann zu relativieren. Automatisch werde, nach Aussagen des Handbuchs, durch
den Übergang in eine andere Kultur gelernt, dass Kultur von Menschen gemacht sei.
Durch diese Erkenntnis der Teilnehmer wird der kulturelle Bezugsrahmen automatisch
transzendiert.3 In diesem Zusammenhang muss man annehmen, dass Kultur vor allem
die verborgenen Anteile des Eisbergs betrifft und dass diese automatisch transzendiert
werden. Die Erwartung, dass der Mechanismus der Transzendierung innovativ im Mechanismus der Sozialisation beschrieben wird, schlägt jedoch fehl.
Das Handbuch stellt die Wahrnehmung kultureller Unterschiede gleichwertig neben alle
anderen Mechanismen, und erklärt, dass der Auslandsaufenthalt neue Sozialisationsmöglichkeiten bietet, ein klarer Rückbezug zur Wahrnehmung erfolgt nicht. Die Soziali-
3
Ein Jahr in einer anderen Kultur bedeutet Herausgenommensein aus den bisher vertrauten kulturellen
Zusammenhängen und das Hereingestellt werden in neue solche Zusammenhänge. Automatisch wird dem
Betroffenen dadurch gezeigt, dass kulturelle Elemente weder „gottgegegeben“, noch unabänderlich, noch
schlechthin gültig sind, sondern dass sie menschlichem Einfluss unterliegen, wandelbar und verschieden
sind; d.h. durch die Erfahrung transzendiert der Teilnehmer den Rahmen seiner Kultur automatisch. (AFSHandbuch Nachbereitung Hamburg 1995)
30
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
sation im Ausland ist nach Ausführungen des Handbuchs vom Zusammenleben4 in
einer bestimmten Gastfamilie, einer neuen Geschwisterkonstellation, einer sozialen
Schicht und Stellung im Freundeskreis geprägt. Diese Konstellation der Gastfamilie beeinflusst den Gastschüler/ die Gastschülerin, so dass sie ein bestimmtes Bild von sich
selbst und von anderen entwickeln könne. Ob dieses „bestimmte Bild von sich selbst“
eine identitätsstiftende Wirkung hat, wird genauso wenig angesprochen, wie auch kein
direkter Vergleich der Konstellation in der eigenen Familie und der Gastfamilie als
Lernmodell hergestellt wird. Vielmehr wird das Ergebnis der Auslandssozialisation als
eigene Rolle bezeichnet. Zusammenhänge zu den bereits abgeschlossenen Sozialisationsschritten der Teilnehmer fehlen genauso, wie eine Klärung des konkret gemeinten Sozialisationsprozesses. Sozialisation wird in den AFS – Handbüchern lediglich als Begriff neben weitere sozialogische, pädagogische oder psychologische Begriffen gestellt. Damit stellen die Handbücher Begriffe wie interkulturelles Lernen, Sozialisation und Rolle nebeneinander, ohne eine klare theoretische Verbindung zu schaffen.
Eine fundierte Auseinandersetzung mit den folgenden Teilproblemen:
Welche Rollentheorie wird zu Grunde gelegt?
Wie wird die Rolle mit der Gesellschaft verbunden?
Was ist das Ziel des Rollenwechsels?
Welche Sozialisationstheorie kann angewandt werden?
kann nicht erfolgen, da die konkrete theoretische Basis für den Rollenwechsel als Kern
des interkulturellen Lernens völlig fehlt. So erfährt man aus den Handbüchern lediglich
in verschiedenen Variationen, dass durch das Zusammenleben mit einer neuen Familie, einer neuen Geschwisterkonstellation und Schule ein Rollenwechsel ausgelöst wird
und dass „die Stellung als Neuer, Kulturfremder ein mehr oder weniger starkes Bestimmungsstück dieser Rolle ist.“ (Handbuch S.6) Wozu dieses dient oder welcher
Lernprozess damit verbunden wird, bleibt unerwähnt.
Die Frage ob diese Rolle eher im normativen Sinne Parsons, oder im Sinne von Meads
„Me“ oder „I“ zu verstehen ist, wird genauso wenig beantwortet, wie die Frage nach den
gesellschaftlichen Grundlagen und damit einer Verbindung von Person und Gesellschaft.
4
So-Gewordensein eigener Persönlichkeitselemente in seiner Innerhalb ihres kulturellen Rahmens wachsen
Menschen in jeweils verschiedenen Bezügen auf, die ihre Subjektivität wesentlich bestimmen und ausmachen. Sie leben in einer bestimmten Familie, Geschwisterkonstellation, sozialen Schicht, Stellung im Freundeskreis, mit einem bestimmten Bild über sich und von ihnen, kurz, in einer bestimmten Rolle in Bezug auf
ihre Umwelt.
- Ein Jahr in einem anderen Land bedeutet auch auf dieser Ebene ein Herausgenommen werden aus genau
dieser Rolle und damit automatisch das Transzendieren dieser Rolle, die Möglichkeit, sie „von außen“ zu
betrachten, ihre Bedingungen und ihre Folgen zu erkennen. (AFS-Handbuch Nachbereitung Hamburg 1995)
31
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Das Ziel und Ergebnis des interkulturellen Lernens sind laut AFS - Handbüchern die
Erfahrungen des Rollenwechsels:
die sozialen Umstände aus denen man kommt sind zufällig und
durch Reflexion im Ausland kann die eigene Rolle verändert werden.5
Statt einer nachvollziehbaren Gesellschaftstheorie entsteht durch die Herstellung dieses Zusammenhangs der Eindruck, dass alle Gesellschaften und Rollen zufällig sind
und ein Auslandsjahr die einzige Chance bietet diese Zufälligkeit zu entdecken. Insbesondere wenn die Problematik der Wiedereingliederung als elitärer Prozess der AFS –
Rückkehrer dargestellt wird, muss Skepsis am Lernmodell des AFS angemeldet werden.
Probleme des Lernens benennen die AFS - Handbücher als persönliche Probleme des
erneuten Rollenwechsel von der neuen Rolle im Ausland in eine ganz neue Rolle nach
der Rückkehr, die der Tatsache geschuldet sind, dass der Rückkehrer der einzige in
seiner alten Umgebung ist, der die Zufälligkeiten der gesellschaftlichen Bedingungen
kennt. „Da man nicht mehr in demselben Maße wie vorher von seinen eigenen kulturellen Bedingungen abhängig ist, d.h. seine Beschränktheit und Bindung durch sie erkennen und berücksichtigen kann, ist ein wesentlich voraussetzungsloseres und vorurteilsfreieres Nachdenken über Wertesysteme, Mentalitäten und gesellschaftliche Organisation möglich“. (Handbuch Nachbereitung, 1995 S.6)
Diese Annahme kann im Einzelfall eintreten, kann aber nicht als Regelmechanismus
des Auslandsjahres behauptet werden. Auch das Lernen nach der Rückkehr als erneuter Loslösungsprozess von der alten Rolle und der kulturellen Bindung des Teilnehmers muss in Zweifel gezogen werden, wenn keine Reflexionsbegleitung erfolgt. Obwohl die Handbücher eindeutig von sozialen Lernvorgängen sprechen, wird dennoch
die sozialen und kulturellen Anteile des Lernens nicht getrennt, vielmehr wird alles, was
mit einer Auslandserfahrung in Verbindung zu bringen ist als interkulturell bezeichnet.
Interkulturell wird damit zum Synomym einer ungewöhnlichen Erfahrung im Ausland
stilisiert.
Da also ein klarer Interpretationsrahmen des Lernens im Ausland als Lernen der unter
Wasser liegenden kulturellen oder sozialen Bestandteile fehlt, sind zufällige und individuelle unterschiedliche Interpretationen unvermeidbar.
Neben den Chancen des Rollenwechsels nennen die Handbücher die folgenden Probleme des interkulturellen Lernens:
Das Andersseins als Ausländer beeinflusst die eigene Wahrnehmung
Fremde Kulturen werden mit dem eigenen kulturellen Muster gelesen
5
nach: AFS-Handbuch zur Nachberietung, Hamburg 1995
32
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Interpretationen vom Fremden sind nur auf der Folie der eigenen kulturellen
Prägung möglich.6
Diese Probleme entsprechen einer kulturrelativistischen Sicht und können, laut den
Handbüchern AFS, nur dadurch gelöst werden, dass Auslandsaufenthalte ausreichend
lang sind, um die eigene kulturelle Prägung zur Kenntnis zu nehmen, zu hinterfragen
und unbewusste Mechanismen zur Überwindung zu finden.7 Andere Ziele des interkulturellen Lernens wie Handlungssicherheit und Kommunikationsfähigkeit werden in den
Handbüchern nicht genannt.
Am Anfang des Teilkapitels wurden die folgenden Anforderungen an ein Lernkonzept
formuliert:
Definition des Lernens im Ausland
Theoretisches Lernkonzept: Chancen und Probleme des Lernens
Ziele des Lernens im Ausland
Nach Analyse der Handbücher muss man feststellen, dass eine klare Definition des
interkulturellen Lernens nicht möglich ist, da weder ein Lernkonzept vorgestellt, noch
der Zusatz interkulturell definiert wird. Die Begriffe Rolle, Sozialisation und Wahrnehmung werden nebeneinandergestellt, ohne einen inneren theoretischen Zusammenhang zu erhalten, so dass kein theoretisches Lernkonzept erkennbar wird. Lernen erfolgt automatisch und selbstverantwortlich, ohne dass erklärt wird worin der Automatismus genau besteht, wodurch die Lernprozesse gefördert oder behindert werden. Die
in den Handbüchern explizierten Probleme betreffen vor allem das Luxusproblem des
Rückkehrers, der über deutlich mehr Erkenntnisse als seine Umgebung verfügen soll
und daher Integrationsprobleme lösen muss, die sonst niemand in seiner Umgebung
hat. Probleme des stockenden oder verhinderten Lernprozesses, Fehlinterpretationen
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, Fehler aus einer vereinfachten Interpretation
der Zusammenhänge und damit fehlgeleitetes interkulturelles Lernen blenden die
Handbücher völlig aus.
6
Darüber hinaus wird der Teilnehmer über die Erfahrung des bloßen Andersseins hinaus mit einem neuen
So-Sein d.h. mit bestimmten neuen Elementen konfrontiert. Aufgrund der Tatsache, dass er von seiner eigenen Kultur geprägt ist und nur von da ausgehend die Gastkultur kennen lernt, treten dabei verschiedene
Probleme auf.
* Beim Wahrnehmen und Verstehen-Suchen der anderen Kultur wird sich dem Betroffenen seine ständige
Bezugnahme auf das eigene kulturbedingte Bezugssystem (Sinnzusammenhänge von Begriffen, Denkmustern, Wertmaßstäben) erweisen, das nicht immer der Situation angemessen ist. Etwa wird er Elemente der
fremden Kultur hinsichtlich ihrer Bedeutung – vergleichend für den Fall, dass sie in der eigenen Kultur vorkämen – zu verstehen und bewerten suchen, anstatt im Hinblick auf ihre Funktion in ihrer Kultur.
* Der in die fremde Kultur kommende wird mit einem, jedenfalls von seiner eigenen Kultur geprägten Bild der
fremden Kultur daran gehen und versuchen das vorgefasste Bild beständig zu finden und dementsprechend
Gefahr laufen selektiv wahrzunehmen, Wahrgenommenes entsprechend zu interpretieren etc. (AFSHandbuch Nachbereitung Hamburg 1995)
7
(AFS-Handbuch Nachbereitung Hamburg 1995)
33
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Lernen ist nach Durchsicht der AFS-Handbücher das was jeder daraus macht, die Verantwortung für das Austauschjahr wird individualisiert. In diesem Zusammenhang muss
an die Interpretation von Mitchell R. Hammer zur geringen Verbesserung der interkulturellen Sensibilität erinnert werden, der die Jugend und den fehlenden Interpretationsrahmen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Ursache anführte. Daraus ergibt sich
aber auch die Notwendigkeit über das fehlende Lernkonzept neu nachzudenken.
Das Ziel des interkulturellen Lernens beschriebt der Jahresbericht 2004/05 des AFS
wie folgt: „Interkulturelles Lernen ist das Ziel aller AFS - Programme. Im Zusammenleben mit Menschen aus einer anderen Kultur und durch die Auseinandersetzung mit
anderen Werten, Lebensweisen und Denkstrukturen entwickeln die Teilnehmer interkulturelle Kompetenz. Sie erwerben Fähigkeiten im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen und gewinnen ein tiefes Verständnis für ihre eigene kulturelle Prägung
und Identität. Interkulturelles Lernen fördert ein besseres Verstehen fremder Kulturen,
unterstützt globales Denken und das Engagement für die Menschenrechte.“
Die Handbücher liefern für diese Zielsetzung des Jahresberichtes keine auseichende
Basis, so dass man feststellen muss, der AFS beschreibt das interkulturelle Lernen als
Ziel, eine Grundlage dieses Ziel zu erreichen fehlt. Eine klare theoretische Fundierung
von Rolle und Gesellschaft oder Kultur unterbleibt, wäre aber dringend notwendig,
wenn interkulturelles Lernen nachvollziehbare Ziele angestrebt und zwei Gesellschaften im Prozess des interkulturellen Lernens eingebunden sind.
Vom AFS wird vielmehr der Eindruck erweckt, interkulturelles Lernen sei die Erkenntnis, dass Gesellschaft und Kultur zufällig seien und diese Erkenntnis den Teilnehmern
der Austauschprogramme des AFS vorbehalten bleibt. Mit dieser Sicht des interkulturellen Lernens können aber Jugendliche überfordert werden, denn für die eigenständige Wahrnehmung und Interpretation der vielfältigen neuen Eindrücke fehlt ihnen, wie
Hammer schon sagte, die Erfahrung und ein Interpretationsrahmen. Eine Schüleraustauschorganisation die das Ziel der Völkerverständigung in ihrer Grundsatzerklärung
formuliert, sollte hier Lösungen anbieten, die über Willenserklärungen und Glaubenssätze hinausgehen.
Für die Überprüfung des interkulturellen Lernens anhand eigener empirischer Untersuchungen muss man feststellen, dass der AFS keine überprüfbare Basis bietet. Daher
muss im zweiten Kapitel dieser Arbeit eine theoretische Auseinandersetzung die Möglichkeiten des interkulturellen Lernens in Rollen und in Sozialisationsprozessen beleuchten und in einen stringenten Zusammenhang herstellen.
34
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
1.3.5. Hypothesen der Untersuchung des AFS - Konzeptes
Wie gerade ausgeführt bestehen an den Annahmen des AFS über das interkulturelle
Lernen erhebliche Zweifel. Weder konnten die Anteile des sozialen Lernens in Institutionen innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur geklärt werden, noch sind die kulturellen Unterschieden zwischen Gesellschaften oder Nationen nachvollziehbar benannt.
Die völlig unklare Begriffsbildung kann daher nur als Begriffsansammlung bezeichnet
werden, die sich einer Überprüfung entzieht. Es stellen sich die folgenden Fragen:
Theoriezentriert
Mit welchen soziologischen Theorien kann das soziale Lernen im Ausland erklärt werden?
Können unterschiedliche Theorien zu unterschiedlichen Konzepten des interkulturellen Lernens kommen?
Muss das interkulturelle Lernen mit einem Kulturbegriff einhergehen?
Teilnehmerzentriert
Können die mitgebrachten sozialen Kompetenzen und die Handlungsfähigkeit
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem Zeitraum von einem Jahr entscheidend modifiziert und erweitert werden?
Kann das Lernen von national unterschiedlichen Normen und Werten als interkulturelle Handlungskompetenz bezeichnet werden?
Ist das Verständnis der eigenen kulturellen Herkunft notwendig um kulturelle
Differenzen und unterschiedliche Normen erkennen, akzeptieren und tolerieren
zu können?
Werden erst in der erweiterten Handlungskompetenz die kognitiven Elemente
Fremdsprachenkenntnisse und des Faktenwissens anwendbar und brauchbar?
Kann jeder Schüler und jede Schülerin in Deutschland an einem langfristigen
Austausch teilnehmen?
Die erkenntnisleitende Hypothese der Untersuchung ist es festzustellen, ob interkulturelles Lernen überwiegend soziales Lernen in den Handlungsfeldern Familie, Schule
und öffentlicher Raum ist und wann dieses Lernen zu einem interkulturellen Lernen
wird. Insbesondere soll überprüft werden, ob ein deutlicher Erkenntnisgewinn durch
den Wechsel des Begriffs Kultur zu Habitus8 und damit zur Theorie von Bourdieu ableitbar ist.
Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, wird auf den langfristigen Schüleraustausch fokussiert, der eine zeitlich so weite Spanne darstellt, dass Änderungen des
Handelns, Verhaltens und des Habitus zur Integration notwendig sind und im Hand8
Der Begriff des Habitus wurde von Pierre Bourdieu in den „Feinen Unterschieden“ (1982) eingeführt und
wird in Kapitel 2.2.2. explizit ausgeführt
35
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
lungsrepertoire der Teilnehmer überprüfbar sein können. Bevor die Untersuchung des
interkulturellen Lernens als soziales Lernen vorgenommen werden kann, werden die
Teilnehmerdaten nach sozioökonomischen Gesichtspunkten untersucht, um die Teilnehmerstruktur besser beurteilen zu können.
1.4. Voruntersuchungen zur Teilnehmerstruktur
In der Grundsatzerklärung hat der AFS seinen Willen dargelegt ohne rassistische oder
religiöse Vorurteile Unterschiede zu respektieren und den Teilnehmern der Programme
die Chance zu geben diese Diversität vorurteilsfrei kennen zu lernen.
Daher stellt sich die Frage ob der AFS Begegnung mit anderen Kulturen und Gesellschaften allen sozialen Gruppen in Deutschland ermöglicht, oder ob es hier gewollte
oder ungewollte Einschränkungen gibt.
Das Stipendienprogramm der Landesstiftung Baden-Württemberg unterstützt seit dem
Jahr 2003 Jugendliche, die entweder aus sozial benachteiligten oder aus kinderreichen
Familien stammen. Aus dieser Zielsetzung lässt sich ablesen, dass der langfristige
Schüleraustausch auch im neuen Jahrtausend nicht allen sozialen Schichten offen
steht und Handlungsbedarf besteht.
1.4.1. Soziogramme Regelauswahl
Die folgenden Soziogramme zeigen die sozialen Hintergründe der Bewerberinnen und
Bewerber für das Regelprogramm, im zweiten Teil werden die Bewerberinnen und
Bewerber für das Stipendienprogramm beleuchtet.
Die Verteilung der Geschlechter mit 33% männliche Bewerber zu 66% weibliche Bewerberinnen ist wieder wie erwartet. Dieses Phänomen wird auch bei Jugendbegegnungen und Kurzzeitaustauschen beobachtet. Die Gründe dieser Verteilung wurden
bislang nicht wissenschaftlich untersucht, so dass schlüssige Antworten fehlen.
Eine deutliche Mehrheit von 90% der Bewerberinnen und Bewerber hat Geschwister,
mehr als 30% der Befragten haben zwei, zwischen 12% (2004) und 18% (2002) der
Bewerberinnen und Bewerber haben mehr als zwei Geschwister. Die insgesamt hohen
Standardabweichungen erklären sich aus der Untersuchung selbst, da für die Daten
sowohl großstädtische, wie mittelstädtische und ländliche Komitees herangezogen
wurden. Die Lebensumstände zwischen Stadt und Land weisen große Unterschiede
auf, was durch die Abweichungen bestätigt wird. In den ländlichen Komitees sind drei
36
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
und mehr Geschwister häufiger anzutreffen, als in der „Großstadt“ Stuttgart oder der
Universitätsstadt Tübingen.
Tabelle 1: Soziogramm Regelauswahlen
Regelauswahl
2002
N=181
Durchschnitt
salter
Regelauswahl
2003
σ
15,6
Regelauswahl
2004
σ
N=193
15,6
N=201
σ
15,6
Geschlecht
m
33,0%
5,9
25,8%
5,7
38,2%
2,8
w
67,0%
5,9
74,2%
5,7
61,8%
2,8
Anzahl der
Geschwister
keins
9,0%
12,6
10,6%
9
10,1%
3,1
eins
49,0%
14,8
53,0%
12
49,4%
8,1
zwei
36,0%
15,8
31,30%
12
28,1%
5,4
mehr
18,0%
15,7
14,1%
6,4
12,4%
2
65,0%
14,6
61,1%
12
58,4%
8,8
Eltern
Akademiker
- davon
Mutter
25,4%
29,7%
22,2%
- davon Vater
49,2%
45,8%
44,5%
beide
Nichtakademiker
25,4%
24,6%
33,3%
34,00%
15,1
48,0%
12,1
41,0%
14,2
Über die drei Beobachtungsjahre hinweg ist das Durchschnittsalter der Bewerberinnen
und Bewerber konstant bei 15,6 Jahren. Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen
bewirbt sich zu Beginn der 10. Klasse für den Austausch und die meisten Jugendlichen
haben einen normalen Schulverlauf ohne Zeitverluste durch späte Einschulung oder
Klassenwiederholung bis zur 10. Klasse durchlaufen.
Sehr hoch ist der Anteil der akademisch ausgebildeten Eltern bei allen Bewerberinnen
und Bewerbern mit einem Anteil von 66% akademisch gebildeter Eltern gegenüber
33% ohne akademische Ausbildung.
Entsprechend der Vorbildung der Eltern besuchen 60 –70% der Bewerberinnen und
Bewerber ein Gymnasium, während Realschüler in der Minderheit sind. Eine längere
Beobachtungsreihe des Komitees Stuttgart zeigt ein stabiles Bild von knapp 20% der
Bewerberinnen und Bewerber aus Realschulen, was sich mit den Zahlen von 2003 und
2004 deckt.
37
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Tabelle 2: Besuchte Schulart der Bewerberinnen und Bewerber
Regelauswahl
2002
Regelauswahl
2003
N=181
Regelauswahl
2004
σ
N=193
σ
N=201
s
Gymnasium
57,00%
1
77,80%
11,3
71,90%
5,3
Realschule
38,00%
7,1
18,20%
12,2
21,30%
4,9
Hauptschule
0,00%
0
0,00%
0
0,00%
0
Andere
5,00%
9
4,60%
26,1
5,60%
3,7
Da der Schulbesuch noch nichts über den Schulerfolg aussagt, wurde eine Selbsteinschätzung der Schulleistungen abgefragt und in Stichproben mit Zeugnissen verglichen. Von Interesse war hier, ob die Zeugnisse stark von den Selbsteinschätzungen
divergierten und sich die Schülerinnen und Schüler eher als besser sehen als sie es
tatsächlich sind.
Tabelle 3: Schulleistungen – Regelauswahl
3a) Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit durch die
Bewerberinnen und Bewerber
Selbsteinschätzung
der Schulleistungen
Regelauswahl
2002
σ
Regelauswahl
2003
gut
mittel
σ
Regelauswahl
2004
σ
68,00%
12,6
28,00%
8,9
73,20%
12,7
57,30%
13,3
37,40%
13,8
37,10%
8,4
schlecht
2,00%
1,4
0,50%
1
1,10%
1,2
k.A.
2,00%
3,00%
5,1
3,90%
4,6
3b) Schulleistungen nach Zeugnissen der Bewerberinnen und Bewerber
Leistung nach Zeugnissen
Regelauswahl
2002
Regelauswahl
2003
Regelauswahl
2004
Sehr gut
19%
15%
21%
gut
43%
41%
38%
mittel
29%
41%
29%
schlecht
8%
3%
12%
k.A.
0%
0%
0%
Die schulischen Leistungen der Bewerberinnen und Bewerber sind eindeutig im oberen
Drittel zu sehen. Bei Stichproben wurde festgestellt, dass die Zeugnisse so gut sind,
dass eine Unterscheidung von „sehr gut“ und „gut“ notwendig ist. In die Kategorie „sehr
38
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
gut“ wurden Leistungen mit einem Durchschnitt von 1,0 bis 1,3 aufgenommen. In der
Kontrollgruppe derjenigen, die ein Zeugnis vorlegen mussten, wurden diese schulischen Leistungen im Beobachtungszeitraum von 15% bis 21% der Bewerberinnen und
Bewerbern erreicht.
Sowohl die Selbsteinschätzung, wie auch die Zeugnisse weisen darauf hin, dass sich
eher die leistungsstarken als die schwächeren Schülerinnen und Schüler für den Schüleraustausch interessieren. Die Unterschiede zwischen Realschule und Gymnasium
sind in dieser Hinsicht vernachlässigbar, auch aus den Realschulen kommen die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler.
Aus dieser Beobachtung kann man schließen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am langfristigen Schüleraustausch aus dem gehobenen mittelständischen Milieu
kommen und von den Eltern in Schule und Lebensplanung unterstützt werden.
1.4.2. Soziogramme - Stipendienauswahl
Wie bei den Auswahlverfahren für das nicht geförderte Regelprogramm des AFS wurden auch für das Stipendium der Landesstiftung Baden-Württemberg dieselben Variablen der Bewerberinnen und Bewerber erhoben.
Tabelle 4: Soziogramm - Stipendienprogramm
BWS 2002
Durchschnittsalter
N= 101
15,75
BWS 2003
σ
N=85
15,8
BWS 2004
σ
N= 131
15,5
σ
Geschlecht
m
20,20%
3,9
22%
0
22,60%
0,56
w
79,80%
3,9
78%
0
77,40%
0,56
5,00%
1,9
4%
0
7,50%
5,86
Anzahl der Geschwister
keins
eins
43,70%
0,9
54%
0
34,00%
1,2
zwei
33,60%
0,9
28%
0
28,30%
7,28
mehr
17,60%
0,1
14%
0
30,20%
3,39
36,10%
9,1
52%
0
49,10%
19,8
Eltern
Akademiker
- davon Mutter
70%
50%
46,90%
- davon Vater
25%
41%
39%
- beide
5%
9%
14%
Nichtakademiker
62,20%
k.A.
1,70%
10,9
46%
0
49,10%
2%
0
1,90%
17,3
39
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Zusammenfassend kann man sagen, dass die erwarteten soziökonomischen Unterschiede nicht eingetroffen sind. Weder kamen die Eltern der Bewerberinnen und Bewerber der Stipendienauswahl aus sozialen Randschichten, noch hatten sie eine deutlich geringere Ausbildung. Bei der Stipendienauswahl liegt das Durchschnittsalter der
Bewerberinnen und Bewerber bei 15,7 Jahren. Die Bewerberinnen und Bewerber sind
mehrheitlich in Klasse 10. und wollen nach dem Ende dieser Klassenstufe in den Austausch gehen. Alle anderen Aussagen zum Schulbesuch gelten wie bei der Regelauswahl, große Unterschiede sind nicht feststellbar. Die Geschlechterverteilung ist, wie
schon im Regelprogramm, zu Ungunsten der männlichen Bewerber ausgeprägt, die
Jungen partizipieren im Stipendium sogar mit nur 20% an der Auswahl zum BadenWürttemberg-Stipendium.
Die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber ohne Geschwister fällt im Stipendienprogramm deutlich unter 10% und erreicht im Jahr 2004 mit 7,5% den höchsten Wert.
Damit sind die Bewerber ohne Geschwister gegenüber der Regelauswahl deutlich
geringer. Gleichzeitig geht im Jahr 2004 der Wert „mehr ist zwei Geschwister“ auf 30%
nach oben.
Bei den Bewerbungen zum Landesstipendium kann man im Jahr 2004 eine Tendenz
zu kindereichen Familien feststellen. In den Jahren 2002 und 2003 waren die Zahlen
der Geschwister von „zwei und mehr“ Geschwistern allerdings zwischen den Regelauswahlen und der Stipendienauswahl nicht zu unterscheiden. Im Jahr 2002 gaben
54% der Bewerberinnen bei der regulären Auswahl und 51,4% der Bewerberinnen bei
der Stipendienauswahl an zwei oder mehr Geschwister zu haben. Erst im Jahr 2004
gehen diese Angaben auseinander als 40,5% der Bewerberinnen und Bewerber bei
der regulären Auswahl „zwei und mehr Geschwister“ angeben, während es 58,5% bei
der Stipendienauswahl sind. Ob diese Tendenz konstant bleibt, muss in den folgenden
Jahren beobachtet werden.
Die Ergebnisse der Untersuchung ergeben keine signifikanten Unterschiede der besuchten Schulart zwischen Stipendien- und Regelauswahlen. Liegt der Anteil der Gymnasiasten bei der Stipendienauswahl konstant weit über 70%, so konnten in der regulären Auswahl 2002 immerhin 38% Realschüler angesprochen werden. Dieser Anteil
sinkt jedoch bis 2004 auf 21% Realschüler ab. Hauptschülerinnen und Hauptschüler
können weder im regulären, noch im Stipendienprogramm für den Schüleraustausch
gewonnen werden.
40
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Tabelle 5: Besuchte Schularten - Stipendienprogramm
Besuchte Schulart
BWS 2002
BWS 2003
σ
N= 101
BWS 2004
N=85
σ
N= 131
σ
Gymnasium
77,50%
4
84%
0
79,20%
8,5
Realschule
22,50%
0,5
12%
0
17,00%
8,4
Hauptschule
0,00%
0
0%
0
0,00%
0
Andere
0,00%
0
4%
0
3,80%
0
Obwohl die Landesstiftung alle Schulen und alle Schularten im Land über das Stipendium durch das Kultusministerium informieren ließ, wurde eine bessere Verteilung der
Bewerberinnen und Bewerber auf mehr Schularten nicht erreicht. Für die folgende
Untersuchung kann daher ein Vergleich der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach
Schularten nicht erfolgen.
Die Schulleistungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden auch für die Stipendienauswahl erhoben und da für das Stipendium ein Zeugnis vorgelegt werden musste, können die Selbsteinschätzungen mit einer Totalerhebung verglichen werden.
Tabelle 6: Schulleistungen - Stipendienprogramm
6a) Selbsteinschätzung der Bewerberinnen
Selbsteinschätzung
Schuleistungen
BWS
2002
σ
BWS
2003
σ
BWS
2004
σ
gut
64,70%
2,33
56%
0
56,60%
1,48
mittel
31,90%
0,6
40%
0
41,50%
1,13
schlecht
1,70%
0,84
4%
0
0,00%
0
k.A.
1,70%
1,69
0%
0
1,90%
2,82
BWS
2003
σ
BWS
2004
σ
6b) Zeugnissen der Bewerberinnen
Schulleistungen nach
Zeugnissen
BWS
2002
σ
Sehr gut
31%
1,9
27%
1,7
25%
1,5
gut
38%
2,3
41%
1,8
43%
0.9
mittel
19%
4,1
29%
2,1
29%
1,3
schlecht
12%
2,9
35
1,9
2%
1,3
Wie schon bei den Regelauswahlen, gehören auch die Bewerberinnen und Bewerber
für ein Stipendium zu den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern. Der Anteil der
Bewerberinnen und Bewerber, die sich zu den guten Schülerinnen zählen fällt gegenüber den regulären Auswahl zwar leicht ab, dort haben sich 2003 immerhin 73% als gut
41
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
bezeichnet, während im Stipendium der Spitzenwert im Jahr 2002 mit knapp 65% erreicht wird. Der Notendurchschnitt der vorgelegten Zeugnisse liegt jedoch noch über
den Stichproben der regulären Auswahl. Die Bewerberinnen und Bewerber für das
Stipendienprogramm treten entweder bescheidener auf oder unterschätzen ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit.
Während bei den Stichproben der Regelauswahl die Spitzengruppe mit einem Notendurchschnitt von 1,0 bis 1,3 zwischen 15% und 21% aller Bewerberinnen lag, kamen
im Stipendium die leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler mit einem Notendurchschnitt von 1,0 bis 1,3 auf mindesten 25% aller Bewerberinnen, im Jahr 2002 sogar auf
31%. Nach den ersten Erfahrungen spricht der Schüleraustausch in BadenWürttemberg die besonders leistungsstarken Schülerinnen an. Insgesamt beträgt der
Anteil der Schülerinnen, die einen Notendurchschnitt von besser als 2,3 hatten, im
Stipendienprogramm 68–69% und liegt damit sehr hoch. Im regulären Auswahlprogramm kommt dieselbe Gruppe auf 56% - 62% und bleibt unter den Werten des Stipendienprogramms.
1.4.3. Erwartungen an ein Auslandsjahr
Für die beiden Austauschprogramme wurden deutlichere Unterschiede der sozialen
Herkunft erwartet, die dann auch anhand der Erwartungen an ein Auslandsjahr überprüft werden sollen. Da die sozialen Unterschiede und die besuchten Schularten kaum
divergieren, konnten keine signifikanten Unterschiede der Erwartungen festgestellt
werden. Erwartungen an das Auslandsjahr sind zwar schwer zu fassen, da sie aber
persönliche und individuelle Aspekte der Bewerberinnen abbilden, wurden eher allgemeine und spezielle Erwartungen an ein Jahr im Ausland und in einer Gastfamilie erhoben.
Tabelle 7: Allgemeine Erwartungen ans Auslandsjahr - Regelprogramm
Erwartungen allgemein
Regelauswahl
2002
σ
Regelauswahl
2003
bessere Sprachkenntnisse
neue Freunde
neue Kultur
95,00%
4
99,00%
6
96,10%
95,00%
2,8
98,50%
5,8
97,80%
1,6
96,00%
2,8
98,50%
5,8
94,40%
3,9
Frustrationen durchstehen
99,00%
9,5
83,10%
9,1
Unverständnis meiner Umwelt
98,50%
11,7
60,70%
8,2
100,00%
7
93,80%
3,9
neuer Alltag
σ
Regelauswahl
2004
σ
1,6
42
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die zu erwartenden Effekte eines Austauschjahres wie „Sprachkenntnisse“, „neue Leute“ und eine „neue Kultur“ kennen zu lernen wurden von fast allen Befragten angegeben. Da diese Antworten mit hoher Sicherheit zu prognostizieren waren, wurden ab
2003 noch zusätzliche Fragen nach eher negativen Effekten eines Austauschjahres
wie „Frustrationen“ und „Unverständnis der neuen Umwelt“ erhoben.
Tabelle 8: Allgemeine Erwartungen an das Austauschjahr – Stipendienprogramm
Erwartungen allgemein
bessere Sprachkenntnisse
BWS
2002
σ
BWS
2003
σ
BWS
2004
σ
96,60%
0,9
98,10%
0
94,30%
8,1
neue Freunde
97,50%
2,7
98,30%
0
94,30%
8,1
neue Kultur
96,60%
3,6
90,80%
0
96,20%
0,1
Frustrationen durchstehen
66,00%
0
63,10%
3,3
Unverständnis der neuen Umwelt
73,20%
0
71,60%
2,9
einen neuen Alltag erleben
100,00%
0
99,00%
0,1
Die hohe Zustimmung zu diesen Erfahrungen insbesondere bei den Regelauswahlen
überraschte. Der Zustimmungswert bei „Unverständnis durch die neue Umwelt sinkt
zwar 2004 auf 60% bei der Regelauswahl ab, ist aber immer noch recht hoch. Die Zustimmung zu dieser Aussage deutet auf Ängste und Befürchtungen bezüglich des Auslandsjahres hin. Ängste wurden bislang als ein Symptom der Vorbereitungsphase und
nicht schon der Auswahl angesehen. Typischer Weise steigen die Befürchtungen kurz
vor der Ausreise an, dann wenn die abstrakte Erfahrung „Auslandsjahr“ sehr reale Züge annimmt. Stimmen die Jugendlichen schon bei der Auswahl diesem negativen Effekt zu, dann kann das für eine realistische Einschätzung der Austauscherfahrung
sprechen, diese wurde so aber nicht erwartet.
Die Erwartungen an die spätere Gastfamilie bezüglich eigener Kinder ist eindeutig.
70% bis 80% der Befragten wünschen sich eine Gastfamilie mit Kindern und liegen
damit deutlich über den Erwartungen der Stipendiaten, die lediglich zwischen 14% und
39% eigene Kinder in der Gastfamilie erwarten. Damit unterstellen die Stipendiatinnen
in einem geringeren Ausmaß als die Bewerberinnen für das Regelprogramm, dass
Gastkinder im selben Alter wie die Austauschschüler sind und somit Ansprechpartner
und Freunde sein können.
Die hohen Werte bei „weiß nicht“ in beiden Bewerbergruppen weisen darauf hin, dass
die Bewerberinnen und Bewerber zum Zeitpunkt der Bewerbung noch sehr unkonkrete
Vorstellungen von Details des Austauschjahres haben. Die Frage nach der Ähnlichkeit
von Gast- und Herkunftsfamilie, zielte auf die Verunsicherung der Bewerberinnen ab.
43
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Unsichere Kandidatinnen und Kandidaten wünschen sich eher eine Familie die den
eigenen Familienverhältnissen möglichst nahe kommt. Diesen Wunsch gibt im Erhebungszeitraum nur eine Minderheit von 2,8% bis 6,7% der Befragten im Regelprogramm und 4% bis 7,5% der Befragten im Stipendienprogramm an.
Tabelle 9: Allgemeine Erwartungen an die Gastfamilie – Regelprogramm
Regelauswahl
2002
σ
Regelauswahl
2003
ja
54,00%
28,40
20,40%
Weiß nicht
38,00%
19,80
59,10%
6,60
56,70%
2,70
nein
8,00%
4,90
27,80%
10,80
28,10%
9,40
Allgemeine Erwartungen an die Gastfamilie
σ
Regelauswahl
2004
σ
14,40
14,60%
7,30
Die Gastfamilie sollte:
Kinder haben
Die Gastfamilie sollte:
Meiner Familien ähnlich sein
ja
3,00%
1,90
2,80%
2,50
6,70%
2,60
weiß nicht
44,00%
18,00
35,40%
10,30
33,70%
12,10
nein
53,00%
27,50
70,70%
8,70
59,00%
9,70
Einen großen Freundes- u. Verwandtenkreis haben
ja
4,00%
5,20
19,70%
6,60
19,70%
6,30
weiß nicht
36,00%
7,00
53,00%
12,50
45,50%
2,70
nein
60,00%
10,10
36,40%
11,80
34,30%
7,00
1,80
13,60%
9,70
20,20%
14,60
In einer großen Stadt wohnen
ja
16,80%
weiß nicht
49,70%
3,90
45,50%
18,20
38,80%
13,80
nein
33,50%
3,20
49,50%
6,60
40,90%
18,30
Die Mehrheit von 53% bis 72% der Befragten in beiden Programmen will eine Gastfamilie die der eigenen Familie möglichst unähnlich ist. Stichproben ergaben, dass die
eigene Familie als langweilig, unmodern oder streng erachtet wird und man an die
Gastfamilie ganz andere Erwartungen hat. Was genau diese Erwartungen sind, konnten die Jugendlichen aber zum Zeitpunkt der Bewerbung noch nicht genau benennen.
Die Frage nach dem Freundeskreis der Familie bestätigt die eher wagen Vorstellungen
der Bewerberinnen in beiden Programmen. Der Freundes- und Verwandtenkreis ist ein
Detail des Familienlebens das zum Zeitpunkt der Auswahl noch nicht in die Betrachtungen einbezogen wurde. Bei den Bewerberinnen zum Stipendium sind die Erwartungen noch unkonkreter und die Nennung „weiß nicht“ mit 40% - 50% zum Freundeskreis
44
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
und der Größe des Wohnortes sehr hoch. Die Nichtbeschäftigung mit den Details des
Austauschjahres kann auch einen Selbstschutz vor übertriebener Vorfreude auf ein
eventuell unerreichbares Ziel darstellen. Die meisten Bewerberinnen für das Stipendium gaben an, ohne das Stipendium nicht ins Ausland gehen zu können.
Tabelle 10: Allgemeine Erwartungen an die Gastfamilie- Stipendienauswahl
σ
BWS 2002
σ
BWS 2003
BWS 2004
σ
Die Gastfamilie sollte Kinder haben
ja
39,50%
18,10
14,00%
0
32,10%
3,50
weiß nicht
41,20%
20,00
56,00%
0
52,80%
4,20
nein
17,60%
0,17
30,00%
0
11,30%
4,90
1,70
4,00%
0
7,50%
0,00
Meiner Familien ähnlich sein
ja
5,90%
weiß nicht
37,00%
3,30
28,00%
0
20,80%
2,90
nein
56,30%
4,00
72,00%
0
69,80%
6,20
Einen großen Freundes- u. Verwandtenkreis haben
ja
13,40%
1,00
22,00%
0
13,20%
3,00
weiß nicht
54,60%
0,40
36,00%
0
58,50%
4,20
nein
31,10%
1,50
42,00%
0
26,40%
10,00
0,70
20,00%
0
17,00%
8,60
In einer großen Stadt wohnen
ja
21,80%
weiß nicht
39,50%
3,80
46,00%
0
39,60%
6,90
nein
37,00%
2,10
34,00%
0
39,60%
1,80
Aus diesen Aussagen kann man nicht den Schluss ziehen, dass die Jugendlichen für
alle Möglichkeiten offen sind. Die Analyse Familienwechsel in Kapitel 4. deutet auf ein
anderes Bild hin. Ähnliches gilt für die Vorstellung des Wohnortes der Gastfamilie. Zum
Zeitpunkt der Bewebung haben die Bewerberinnen noch keine exakten geographischen Vorstellungen vom Wunschland, oder wie groß der spätere Wohnort sein soll.
Aus Gesprächen zu dieser Untersuchung kann man sagen, dass die Bewerberinnen
weder genaue Vorstellung davon haben, was eine Großstadt im globalen Maßstab ist,
noch was „räumliche Weite“ und „dörfliche Idylle“ sein können. Reisen nach London
oder New York mit den Eltern prägen zwar die Vorstellungen, können aber keinen Erfahrungshintergrund für das Leben z.B. in einer Gastfamilie in Mexiko City darstellen.
Und die Prärie mit einem Wohnmobil zu durchfahren, entspricht nicht der Erfahrung
eines zehnmonatigen Aufenthaltes auf einer Farm im Mittleren Westen. Zum Zeitpunkt
45
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
der Bewerbung denken die Bewerberinnen daher stark aus der Perspektive des eigenen Wohnortes oder des nächst größeren Ortes. Dass Stuttgart mit einer halben Million
Einwohnern im Weltmaßstab sehr klein ist, entspricht genauso wenig der Erfahrungswelt der Jugendlichen, wie die Tatsache, dass die schwäbische Alb keine abgeschiedene Weltgegend ist.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Jugendlichen mit der Nennung konkreter Wünsche und Erwartungen an das Austauschjahr überfordert sind, weil sie sehr
unkonkrete Vorstellungen ans „Fremde“ haben. Die Frage nach den Erwartungen an
die spätere Gastschule ergab dagegen in beiden Programmen sehr klare Vorstellungen. Alle Bewerberinnen sind hoch motiviert und wollen aktiv in die Schule eingebunden werden, um am Ende des Austauschjahres ein Zeugnis zu erhalten. Die hohe Motivation ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass bei beiden Programmen die
Mehrheit der Bewerberinnen zu den leistungsstarken Schülerinnen gezählt werden
kann. Um diese Ziele zu erreichen, erwarten zwischen 65% und 80% der Befragten im
Regelprogramm und 75% bis 88% im Stipendienprogramm eine intensive Betreuung
durch die Schule. Vielfach haben sowohl die Eltern, wie auch die Schülerinnen die
Vorstellung in den ausländischen Schulen würden Beratungslehrerinnen bereitstehen,
um alle Probleme zusammen mit den Austauschschülerinnen zu lösen. Diese Erwartungen werden im vierten Kapitel mit der Austauschrealität verglichen.
Tabelle 11: Erwartungen an die Gastschule - Regelprogramm
Regelausw.
n= 181
Gastschule sollte:
Mich aktiv einbinden
σ
2002
Regelausw.
n = 193
σ
2003
Regelausw.
n = 201
σ
2004
ja
82,00%
8,50
90,40%
20,40
76,40%
12,40
weiß nicht
16,80%
7,30
16,70%
18,20
14,00%
13,80
nein
1,20%
2,10
1,00%
2,70
7,90%
5,00
0,50%
1,00
1,10%
2,70
keine Angaben
Mir ein Zeugnis ausstellen
ja
72,00%
9,70
76,30%
10,10
70,20%
9,20
weiß nicht
21,50%
7,20
26,30%
7,30
24,20%
7,50
nein
Mich betreuen
6,50%
4,00
6,10%
6,00
3,40%
2,00
immer
nur in besonderen
Fällen
74,90%
9,50
80,80%
11,00
64,60%
14,20
23,40%
7,70
27,30%
11,40
26,40%
7,70
gar nicht
1,80%
2,20
0,50%
1,00
7,90%
8,60
46
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Auffällig sind die positiven Erwartungen an die Gastschule, wie aktive Einbindung
und intensive Betreuung. Die Bewerberinnen hegen die Hoffnung im Ausland positiv
aufgenommen und in der Sondersituation besonders betreut zu werden. Diese Erwartungen müssen später mit den realen Erfahrungen kontrastiert werden. Insgesamt entsprechen die Erwartungen der hohen Leistungsbereitschaft der Jugendlichen, so wie
es in den Zeugnissen erkennbar war.
Tabelle 12: Erwartungen an die Gastschule – Stipendienprogramm
BWS 2002
n=101
σ
BWS 2003
n=85
σ
BWS 2004
n=131
σ
ja
84,00%
6,36
84,10%
0
81,10%
4,80
weiß nicht
11,80%
43,13
14,20%
0
17,00%
7,07
nein
1,70%
0,80
2,30%
0
1,90%
2,80
keine Angaben
2,50%
Mir ein Zeugnis ausstellen
2,54
0,00%
0
0,00%
0,00
Gastschule sollte:
Mich aktiv einbinden
ja
68,90%
3,81
56,40%
0
67,90%
8,90
weiß nicht
22,70%
0,21
36,20%
0
26,40%
6,22
nein
6,70%
1,83
8,10%
0
5,70%
2,80
keine Angaben
Mich betreuen
1,70%
1,76
0,00%
0
0,00%
0,00
immer
nur in besonderen
Fällen
80,70%
1,97
88,10%
0
75,50%
8,69
13,40%
1,06
12,30%
0
22,60%
5,93
gar nicht
3,40%
0,91
0,00%
0
1,90%
2,82
k.A.
2,50%
0,00
0,00%
0
0,00%
0
Der etwas höhere Wert an die Erwartungen der Schulbetreuung im Stipendium hängt
auch mit den Länderschwerpunkten des Stipendiums zusammen. Insbesondere im
slawischen Sprachraum und in Ungarn erwarten die Bewerberinnen mehr Sprachprobleme, die durch Betreuung gelöst werden können, als z.B. in den USA. Diese Einschätzung spiegelt sich auch im Wunsch nach einem Zeugnis wider. Im Stipendienprogramm bleiben die Bewerberinnen deutlich unter 70% Zustimmung zu einem Zeugnis
der Gastschule, weil sie durch Sprachschwierigkeiten mehr Probleme in der Schule
erwarten.
47
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
1.5. Von der Bewerberin zur Teilnehmerin
Das Bewerberfeld kann nach den Voruntersuchungen konkreter beschrieben werden.
Der Mehrheit der Bewerber sind weiblich, zwischen 15 und 16 Jahren alt und besucht
die 10. Klasse eines Gymnasiums. Ca. 50% der Bewerberinnen im Regelprogramm
und 60% im Stipendium gehören zu den Leistungsträgern ihrer Klasse. Die Mehrheit
hat ein bis zwei Geschwister und mindestens ein Elternteil hat eine abgeschlossene
akademische Ausbildung.
Die wichtigsten Erwartungen an das Austauschjahr sind eine Gastfamilie, die der eigenen Familie möglichst wenig gleicht und eine Schule die aktiv einbindet und betreut.
Als vorzeigbaren Erfolg des Austauschjahres streben die Bewerberinnen ein Zeugnis
der Gastschule und gute Sprachkenntnisse an.
In der Struktur gleichen sich die Bewerberinnen der beiden Auswahlverfahren sehr
deutlich. Die Unterschiede betreffen lediglich einige Ausprägungen der Merkmale „akademisch gebildete Eltern“ und „Anzahl der Geschwister“. So ist z.B. der Akademikeranteil der Eltern der Bewerberinnen um ein Stipendium insgesamt geringer, der Anteil der
akademisch ausgebildeten Mütter aber höher als bei den regulären Auswahlverfahren.
Die schulischen Leistungen der Bewerberinnen sind in beiden Fällen sehr gut, der Anteil der Stipendiatinnen mit einem Zeugnisdurchschnitt von 1,3 und besser ist mit ca.
25% sehr hoch. Die Realschülerinnen sind bei beiden Austauschprogrammen deutlich
unterrepräsentiert und die Hauptschülerinnen bewerben sich gar nicht.
Aus den Bewerberinnen im Regel-, wie im Stipendienprogramm werden ca. 30% bis
40% zur Teilnahme am Programm vorgeschlagen.
Die Teilnehmerinnen sind zu ca.65% weiblich und 35% männlich, selbst wenn bei einer
Auswahl der Anteil der männlichen Bewerber 50% betrug, haben die Teilnehmerinnen
mehr als 60% der Plätze belegt. Die Teilnehmrinnen und Teilnehmer sind zu 80%
Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. 90% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen
nach Abschluss der 10. Klasse und nur 10% nach Abschluss der 11. Klasse ins Ausland. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben zu 70% Eltern mit einem akademischen Abschluss.
Die Austauschorganisation AFS bemüht sich den Anschein des Elitären zu vermeiden
und bietet viele Stipendien an. Die soziale Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber
kann, wie am Beispiel des Stipendiums der Landesstiftung gezeigt, auch mit Stipendien
nur bedingt verändert werden. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Barrieren für ein
Austauschprogramm hoch und unsichtbar sind, wäre der Preis die einzige Hürde am
Austauschjahr, dann müsste genau diese Hürde durch ein Stipendium überwunden
werden. Der Zusammenhang der sozialen Herkunft und der Ausbildung, auch der zu-
48
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
sätzlichen, außerschulischen Ausbildung ist in Deutschland stark korreliert, dies gilt
auch für den Schüleraustausch sehr deutlich.
Da die Mehrheit der Austauschschülerinnen weiblich ist, wird in den nachfolgenden
Kapiteln die weibliche Form verwendet. Damit soll die Lesbarkeit der Arbeit vereinfacht
werden, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Mehrheiten. Die Austauschschüler sind
in der weiblichen Form ausdrücklich einbegriffen und es wäre wünschenswert, wenn in
Zukunft mehr Schüler am Austausch teilnehmen würden.
49
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
2. Theoretische Fundierung des sozialen Lernens
Wie weiter oben ausgeführt, ist die theoretische Basis des AFS so brüchig, so dass
kein überprüfbares Lernkonzept nachgewiesen werden kann. In diesem Kapitel muss
daher eine theoretische Basis des sozialen Lernens als Grundlage des interkulturellen
Lernens zusammengestellt. Die Überlegungen zum Lernen und zur Interkultur betreffen
mehrere Disziplinen, so dass zunächst die Entscheidung zu treffen ist, ob eher eine
soziologische, eine psychologische oder eine pädagogische Theorierundlage des interkulturellen Lernens sinnvoll ist. Hier wird eine soziologische Basis abgeleitet, um eine
allgemeine, gesellschaftliche Grundlage des sozialen Lernens im Ausland und in Auslandserfahrungen zu erhalten. Zwar liefert die Psychologie gerade für die individuellen
und psychologischen Voraussetzungen jedes Einzelnen Teilnehmers und jeder Teilnehmerin an Auslandsaustauschen wertvolle Hinweise, die hier jedoch außer Acht
bleiben müssen, um den Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen
deutlich zu machen und die Arbeit nicht zu sprengen. Der Fokus dieser Arbeit zielt auf
die Frage, wie die allgemeinen sozialen Bedingungen in einer Auslandsgesellschaft
beschrieben werden können, um das sozialen Lernen der Austauschschülerinnen
schlüssig auf dem Erfahrungshintergrund der Herkunftsgesellschaft zu erklären.
2.1. Theoretische Fundierung – Rolle und Sozialisation
Durkheim hat den Begriff der Sozialisation zur Beschreibung des gesellschaftlichen
Wandels an der Schwelle des 19ten zum 20ten Jahrhundert in die Soziologie eingeführt. Seit dieser Zeit wurde die Sozialisation theoretisch weiter ausgebaut und in neue
Zusammenhänge überführt. Auch der Begriff der Rolle ist ein soziologischer Begriff,
der theoretisch unterschiedlich konnotiert ist, so dass eine theoretische Fundierung
dieses Begriffes notwendig ist, um eine überprüfbare Basis dieser Konzepte zu ermöglichen.
2.1.1. Parsons Handlungs- und Systemtheorie
Aus den Anfängen des AFS in den 1950er und 1960er Jahren ist nachvollziehbar, dass
Lernen im Schüleraustausch die Zielsetzung hatte den jungen Deutschen neue Werte
und Normen zu vermitteln. Der Zeit entsprechend wurden diese Ziele auf der Grundlage der, damals weit verbreiteten, soziologischen Theorie von Talcott Parsons vorgenommen. Die strukturalistische Systemtheorie von Parsons fokussiert als Makrotheorie
auf das gesellschaftliche System und sieht den Handelnden als Teil des Systems, nicht
50
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
als aktives Zentrum des Handelns. Die Systemtheorie wurde mit dem Ziel entwickelt,
den Systemgedanken mehr als die Einzelteile in den Vordergrund zu rücken.
2.1.1.1. Handlungstheorie
Handeln ist eine Grundform des menschlichen Daseins und kann sprachlich, gestisch,
symbolisch oder praktisch erfolgen. Jeder muss handeln, teils freiwillig, teils gezwungen, um Kommunikation und Interaktion mit anderen Gesellschaftsmitgliedern zu erreichen. Bereits Max Weber formulierte: „Soziologie (...)soll heißen: eine Wissenschaft,
welche soziales Handeln deutend versteht und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will. Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten (...)
heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn
verbinden. Soziales Handeln soll aber ein solches Handeln heißen, welches seinem
von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer und
daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1984, S. 73)
Im subjektiven Sinn der Handlungen stellt sich Weber die Sinnfrage, da jede Handlung
auch Kommunikation ist und daher missverstanden werden kann. Die wesentliche Kategorie und der Gegenstandsbereich der Soziologie ist jedoch nicht die subjektive
Handlung, sondern das soziale Handeln. Die Motive des sozialen Handelns sind nach
Weber Zweckrationalität, Wertrationalität, Affekte (Emotionen) und Traditionen, die für
alle Gesellschaften zutreffen. Neben der Konstituierung des Untersuchungsgegenstandes wird Soziologie also nicht mehr national, sondern übergreifend gesehen. Von diesen Grundlagen und Motiven des sozialen Handelns geht auch Parsons aus und nimmt
den Gedanken der übergreifenden Soziologie auf, entfernt sich aber von Webers Idealtypus des Handelnden. Parsons überwindet Webers Annahme der Sinnadäquanz als
ein möglichst vollständiges Verstehen des Sinnzusammenhangs von Handlungen
durch eine stringente Normorientierung.
Im Gegensatz zu Weber, nimmt Parsons an, dass der Sinn von Handlungen für alle
Gesellschaftsmitglieder nach den geltenden Normen eindeutig ist und Interpretationsmöglichkeiten nicht existieren. Dennoch stellt sich Parsons das Problem, Handlungen
in der Gesellschaft und in kleineren Gruppen, den Gemeinschaften, zu unterscheiden,
da Affekte in beiden Gruppenbezügen unterschiedlich zum Tragen kommen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern sieht Parsons keine Dichotomie von Gesellschaft und
Gruppe und kann folglich eine Brücke zwischen beiden bauen, denn für die Handlungsalternativen von Gruppen und Gesellschaft müssen jeweils andere Orientierungshilfen gegeben werden, um die jeweilige Situation richtig einzuschätzen und deren Sinn
eindeutig zu bestimmen. Diese Orientierungshilfen müssen die allgemein gültigen
51
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Normen auf unterschiedliche Situationen anwendbar machen, die Parsons in den 'pattern variables' definiert. „Sie [die pattern variables] sind also zunächst Elemente der
Modellrekonstruktion jedes einzelnen Aktes und können somit auch zur Charakterisierung der verschiedenen Systeme, d.h. Organisationen interdependenter Akte verwandt
werden." (Parsons 1964 S.27)
Neben der Kenntnis und Internalisierung von Normen und Werten zur Orientierung im
gesellschaftlichen Umfeld, verfügt das Individuum über zusätzliche Orientierungsmaßstäbe, um Interaktionen auf der Mesoebene normativ und funktionalistisch richtig bewältigen zu können. Die Orientierungsalternativen der 'pattern variables' zwischen
Gruppe und Gesellschaft sind:9
Affektivität versus affektiver Neutralität
Funktional diffuse versus funktional spezifische Situationen
Partikularismus versus Universalismus
Ascription (Zuschreibung) versus Achievement (Leistung)
Kollektivitäts- versus Selbstorientierung
Affektivität, funktional diffuse Situationen, Partikularismus, Zuschreibung an die einzelnen Gruppenmitglieder und Kollektivitätsorientierung sind Beschreibungen der Mesoebene von Gemeinschaften, die Alternativen affektive Neutralität, funktional spezifische
Situationen, Universalismus, Leistung und Selbstorientierung stehen für das Makrosystem Gesellschaft.
Bei der Wahl zwischen Affektivität und affektiver Neutralität kann der Handelnde unmittelbar zwischen der emotionalen Befriedigung in der Gruppe oder instrumentalen Erwägungen in der Gesellschaft wählen. Funktional diffuse oder eng gefasste Situationen
unterscheiden sich bezüglich ihrer Gestaltungsmöglichkeiten von Rolle und Interaktionen, so dass hier Parsons normative Bindung wohl am fragwürdigsten wird. Partikularismus bedeutet einen klaren Einzelbezug, während der Bezugsrahmen von Handlungen und Handlungsalternativen im Universalismus allgemein ist. Basiert die Wertschätzung des Individuums in der Gemeinschaft eher auf Zuschreibungen, so ist die Wertschätzung der Gesellschaften auf Leistungen ausgerichtet. In der letzten Orientierungsalternative kann der Handelnde den Anforderungen des sozialen Systems den
Vorrang geben oder den eigenen Anforderungen. Das teleologische Handlungsmodell
von Parsons rechnet mit einem Handelnden, der in einer gegebenen Situation Ziele
setzt, für deren Realisierung er geeignete Mittel wählt und anwendet. (Habermas
2004,2 S. 305-306)
9
Parsons 1964, S.26-27
52
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Empirisch hat Parsons festgestellt, dass die Alternativen nicht streng auf die Meso- und
Makroebene zu beschränken sind, sondern, dass jeder Handelnde immer Kombinationen der dargestellten Alternativen wählen kann, so dass Wahlakte nicht nur möglich,
sondern notwendig sind. Die Wahlakte vollziehen sich durch Institutionalisierung, also
die Übernahme von kulturellen Symbolen und Normen in sozialen Interaktionen und
Internalisierung als der eigenen Interpretation kultureller Symbole in der Anwendung
auf die eigenen Ziele und Bedürfnisdispositionen. Zweck von Handlungen ist ein zukünftiger Zustand, den der Handlende herbeiführen möchte und bei dessen Erreichung
er sich an Werten und Normen orientiert. Beide fasst Parsons zunächst als „normative
Standards“ zusammen. „Das Modell setzt voraus, dass der Aktor nicht nur über die
entsprechenden kognitiven Fähigkeiten verfügt, sondern in den Dimensionen von
Zwecksetzung und Mittelwahl normativ orientierte Entscheidungen treffen kann.“ (Habermas 2004,2 S.307)
Ziel der Sozialisation ist die bindende Übernahme sozialer Regeln und Normen. Parsons spricht in diesem Zusammenhang von Sozialisation als einer voluntaristischen,
nie von einer subjektivistischen Handlungstheorie. Aus Sicht von Parsons sind Handlungen nicht subjektiv und damit aus der Sicht des Handelnden, sondern aus der gesellschaftlichen Sicht zu beurteilen, so dass sich die Frage, was aus subjektiver Sicht
Norm und was Wert ist, nicht stellt. Diese Sicht wird von anderen Theoretikern nicht
geteilt, so verbindet Habermas den Aspekt des Handlenden, seine Motive und die geltenden Normen wie folgt: „Natürlich kann der Handelnde gegenüber Werten und Normen dieselbe Einstellung einnehmen wie gegenüber Tatsachen; aber er würde nicht
einmal verstehen, was Werte und Normen bedeuten, wenn er ihnen gegenüber nicht
eine konforme auf Anerkennung ihres Geltungsanspruchs beruhende Einstellung einnehmen könnte. Nur in dieser moralischen Einstellung erfährt der Handelnde jenen
moralischen Zwang, der sich ebenso in Gefühlen der Verpflichtung wie in den Reaktionen von Schuld und Scham bemerkbar macht – ein Zwang der mit der Autonomie des
Handelns nicht nur vereinbar ist, sondern diese in gewisser Weise sogar konstituiert.
Es ist ein 'Zwang', den sich der Aktor so zu eigen macht, dass er nicht mehr als äußere
Gewalt auf ihn zukommt, sondern von innen die Motive durchdringt und ausrichtet.“
(Habermas 2004,2 S. 309- 310, Hervorhebungen übernommen)
Parsons kommt folglich nicht umhin, eine umfassende Verbindung von Gesellschaft,
Person und Kultur darzustellen, um das Grundproblem von gesellschaftlichem System
und Individuum besser zu lösen. Aus diesen Gründen muss er in seinen theoretischen
Überlegungen zu „Towards a General Theory“ die Handlungsorientierung um die Aspekte Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit erweitern, um so die gesellschaftlichen
und kulturellen Werte und Normen mit den persönlichen Motiven zu verbinden. Damit
53
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
werden die symbolischen und kulturellen Bedeutungen von Handlungen in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt, denn Handlungen müssen mit den kulturell und gesellschaftlich tradierten Wertmustern verbunden werden, die über die Sozialisierung
internalisiert werden.
„Der Teil der kulturellen Überlieferungen der für die Konstituierung von Handlungssystemen unmittelbar relevant ist, sind die Wertmuster. Diese bilden den Rohstoff, der auf
dem Wege der Internalisierung zu persönlichen Motiven oder charakterbildenden
Handlungsdispositionen verarbeitet wird. Auf diese Weise konzipiert Parsons die beiden Handlungssystem als zwei einander ergänzende Kanäle, durch die kulturelle Werte in motivierte Handlungen umgesetzt werden.“ (Habermas 2004,2 S. 323)
Aus den 'pattern variables' wird ein äußeres kulturelles System, das die subjektive Internalisierung ergänzt, demzufolge die Handelnden über einen Vorrat an kulturell gesichertem und intersubjektiv geteiltem Wissen verfügen und das in konkreten Situationen
interpretativ angewandt wird. Wertestandards sind in Parsons Verständnis nicht subjektive Standards, sondern intersubjektiv geteilte, womit die kulturelle Orientierung ausschließlich an die allgemein geltenden Normen in den Handlungen der Einzelnen gekoppelt wird. Die intersubjektiv geteilten kulturellen Maßstäbe werden an abstakten
Werten gemessen, so dass es fraglich erscheint, ob diese abstrakten Größen noch
individuelle Interpretationen der kulturellen Überlieferung ermöglichen. Insbesondere
Parsons Annahme, dass die Orientierung der Handelnde nicht an der Sprache, sondern an kulturellen Gegenständen erfolgt, macht die Verdinglichung der kulturellen
Orientierung gegenüber einer kommunikativen Auseinandersetzung deutlich und die
Interpretation fragwürdig.
„Aus der begrifflichen Perspektive verständigungsorientierten Handelns stellt sich die
interpretative Aneignung überlieferter kultureller Gehalte als der Akt dar, über den sich
die kulturelle Determinierung des Handelns vollzieht. Diesen Weg der Analyse verbaut
sich Parsons, weil er die Orientierung an Werten als eine Orientierung an Gegenständen begreift.“ (Habermas 2004,2 S. 327-28)
Habermas stellt fest, dass eine Unterscheidung von Gegenständen und den in Symbolen verankerten Bedeutungen bei Parsons Handlungstheorie der 'pattern variables'
nicht erkennbar ist und macht damit deutlich, dass Parsons Annahme der Internalisierung und Institutionalisierung objektiv kultureller Muster zur Determinierung kultureller
Motive und zur eindeutigen Steuerung der Rollenerwartungen nicht haltbar ist. Vielmehr führt die Entpersönlichung der kulturellen Orientierung zu einer blutleeren Erklärungshülse, die den kulturellen Hintergrund von Handlungen nicht komplex erklären
kann. Die Annahme Parsons, dass kulturelle Orientierung objektiv und für alle Menschen gleich sei und individuelle Interpretationen und Fähigkeiten immer auch Be-
54
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
standteil der kulturellen Standards seien, offenbart ein enges und unkreatives Menschenbild. Parsons stellt den Handelnden als leere Hülse dar, die beliebig mit sozialen
oder kulturellen Inhalten gefüllt werden kann. Ein individuelles Persönlichkeitsbild ist
mit diesen Annahmen nicht vereinbar. In der Handlungstheorie stellt Parsons mit seinen Annahmen die Außenperspektive in den Mittelpunkt der Betrachtungen und suggeriert eine scheinbar leichte Verbindung zur makrotheoretischen Perspektive seiner Gesamttheorie.
2.1.1.2. Funktionalistische Systemtheorie
Basierend auf den Vorarbeiten versucht Parsons eine Generalisierung seiner Theorie
unter dem Aspekt: „Society may be regarded as the most general term referring to the
whole complex of the relations of man to the follows.“ (Parsons 2005, S.15) Gesellschaft muss aus der soziologischen Perspektive Parsons als ein allgemeines soziales
System10 und umfassender Bezugspunkt des Individuums betrachtet werden (Außenperspektive). Seine Absicht ist es eine Theorie zu schaffen, die erklärt, wie dieser umfassende Bezugspunkt durch eine kohärente, normative Ordnung zusammengehalten
wird. Ausgangspunkt der Gesamttheorie ist eine gesellschaftliche Struktur, die von vier
Subsysteme mit deren Hauptfunktionen11 und Elementen gegliedert wird.
Die Subsysteme bilden keine gleichberechtigten Teile, vielmehr werden dem sozialen
System ein kulturelles System, ein Persönlichkeitssystem und ein Verhaltensorganismus untergeordnet.12 Die individuelle Persönlichkeit ist Teil der kulturellen und sozialen
Umgebung, wie das bereits in der Handlungstheorie beschrieben wurde. Innerhalb des
sozialen Systems hat jedes Subsystem eine Funktion, die in allen Teilsystemen, wie
auch im Gesamtsystem erfüllt werden muss.
10
Parsons stellt in „ Soziologische Texte“ in einer Fußnote auf S.183 zum allgemeinen sozialen System
selbst klar: „Ein allgemeines soziales System ist ein theoretisches Konzept, nicht eine empirische Erscheinung. Es ist ein logisch integriertes System allgemeiner, auf die Empirie bezogener Begriffe, mit Hilfe dessen
sich eine unbegrenzte Zahl konkret verschiedener, empirischer Systeme beschreiben und analysieren lässt.
(siehe L.J. Henderson, Pareto´ s General Sociology, Cambridge Harvard Press 1935 Kap IV und Anm.3)
11
Parsons Darstellung wurde aus seinem Buch „Das System der modernen Gesellschaft“ in der vierten
Auflage von 1996 entnommen. Zu dieser Darstellung bemerkt Parsons: „Diese Tabelle stellt ein stark vereinfachtes Schema der wichtigsten Subsysteme und ihrer funktionalen Beziehungen im allgemeinen Handlungssystem dar, wobei das soziale System dasjenige von vier primären Subsystemen ist, das in der Hauptsache integrative Funktionen erfüllt. Ein etwas detaillierteres Schema findet sich in „Society“ S.26 Tabelle 1.
Die Tabelle wurde Parsons Buch „Das System der modernen Gesellschaft“ in der Ausgabe von 1996, S. 28
entnommen
12
”Wir behandeln das zweite, dritte und vierte Handlungssubsystem als Bestandteile der Umwelt des ersten,
des sozialen Systems. Dies ist einigermaßen ungewöhnlich, besonders im Falle individueller Persönlichkeiten. Hier ist dieses Vorgehen aber gerechtfertigt, weil wir, (..), weder soziale, noch Persönlichkeitssysteme
als konkrete Seinseinheiten begreifen. Sie sind für uns vielmehr analytische Konstruktionen.“ (Parsons 1996,
S.13)
55
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 9: Parsons Gesellschaftssystem
Subsystem
Strukturkomponente
Aspekt des Entwicklungsprozesses
Hauptfunktion
Gesellschaftliche Gemein- Normen
schaft
Einbeziehung
Integration
Normerhaltung oder Treu- Werte
handprinzip
Werteverallgemeinerung
Normerhaltung
Politisches Gemeinwesen
Gesamtheiten
Differenzierungen
Zielverwirklichung
Wirtschaft
Rollen
Standardanhebung durch
Anpassung
Anpassung
(Parsons 1982, S. 189)
Neben diesen Subsystemen beschreibt Parsons zwei Realitätssysteme, die physische
Umwelt mit den konkreten Erscheinungen der dinglichen Welt und der lebenden Organismen und, in Anlehnung an die philosophische Tradition Kants, die so genannte „letzte Realität“. Mit dieser letzten Realität betrachtet er die Gesellschaft als Gegenstand
der Soziologie, die durch die Analyseperspektive selbst konstituiert wird. Gesellschaft
ist, was man als Gesellschaft bezeichnet. Hatte Max Weber noch ein Sinnproblem
festgestellt, geht Parsons von einem symbolisch in Handlungen vermittelten Sinn aus.13
Nicht die Handlungen sind ausschlaggebend, sondern der mit ihnen allgemein in Normen festgelegte Sinn. Sind die Subsysteme über die allgemeinen Normen und deren
Sinn miteinander verbunden, dann erhalten Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder
und deren Kommunikation diese Verbindungen. „Um mittels Symbolen zu kommunizieren müssen Individuen kulturell geordnete gemeinsame Codes, wie etwa die Sprache,
haben, die auch in Systeme ihrer sozialen Interaktion integriert sind. Um die im zentralen Nervensystem gespeicherte Information für die Persönlichkeit verfügbar zu machen, muss der Verhaltensorganismus Mechanismen der Bereitstellung und des Wiederbringens haben, die auf dem Wege der gegenseitigen Durchdringung den auf der
Persönlichkeitsebene gebildeten Motiven dienen.“ (Parsons 1996, S.15)
Das gemeinsame Codesystem von Sprache und Gesten ermöglicht die Verständigung
unter den Gesellschaftsmitgliedern, während die kohärent normative Ordnung die sozialen Beziehungen stabil hält. Der Sozialisationsprozess hat damit eine doppelte Funktion. Zum einen verbindet er das soziale mit dem Persönlichkeitssystem und damit
individuelle Motive mit den funktionalen Anforderungen der Gesellschaft. Zum anderen
13
„Der Funktionalismus hat die Bedeutung, die Selbständigkeit des Systems gegenüber den Handlungen zu
begründen. Hier geht es nicht darum Werte und Institutionen aus den Bedürfnissen und Handlungen abzuleiten, sondern ein System das einen eigenen Legitimationsgrund hat, mit Bedürfnissen und Handlungen zu
verbinden.“ (Jonas 1969)
56
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
bedeutet Sozialisation14 das Lernen von Codes und deren Sinngehalt in Handlungen,
wie auch die Reproduktion dieser Codes.
Der Konstruktionskern der Theorie von Parsons wird in den Strukturkomponenten deutlich. Die Hauptfunktionen des Schemas gelten in einem umfassenden Sinn und sind:
Adaption: Anpassung des Systems (Gesellschaft, Familie, Schule oder andere
Gruppen) an seine Umwelt.
Goalattainment: Ziele und Zielhierarchien müssen innerhalb der Gruppe festgesetzt und Bedingungen zu ihrer Realisierung hergestellt werden.
Integration: Die Aufgaben und die dafür notwendigen Ressourcen müssen auf die
Personen und Gruppen verteilt werden, so dass keine Aufgabe „unerledigt“ bleibt.
Latent pattern maintenance: Normerhaltung und Konformität; die für die Ziele
und unterschiedlichen Aufgaben vorausgesetzten Strukturen und Normen müssen
aufrechterhalten werden.15
Die Hauptfunktionen und ihre Umsetzung werden im sogenannten allgemeinen Handlungsschema (nach den Anfangsbuchstaben AGIL) oder 'action frame of reference'
zusammengefasst. Hauptargument der Funktionen ist die Integration durch normativen
Konsens, der den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert. Gesellschaftliche Stabilität
ist dann gegeben, wenn die geltenden Normen und Werte stabil sind und in den Hauptfunktionen des Systems, wie auch der Subsysteme verwirklicht werden, so dass gesellschaftliche Umbrüche nicht zu befürchten sind.
Der Systemgedanke Parsons und sein Postulat der Stabilisierung des Systems im
„AGIL-Schema“ implizieren einen statischen Zustand. Werden Normen reproduziert
und können nicht situativ angepasst werden, dann ist eine Erklärung von Änderungen
der Normen und Handlungen nicht möglich. Zwar fordert Parsons in den Standardhebungseffekten ausdrücklich eine gesellschaftliche Entwicklung, aber nur zur Stabilisierung der Gesellschaft und der vorhandenen Strukturen. Dieses Erklärungsmuster ist
nicht weitreichend genug, um große gesellschaftliche Umbrüche zu berücksichtigen
und muss daher große Umbrüche als dysfunktional erklären.16
14
„Parsons bestimmt Sozialisation als den Prozess, durch den die Individuen die Dispositionen erwerben, die
erforderlich sind, um in der Gesellschaft vorgegebene Rollen als Akteure spielen zu können. Diese Rollen
sind durch Normen definiert, die aus allgemeinen, in der Gesellschaft institutionalisierten Werten abgeleitet
sind, und in Interaktionssystemen reziprok aufeinander bezogen.“ (Geulen, 2005)
15
zitiert nach Matthias Jung 2002, S. 195
16
„Wir haben oben bemerkt, dass die allgemeinen Wertmuster einer Gesellschaft auf die große Vielfalt der
Situationen, in denen Handlungen sozial strukturiert ist, zugeschnitten sein muss. Wir drehen den Sachverhalt nun um; wenn nämlich das Netz der sozial strukturierten Situation komplexer wird, muss das Wertmuster
selbst auf einer höheren Allgemeinstufe fixiert werden, um die soziale Stabilität zu sichern. (...) kurz zusammengefasst heißt das: Die Verankerung in einem Handlungssubsystem höherer Ordnung ist die grundlegende Bedingung für Standardhebungseffekte eines verallgemeinerten Austauschmediums. Deshalb ist kulturelle Entwicklung auf einer sehr breiten Grundlage wesentlich für die evolutionäre Weiterentwicklung sozialer
Systeme.“ (Parsons 1996, S.42) Wie in der Tabelle bereits ausgeführt, gibt es nach Parsons vier Prozesse
strukturellen Wandels:
57
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
2.1.1.3. Funktionalistische Rollentheorie
Die Stabilität des normativ orientierten gesellschaftlichen Systems wird wesentlich
durch Parsons Rollenkonzept erklärt, indem Rollen die Verbindung des kulturellen mit
dem individuellen System schaffen, um Normen aus dem kulturellen ins individuelle
System zu übertragen. „So gesehen liegt der wesentliche Aspekt der sozialen Struktur
in einem System von Erwartungsmustern, die das rechte Verhalten für Personen in
bestimmten Rollen definieren; ihre Geltung wird sowohl durch die positiven Motive des
Rollenträgers selbst, wie auch durch die Sanktionen von Seiten anderer durchgesetzt.
Wenn derartige Systeme von Erwartungsmustern so fest in das Handeln eingegangen
sind, dass sie ganz selbstverständlich als legitim betrachtet werden, so bezeichnet man
sie, im Hinblick auf ihren Platz in dem gesamten sozialen System, zweckmäßigerweise
als ‘Institutionen’.“ (Parsons 1964,S.56)
Rollen können als institutionalisierte Verhaltensmuster interpretiert werden, in denen
exogene Normen im individuellen System integriert werden, da sonst gesellschaftliche
Sanktionen drohen. Um die institutionalisierten Rollenhandlungen zu erlernen, kommt
dem Sozialisationsprozess die Aufgabe der Reproduktion zu, um die Verhaltensnormen und die Erwartungen an Aktion und Reaktionen der Gesellschaftsmitglieder zu
erklären. Das Ergebnis dieser Sozialisation ist ein Individuum das allgemeine Erwartungen in seinen Handlungen erfüllt und die bestehenden Normen durch Reproduktion
stabilisiert.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Parsons Theorie eine durch Normen
begründete statische Stabilität der Gesellschaft erklärt und gesellschaftliche Veränderungen ausschließt und nicht erklärt. Der Annahme Parsons, dass seine Beobachtungen von konkreten Gesellschaften und historischen Umständen unabhängig seien und
daher auf andere reale Gesellschaften, im Sinne einer „General System Theory“, übertragbar sind, kann nur auf der Grundlage einer strikt geltenden normativen Ordnung
•
Differenzierung
•
Standardanhebung durch Anpassung
•
Einbeziehung
•
Werteverallgemeinerung
„Unter Differenzierung verstehen wir die Teilung einer Einheit oder Struktur in einem sozialen System in
zwei oder mehr Teile oder Einheiten, die sich in ihren Merkmalen und ihrer funktionalen Bedeutung für das
System voneinander unterscheiden. „ (1996 S. 41)
„Standardhebung durch Anpassung ist der Prozess, durch den ein größeres Spektrum von Hilfsmitteln
sozialen Einheiten verfügbar gemacht wird, so dass ihr Funktionieren von einigen, insbesondere sozialen
Beschränkungen, denen ihre Vorgänger unterlagen, befreit werden kann. Moderne Fabriken fordern von den
in der Produktion Tätigen viel stärker verallgemeinerte Dienstleistungsverpflichtungen als bäuerliche Haushalte, können aber ein größeres Gütersortiment viel wirtschaftlicher herstellen. Aus der erhöhten Komplexität
eines Systems, das einen Differenzierungs- und Standardhebungsprozess durchmacht, ergeben sich notwendigerweise Integrationsproblemen. Im allgemeinen könne diese durch Einbeziehung neuer Einheiten,
Strukturen und Mechanismen innerhalb des normativen Rahmens der gesellschaftlichen Gemeinschaft
gelöst werden.“ (1996, S.41)
58
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
zugestimmt werden. Auf moderne gesellschaftliche Veränderungsprozesse kann Parsons normative Theorie jedoch keine adäquate Antworten liefern.
2.1.2. Sozialisationstheorien
In den bisherigen Überlegungen von Parsons und der Entgegnung von Habermas,
sowie den theoretischen Überlegungen des AFS spielte der Sozialisationsbegriff eine
bedeutende Rolle, wurde aber jeweils an unterschiedlichen Konzepten festgemacht.
Eine allgemeine und einheitliche Definition des Sozialisationsbegriffs war in den bisherigen Betrachtungen nicht ableitbar, daher stellt sich die Frage, ob diese durch neuere
theoretischen Entwicklungen hergestellt werden konnte.
„Im Anschluss an Durkheim [der den Sozialisationsbegriff im 19. Jahrhundert prägte]
hat die durch Parsons entwickelte funktionalistische Systemtheorie bisher den wohl
größten Einfluss auf die soziologische Sozialisationsforschung ausgeübt.“ (Endrust/
Trommsdorf 2002, S.501)
Seit den 1970er Jahren konzentriert sich die Sozialisationsforschung immer mehr auf
Teilbegriffe, wie Sozialisationsinstanzen und Sozialisationsphasen wie der Primär- bis
zur Tertiärsozialisation. In diesem Zusammenhang wurde die familiäre Sozialisation
und deren schichtspezifische Bedingungen besonders intensiv erforscht und hat wichtige Ergebnisse gezeitigt. So konnten z.B. aus den hierarchischen Unterschieden der
Einbindung ins Arbeitsleben auch Unterschiede der Wertorientierung der Eltern in der
Erziehung nachgewiesen werden. Trotz wichtiger Erkenntnisse der Sozialisationsbedingungen konnte keine komplexe Erklärung aller Sozialisationseinflüsse hergestellt
werden, so dass Geulen feststellt: „Die horizontale Differenzierung der makrostrukturellen Bedingungen für die Sozialisation in Familien ließ die Vorstellung einzelner Kausalbeziehungen zwischen zwei Variablen als unangemessen erscheinen und machte die
Notwendigkeit eines komplexen Modells deutlich, zumal auch anzunehmen ist, dass
diese Bedingungen in Wechselwirkung zueinander stehen.“ (Geulen 2005, S.69)
Die Analyse der Sozialisationsinstanz Familie konnte nachweisen, dass die soziokulturellen Unterschiede zwischen Familien der Unter- und Mittelschicht einen deutlichen
Einfluss auf den Schulerfolg und die Schulabschlüsse der Kinder haben, was Benstein
(1958 bis 1974) vor allem an linguistischen Unterschieden zuwischen Schülern und
Lehrern festgemacht. Soziale Unterschiede des Sprachgebrauchs sind demnach so
gravierend, dass sie Zugehörigkeit nicht nur zu einer Klasse, sondern auch deren Bildungsstandards reflektieren und von Lehrern erkannt werden. Verfügen Kinder nicht
über die Sprache der gebildeten Mittelschicht, hat das Auswirkungen auf ihre Bildungschancen.
59
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Dennoch ist der Zusammenhang von Sprache und Schulerfolg eine eindimensionale
Erklärung, die nicht alle Sozialisationsbedingungen und den damit zusammenhängenden Schulerfolg erklärt. Die Differenzierung von Sozialisationsphasen in Primär-, Sekundär- und Tertiärsozialisation29 erweitert den Sozialisationsprozess um eine zeitlichen Dimension, allerdings verbunden mit dem Nachteil der Trennung von Personen in
den Teilphasen, wie Eltern und Lehrern und deren Einfluss auf die Sozialisation.
Die sozialisationstheoretische Begriffsbildung ist vom Anspruch die Komplexität der
realen Sozialisationsbedingungen zu erklären und den Einflusses der Gesellschaft auf
das Individuum nachvollziehbar zu machen immer noch weit entfernt.
Hurrelmanns Vorschlag die Komplexität der Sozialisation im Begriff der „produktiven
Realitätsverarbeitung“ zu fassen ist eine begriffliche Weiterentwicklung, die der Erkennbarkeit der Komplexität des Sozialisationsprozesses dient, der Anspruch einer
komplexen Sozialisationstheorie mit stringentem Erklärungswert kann aber nicht eingelöst werden.
Übersicht 10: Sozialisation als produktive Umweltverarbeitung
•
•
•
•
•
Genetische Veranlagung
Körperliche Konstitution
Intelligenz
Psychisches Temperament
Grundstruktur der Persönlichkeit
Produktive
Realitätsverarbeitung
•
•
•
•
•
•
Familie
Erziehungs-, Bildungseinrichtungen
Peergruppen
Soziale Organisationen
Massenmedien
Endruscheid/ Tromsdorf (Hrg) 2002
Nach Hurrelmann ist der Sozialisationsvorgang die Auseinandersetzung individueller
Eigenschaften wie Intelligenz, körperliche und psychische Konstitution mit den konkreten Bedingungen der Familie, ihrer sozialen Zugehörigkeit und den weiteren Sozialisationseinflüssen wie Schule, Peers und Massenmedien. Das Schaubild zeigt die produktive Verarbeitung der gesellschaftlichen Bedingungen ohne eindeutig die persönlichen
und familiären Feldbedingungen zu erklären. Diese Interdependenzen von Individuum
29
„Die Aneignung der Umwelt in der Primärsozialisation (Familie) und den Institutionen (Sekundärsozialisation) ist nicht nur ein passiver Vorgang den das Individuum quasi widerspruchslos durchläuft, sondern eine
aktive und daher auch zunehmend kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Umweltbedingungen.
Aneignung erfordert mehr als Teilnahme, Besitz und Identifikation, nämlich reflexive Distanz gegenüber den
Objekten der Umweltaneignung. Erst reflexive Distanz ermöglicht den Sprung vom Beherrscht werden durch
die Regeln der Umwelt zum Beherrschen der Umwelt durch kreativen, interessengeleiteten Umgang mit ihren
Regeln.“ (Abels, Stenger 1984 S.87)
60
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
und gesellschaftlichen Bedingungen, die jeden Sozialisationsvorgang zu einem einzigartigen Prozess machen, an dessen Ende der sozialisierte Mensch steht, können mit
der produktiven Verarbeitung erfasst, aber nicht vollständig erklärt werden. Die Komplexität der produktiven Verarbeitung objektiver und subjektiver Tatbestände durch eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit von Soziologie, Pädagogik und Psychologie steht
immer noch aus. „Die theoretische Vermittlung des Bereiches externer Sozialisationsbedingungen mit dem der Subjektivität ist zwar das zentrale von der Sozialisationstheorie zu klärende Problem, es ist aber selbst in der neueren Diskussion noch kaum systematisch weiter bearbeitet worden.“ (Geulen 2005, S.74)
Damit bleibt der Erklärungswert der Sozialisationstheorie in detaillierten Begriffsbildungen stecken, die zu kleinteilig sind, um die Bereiche Erziehung, Entwicklung und Enkulturation miteinander zu verbinden.
Die Anforderungen an eine umfassende Sozialisationstheorie verdeutlichen Abels und
Stenger in einer Systematik:
Mittel der Aneignung:
Fähigkeiten (z.B. Sprache)
Fertigkeiten (z.B. Kulturtechniken)
Kompetenzen (z.B. soziale Kompetenzen, Empathie, Beherrschung der Basisregeln)
Wissen (technisch–instrumentelles Wissen in Form von „Kenntnissen“ und
strukturelles Wissen z.B. als reflexives Wissen um die Bedeutung von Dingen
und Situationen)
Materielle Ressourcen (z.B. Geld, Besitz)
Rechte und Berechtigungen(z.B. Führerschein, Hochschulzugangsberechtigung, aktives/passives Wahlrecht
Ziel der Aneignung:
Herstellung positiver Identität als Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft
Die „optimale“ Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse in allen Lebensbereichen bzw. „sozialen Zusammenhängen“
Funktionserfüllung als Beitrag zur Stabilität und Innovation als Beitrag zur Weiterentwicklung17
Diese Zusammenstellung verbindet mehrere theoretische Fundamente. Die Mittel der
Aneignung wie Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen und Wissen korrespondieren
mit den Annahmen Piagets zur kognitiven Entwicklung des Menschen. Altersgerecht
17
(Abels, Stenger 1984, S. 89)
61
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
werden Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen mit sozialen Kompetenzen und der Handlungsfähigkeit bei Piaget verbunden.
Die Zugangsberechtigungen und materiellen Ressourcen stellen auf soziale Unterschiede der Gesellschaft ab, wie sie von Bourdieu in den „Feinen Unterschieden“ beschrieben wurden, denn je nach sozialer Schicht und Alter verfügen Individuen über
kulturelle, soziale und materielle Kapitalien, die auch als Zugangsberechtigung fungieren. Die Mittel der Aneignung können daher als allgemeine Sozialisationsbedingungen
bezeichnen werden, die sowohl individuelle, wie auch objektive Umweltbedingungen
erfassen. Mit den Zielen der Sozialisation erweitern Abels und Stenger den Sozialisationsansatz um eine klare Ausrichtung. Bei genauer Betrachtung der aufgeführten Ziele
stellt man fest, dass auch die Ziele, wie zuvor die Mittel, mit unterschiedlichen Theorien
erklärt werden können. Eine positive Identität basiert auf psychologischen Annahmen
und kann z.B. mit der erweiterten Theorie von Kohlberg und Habermas erklärt werden,
während Funktionserfüllung und Stabilität der Gesellschaft auf einem normativen Gesamtsystem im Sinne von Parsons basiert.
Neben den genannten sind noch andere Sozialisationsziele, wie zum Beispiel Mündigkeit und Autonomie, denkbar. Eine kausale Theorie der Sozialisation, die alle genannten Komponenten integriert und auf eine entsprechend klar definierte Gesellschaft sozialisiert, kann aber auch diese Zusammenstellung nicht liefern. „Die Tatsache, dass
ein Begriff von Persönlichkeit offenbar nicht zureichend aus dieser selbst heraus entwickelt werden kann, und die Tatsache, dass wir eine Vielfalt solcher Begriffe vorfinden,
die sich auf bestimmte historische Kontexte zurückführen lassen, führen uns zu der
These, dass unsere Vorstellungen von Persönlichkeit mit denen von Gesellschaft zusammenhängen, ja in diesen fundiert sind. In diesem Fall wäre der Persönlichkeitsbegriff eines sozialisationstheoretischen Ansatzes systematisch in einem gesellschaftstheoretischen Rahmen zu begründen.“ (Hurrelmann1981, S.53)
Wenn es gelingt Gesellschaft und Individuum theoretisch als Komplemente in einem
nachvollziehbaren Zusammenhang zu verbinden, dann und erst dann kann Sozialisationstheorie den umfassenden Vergesellschaftungsvorgang erklären.
2.1.3. Kritische Würdigung und Anwendung der Theorien auf das interkulturelle Lernen
Das interkulturelle Lernen wurde durch den AFS als Sozialisationsprozess in Rollen
beschrieben, der in den folgenden drei Mechanismen konkretisiert wird:
Mechanismen der Wahrnehmung
62
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Mechanismen der Sozialisation im Ausland
Mechanismus der Verarbeitung nach der Rückkehr
Wendet man die normative Theorie von Parsons auf diese Mechanismen an, dann
lässt sich ein Model des sozialen Lernens im Ausland ableiten, dass auf dem AGILSchema beruht. Sozialisation kann als soziales Lernen der geltenden Normen und
Werte einer Gesellschaft, die über das AGIL in Rollen integriert werden, interpretiert
werden.
Übersicht 11: AGIL-Schema nach Parsons
Adaption
Anpassung an neue Gesellschaft, Familie, Schule
und Peers
Zielerreichung
Ziele des Austauschjahres innerhalb der Gastfamilie und Gastschule werden vereinbaren
Integration
Bekannte Normen und Wert müssen in Rollen und
Handlungen integriert werden
Normerhaltung
Die gesellschaftlichen, familiären und schulischen Normen werden erhalten
Der Begriff des interkulturellen Lernens ist in diesem Modell nicht notwendig, denn in
der Hauptsache ist das Lernen der neuen Werte und Normen ein sozialer Lernprozess
für den eine Kulturdefinition nicht notwendig ist.
Die Systemtheorie Parsons hat zwar eine klare Verbindung von Individuum und Gesellschaft definiert, so dass eine stringente Erklärung des Lernens in zwei verschiedenen Gesellschaften möglich ist, aber nur wenn man die normativen Verfestigungen
dieser Theorie akzeptiert. In besonderer Weise hat sich Habermas mit dem Konzept
der institutionalisierten Rollen in Parsons Theorie auseinandergesetzt und im Sommersemester 1968 in seinen Vorlesungen die soziologische Bedeutung des Rollenmodells
in der Systemtheorie ausführlich erörtert und kritisch hinterfragt.
„Das Rollenmodell hat den Vorzug, einen Objektbereich zu konstituieren, der im engeren Sinne soziologisch ist: Verhalten begreifen wir unter diesem Gesichtspunkt weder
als Reaktion eines einzelnen Organismus, noch als Äußerung einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, sondern als Vorgang in einem System sozialen Handelns. Das
handelnde Subjekt erscheint dabei nur als Rollenträger, d.h. als Funktion von Vorgängen, die durch soziale Strukturen bestimmt sind. “ (Habermas 1968, S.3)
Im Gegensatz zu Parsons sieht Habermas das Rollenkonzept als objektive Analysekategorie und nicht als institutionalisiertes Verbindungselement zwischen Persönlichkeitssystem und allgemeinem System. Daher überarbeitete er die Annahmen der Rol-
63
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
lentheorie von Parsons und stellte die folgenden Punkte in den Mittelpunkt seiner Überlegungen:
Kongruenz von Wertorientierung und Bedürfnisdisposition der in Rollen handelnden Subjekte kann nicht ad se unterstellt werden (Repressionstheorem)
Rollendefinition und Rolleninterpretation der Handelnden muss nicht immer
einheitlich sein (Diskrepanztheorem) und
die Kongruenz der geltenden Normen und wirksamen Verhaltenskontrollen in
eingespielten Interaktionen kann nicht generell unterstellt werden (Konformitätstheorem).
Definierte Parsons institutionalisierte Rollen, um dadurch die Übereinstimmung von
normorientiertem Verhalten und der daraus resultierenden Bedürfnisbefriedigung der
Akteure zu konstatieren, so bestreitet Habermas diesen Zusammenhang. Selbst wenn
man unerstellt, dass das Verhalten der Akteure an gesellschaftliche Normen angepasst
sei, kann daraus keine strenge Komplementrarität der Bedürfnisse aller Handelnden in
einer Interaktion abgeleitet werden, denn: „Das Gleichgewicht einer Interaktion ist an
die Bedingung der Gegenseitigkeit auf der kognitiven Ebene der symbolischen Bedeutungen (Komplementarität der Erwartungen) gebunden, nicht aber an die Bedingung
einer Gegenseitigkeit auf der motivationalen Ebene der Bedürfnispositionen (Reziprozität der Befriedigung).“ (Habermas 1968, S.8)
Habermas bestreitet vehement den von Parsons unterstellten Zusammenhang von
Normerhaltung bei gleichzeitiger Bedürfnisbefriedigung der Handelnden.
„Empirisch besteht eher Anlass zu der Annahmen, dass in allen bisher bekannten Gesellschaften ein fundamentales Missverhältnis zwischen der Masse der interpretierten
Bedürfnisse und den gesellschaftlich lizenzierten, als Rollen institutionalisierten Wertorientierungen bestanden hat.“ (Habermas 1968,S.8)
Wenn die Erfüllung gesellschaftlicher Normen aber nicht gleichzeitig zur kongruenten
Befriedigung individueller Bedürfnisse führt, muss nach Habermas das Repressionstheorem gelten, mit dem die Kongruenz von Normen und Bedürfnissen nur unter dem
Zwang gesellschaftlicher Repression herstellbar ist, jedoch nicht freiwillig.
Der zweite Kritikpunkt am normgerechten Rollenverhalten wurde bereits von G.H.
Mead und A. Strauss vorgetragen und von Habermas aufgenommen. Alle drei Theoretiker bestreiten eine Kongruenz von Rollendefinition und Rolleninterpretation der Akteure und weisen auf spontane Ich-Leistungen der interagierenden Partner hin. Im
Gegensatz zu Parsons normorientiertem Subjekt stellen Mead, Strauss und Habermas
den freien Willen über die Normerhaltung. Die Handelnden legen – nach Ansicht von
64
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Mead18 und Strauss19 – nicht nur Situationen und deren spezifische Anforderungen
fest, sondern auch die in diesen Situationen geltenden Normen. Insbesondere im Konzept des 'role-making', also der aktiven Rollengestaltung durch die Akteure, können
spontan gesellschaftliche Normen außer Acht gelassen oder uminterpretiert werden,
wodurch ein kongruentes Verständnis der Handelnden faktisch unmöglich wird. Hier
schließt sich Habermas Goffman an: „Goffman zeigt, wie die Beteiligten eine diffuse
Ausgangssituation im Hinblick auf locker definierte Rollen erst dadurch interpretieren,
dass sie ihre konkurrierenden Rollenprojekte aneinander abarbeiten lassen, bis ein
vorläufiger Deutungskompromiss gefunden ist.“ (Habermas 1968, S. 9)20
Durch alle Stufen der Distanzierung von Rollen, die Goffman21 anführt, wie ‘Rollenflucht’, ‘Innerer Rollendistanz’, ‘verbaler Rollenironisierung’ (trotz formalem Rollenhandelns),‘symbolisierter Rollendistanz’, ‘Bruch/Wechsel im Rollenspiel’ und der ‘Hypertrophfierung der Rolle’, können neben den bestehenden gesellschaftlichen Rollennormen innere Widerstände in Interpretationsfreiräumen offen gelegt werden. Der Handelnde kann zwar äußerlich quasi-normgerecht handeln, aber de facto innerlich Abstand nehmen. In diesen Handlungsalternativen sieht Habermas keine Normverletzung, sondern eine Diskrepanz zwischen der institutionalisierten Rollendefinition und
der neuen Rolleninterpretation, die durch das Aushandeln intersubjektiv geltender
Normen in einer Interaktion überwunden werden kann. Normen können daher nicht
mehr als allgemein gültig angesehen werden, sondern werden von den jeweils handelnden Partnern an deren spezifische Handlungssituation angepasst. Daher plädiert
Habermas folgerichtig für eine Trennung von Rollendefinition und Rolleninterpretation:
„Wir müssen die Ebenen der Rollendefinition und der Rolleninterpretation auseinanderhalten. Empirische und sprachphilosophische Gesichtspunkte sprechen für die Geltung eines Diskrepanztheorems: eine vollständige Definition der Rolle, die die deckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten präjudiziert, ist allein in verdinglichten,
nämlich Selbstrepräsentation ausschließenden Beziehungen zu realisieren.“ (Habermas 1968,S.9)
Die Übereinstimmung von Rollendefinition und Rolleninterpretation ist zwar möglich,
stellt aber eine Ausnahme und nicht die von Parsons unterstellte Regel dar. Als Drittes
kritisiert Habermas die von Parsons unterstellte vollkommene Kongruenz geltender
Normen mit dem jeweiligen Verhalten durch Verhaltenskontrollen und entwickelt daraus das Konformitätstheorem. Wie vor ihm schon Goffman, sieht auch Habermas die
Notwendigkeit einer differenzierten Interpretation von Normen und postuliert eine Inter18
G.H. Mead
Levi Strauss
20
Habermas zitierte Goffman aus: E.Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life N.Y. 1959
21
Goffman Strategische Interaktion 1981
19
65
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
nalisierungsvarianz der Normen durch die handelnden Personen. Handelnde haben
Freiräume innerhalb derer sie Normen annehmen und internalisieren, oder ablehnen
können, um sie dann, je nach Grad ihrer Verinnerlichung, individuell zu leben, „denn
normenkonformes Verhalten ist nicht einfach eine Verkörperung des normativen Gehalts auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens im Sinne einer Projektion von einer
Ebene auf die andere. Vielmehr hängt es vom Grad und von der Art der Internalisierung ab, wie das handelnde Subjekt selbst zu seinen Rollen sich verhält. Die spezifische Form der Verhaltenskontrolle bestimmt das Maß möglicher ‘Rollendistanz’.“ (Habermas 1968, S.10)
In Parsons Paradigma der Integration geltender Normen in institutionalisierte Rollen
erkennt Habermas die Gefahr einer zu schematischen und daher nicht autonomen
Rollenübernahme durch die handelnden Personen, die mit entsprechend hoher sozialer Kontrolle verbunden sein muss, um ihre Gültigkeit zu behalten. Ein Verhalten, das
in der normativen Handlungstheorie als nonkonform interpretiert werden muss, kann
nach Habermas lediglich eine subjektiv andere Adaption der herrschenden Normen
bedeuten, wenn der Handelnde weder als Automaten noch als Kontrolleur herrschender Normen angesehen werden kann. Interpretationsfreiräume müssen zwangsläufig
zu Normabweichungen führen können. Diesen Aspekt, nach dem die Autonomie der
Handelnden in ihren Rollen berücksichtigt und in Freiheitsgraden beurteilt werden
muss, nennt Habermas das Konformitätstheorem.22 Im Gegensatz zur Systemtheorie
Parsons, die auf einem starken normativen Aspekt aufbaut, rückt Habermas die Freiheit und Autonomie des handelnden Individuums in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Diese Autonomie ist aber nur dann möglich, wenn gesellschaftliche Normen nicht
mit hoher sozialer Kontrolle und Sanktionen einhergehen.
Parsons Leistung besteht in der Überwindung des nutzentheoretischen Paradigmas
durch die Einführung der Normorientierung, so dass Handlungen als reguliert und nicht
mehr als zufällig begriffen werden. Sein Versuch einer umfassenden Systemtheorie mit
vier Subsystemen und der Zuweisung entsprechender Funktionen an diese Subsysteme durch das „AGIL-Schema“ muss jedoch als normativ erstarrt betrachtet werden. In
diesem normativen Bezugsrahmen werden Handlungen und Handlungsabläufe auf
allen Ebenen der Gesellschaft lediglich funktional gedacht und normativ miteinander
22
„Alle drei Theoreme unterstellen, durch Vorentscheidungen auf der analytischen Ebene, einen Normalfall
eingespielter Interaktionen, der in Wahrheit ein pathologischer Grenzfall ist: nämlich volle Komplementarität
der Erwartungen und des Verhaltens, die nur um den Preis der Unterdrückung von Konflikten zu erzwingen
ist (...); ferner die Deckung der Rolle und Interpretation der Handelnden, die nur um den Preis des Verzichts
der Individuierung zu erreichen ist (...) und schließlich die Abbildung der Rolle als Norm auf der motivationalen Ebene verinnerlichter Rollen, die nur um den Preis einer zwanghaft automatischen Verhaltenskontrolle
zu verwirklichen ist.“ (Habermas 1968, S. 10)
66
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
verbunden. Die Normorientierung ergibt sowohl auf der handlungs-, wie auch der systemtheoretischen Ebene ein starres Konzept, so dass ein individuelles Sozialisationskonzept und eine individuelle Identität nicht erklärt werden können, um aber die individuellen Ausformungen des sozialen Lernens zu verstehen, ist es notwendig dem allgemeinen System Parsons ein individualistisches Konzept entgegenzustellen.
Die Anwendung des Parsonschen Paradigmas als Grundlage des Lernens im Auslandsjahr muss aus heutiger Sicht als normativ starr betrachtet werden und kann daher
keine theoretische Fundierung der von AFS vorgeschlagenen Begriffe bieten. Die Rollentheorie von Mead ermöglich zwar eine theoretische Fundierung des Begriffs der
Rolle, hat aber den Nachteil keine eindeutige Beziehung von Gesellschaft und Individuum herleiten zu können. Die Beziehung von Individuum und Gesellschaft ist für das
Lernen in zwei verschiedenen Gesellschaften zwingend notwendig, denn wenn lediglich Rollen und Handlungen in Rollen, ohne einen entsprechenden gesellschaftlichen
Bezugsrahmen betrachtet werden, dann ist kein sozialer Vergleich der Rollen in verschiedenen Gesellschaften möglich. Ähnliches gilt für die Annahmen der Sozialisation.
Zwar kann mit Hurrelmanns Modell der produktiven Verarbeitung die Sozialisation der
Herkunftsfamilie mit den Sozialisationsbedingungen in der Gastfamilie verglichen werden, aber auch hier fehlen eindeutige gesellschaftliche Bezüge. Die sozialisationstheoretische Untersuchung kann die Ergebnisse zwischen zwei Familien aus einer Gesellschaft und zwei Familien aus unterschiedlichen Gesellschaften analytisch nicht trennen.
Die Unvereinbarkeit der Begriffspaare Rolle und Sozialisation, sowie Individuum und
Gesellschaft führt zu dem Schluss, dass die Begriffe der Rolle und Sozialisation für die
Modellbildung des sozialen Lernens in einer fremden Gesellschaften nicht brauchbar
sind. Eine alternative Begriffs- und Modellbildung ist daher zwingend notwendig.
67
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
2.2. Alternative theoretische Fundierung des sozialen Lernens
Wie weiter Oben ausgeführt, ist die theoretische Erklärung des interkulturellen Lernens
mit den Konzepten eines normkonformen Rollenlernens und der Intrernalisierung dieser Rollen durch Sozialisation nicht möglich und bedarf daher einer neuen Fundierung.
Diese Fundierung soll hier mit den Theorien von Bourdieu und Piaget vorgenommen
werden, denn Piaget bietet einen individuellen Zugang zu kognitiven Lernvorgängen,
während Bourdieu eine sozial differenzierte Gesellschaftstheorie mit einem nachvollziehbaren Lernmechanismus, dem Habitus, vorgelegt hat.
2.2.1. Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung
Im Gegensatz zu Parsons, der das soziale Lernen als allgemeinen Sozialisationsprozess des Rollenlernens zwischen Individuum und Gesellschaft verstanden hatte,
nimmt Piaget das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung.
Piaget beschäftigte sich mit den Lernprozessen von Kinder, wie diese die herrschenden gesellschaftlichen Regeln lernen, wann sie bestimmte Sachverhalte erkennen und
voneinander trennen und wann Lernprozesse erfolgreich abgeschlossen sind. Der
Lern- und Sozialisationsprozess wurde von Piaget durch die individuellen Vorgaben
des Alters, der Auffassungsgabe und anderen Faktoren erweitert und in systematischen Versuchsreihen untersucht. Ausgangspunkt Piagets war die Kantsche Erkenntnistheorie mit drei Typen des menschlichen Urteilens und Erkennens, dem analytischen Urteil a priori, dem synthetischen Urteil und dem synthetischen Urteil a priori,
23
auf dem er seine Betrachtung der menschlichen Erkenntnis, als Längsschnitt formulierte.
2.2.1.1. Stufen der intellektuellen Entwicklung
Durch systematische Beobachtungen konnte Piaget nachweisen, dass Kleinstkinder
zwar durch Beobachtung lernen, aber noch keine logischen Verknüpfungen ihrer Beobachtungen vornehmen. Erst Kinder ab ca. dem zweiten Lebensjahr können frühere
Erfahrungen mit neuen Lernerfahrungen verbinden und so neue Erkenntnisse ableiten.
Die geistige Entwicklung verläuft, ähnlich der körperlichen, in Stufen auf eine Endstufe
zu. So wie die Muskelentwicklung des Körpers abgeschlossen sein muss, damit die
Körperkoordination abgeschlossen werden kann, muss die geistige Entwicklung vom
Beobachten zum logischen Schließen fortschreiten. Aus seinen Beobachtungen hat
23
Kant, Imanuel; „Theorie der reinen Vernunft“, Einleitung , 1974
68
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Piaget sechs Stufen der geistigen Entwicklung abgeleitet, die systematisch in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind.
Übersicht 12: Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget
Stufe
1
Alter
0-2 Jahre
Ausprägung
Sensomotorische Phase
praktische Intelligenz und
sensomotorische Assimilation
2
3
4
2-7 Jahre
Präoperatives Stadium
Intuitive Intelligenz
5
7-12 Jahre
6
Erwachsener
Piaget 1980 S.155
Konkret intellektuelles
Stadium
Formal operatives Stadium
Abstrakte intellektuelle
Operationen
Soziale Fähigkeiten
Integrale IchReflexe und ererbte Reaktionen,
bezogenheit,
triebbedingte Äußerungen (Hunger)
Erste motorische Gewohnheiten und Egozentrismus
organisierte Wahrnehmungen,
Zirkulärreaktionen
Elementare Gefühlsäußerungen,
erste äußerliche Fixierungen des
Gefühlslebens
Spontane interindividuelle Gefühle und soziale Beziehungen,
Identitätsbildung
Beginn des logischen Denkens
Rechenoperationen
Persönlichkeitsbildung, gefühlsmäßige und intellektuelle
Eingliederung in Erwachsenengesellschaft
Die Phasen 1–3 werden als so genannte sensomotorische Phase bezeichnet. Das kognitive Lernen beginnt damit bereits beim Säugling „bei einer unbewussten und integralen Ichbezogenheit, während die Fortschritte der sensomotorischen Intelligenz zur
Erstellung eines objektiven Weltbildes führen, in dem der eigene Körper als ein Element unter anderen figuriert, dem das im eigenen Körper lokalisierte Innenleben gegenüber steht.“ (Piaget 1980,S.161) Jedes Neugeborene muss Lernleistungen erbringen, um die eigenen elementaren Bedürfnisse wie Hunger, Durst etc. immer effizienter zu befriedigen. Die Entwicklung vom völlig hilflosen Neugeborenen, das durch
Schreien eine 'try and errror' Reaktion seiner Umwelt auslöst, bis zum relativ selbständigen Zweijährigen, erfordert Lernprozesse, die in drei Stufen unterteilt werden. Der
sensomotorischen Phase schließt sich die Phase des Spracherwerbs und der Sprachbeherrschung an, die neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Umwelt
bietet.
„Mit dem Auftreten der Sprache wird das Verhalten sowohl in gefühls- wie auch in verstandesmäßiger Hinsicht tiefgreifend modifiziert. Über alle realen und materiellen Aktionen hinaus, die das Kind bereits beherrscht, wird es durch die Sprache fähig, seine
vergangenen Handlungen in der Gestalt von Berichten zu vergegenwärtigen und künftige Aktionen durch deren Vorstellung vorwegzunehmen.“ (Piaget 1980,S.165)
Die sprachliche Verarbeitung vergangener und zukünftiger Erlebnissen hat intellektuelle Konsequenzen, da die Fähigkeit der Verbalisierung des Denkens zu neuen so-
69
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
zialen Verhaltensweisen führt aus der Konsequenzen für die eigenen Handlungen folgen. Ab der Entwicklungsstufe, wenn die Konsequenzen der eigenen Handlungen abgeschätzt werden können, beginnt die Entwicklung des bewussten moralischen Verständnisses. Handlungen können jetzt von den Kindern als gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch klassifiziert werden. Jetzt wird von ihnen auch erwartet, dass sie
schlechte und unmoralische Handlungen unterlassen, selbst wenn die soziale Kontrolle
nicht greift. Dieser Entwicklungsstufe misst Piaget einen so hohen Stellenwert bei, dass
er hier den Beginn der Sozialisation ansetzt. Damit markiert das bewusste Handeln,
das mit moralischen Normen verbunden werden kann, und nicht schon die Phase der
vorbewussten Handlungen, den Sozialisationsbeginn. Parallel zum Denken erfolg auch
der Spracherwerb über mehrere Stufen. Am Anfang wird Sprache nur zur Beschreibung und Vorwegnahme oder Wiederholung von Aktionen benutzt, nicht aber als diskursives Kommunikationsmittel. Kinder der vierten Phase stehen in einem immerwährenden „kollektiven Monolog“ in dem zwar alle andauernd sprechen, aber nicht miteinander, sondern jeder für und mit sich selbst. Diesen kollektiven Monolog erklärt Piaget
durch die Unmöglichkeit der Kinder diesen Alters andere Standpunkte emphatisch
übernehmen zu können. Zwar sind die Kinder noch nicht in der Lage andere
Standpunkte anzunehmen, erwarten aber gleichzeitig, von Anderen verstanden zu
werden. Den Entwicklungen des Denkens durch Sprachbeherrschung folgen
emotionale Veränderungen, individuelle Gefühle wie Sympathie, Antipathie, Achtung
usw. werden erst mit der sprachlichen Entwicklung möglich, wie auch „eine innerliche
Affektivität (...).“ (Piaget 1980, S.165)
Die fünfte Entwicklungsstufe fällt mit dem Beginn der Schulpflicht zusammen. Jetzt
erfolgen Denkprozesse nicht ausschließlich individuell, sondern werden gezielt weiterentwickelt. In seinem sozialen Verhalten wird das Kind durch die Entwicklung des Denkens und Sprechens zur zielgerichteten Kooperation mit anderen fähig. „Hinsichtlich
der interindividuellen Beziehungen wird das Kind über sieben Jahren zur Zusammenarbeit fähig, weil es seinen eigenen Standpunkt nicht mehr mit dem der anderen verquickt, doch es muss sie immer noch trennen, um sie zu koordinieren.“ (Piaget 1980,
S.184)
Zwischen dem siebten und achten Lebensjahr legt das Kind sein impulsives Kleinkindverhalten ab und ersetzt den frühkindlichen Egozentrismus durch Überlegung.
Diese und weitere Entwicklungen des logischen Denkens, wie sie zum Beispiel für die
Durchführung von Rechenoperationen nötig sind, ermöglichen weitere Entwicklungen
70
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
des sozialen Verhaltens der Kinder.24 Jetzt können andere Standpunkte wahrgenommen und die Kommunikation mit anderen kooperativ gestaltet werden: „Diskussionen
werden nun möglich, mit allem, was sie an Verständnis für den Standpunkt des Gegenspielers, an Bemühungen und Rechtfertigungen und Beweisen für die eigenen
Behauptungen voraussetzen.“ (Piaget 1980, S.184)
Ab ca. dem zwölften Lebensjahr beginnt die letzte Entwicklungsstufe der kognitiven
Entwicklung, die Pubertät und Adoleszenz. Piaget betrachtet diese Stufe nicht als vorübergehende und daher banale Hormonstörung, sondern als eigene, wichtige Entwicklungsstufe, die mit weiteren Lernfortschritten des Denkens, Fühlens und sozialen
Verhaltens verbunden ist. „Was wir hier also behandeln müssen, sind die allgemeinen
Strukturen dieser Endform des Denkens und des Gefühlslebens und nicht spezielle
Störungen.“ (Piaget 1980, S.202) Im Denken des Jugendlichen vollziehen sich neue
Entwicklungen25 und er wird, im Gegensatz zum Kind, befähigt abstrakt zu denken und
eigene Systeme und Theorien mit konkreten Thesen zu formulieren, zu untermauern
oder zu verwerfen. Wie der Erwachsene, ist auch der Jugendliche jetzt in der Lage
Denkprozesse zu verfolgen, die nicht seine unmittelbare Umgebung oder konkrete
Probleme betreffen.26 Der Jugendliche kann sich jetzt mit Problemen außerhalb seines
Erfahrungshorizontes beschäftigen und dabei zu verblüffend einfachen Lösungen
kommen. Allmachtsphantasien gepaart mit unrealistischen Einschätzungen und Träumereien der Jugendlichen begleiten die Problemlösungsprozesse.
„Der Jugendliche erreicht die Stufe des formalen bzw. „hypothetisch-deduktiven-Denkens.“ (Piaget 1980, S.203) Kennzeichen dieser Stufe ist ein vorübergehender intellektueller Egozentrismus27 gepaart mit der Entwicklung eigener philosophischer Gebäude
oder der Lösung komplexer Probleme und einer gewissen jugendlichen Überheblichkeit. Typisch für diese Stufe sind Lösungen geringer Komplexität und schneller Umsetzbarkeit, so dass die intellektuelle Ich-Orientierung nur eine Zwischenstufe, nicht
aber der Abschluss der intellektuellen Entwicklung ist.
24
„Das Wesentliche an diesen Feststellungen ist, dass das siebenjährige Kind sich von seinem sozialen und
intellektuellen Egozentrismus zu lösen beginnt und mithin zu neuartigen Koordinationen fähig wird, die sowohl für den Verstand als auch für das Gefühl die größte Bedeutung erlangen werden.“ (Piaget 1980,S. 185)
25
„Mit dem Kind verglichen, ist der Jugendliche ein Individuum, das Systeme und `Theorien` aufstellt: Das
Kind konstruiert keine Systeme: (...).“(Piaget 1980 S. 203)
26
.„Was dagegen beim Jugendlichen sofort ins Auge springt, ist sein Interesse für unaktuelle Probleme, die
in keinem Zusammenhang mit den alltäglichen Realitäten stehen oder – mit einer entwaffnenden Naivität –
künftige und oft phantastische Situationen vorwegnehmen.“ (Piaget S.203)
27
„Es gibt also einen intellektuellen Egozentrismus der Adoleszenz, ähnlich dem Egozentrismus des Säuglings, (...).Diese neueste Form des Egozentrismus äußert sich im Glauben an die Allmacht der eigenen
Überlegungen, als ob die Welt sich den Systemen unterordnen müsste und nicht die Systeme der Welt. Es
ist das metaphysische Alter par excellence: Das Ich ist stark genug, um die Welt neu aufzubauen und sie
sich einzuverleiben.“ (Piaget S. 205)
71
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die gestiegenen intellektuellen Möglichkeiten, gepaart mit emotionalen Veränderungen
und der sich vollziehenden körperlichen Reife sollten mit immer besseren sozialen
Fähigkeiten einhergehen und in ein neues Gleichgewicht münden: „Wie nämlich der
Körper bis zu einem relativ stabilen Niveau - das durch das Aufhören des Wachstums
und der Reife der Organe gekennzeichnet ist – sich entwickelt, so kann man auch vom
Geist sagen, dass er sich in Richtung auf ein endgültiges, vom erwachsenen Verstand
repräsentiertes Gleichgewicht hin bewegt. Entwicklung ist also gleichsam ein Übergang
von einem Zustand geringeren Gleichgewichts zu einem Zustand höheren Gleichgewichts.“ (Piaget 1980, S.153) Das Gleichgewicht der Adoleszenz wird durch die Konfrontation der Allmachtsphantasien der Jugendlichen mit der Realität und deren Möglichkeiten dann erreicht: „(...) sobald der junge Mensch einsieht, dass die eigentliche
Funktion seiner Überlegung nicht darin besteht zu widersprechen, sondern die Erfahrung voranzutreiben und zu interpretieren. Und dann übersteigt dieses Gleichgewicht
das des konkreten Denkens bei weitem, da es über die reale Welt hinaus die schrankenlosen Konstruktionen des rationalen Folgerns und des Innenlebens umfasst.“ (Piaget 1980, S.205)
Das von Piaget beschriebene Gleichgewicht umfasst Intellekt, Emotionen und Erfahrungen und bringt diese auf ein der Erwachsenenwelt angepasstes Niveau.28 Persönlichkeit ist, im Sinne Piagets, der sozialisierte Menschen, der an gesellschaftlichen Umgebungsfaktoren wächst und so in der Gesellschaft reflektiert handlungsfähig wird.29
Eine reife Persönlichkeit ist dann erreicht, wenn der Mensch kooperationsfähig ist und
Autonomie weder als Regellosigkeit und Heteronomie, noch als Überanpassung an
äußere Zwänge versteht. Eine reife Persönlichkeit sollte selbst bestimmt in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen agieren und autonom die entsprechenden
gesellschaftlichen Rollen übernehmen, um die Passung der eigenen und der gesellschaftlichen Interessen zu ermöglichen. Dieses Stadium ist erreicht, wenn der Jugendliche sich die Konzepte der Außenwelt erarbeitet und gegen die Konzepte der Innenwelt gesetzt hat.30 Kennzeichen des sozialisierten Subjektes ist nach Piaget ein forma28
„Genau parallel zur Erstellung der formalen Operationen zum abschließenden Aufbau des Denkens wird
das Gefühlsleben des Jugendlichen durch zwei Errungenschaften, die Ausbildung der Persönlichkeit und ihre
Eingliederung in der Erwachsenengesellschaft, gefestigt.“ (Piaget 1980, S.206)
29
„Denn was ist genau besehen, die Persönlichkeit, und warum erfolgt ihre endgültige Ausbildung erst in der
Adoleszenz? Die Psychologen unterscheiden üblicherweise zwischen Ich und Persönlichkeit und stellen
beide sogar in gewissem Sinne einander gegenüber. Das Ich sei eine, ..., relativ primitive Gegebenheit: Es
sei gleichsam der Mittelpunkt der Aktivität und werde eben durch einen – bewussten oder unbewussten –
Egozentrismus gekennzeichnet. Die Persönlichkeit resultiere dagegen aus der Unterwerfung des Ich unter
irgendeine Disziplin. So bezeichne man beispielsweise einen Menschen nicht dann als starke Persönlichkeit,
wenn er alles seinem Egoismus unterordne und zur Selbstbeherrschung unfähig sei, sondern wenn er ein
Ideal verkörpere oder eine Sache mit ganzem Einsatz und ganzem Willen verfechte.“(Piaget 1980, S.206)
30
Piaget 1973, S.179
72
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
les Weltkonzept, das im weitesten Sinne auch moralische Dimensionen einbezieht, so
dass eine autonome Persönlichkeit mit der entsprechenden moralischen Reife einher
gehen, die in zwei Stufen erreichbar ist. Auf der ersten, der heteronomen Stufe werden
Normen durch eine höhere Autorität, wie die Eltern, Erzieher oder Gott, vorgegeben.
Vom Kind werden die moralischen Normen und Verhaltenshinweise unreflektiert übernommen und befolgt. In der zweiten, der autonomen Phase sind Normen auf einem
gemeinsamen und damit auf dem sozialen Sinn der Gemeinschaft begründet. Piaget
bezieht sich hier wieder auf Kant, der die heteronome Phase als die egoistische Stufe
der moralischen Begründung und die autonome Phase als die auf den Kantschen Imperativ begründete Stufe bezeichnet. Nach Ansicht Kants kann nur die autonome Phase als die Stufe des moralisch wirklich entwickelten Menschen angesehen werden. In
diesem und nur in diesem Sinne kommt Piaget zu der Ansicht, dass die kognitive und
moralische Entwicklung zusammen zur sozialisierten Persönlichkeit führen, so dass sie
auf der letzen Stufe der intellektuellen Entwicklungsskala zusammentreffen müssen.
Die Entwicklung der Moralentwicklung in nur zwei Stufen ist allerdings zu einfach, so
dass in der Piagetrezeption komplexere Modelle vorgeschlagen wurden, die hier aus
Gründen der Konzentration auf das Thema interkulturelles Lernen jedoch nicht bearbeitet werden können.
2.2.1.2. Lernen durch Assimilation und Akkommodation
Bei der Konkretisierung der Lernprozesse der einzelnen Stufen nimmt Piaget an, dass
alle Phasen in der von ihm vorgeschlagenen Reihenfolge durchlaufen werden und das
ein Überspringen einzelner Phasen ebenso wendig möglich ist, wie die Widerholung
abgeschlossener Phasen. Allerdings ist der Lernprozess mit den Begriffen 'Beobachtung' und 'Entwicklung des logischen Denkens' nicht komplex genug beschrieben, so
dass Konkretisierungen innerhalb der jeweiligen Stufen vorgenommen werden: „Einem
Gesetz zufolge, dessen Auswirkung wir bereits beim Säugling und Kleinkind beobachtet haben, beginnt jedoch jede neue Fähigkeit des psychischen Lebens mit einer Einverleibung der Welt durch egozentrische Assimilation und findet erst später ihr Gleichgewicht durch das Hinzutreten der Akkommodation an das Reale.“ (Piaget 1980,S.
205)
Die Lernmechanismen der Assimilation und Akkommodation übernimmt Piaget aus der
Biologie. Assimilation bedeutet auf der biologisch-körperlichen Ebene die Einverleibung
und Umwandlung von Nahrung in köpereigene Substanzen, übertragen auf die intellektuelle Ebene ist es die Übernahme von Verhalten und gedanklichen Prozessen in eigene Denkprozesse und die Internalisierung fremder Verhaltensweisen im eigenen Ver-
73
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
haltensrepertoire. Das Gleichgewicht der Bedürfnispositionen des eigenen Handelns
und der Realität entsteht dann, wenn der Lernprozess durch Akkommadation erweitert
und vertieft wird. „Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus so unterordnen, wie sie ist, während die Akkomodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Veränderungen beugt. Aber wenn
diese beiden Funktionen in ihren Prinzipien antagonistisch sind, dann besteht gerade
die Rolle des geistigen Lebens im Allgemeinen und der Intelligenz im Besonderen in
der Koordination der beiden miteinander.“ (Piaget 1974, S. 339)
Auf der biologischen Ebene kann Nahrung erst dann durch Assimilation in körpereigene Substanzen verarbeitet werden, wenn der Organismus an die Nahrungsbedingungen der Umgebung angepasst ist und die erreichbare Nahrung auch verwertbar ist.
Auf die intellektuelle Ebene übertragen bedeutet dies, dass die eigenen Denk- und
Handlungsmuster mit der Umgebung korrespondieren müssen. Eine Trennung der
beiden Prozesse führt zu unvollständigen Ergebnissen und ist daher nicht sinnvoll.31
Auf jeder geistigen Entwicklungsstufe findet, durch Assimilation und Akkommodation,
eine kognitive Neuorganisation statt, die eine Integration des Gelernten in den bestehenden Wissensvorrat bedeutet. Die kognitive Neuorganisation ist auf jeder Stufe notwendig, um neue und komplexere Denkstrukturen zu etablieren. Um ein Gleichgewicht
von Assimilation und Akkommodation zu erreichen, müssen die von Piaget beschriebenen Entwicklungsstadien durchlaufen werden, ohne Stufen zu überspringen, oder
abgeschlossene Stufen zu wiederholen. Nur so kann die geistige Auseinandersetzung
in eine notwendige Neuorganisation des Gelernten münden und zu optimalen und damit stabilen Ergebnissen des Lernens führen.
Gleichgewicht ist ein zentraler Begriff Piagets bei der Betrachtung des Lernens. Lernprozesse können erst dann als abgeschlossen betrachtet werden, wenn sich ein
Gleichgewicht einstellt, so dass die Endstufe der Entwicklung notwendig ein Gleichgewicht sein muss.
2.2.1.3. Kognitives Lernen und Entwicklung eines Weltbildes
Piagets Verdienst ist es die Entwicklung des Individuums in einem ganzheitlichen Prozess von Denken, Fühlen und sozialem Verhalten dargestellt zu haben. Die kognitive
Entwicklung des Individuums in diesem Sinne ist nicht das Lernen von immer kom31
„Die Assimilation und Akkommodation sind also die beiden Pole einer Interaktion zwischen dem Organismus und der Umwelt, welche die Bedingung für jegliches biologisches und intellektuelles Funktionieren ist,
und eine solche Interaktion setzt von Anfang an ein Gleichgewicht zwischen den beiden Bestrebungen entgegengesetzter Pole voraus.“ (Piaget 1974, S. 339)
74
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
plexeren Inhalten, sondern strukturell beschriebene Niveaus des Lernvermögens. Darüber hinaus werden soziale Fähigkeiten mit intellektuellen Entwicklungsstufen verbunden, so dass Struktur- und das Inhaltslernen unterschieden und empirisch nachgewiesen werden können. Alle Untersuchungen sind so angelegt, dass eine rationale
Nachkonstruktion der Grundbegriffe grundsätzlich möglich ist.
Die Trennung von Struktur- und Inhaltslernen ermöglicht die Erklärung des Individuums
in einer permanente Entwicklung auf eine höchste Stufe des strukturellen Lernens zu.
Da die höchste Lernstufe beliebig mit immer höheren Inhaltsniveaus gefüllt werden
kann, ist das Erreichen der höchsten strukturellen Stufe nicht Gleichbedeutend mit
geistigem Stillstand, vielmehr spricht Piagets davon, dass „in der exakten Wissenschaft
jede experimentelle Entdeckung von einem Fortschritt des Verstandes in der Erkenntnis über ihn selbst begleitet“ wird. (Piaget 1974, S.342)
Für das interkulturelle Lernens ist der Einfluss kultureller Rahmenbedingungen auf die
intellektuelle Entwicklung und die Verarbeitung der Wirklichkeit in einem Weltbild entscheidend. Es stellt sich die Frage, ob die ethnische Herkunft und die umgebende Kultur Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben,
oder ob diese Entwicklung als eine allgemein menschliche und daher von kulturellen
Umgebungsfaktoren unabhängige Entwicklung betrachtet werden kann. Piaget hat
diesen Zusammenhang in der Entwicklung des Weltbildes untersucht.
Übersicht 13: Stufen der Entwicklung eines Weltbildes nach Piaget
Alter
Phase
Subjekt
0-2
Sensomotorisch
Egozentrismus
Weltbild
subjektiv, undifferenziert
praktisch kohärentes Universum
2-7
Prä-operativ
Kollektiver Monolog
- Empirische Erfahrung
- Realität als objektive Gegebenheit und
Oberfläche
- Verbal sozialisiertes Denken
7-12
Konkret operativ
Kooperation
- Reziproke Assimilation verschiedener
Gesichtspunkte
- Aufbrechen des kohärenten
Systems und daher
- Chaotisches Universum
12-16
Formal operativ
Intellektuelle Egozentrik
sozialisiertes Subjekt
Subjektiv geordnetes Universum
Objektiv differenziertes und geordnetes
Universum
Zusammenstellung nach Piaget 1974, S. 333ff
75
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Phase 1: Obwohl das Kind dem Vorbild der Umgebung folgt, glaubt es, autonom zu
handeln. „Das Ich und die Gruppe bleiben also anfangs ein Gemisch sui generis von
Egozentrismus und Unterwerfung der Zwänge der Umwelt (...).“ (Piaget 1974, S.348)
Obwohl die kognitive und soziale Ebene nicht explizit getrennt sind, kann das Kind auf
der sozialen Ebene weiter entwickelt sein als auf der kognitiven. Damit ist es dem Kind
möglich Handlungen auszuführen, die es verbal noch nicht beschreiben kann. Auch in
dieser Phase erfolgen die Lernvorgänge durch Assimilation und Akkommodation und
müssen in ein temporäres Gleichgewicht gebracht werden.32
Phase 2: In dieser Phase ist die frühkindliche Egozentrik noch wirksam, oberflächliche
Wahrnehmungen herrschen vor und ein systematisches Nachvollziehen von Regelbezügen ist noch nicht möglich. Das Kind beginnt jetzt mit der Sprachentwicklung und
kann ab jetzt Handlungen auch verbal beschreiben.
Wie bereits in Phase 1 müssen auch jetzt Handlungen und Sprache durch Assimilation
und Akkommodation in ein temporäres Gleichgewicht gebracht werden.
Phase 3: Jetzt können die tieferen Schichten der umgebenden Umwelt ergründet werden und der Gleichgewichtsprozess von Assimilation und Akkommodation erhält neue
Impulse. Das Abgleichen der eigenen Handlungsmöglichkeiten mit immer mehr Handlungsalternativen in der Realität wird auf einer sich zunehmend ausdifferenzierenden
Oberfläche vorgenommen und damit ambivalenter. Die Ambivalenz besteht vor allem
dann, wenn die oberflächliche Assimilation gelingt, während Widersprüche mit tieferen
Schichten des eigenen Bewusstseins noch nicht auflöst werden können und ein
Gleichgewicht durch Internalisierung externer Muster daher nicht möglich ist. Diese
Ambivalenz kann nur dann aufgelöst werden, wenn Regeln und Mechanismen kognitiv
erschlossen werden.33 Kann ein Kind über die Beobachtung hinaus, durch die Entwicklung des Denkens in immer tiefere Schichten der Regelzusammenhänge seiner Umgebung vordringen, dann können die bestehenden Ambivalenzen und das scheinbare
Chaos der Zusammenhänge der äußeren Welt aufgelöst werden. Durch diese kognitiven Wissensbezüge werden auf der sozialen Ebene externe Muster im eigenen Repertoire übernommen und internalisiert. Die Internalisierung ist allerdings erst mit der entsprechenden geistigen Reife möglich, wenn durch Analyse und Experiment tiefer lie-
32
„Ebenso wie die sensomotorische Intelligenz zuerst aus der Assimilation der Objekte an die eigene Aktivität und aus der notwendigen, aber in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Akkommodation besteht und
erst später zu einer genauen Anpassung an die Realität durch die Koordination der Assimilation mit der
Akkommodation führt, ebenso beginnt das Denken in seiner Entstehung mit einer Assimilation der Realität an
das Ich und der Akkommodation an das Denken des anderen.“ (Piaget 1974, S. 348)
33
„Eben weil die unmittelbare Erfahrung von einer Assimilation der Wahrnehmungen an die Schemata des
eigenen oder einem Modell nachgezeichneten Handelns begleitet wird, wird die Akkommodation an den
tieferliegenden Mechanismus der Dinge dauernd gehindert.“(Piaget 1974, S. 370)
76
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
gende soziale Muster nachvollzogen und in ein internes Gleichgewicht gebracht werden können.
Phase 4: Sind die vorangegangenen Stufen abgeschlossen, kann ein objektives Weltbild erarbeitet werden, wenn der Jugendliche die tatsächliche und intellektuelle Egozentrik überwunden hat, denn erst jetzt können allgemein gültige Muster, jenseits des
Beobachtbaren, auch als solche identifiziert werden.
Diese Feststellung ist für das soziale Lernen entscheidend. Nur wer keiner intellektuellen Egozentrik unterliegt und neben Beobachtungen auch deduktiv analytische Methoden anwenden kann, wird tiefere Verhaltensmuster und Regeln verstehen. Jugendliche
die auf der Endstufe der strukturellen Lernentwicklung angelangt sind, können sich die
Methoden der deduktiven Analyse zueigen machen und neue Handlungsmuster in ihrer
Umgebung und im Ausland erkennen. Durch Beobachtung und Analyse der äußeren
und tieferen Schichten des gesellschaftlichen Handelns in einem neuen Umfeld, wie
auch durch Assimilation und Akkommodation in den eigenen sozialen Strukturen wird
soziales Lernen möglich.
Hier wird deutlich, dass Piagets letzte Stufe kein eindeutiges Endstadium des Lernens
definiert, sondern dass Fortschritte des abstrakten Lernens, die Bildung neuer Modelle,
sowie Erweiterungen der sozialen Handlungsfähigkeit immer möglich sind. Für das
soziale Lernen in einer fremden Kultur werden aber hohe Anforderungen an die Lernfähigkeit des Einzelnen gestellt, die nicht unterschätzt werden sollten.
2.2.1.4. Kritische Würdigung Piagets
Piaget wird als Erkenntnistheoretiker betrachtet, der eine gewisse Nähe zu den Lerntheorien aufweist. Die Lerntheorien können nach den jeweiligen Paradigmen wie folgt
zusammengefasst werden:
Übersicht 14: Paradigmen des Lernens 34
Paradigma
Lerntheorie
34
empiristisch
behavioristisch
rationalistisch
kognitivistisch
pragmatistisch–
soziohistorisch
situiert
nach Greene, Collins & Resnick (1996)
77
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
In der Tradition von Bacon (1620 „Novum organum scientarium“), David Hume (1748
„Priciples concerning human understanding“) und John Locke (1693 „Some thoughts
concerning education“) wird das Paradigma der Empirik zur Lerntheorie ausformuliert,
die Lernen auf der Basis einer behavioristischen Konditionierung erklärt. Dagegen basiert Piagets Lerntheorie auf dem Paradigma des Rationalismus und kommt zum kognitivistischen Ansatz. In Piagets Theorie lösen sowohl externe Reizkonstellationen und
Verstärkungsmechanismen, wie auch interne kognitive Möglichkeiten der Reizverarbeitung Lernprozesse aus. Piagets Forschungsschwerpunkt war das Denken, konkretisiert an Beispielen des Erlernens von Rechenoperationen, der Sprachentwicklung und
des Sprachverstehens. Sekundär wird das Problemlösungsverhalten in verschiedenen
Alters- und den kognitiven Lernstufen untersucht, Wissenserwerb wird als individueller,
zum Teil isolierter und symbolvermittelter Prozess verstanden, so dass der soziale
Hintergrund eines Kindes nur eine untergeordnete Rolle spielt und aus den Entwicklungsprozessen ausgeblendet werden kann. Ein dynamischer Zusammenhang von
Individuum und sozialer Umwelt kann in diesem Verständnis nicht erklärt werden, auch
wenn die Konstruktion des Weltbildes dieser Tendenz entgegenwirken könnte. Die
starken Bezüge zu Kant manifestieren eine konstruktivistische Grundhaltung Piagets,
im Gegensatz zu Kant erkennt Piaget zwar die externen Einflüsse auf das Lernen als
wichtig an, kann sich aber nicht vom Verständnis der Welt als Konstruktion des individuellen Weltbildes lösen, auch wenn bei Piaget vieles gegen ein allgemein konstruktivistisches Paradigma spricht.
Dennoch kann mit diesen Annahmen keine einheitliche Weltsicht aller Individuen unterstellt werden, denn die Konstruktion des Weltbildes hängt von individuellen Tatbeständen wie Alter, Geschlecht etc. aber auch der sozialen Umwelt ab. In diesem Sinnen kann Wissen und Verständnis der Welt nicht als allgemein gültiges Verständnis
postuliert werden. Für eine allgemeine Erklärung des interkulturellen Lernens sind die
Annahmen und Erkenntnisse Piagets zu wenig mit den äußeren Rahmenbedingungen
verbunden, so dass eine weitere theoretische Grundlage von Bourdieu notwendig ist.
78
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
2.2.2. Bourdieu
Pierre Bourdieus Überlegungen und Untersuchungen der Gesellschaft und des sozialen Handelns gehen davon aus, dass Individuen in einem sozialen Raum – der gesellschaftlichen Umwelt – handeln müssen. Die sozialen Handlungen der Individuen sind
immer durch persönliche Prägungen vorbesetzt, da jeder Handelnde nur Teile des
gesamten sozialen Raumes kennen und seinen habituellen Anforderungen genügenkann.
In den Dispositionen beschreibt Bourdieu den sozialen Raum, als Umwelt die durch
objektive soziale Positionen und Klassen unterteilt wird, mittels der jede Position des
sozialen Raumes in einem konkreten Lebensstil habitualisiert und durch spezifische
Ausstattungen mit ökonomischem, sozialem, symbolischen und kulturellen Kapital ermöglicht wird. Schematisch kann der Zusammenhang wie folgt dargestellt werden:
Übersicht 15: Bourdieu - Sozialer Raum -1
Sozialer Raum
Position im sozialen Raum
(Soziale Klasse, Feld )
Habitus und Feld
(Integration objektiver sozialer
Strukturen und subjektiver HandlungsPraxis)
Kapitalien
(ökonomische, kulturelle,
soziale Ausstattung)
Die Gesamtheit aller sozialen Möglichkeiten und habitualisierten Lebensstile einer Gesellschaft bildet den sozialen Raum und damit die soziale Umwelt einer Gesellschaft in
der das Individuum innerhalb einer sozialen Klasse verortet ist. Die Zugehörigkeit zu
einer sozialen Klasse wird durch Geburt vorbestimmt und durch Erziehung im Habitus
und Lebensstil manifestiert. Das Habituskonzept ist Kernpunk der Theorie Bourdieus,
die den sozialen Raum mit Klassen und Kapitalien strukturiert und gleichzeitig die
komplexen Einflussfaktoren verbindet. Die Habitustheorie kann auch als Theorie der
praktischen Erkenntnis der Welt bezeichnet werden.
79
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
2.2.2.1. Sozialer Raum
Der soziale Raum, den Bourdieu in den „Feinen Unterschieden“ empirisch untersucht
hat, wird in dieser Arbeit in einer vereinfachten Version vorgestellt, um die wesentlichen
gesellschaftlichen Positionen hervorzuheben und die Arbeit nicht mit Einzelinformationen zu überfrachten. In einer ausführlichen Beschreibung hat Bourdieu mit jeder sozialen Position die gewählten Sportarten, Essgewohnheiten, den Musikgeschmack und
die Kenntnisse der Literatur durch umfangreiche empirische Untersuchungen nachgewiesen und damit herausgearbeitet, dass soziale Herkunft Auswirkungen bis in detaillierte Einzelheiten des täglichen Lebens und des Geschmacks hat. Der soziale Raum
wird mehrfach gegliedert, zum einen in die gesellschaftlichen Felder der Ökonomie,
Kultur, Erziehung, die sich in Kapitalien niederschlagen, gleichzeitig bilden die Kapitalien Zugangsvoraussetzungen zu den Feldern und Quadranten des sozialen Raumes.
Da zum anderen die sozialen Klassen des Raumes mit den Kapitalien eindeutig ausgestattet sind, entsteht eine komplexe Abbildung moderner Gesellschaften.
Die Achsen des sozialen Raumes werden mit den Kapitalien auf der Ordinate und dem
Gesamtkapital auf der Abszisse bezeichnet, so dass die Angehörigen des ersten und
zweiten Quadranten über hohe Gesamtkapitalanteile und die Angehörigen des dritten
und vierten Quadrant über geringe Gesamtkapitalanteile verfügen. Der zweite und
dritte Quadrant ist besser mit kulturellem Kapital ausgestattet, während der erste und
vierte Quadrant eher über ökonomisches Kapital verfügt. So sind im zweiten und dritten
Quadranten die Berufe der Lehrer und Professoren verankert, während im ersten und
vierten Quadranten die Unternehmer zu finden sind. Die Positionen der Individuen
werden innerhalb des sozialen Raumes durch die Berufe der Väter in der Familie determiniert.
Das folgende Schaubild nimmt die Berufe und deren Position im sozialen Raum auf.
Der soziale Raum ist in vier Quadranten gegliedert, deren erster Quadrant über hohes
ökonomisches Kapital, der zweite über hohes kulturelles Kapital im Sinne von Bildungsabschlüssen verfügt. Der dritte Quadrant ist ein Spiegelbild des zweiten Quadranten mit positivem kulturellem Kapital, aber deutlich geringer wertigen Bildungsabschlüssen als im zweiten Quadranten und der vierte Quadrant verfügt eher über ökonomisches, als kulturelles Kapital, jedoch als Negativbild des ersten Quadranten. Der
dritte und der vierte Quadrant des sozialen Raumes hat negatives Gesamtkapital, während der erste und zweite Quadrant über positives Gesamtkapital verfügt.
80
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 16: Bourdieu – Sozialer Raum – 2
GESAMTKAPITAL+
Großunternehmer
Hochschullehrer
Freie Berufe
Führungskräfte
Privatwirtschaft
Lehrer höherer
Schulen
KULTURELLES KAPITAL+
mittlere Unternehmer
Unternehmer
mittlere
Führungskräfte Handel
ÖKONOMISCHES KAPITAL -
KULTURELLES KAPITAL –
ÖKONOMISCHES KAPITAL+
kleine
Handwerker
Volksschullehrer
Angestellte Büro
Vorarbeiter
Facharbeiter
kleine Kaufleute
Angelernte Arbeiter
Hilfsarbeiter Landarbeiter
GESAMTKAPITAL–
(Bourdieu 1985, S.19)
Wie bereits ausgeführt, ist die Berufsgruppe der Hochschullehrer im 2.Quadranten
angesiedelt und verfügt über hohes kulturelles, bei gleichzeitig geringem ökonomischem Kapital, während Unternehmer aus Industrie und Handel über geringes kulturelles, aber hohes ökonomisches Kapital im ersten Quadranten verfügen35. Beide gehören zu den privilegieren Gruppen der Gesellschaft mit hohen Anteilen an positivem
Gesamtkapital. Die genannten Unterschiede von kulturellem und ökonomischem Kapital schlagen sich zum Beispiel in den ausgeübten Sportarten und den Ess- und Trinkgewohnheiten der Gesellschaftsmitglieder nieder. Golf ist eine teure Sportart der Unternehmerklasse, während Hochschullehrer und Lehrer Sportarten wie Wandern, Radwandern etc. vorziehen. Fußball konnte Bourdieu als Sportart des dritten und vierten
Quadranten des gesellschaftlichen Raumes festmachen.
Trink- und Essgewohnheiten unterscheiden sich ebenfalls im sozialen Raum gravierend, so konnte Bourdieu mittels empirischer Untersuchungen nachweisen, dass Angehörige des ersten Quadranten, Champagner bevorzugen, während im zweiten Quad35
„Von den Künstlern bis hin zu den Handels- und Industrieunternehmern wächst der Umfang des ökonomischen Kapitals ständig, während der des kulturellen Kapitals abnimmt: die herrschenden Klasse zeigt
mithin in ihrem Aufbau eine chiastische Struktur.“ (Bourdieu 1982, S.198)
81
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ranten Wasser und von den Angestellten und Arbeitern im dritten Quadranten Bier
bevorzugt wird. Die genannten Einkommensunterschiede schlagen sich also in der
Konsumauswahl deutlich nieder. Damit ist nicht das ökonomische Kapital an sich ein
Symbol der Integration oder Segregation, sondern der Umgang mit diesem Kapital und
die gewählten Konsumgewohnheiten.
Feine Unterschiede des kulturellen Kapitals können anhand von Musik und Literatur
verdeutlicht werden. „Der soziale Raum ist so konstruiert, dass die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei Unterscheidungsprinzipien ergibt, die in den am weitesten entwickelten Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten, Japan oder Frankreich die zweifelsohne wirksamsten sind, nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital. Daraus folgt, dass die Akteure um so mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, je näher
sie einander diesen beiden Dimensionen nach sind, und um so weniger Gemeinsamkeiten, je ferner sie sich in diesen Dimensionen stehen.“(Boudieu 1982, S.378)
Die Nähe oder Ferne der gesellschaftlichen Akteure wird entscheidend durch die Verfügbarkeit von ökonomischem und kulturellem Kapital bestimmt, während das soziale
Kapital zunächst nicht unberücksichtigt wird. Gleichwohl kann gerade dieses soziale
Kapital über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse entscheiden, dann wenn
zum Beispiel hohes ökonomisches Kapital nicht automatisch die Zugehörigkeit zum
ersten Quadranten erlaubt, weil die habituellen Voraussetzungen und persönlichen
Beziehungen fehlen. Daraus kann man auch folgern, dass die Ausstattung mit Kapitalien nicht als Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit ausreicht. Es sind nicht die Kapitalien alleine, die eine Integration in einem bestimmten Quadranten erlauben, sondern
die habitualisierten Formen des Verhaltens und des Geschmacks. Die Position im sozialen Raum korrespondiert mit einem spezifischen Habitus, der erst die soziale Zugehörigkeit determiniert.
2.2.2.2. Das Konzept des Habitus
Der Begriff des Habitus wird von Bourdieu nicht als isoliertes Erklärungsmuster verstanden, sondern vielmehr mit dem umgebenden sozialen Raum oder dem Feld verbunden. „Er [der Habitus] bezeichnet ein System relativ dauerhafter Wahrnehmungs-,
Denk-, Urteils- und Handlungsmuster, die im Sinne von Dispositionen gesellschaftliches Handeln noch unterhalb der Ebene expliziten Bewusstseins 'generieren' (...).“
(Geulen 2005, S. 79)
In den „Feinen Unterschieden“ hat Bourdieu mit einer Fülle empirischen Materials
nachgewiesen, dass nicht nur Geschmack und Stil, sondern vor allem Urteils- und
82
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Handlungsmuster durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse beeinflusst werden.
Diese Denk- und Handlungsmustern werden, im Gegensatz zur bisherigen Tradition,
nicht in einem problematischen Rollenkonzept operationalisiert, sondern im Habitus,
womit dieser als vermittelnde Instanz zwischen subjektiven und objektiven Dimensionen der sozialen Existenz fungiert, „...um die Wahrheit dessen herauszufinden, was für
das alltägliche Erkennen [der Klassen] charakteristisch ist, nämlich die Einsicht in den
systematischen Charakter der Lebensstile und des von diesem konstituierten Gesamtkomplexes (...) muss auf das einheitsstiftende Erzeugungsprinzip der Praxis, auf den
Klassenhabitus (...) als Inkorporation der Klassenlage und der von ihr aufgezwungenen
Anpassungsprozesse zurückgegriffen werden.“ (Bourdieu 1982, S.175)
Habitus kann nicht als individueller Stil des Einzelnen, sondern als internalisiertes soziales Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem sozialen Umfeld begriffen werden und hat damit die Funktion einer Grammatik. So wie die Grammatik der Sprache
Sinn gibt, ermöglicht auch der Habitus eine eindeutige Sinnzuweisung der Handlungen. Habitus und Grammatik werden automatisch verwendet, ohne dass Sprecher
oder Handelnder ständig über die Regeln nachdenken müssen und ohne sich diese
ständig bewusst zu machen. Habitus kann damit im Sinn von Durkheims 'conscience
collective', als Sozialcharakter bezeichnet werden, dem der Begriff des Feldes gegenüber steht. „Anders gesagt, zwischen Habitus und Feld besteht ein unauflösliches
Komplementärverhältnis; sie stellen die zwei Seiten einer Medaille des Sozialen dar.“
(Schwingel 2005, S. 76)
Der Habitus ist eben nicht der individuelle Habitus des Einzelnen, sonder die Reproduktion der gelebten Lebenspraxis des sozialen Umfelds. Der Habitus muss im täglichen Leben ausprobiert und modifiziert werden, damit die mit ihm verbundene Symbolik und der daraus sich vermittelnde Sinn eindeutig sind. Der Habitus ist die Internalisierung äußerer Strukturen, womit Bourdieu radikal der Annahme des autonomen Individuums widerspricht. Vielmehr müssen sich die Individuen durch Habitualisierung des
Lebensstils ihrer Umgebung anpassen, um dazu gehören zu können.
Noch wichtiger als die eindeutige Unterscheidung der Schichten und Klassen durch
den Habitus sind die Feinunterscheidungen der sich relativ nahe stehenden sozialen
Individuen. „Die Grenzen dieser Gruppen sind (...) viel subtiler – eben ‘feine Unterschiede’ – als entlang sozioökonomischer Merkmale konstituierte Klassen. Erst eine
Fülle sehr feiner Unterschiede erlaubt eine eindeutige Zuordnung zu einer Gruppe.“
(Hansen 1997, S.24)
Die täglich gelebte Praxis von Eltern, Großeltern und Freunden, deren Vorlieben bei
Essen, Kleidung und Einrichtung, deren Meinungen bezüglich Kunst, Kultur und Politik
und deren Sprachsymbolik sind prägend und erzeugen die Zugehörigkeit zum sozialen
83
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Feld, sie sind in der Tat subtil und können nicht alleine am Einkommen festgemacht
werden. Insbesondere die unnormierten Bereiche des Habitus wie Kleidung und Einrichtung werden als feine Unterschiede internalisiert und prägen den Geschmack und
die Identität. Die Frage ob diese Identität nach Mead im Sinne von „I“ oder im Sinne
von „Me“ zu verstehen ist, stellt sich Bourdieu nicht. „Die Konditionierungen, die mit
einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen als strukturierte
Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h.
als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können (...).“ (Bourdieu1993, S. 99)
Bourdieu bezeichnet den gesellschaftlichen Anpassungsprozess radikal als Konditionierung durch den auch individuelle Voraussetzungen an die Umweltfaktoren angepasst werden, so dass der Habitus zu einem zweifachen Mechanismus dem „Modus
operatum“ (strukturierte Struktur) und dem „Modus operandi“ (strukturierende Struktur)
wird. „Me and I“ sind zwei Seiten derselben Medaille. (Bourdieu 1982, S.281)
Diese Radikalität der Betrachtungen führt zu dem Schluss, dass Bourdieu den Sozialisationsprozess konsequent als Vergesellschaftungsprozess begreift, in dessen Verlauf
die objektiven strukturierenden Faktoren durch individuelle Anpassungsleistungen im
Habitus integriert werden. Das Gesamtkonzept des Habitus verbindet den objektiven
sozialen Raum, strukturiert durch Klassen und deren Kapitalausstattung, mit dem subjektiven Bezugsrahmen. Neue Anforderungen der Umwelt müssen immer wieder im
Habitus integriert werden, eine Endstufe oder ein Zielzustand kann nicht beschrieben
werden. Bourdieu gelingt damit ein differenzierter und gleichzeitig umfassender Erklärungsansatz, der über das Rollenkonzept hinausgeht. „Die unter dem Gesichtspunkt
der Erzeugungsbedingungen des Habitus, (...) homogensten Einheiten sind wieder
zusammenzufassen durch Konstruktion eines Raumes mit den folgenden drei Grunddimensionen: Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitliche Entwicklung dieser beiden
Größen (...).“ (Bourdieu 1982, S.196) Der Habitus wird durch die externen Bedingungen des sozialen Feldes konstituiert und ist an die Ausstattung mit Kapitalien gebunden, die dem Individuum zur Verfügung stehen.
2.2.2.3. Kapitalien
Bourdieu beschreibt drei Kapitalarten, die in Ihrer spezifischen Zusammensetzung ein
Portfolio aus kulturellem, ökonomischem und sozialen Kapital bilden. Das kulturelle
Kapital besteht aus materiellen, immateriellen und formalen Bestandteilen, wie z.B.
84
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Kunstgegenständen, Büchern, Bildern oder Musikinstrumenten, während die immateriellen Bestandteile verinnerlichtes und inkorporiertes Wissen über Kunst, Malerei und
Musik sind. Institutionalisierte Formen des kulturellen Kapitals sind Bildungsabschlüsse
und die damit verbundenen Zugangsberechtigungen z.B. zu Berufen und deren gesellschaftlicher Stellung.
Das soziale Kapital berücksichtigt Netzwerke, Kontakte und damit Beziehungen der
Individuen, während ökonomisches Kapital Geld und anderes Vermögen darstellt, das
andere Kapitalien, wie Kunstgegenstände oder Statussymbole, kaufen kann.
Wie bereits das Schema des sozialen Raumes zeigt, ist die Kapitalzusammensetzung
entlang der Achsen unterschiedlich. Verfügen soziale Klassen über ein positives Gesamtkapital, dann kann kulturelles durch ökonomisches Kapital und umgekehrt ersetzt
werden. Die Ausstattung mit Geld oder Kulturkapital wird als Unterscheidungsmerkmal
zwischen den intellektuellen Berufsklassen, wie Professor und Lehrer, und den ökonomischen Berufen des Unternehmers und Managers herangezogen. „Daraus lässt sich
folgendes schließen: Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen,
sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden, weil sie nicht nur in ihrer Gesamtheit distinktiven, will heißen Unterschied und
Anderssein betonenden Charakter tragen, sondern kraft des Spiels der Teilungen und
Unterteilungen in Gattungen, Epochen, Stilrichtungen, Autoren, Komponisten, etc. eine
endlose Reihe von distinguos zu erzeugen gestatten.“ (Bourdieu1982, S.36)
Im Gegensatz zu den Bildungsabschlüssen, die zunehmend von Klasse und Abstammung unabhängig erworben werden können, ist der Zugang zu den so genannten legitimen Kunstwerken sehr deutlich durch Klassenzugehörigkeit und damit durch außerschulische Bildung vorbesetzt. Es macht einen Unterschied, ob man Bücher aus der
Schule und der öffentlichen Bibliothek kennt, oder diese zu Hause jederzeit verfügbar
sind, so wie es einen feinen Unterschied macht, ob Originalbilder in einem Museum
hängen, oder an der Wohnzimmerwand der Eltern. Genauso wie es einen Unterschied
macht, ob man von Musikwerken im Schulunterricht gehört hat, oder selbst Klavierunterricht erhält. „Einmal die Beziehung erkannt, die kraft der Logik der Übermittlung des
kulturellen Kapitals sowie der besonderen Funktionsweise des Schulsystems zwischen
dem kulturellen Kapital als Familienvermächtnis und dem Bildungskapital gestiftet wird,
wäre es verfehlt, die wahrgenommene hohe Korrelation zwischen musischer Kompetenz (...) und Bildungskapital ausschließlich der Wirkkraft des Schulsystems zuzuschreiben (oder gar einem musisch künstlerischen Unterricht, der augenfällig so gut
wie nicht existiert).“ (Bourdieu 1982, S. 47)
Bourdieu untersuchte explizit die französischen Verhältnisse der 1960er und 1970er
Jahre, dennoch ist eine Übertragung in heutige Verhältnis und das heutige Schulsys-
85
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
tem möglich. Die PISA-Studien der letzten Jahre haben für Deutschland eine sehr hohe
Korrelation von Bildung, Bildungserfolg und sozialer Herkunft nachgewiesen, was die
oben genannten Schlussfolgerungen Bourdieus auch für Deutschland bestätigt. Das
schulische und besonders das außerschulische Bildungskapital sind in Deutschland
auch heute bestimmten Klassen vorbehalten.
Das ökonomische Kapital ist zunächst neutral und kann zum Erwerb anderer Kapitalarten, wie z.B. Kunstgegenstände, Statussymbole etc. benutzt werden, um damit einen
äußeren Anschein eines Habitus zu erzeugen. Allerdings muss, unter der Annahme
der Konditionierung, die Käuflichkeit des Habitus bezweifelt werden, so dass Grenzen
der Integration durch ökonomisches Kapital erkennbar sind. Hier gilt die Feststellung
von Hansen, dass die Segregation erhalten bleibt, da die Kapitalumwandlung nicht
vollständig sein kann. Geld kann Kunstgegenstände kaufen, aber nicht das inkorporierte Kapital und daher auch nicht den Habitus oder die sozialen Beziehungen. Zwar
können aus ökonomischen Nutzenerwägungen Geschäftsbeziehungen erworben werden, aber eben nicht die Zugehörigkeit zur angestrebten Klasse. „Hier wird deutlich,
dass Bemühungen um Zugehörigkeit am Abgrenzungsbedürfnis der Anderen scheitern
können. Es fehlt also nicht am Integrationswillen des Nichtdazugehörigen, sondern es
fehlt der Integrationswille der Dazugehörigen(...).“(Hansen 1997, S.25)
Individuen können und müssen sich nach Bourdieu36 nicht in eine Gesellschaft, sondern in sozialen Feldern integrieren. Zugehörigkeit und Integration ist genau an diesen
habitualisierten feinen Unterschieden und damit an Symbolen festgemacht, die nicht
alleine mit Investitionen in richtige Marken, Autos und Wohnungen zu erwerben sind.
Die Konditionierung als radikaler Sozialisationsprozess kann nicht ausschließlich als
käufliche Oberfläche betrachtet werden, obwohl in diesen Annahmen utilitaristische
Züge erkennbar sind. Auch wenn der Habitus deutlich macht, dass Individuen mehr
sind als die Kleidung die sie tragen und das Auto das sie fahren, können käufliche
Symbole Zugehörigkeit erzeugen, vor allem dann wenn Gesellschaften dynamischen
Änderungen unterworfen sind. Damit unterstellt Bourdieu keine starren Gesellschaften,
sondern einen starren individuellen Habitus und formuliert in Abwandlung eines Pascal
Zitates: „Die soziale Welt umfasst mich als einen Punkt. Aber dieser Punkt ist ein
Standpunkt, das Prinzip einer Sichtweise, zu der man von einem bestimmten Punkt im
sozialen Raum aus kommt, eine Perspektive, die ihre Form und ihren Inhalt nach von
36
„Die objektive Homogenisierung der Habitusformen der Gruppe oder der Klasse, die sich aus der Homogenität der Existenzbedingungen ergibt, sorgt nämlich dafür, dass die Praktiken ohne jede strategische
Berechnung und bewusste Bezugnahme auf eine Norm objektiv aufeinander abgestimmt und ohne jede
direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepasst werden können
–weil die Form der Interaktion selbst den objektiven Strukturen geschuldet ist, welche die Dispositionen der
interagierenden Handelnden erzeugt haben und ihnen dazu noch über diese Dispositionen ihren jeweiligen
Platz in der Interaktion und anderswo zuweisen.“ (Bourdieu 1993, S. 109)
86
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
der objektiven Position bedingt ist, von der aus man zu ihr kommt. Der soziale Raum
ist eben doch die erste und die letzte Realität, denn noch die Vorstellung, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt.“ (Bourdieu 1998, S. 27)
Gesellschaft ist das was der Betrachter als Gesellschaft ansieht, gleichzeitig ist das
Individuum vor allem Teil des Systems. Das System wird strukturiert durch Felder und
diese durch Kapitalien, so dass der soziale Möglichkeitsraum mit spezifischen Ausstattungen von Kapitalien verbunden ist. Da jedes Individuum nur über spezifische Ausstattungen dieser Kapitalien verfügt, sind die Individuen nicht im Makrosystem der Gesellschaft, sondern in einer Meso-Struktur angesiedelt, über dem ein Überbau im Sinne
eines Möglichkeitsraumes spannt.
Diese spezifischen Bedingungen von Kapitalien und Symbolen werden im Habitus
reproduziert, im Habituskonzept werden also soziale Differenzen innerhalb einer Gesellschaft und deren Einfluss auf das Individuum greifbar.
2.2.3. Fazit für das interkulturelle Lernen als soziales Lernen
Nach den Ausführungen zu Piagets und Bourdieus Theorien kann jetzt untersucht werden welche theoretischen Bezüge für das soziale Lernen in einer fremden Gesellschaft
im besonderen Maße anwendbar sind, um ein Modell des sozial-interkulturellen Lernens darstellen zu können.
2.2.3.1. Piaget und das interkulturelle Lernen
Piagets kognitiver Ansatz bietet zwei Analyseebenen. Einmal die Stufen der kognitiven
Entwicklung und zum anderen die Entwicklung des Weltbildes. Jugendliche im Schüleraustausch sollten sich auf der höchsten strukturellen Entwicklungsstufe befinden und
daher in den folgenden Kategorien interkulturell lernen können:
Veränderungen der Weltsicht und
Veränderungen des sozialen Verhaltens.
Die neuen Umweltbedingungen von Gastfamilie, Gastschule und Freunden führen zu
kognitiven Dissonanzen, die durch Assimilation und Akkommodation verarbeitet werden müssen, um zu einem emotionalen Gleichgewicht zu kommen. Dabei müssen zwei
Fälle unterschieden werden. Im ersten Fall haben die Jugendlichen die Pubertät vollständig abgeschlossen und im zweiten Fall verharren sie noch auf der Stufe der intellektuellen Egozentrik, wenn sie ins Auslandsjahr gehen.
87
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Im ersten Fall ist der intellektuelle Egozentrismus weitgehend abgelegt und die Widerspruchshaltung überwunden. Diese Gastschülerinnen können sich auf andere Menschen, andere Ideen und Vorstellungen einlassen, ohne von eigenen Meinungen und
Neigungen blockiert zu sein. Umweltfaktoren, wie Kleidung, Nahrung, Handlungen und
Denkweisen können durch Assimilation übernommen und akkomodativ an eigene Bedürfnispositionen angeglichen werden. Das Ergebnis dieses interkulturellen Lernprozesses wäre eine angepasste Gastschülerin, die Denk- und Handlungsweisen der
neuen Gesellschaft übernehmen kann, ohne die eigene Identität aufzugeben. Durch
die Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten kann eine neue Weltsicht angenommen werden, die zwischen den beiden Kulturen unterscheiden kann. Allerdings
erscheint es fraglich, dass dieser Lernprozess innerhalb von zehn bis elf Monaten abgeschlossen werden kann. Welche Zeiträume für diese intellektuellen Einlassungen
notwendig sind, wurde bisher nicht untersucht.
Im zweiten Fall sind die Jugendlichen durch den intellektuellen Egozentrismus noch so
blockiert, dass ein Einlassen auf die fremde Sicht, andere Umgebungsfaktoren und
Denkweisen zumindest erschwert wird. Dieses Verhalten kann fälschlicher Weise als
ethnozentrisch verstanden werden. Falsch ist diese Interpretation, weil die betroffenen
Jugendlichen in der eigenen Kultur andere Sicht- und Denkweisen genauso wenig
annehmen würde, wie in einer fremden Kultur. Nicht die Ablehnung einer anderen Gesellschaft oder Kultur ist das Motiv der Abwehr, sondern pubertärer Widerspruch durch
intellektuelle Egozentrik.
Piagets THeorie eröffnet die Möglichkeit, dass die Bewerberinnen auf die nötige geistige Reife überprüft werden. Wer die pubertären Widersprüche im Ausland durchleben
muss, wird von Gastfamilie und Gastschule eventuell als rassistisch und widerspenstig
erlebt, was zu unangenehmen Erfahrungen auf beiden Seiten führen kann.
Allgemein kann man feststellen, dass alle Austauschschülerinnen die pubertäre Egozentrik überwunden haben sollten, damit das Lernen im Ausland nicht durch pubertäre
Entwicklungen überlagert und egozentrische Ablehnungen als ethnozentrisch missinterpretiert werden.
Neben der abgeschlossenen Pubertät, sollte eine grundsätzliche Bereitschaft zum
Lernen und damit einhergehend geistige Neugier erkennbar sein. Der AFS berücksichtigt diesen Zusammenhang teilweise bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten, allerdings werden die Kriterien nicht transparent dargestellt. Im Handbuch zur Auswahl fehlen alle Hinweise auf Auswahlkriterien und lapidare Aussagen, wie „diese
Bewerberin möchte ich als Austauchschülerin nicht zu Hause haben“, entsprechen
weder dem Anspruch der Eindeutigkeit, noch der Objektivität und sichern daher nicht
die Programmqualität.
88
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Neben den Verbesserungen bei Auswahlen bietet Piaget jedoch kein Instrumentarium
an, um das soziale vom kulturellen Lernen zu trennen und gesamtgesellschaftliche
Verbindungen herzustellen.
2.2.3.2. Bourdieu und das interkulturelle Lernen
Bourdieu ermöglicht mit der Beschreibung des sozialen Raumes einen differenzierten
Zugang zu Gesellschaften und zu den habituellen Voraussetzungen für eine gelingende Integration. Die individuelle Platzierung in diesem Raum ist für die Gastschüler über
den Beruf des Vaters und für die Gastfamilien über den Beruf des Gastvaters möglich,
so dass neben sozioökonomischen Unterschieden weitere Kategorien zur Untersuchung interkulturellen Lernens als soziales Lernen herangezogen werden können.
Bisher können wir das Folgende feststellen:
Heranwachsende variieren sozialkulturell, „die“ Sozialisation gibt es nicht.
„Parallelwelten“ der Sozialisationsinstanzen sind mit gesamtgesellschaftlichen
Strukturen verbunden und von diesen abhängig.
Die kognitive Entwicklung ist auch vom sozialen Umfeld beeinflusst
„Die Gesellschaft“ gibt es nicht, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Teil
des sozialen Raumes (in anderen Theorien auch subkulturelle Herkunft genannt) beeinflusst die Sozialisation.
Die Jugendlichen, die sich für ein Auslandsjahr bewerben, sind bereits das Ergebnis von abgeschlossenen Sozialisationsprozessen.
Die Sozialisationsforschung bietet bisher keine stringente Verbindung von Individuum und Gesellschaft.
Die sozialen Unterschiede innerhalb des sozialen Raumes der Herkunftsgesellschaft
und deren individuelle Wirkungen konnten weder mit Parsons, noch mit der Sozialisationstheorie hinreichend berücksichtigt und so für das interkulturelle Lernen fruchtbar
gemacht werden. Mit Bourdieus Modell können dagegen soziale Differenzierungen und
Vergleiche zwischen unterschiedlichen Gesellschaften vorgenommen werden. Die
Differenzierung spielt für den Reproduktionsmechanismus des Habitus, oder der Sozialisation, eine entscheide Rolle. Die Vergleichbarkeit von Gesellschaften ist in interkulturellen Zusammenhängen unabdingbar notwendig. Soll das interkulturelle Lernen, wie in
der Einleitung gefordert als soziales Lernen untersucht werden, dann müssen entsprechende Kategorien für eine nachvollziehbare Untersuchung definiert werden, um das
soziale Lernen in der Herkunftsgesellschaft vom Lernen in der Gastgesellschaft zu
unterscheiden.
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Bisherige interkulturelle Lerntheorien basieren auf der Annahme, dass Gesellschaften
kulturelle Unterschiede aufweisen, die als Kulturstandards zu fassen und zu erlernen
sind, um in einer fremden Gesellschaft handlungsfähig zu sein. Der Hauptnachteil dieser Annahme ist, dass Kultur und Gesellschaft nicht konsequent getrennt werden, Kultur als immanenter Bestandteil einer Nation betrachtet wird und die Unterschiede auf
wenige handhabbare Kategorien reduziert sind. Vereinfachung und Stereotypisierung
sind daher unumgänglich und konterkarieren das interkulturelle Lernen.
Bourdieus Theorie des sozialen Raumes mit Habitus, Feld und Kapitalien bietet dagegen neue Möglichkeiten, um soziales Lernen als Habitualisierung der Formen an einem
bestimmten Punk des sozialen Raumes zu betrachten. Der soziale Raum kann dabei
die Herkunftsgesellschaft, oder eine neue Gesellschaft sein, ohne Gesellschaft an nationalen Grenzen festmachen zu können. Unter diesen Annahmen kann soziales Lernen
in einer neuen Gesellschaft zwei Ausprägungen haben:
Habitualisierung feiner Unterschiede in einem sozial vergleichbaren Milieu
Habitualisierung neuer Formen in abweichenden sozialen Milieus
Sind sich Herkunftsfamilie und die Gastfamilie ähnlich, also im sozialen Raum ähnlich
verortet, dann werden die Kapitalausstattungen ähnlich sein und die daraus resultierenden habituellen Unterschiede können gering und fein sein. In diesem Fall kann interkulturelles Lernen nur heißen, dass diese feinen Unterschiede erkannt und gelernt
werden müssen, denn eine Überbrückung sozialer Unterschiede ist nicht nötig und die
kognitiven Dissonanzen sind entsprechend minimal.
Keines der heute in der Praxis verwendeten interkulturellen Trainings fokussiert auf
diese feinen habituellen Unterschiede, vielmehr wird der Eindruck erweckt immer mit
großen kulturellen Barrieren rechnen zu müssen, sobald man eine Landesgrenze überschreitet, individuelle Gleichheiten und Unterschiede gehen im kulturellen Überbau
verloren.
Im anderen Fall sind sich Herkunftsfamilie und Gastfamilie sozial unähnlich, also im
sozialen Raum völlig unterschiedlich verortet, die Kapitalausstattungen insbesondere
Bildung und ökonomisches Kapital sind unterschiedlich, was sich im Habitus niederschlagen muss, so dass keine feinen habituellen Anpassungen möglich sind. Hier
muss durch soziales Lernen zunächst eine deutliche soziale Kluft zwischen Gastschülerin und Gastfamilie überbrückt und ein völlig neuer Habitus erlernt werden. Die sozialen Unterschiede werden also, gegenüber den kulturellen Unterschieden, in das Zentrum der Betrachtung gestellt. Fokussiert man in diesen Fällen tatsächlich auf das soziale Lernen, statt kulturelle Unterschiede zu bemühen, so ergeben sich entscheidende
Vorteile für das Lernen in einer Gastfamilie. Die Gastfamilie kann als soziale Einheit in
90
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
einem sozialen Umfeld begriffen und nicht als kulturfremd empfunden werden. Denn
wie bereits weiter oben ausgeführt, sind die Akteure gezwungen in jeder Handlungssituation ihren Habitus anzupassen und weiter zu entwickeln. „Der Habitus trägt damit zu
einer kontinuierlichen Modifikation der sozialen Beziehungen bei.“ (Bauer 2002)
Wird soziales Lernen in einer Gastfamilie in den Mittelpunkt gestellt, dann können die
Jugendlichen die sozialen Unterschiede erkennen und in diesem Sinne Anpassungen
an die neuen Umweltbedingungen vornehmen, ohne dass geringeres kulturelles Kapital als Dummheit oder Minderwertigkeit der Gastgesellschaft missverstanden werden
muss. Das Ziel dieses Lernen sind neue Beziehungen und die Zugehörigkeit zu einer
Gastfamilie durch Anpassung an deren habituelle Praxis, bei dem zunächst das Bezugssystem Kultur gegenüber dem Bezugssystem Habitus zurückweicht. Ändert man
also das Paradigma des interkulturellen Lernens vom Kern Kultur zum Kern soziales
Lernen, dann ergeben sich Vorteile aber auch Notwendigkeiten, denn ein Lernkonzept
gibt es bislang nicht.
„Der Habitus fungiert als ein handlungsermöglichendes System von Grenzen. Begrenzt oder eingegrenzt werden die Dispositionen sozialer Akteure durch die Perspektivität und Selektivität lagespezifischer Erfahrungs-, Aneignungs- und Kompetenzmuster.“ (Bauer 2002)
Liegen die sozialen Positionen von Herkunfts- und Gastfamilie weit auseinander, kann
die soziale Herausforderung im Austauschjahr als eine Entgrenzung der Möglichkeiten
angesehen werden, andererseits ist die Aktionsfähigkeit der Gastschülerinnen durch
deren Erfahrungshorizont eingeengt, denn das Erlernen völlig neuer habitualisierter
Formen ermöglicht zwar neue Perspektiven und damit verbunden neue soziale Erfahrungs-, Aneignungs- und Kompetenzmuster, bedeutet aber zunächst die Lösung von
alten und eingefahrenen Mustern, die reflektiert und hinterfragt werden müssen. Daher
ist es notwendig die sozialen Positionen der Herkunfts- und der Gastfamilie zu kennen
und zu vergleichen, um die Lerneffekte differenziert und abhängig von der sozialen
Veränderung im Austauschjahr zu untersuchen, anstatt pauschal und als kulturell unterschiedlich. Die folgenden Ziele des sozialen Lernens im Ausland können angestrebt
werden:
Verhaltensangemessenheit
o
Bei sozial ähnlicher Platzierung (Vertrautheit)
o
Bei sozial unähnlicher Platzierung (kognitive Dissonanz)
Orientierungsklarheit als Vereinbarkeit des eigenen Handelns mit handlungsleitenden Kognitionen
Erweiterung des eigenen Habitus (Weltbürger)
91
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Zur Erreichung dieser Ziele, muss ein Lernprozess definiert werden, in dem Verhalten,
Orientierung und Habitus eindeutig beschrieben und neue habituelle Formen mit alten
vergleichbar sind. Der Lernprozess soll die folgenden Eckpunkte berücksichtigen:
Sozialer Raum
Eigene Position im sozialen Raum
Verfügbarkeit von Kapitalien in der Herkunftsfamilie
Verfügbarkeit von Kapitalien in der Gastfamilie
Einnehmen neuer Positionen im sozialen Raum durch Erweiterung des Habitus
Nimmt man Bourdieus Konvergenzannahme ernst, dann muss man davon ausgehen,
dass sich Gesellschaften auf einen ähnlichen Zustand hin entwickeln, dann muss man
auch davon ausgehen, dass dies für die Positionen im sozialen Raum gilt. Durch diese
Entwicklungen werden die feinen Unterschiede innerhalb derselben sozialen Positionen in unterschiedlichen Gesellschaften relevanter. „Moderne Gesellschaften sind ihrem Selbstverständnis nach demokratisch organisiert, pluralistisch angelegt und egalitär orientiert. Gerade diese relative Offenheit im soziokulturellen Bereich erreicht zwar
jederzeit ihre Grenzen in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der demokratischen Staatsform; gleichwohl enthält diese Rahmenordnung ein historisch unerreichtes, ungekanntes Maß an Freiheitsgraden, was die alltägliche Umsetzung dieser eher
vage vorgegebenen Wertorientierung in eine Lebensform anbetrifft. Dieses hohe Ausmaß an Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit hat zur Konsequenz, dass die einstmals
ständisch eingefrorenen Lebensführungsweisen dem Markt pluraler Lebensstile geöffnet werden.“ (Bourdieu 1974, S. 54)
Durch die Freiheit moderner Gesellschaften und die Öffnung von Arbeitsmärkten ist
bereits heute der Beruf, das damit verbundene Expertenwissen und der damit verbundene Habitus wichtiger als die nationale Herkunft. Trifft dies zu, dann werden auch
soziale Gleichheiten wichtiger als nationale Zugehörigkeiten. Müssen zwei Ingenieure
aus zwei Ländern kooperieren, dann sind ihre Interaktionen durch den Beruf und die
damit verbundene Positionierung im sozialen Raum stärker geprägt als durch ihre Nationalität, insbesondere dann, wenn Unterschiede nicht generell als kulturell betrachtet
werden müssen.
Werden in der globalisierten Welt die Zugehörigkeiten zu einem Beruf, oder einer Berufsgruppe und die damit verbundnen Kapitalien wichtiger als die Nationalität, dann
können nicht mehr kulturelle Unterschiede im Vordergrund stehen, sondern habituelle.
Hier liegen die Chancen des interkulturellen Lernens nicht nur für den Schüler- und
Studierendenaustausch, sondern auch und besonders bei Berufstätigen. Ein modernes
interkulturelles Lernkonzept muss das Kulturkonzept durch ein Konzept des Habitus
ersetzen und die entsprechenden Anpassungen mit sozialem Lernen verbinden. Die-
92
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ses soziale Lernen kann insbesondere im Schüleraustausch und der dort üblichen
Einbindung in eine Gastfamilie als Lernen im engeren und im weiteren Sinne unterschieden werden.
Übersicht 17: Soziales Lernen
Soziales Lernen
Im engeren Sinne
Der Blick von Innen: feine
Unterschiede
Im weiteren Sinne
Der Blick von Außen: soziale
Anpassungen
Gastschülerinnen die im Ausland Erfahrungen mit denselben Positionen im sozialen
Raum machen, können die feinen Unterschiede ihrer eigenen Positionierung erkennen
und einüben. Allerdings kann dieser Lernprozess nur gelingen, wenn ein Bewusstwerdungsprozess der sozialen Positionierung vorausgeht, um Gleichheiten zu erkennen
und Barrieren abzubauen.
Muss man im Ausland dagegen eine erhebliche soziale Veränderung im sozialen
Raum verkraften, dann sind die Anforderungen an das Lernen ganz andere und ein
soziales Lernen im weiteren Sinne ist nötig. Die eigene Position im Herkunftsland muss
mit der neuen Position verglichen und die daraus resultierende soziale Kluft überbrückt
werden. Im Fall großer sozialer Unterschiede können die allgemeinen Unterschiede
des sozialen Raumes zweier Gesellschaften und die eigene soziale Verortung bewusst
werden. Diese Unterscheidung hat den Vorteil, dass große soziale Unterschiede weder
zu kulturellen Unterschieden erklärt, noch soziale mit gesamtgesellschaftlichen Unterschieden verwechselt werden.
Das soziale Lernen muss bereits vor der Ausreise mit der Bewusstwerdung der eigenen sozialen Positionierung beginnen. Die Vorbereitungscamps sollten nicht allgemeine kulturelle Unterschiede erklären, sondern die soziale Positionierung der Schülerinnen und Schüler im Inland klären und deren Auswirkungen auf die einzelnen Personen.
In speziellen Vorbereitungen auf das Gastland können dann insbesondere die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen der Gastgesellschaft geklärt und verdeutlicht werden. Sind die Gastfamilien rechtzeitig bekannt, dann kann eine gezielte Vorbereitung auf die Gastfamilie und deren soziales Umfeld erfolgen und soziale Brücken
geschlagen werden.
93
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Während des Auslandsaufenthaltes müssen weiter die sozialen Differenzen oder
Gleichheiten thematisiert und so der Blick auf die wesentlichen Lernerfordernisse gelenkt werden. Nur wer im Ausland seine Situation mit allen Facetten reflektieren kann,
wird ein optimales Verständnis für die Gastgesellschaft und insbesondere seine Mikroumgebung von Gastfamilie und Gastschule entwickeln, ohne alles mit Kultur oder einem Kulturschock zudecken zu müssen.
Das Zurückkommen kann dann auf die neuen habituellen Probleme fokussieren. Alte
Handlungsmuster und habituelle Spielregeln sind verloren gegangen und müssen entweder wieder gelernt, oder an die neue Identität der Rückkehrerin angepasst werden.
Da der Blick immer an der unmittelbaren sozialen Umwelt des Schülers und der Schülerin bleibt, können Überforderungen und Missverständnisse minimiert und das Lernen
erleichtert werden. Die Gefahr, dass in diesem Lernumfeld zu klein gedacht und zu
kleine Handlungseinheiten gelernt werden, kann man entgegenhalten, dass es besser
ist im konkreten sozialen Umfeld Handlungsfähig zu sein und sich dessen bewusst zu
sein als in abstrakten und daher unkonkreten Anforderungen zu versagen. Diese Aussagen werden im nächsten Kapitel empirisch überprüft.
94
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3. Empirische Untersuchung des sozialen und interkulturellen Lernens im
Schüleraustausch
Das theoretische Konzept des sozialen Lernens wird mit einer Untersuchung aus den
Jahren 2002 –2005 überprüft. Wie im zweiten Kapitel dargestellt, bietet sich die Theorie Bourdieus besonders für eine klare Fundierung des sozialen Lernens im sozial konkreten Umfeld des Auslands an, da eine ausreichende soziale Differenzierung vorgenommen wird und die Entsendeten bezüglich der sozialen Unterschiede von Herkunftsund Gastfamilie untersucht werden können. Als neue Analysekategorie kann der Habitus eingeführt werden.
Die Untersuchung folgt der Hypothese, dass Lernen im Ausland zunächst soziales
Lernen von Handlungs- und Kommunikationsmustern in entweder einer sozial ähnlichen oder sozial unähnlichen Umgebung ist. Die konkreten Handlungs- und Kommunikationsmuster hängen daher nicht von der ausländischen Kultur, sondern von der konkreten Gastfamilie und deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Feld ab.
Dieses Lernen kann als soziales Lernen in konkreten Interaktionen bezeichnet und mit
soziologischen Methoden untersucht werden. Das soziale Lernen im Austausch ist ein
komplexer Vorgang von persönlichen und sozialen Faktoren und muss in ein Lernen im
engeren Sinne (soziale Ähnlichkeit) und im weiteren Sinne (soziale Unähnlichkeit) unterschieden werden (Übersicht 28). Für die Untersuchung des sozialen Lernens im
engeren Sinne soll die folgende Frage beantwortet werden: Gibt es soziale Gleichheiten zwischen der Herkunfts- und Gastfamilie und werden diese erkannt?
a) Wenn ja
Erleichtert soziale Gleichheit den zwischenmenschlichen Umgang und die Integration?
Werden Interaktionsprobleme mit habituellen Anpassungen gelöst und welche
Anpassungen sind das?
Sind Unterschiede des inkorporierten Kapitals feststellbar?
Nach welchen Mustern klassifizieren die Betroffenen die Unterschiede?
b) Wenn nein
Gibt es soziale Gleichheit nicht, oder werden sie übersehen?
Können bei sozialer Ungleichheit alle auftretenden Probleme als kulturelle
Probleme bezeichnet werden?
Welches Einordnungssystem verwenden die Betroffenen um Unterschiede zu
klassifizieren?
95
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Für die Beantwortung dieser Alternativen wird das vorhandene Material zunächst bezüglich der sozialen Gleichheit von Herkunfts- und Gastfamilie der Teilnehmerinnen
untersucht. Kann neben einer theoretischen auch eine tatsächliche Gleichheit der beiden Familien festgestellt werden, dann kann man Antworten auf die Fragen des Teils
a) suchen. Kann eine theoretische und tatsächliche Gleichheit der beiden Familien
nicht festgestellt werden, müssen Antworten auf die Fragen des Teils b) gesucht werden.
3.1. Der soziale Raum
Eine Untersuchung des sozialen Raumes im Schüleraustausch nach Bourdieu, sollte
zunächst diejenigen Schülerinnen identifizieren, die keine sozialen Unterschiede zwischen ihrer Herkunfts- und Gastfamilien erleben. Das soziale Lernen dieser Schülerinnen im Auslandsjahr wird bezüglich des Habitus, der habituellen Anpassungen und des
inkorporierten Kapitals untersucht. In einem zweiten Schritt können die Schülerinnen
identifiziert werden, die erhebliche soziale Unterschiede zu bewältigen hatten, sowie
ihre habituellen Anpassungen an die sozial fremde Umwelt. In einem letzten Schritt
können dann beide Gruppen miteinander verglichen werden, so dass eine Untersuchung der Lerneffekte der beiden Gruppen möglich sein sollte, um so das kulturelle
vom sozialen Lernen zu unterscheiden und die gestellten Fragen zu beantworten.
3.1.1. Voruntersuchungen zur Positionierung im sozialen Raum
Um die beiden Gruppen genau zu definieren wurden die Teilnehmerinnen am Regelund Stipendienprogramm zunächst bezüglich ihrer Herkunftsfamilien positioniert, dann
wurden die Gastfamilien untersucht, so dass die möglichen und die tatsächlichen sozialen Schnittmengen ermittelt werden können.
Voruntersuchungen des Jahres 2001 ergaben Hinweise für eine analytisch interessante Vergleichsbasis im neu geschaffenen Baden-Württemberg Stipendium. Sollten durch
das Stipendium, wie es das Land Baden-Württemberg beabsichtigte, neue soziale
Teilnehmerschichten für den Austausch gewonnen werden, dann wäre eine sozial weiter gefächerte Untersuchung möglich als ohne das Stipendienprogramm. Die sozioökonomische Untersuchung der Bewerberinnen hat diese Hoffnung gedämpft, weil die
soziale Auswahl im Stipendium nicht so breit gefächert war, wie ursprünglich erwartet.
Gegenüber der sozioökonomischen Analyse ergibt die Untersuchung im sozialen
Raum nach Bourdieu deutliche Unterschiede der beiden Gruppen. Die Berufe der Väter
96
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
weisen zwischen den Teilnehmerinnen des Regel- und Stipendienprogramms größere
Unterschiede auf als es aus den Soziogrammen zunächst hervorging, so dass man
feststellen kann, dass die Analyse innerhalb des sozialen Raumes Erkenntnisgewinne
bringt.
Die Dummyvariablen sollen einen noch besseren individuellen Vergleich der Teilnehmerinnen ermöglichen, während die Probleme auf die spezielle Situation des Austausches gerichtet sind. Es wird angenommen, dass neben dem Beruf des Vaters auch
andere Faktoren, wie Geschwister und die Rolle der Mutter das Empfinden der sozialen Gleichheit oder Ungleichheit der Schülerinnen beeinflussen.
Übersicht 18: Untersuchungsvariablen
Variable
Merkmal
Ökonomisches
Kapital
Beruf des Vaters
Kulturelles Kapital
Höchste abgeschlossene Ausbildung
Sportarten, Theater, Literatur
Habitus
Geschwister
Berufstätigkeit
Mutter
Berufstätigkeit Vater
Probleme
Gastfamilie
Herkunftsfamilie
Gastfamilie
Herkunftsfamilie
Gastfamilie
Herkunftsfamilie
Anzahl tatsächlich aufgetretener
Probleme
Fallzahl
(N)
24RP
+28SP+
36A
88
88
88
88
88
88
Typ
metrisch
Soziale Zuschreibung
Soziale Zuschreibung
Dummyvariable
Ja=1
Dummyvariable
Ja=1
Dummyvariable
Ja=1
metrisch
3.1.2. Sozialer Raum - Regelprogramm
Die Verortung im sozialen Raum erfolgt, nach den Annahmen Bourdieus ausschließlich
nach dem Beruf des Vaters, während die Berufstätigkeit der Mutter und ihr ausgeübter
Beruf vernachlässigt werden. In dieser Untersuchung wird die Berufstätigkeit der Mutter
mit einer Dummyvariablen (ja oder nein) aufgenommen, um möglichst umfassende
Kriterien für die Untersuchung zu erhalten. Die Berufe der Väter der Teilnehmerinnen
werden möglichst genau erfasst und im sozialen Raum platziert. Auffällig ist, dass insbesondere Gymnasiallehrer bei den akademischen Berufen dominieren, während Professoren und Hauptschullehrer unterrepräsentiert sind. Für das Fehlen der Hauptschullehrer gibt es eine plausible Erklärung, da diese Berufe überwiegend von Frauen ausgeübt werden, werden sie als Männerberuf in der Systematik nach Bourdieus unterschlagen. Für das Fehlen der Professorenkinder konnte jedoch keine einfache Erklärung gefunden werden.
97
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die zweitstärkste akademische Berufsgruppe sind Ärzte, gefolgt von Managern, Ingenieuren und Rechtsanwälten. In Einzelnennungen werden Chemiker, Musiker und andere Berufe genannt. Wie bei den Akademikern, kommen auch bei den nicht akademisch gebildeten Vätern Häufungen der Berufe vor. Kaufmännische Angestellte und
mittlere Beamte schicken ihre Kinder häufiger ins Ausland als selbständige Handwerker oder Arbeiter. Kinder von mittelständischen Unternehmern sind im Untersuchungszeitraum unterrepräsentiert und das obwohl die Region Baden-Württemberg einen
starken Unternehmerstand hat. Bei der Zuordnung in die Systematik von Bourdieu wird
deutlich, dass einige Berufsgruppen gegenüber dem Untersuchungszeitraum in den
1970er Jahren Veränderungen unterliegen. So hat Bourdieu die Gruppe der angestellten Manager nicht nach Top- und Mittelmanagement unterschieden, was aus heutiger
Sicht sinnvoll wäre. Um der Systematik nach Bourdieu gerecht zu werden, wird die
Berufsgruppe der Manager zu den Führungskräften der Privatwirtschaft, ohne Abstufung in Mittel- und Topmanagement, subsummiert. Die selbständigen Handwerker werden als kleine Unternehmer betrachtet, so dass aus diesen Annahmen die folgende
Zuordnung der Teilnehmerinnen des Regelprogramms, bezüglich ihrer Herkunftsfamilie, in die vier Quadranten des sozialen Raumes ergibt.
Übersicht 19: Verortung der Herkunftsfamilie im sozialen Raum - Regelprogramm
GESAMTKAPITAL+
28,4%
31,3%
4,8%
Kulturelles Kapital+
Ökonomisches Kapital -
Ökonomisches Kapital +
Kulturelles Kapital -
23,8%
5,6%
5,7%
GESAMTKAPITAL–
64,5% aller Teilnehmerinnen sind im Bereich des positiven und 35,1% im Bereich des
negativen Gesamtkapitals anzusiedeln. 4,8% der Teilnehmerinnen gehören dem ersten, 28,4% dem zweiten, 23,8% dem dritten und lediglich 5,6% dem vierten Quadran-
98
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ten an. 31,3% der Teilnehmerinnen sind zwischen dem ersten und zweiten Quadranten
und 5,7% zwischen dem dritten und vierten Quadranten angesiedelt. Auffällig ist die
Häufung im zweiten und dritten Quadranten des sozialen Raumes. Im positiven Bereich des Kulturkapitals sind 52,2% der Schülerinnen angesiedelt und 37% kommen
aus dem neutralen Bereich entlang der Gesamtkapitalachse. Eltern die über positives
kulturelles Kapital verfügen sind demnach eher bereit ihre Kinder in den langfristigen
Schüleraustausch zu senden als Eltern mit hohem ökonomischem Kapital. Nur 4,8%
der Teilnehmerinnen kamen aus dem ersten Quadranten, womit ihr Anteil noch unter
der Anzahl der Teilnehmerinnen des vieren Quadranten (5,6%) lag. Allerdings kann
daraus nicht gefolgert werden, Kinder deren Eltern dem ersten Quadranten angehören
gingen gar nicht ins Ausland. Hier kann lediglich festgestellt werden, dass die soziale
Gruppe des ersten Quadranten wenig am Schüleraustausch teilnimmt, ob eventuell
andere, kostenintensivere Formen der Auslandsaufenthalte wie z.B. Auslandsinternate
bevorzugt werden, kann nicht nachgewiesen werden.
Nach der Rückkehr konnten die Teilnehmerinnen des Regelprogramms bei Nachbereitungen und in Einzelinterviews über das Auslandsjahr befragt werden. Bei dieser Gelegenheit konnte die Positionierung im sozialen Raum über den Beruf des Gastvaters
vorgenommen werden.
Eine Schwierigkeit ergibt sich bei Familienwechseln, die bei 28,4% der Teilnehmerinnen im Regelprogramm und 19,8% im Stipendienprogramm vorkamen. Bei Familienwechseln wurde die Gastfamilie berücksichtigt, in der die Gastschülerinnen die längere
Zeit des Austausches verbrachten. War der Aufenthalt in zwei Familien in etwa gleich
lang, dann wurde die jeweils letzte Familie berücksichtigt, um Doppelzählungen zu
vermeiden. Auffällig ist die eingeschränkte Anzahl der angegebenen Berufe der Gastväter. Die ehemaligen Gastschülerinnen konnten z.T. den Beruf des Gastvaters nicht
nennen. Die Gründe hierfür sind zum einen unbekannte Berufsbezeichnungen, zum
anderen wenig Kontakt zum und wenig Interesse am Gastvater. Die Gastschülerinnen
hatten eine deutlich bessere Vorstellung vom Bildungsstand der Gasteltern als von
deren beruflichen Aktivitäten, denn diese erschienen ihnen unbedeutend. Aus den
Angaben der Gastschülerinnen konnte die folgende Verortung der Gastfamilien vorgenommen werden.
99
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 20: Verortung der Gastfamilien im sozialen Raum – Regelprogramm
GESAMTKAPITAL+
30,4%
13,7%
19,6%
Kulturelles Kapital+
Ökonomisches Kapital-
Ökonomisches Kapital +
Kulturelles Kapital11,8%
13,7%
5,9%
GESAMTKAPITAL–
Im ersten Quadranten sind 19,6%, im zweiten Quadranten 13,7% und im neutralen
Bereich 30,4% der Gastfamilien angesiedelt, so dass 63,7% der Gastfamilien aus dem
Bereich des positiven Gesamtkapitals und 27,4% aus dem Bereich des positiven kulturellen Kapitals kommen. In den Quadranten III. und IV. mit geringem Gesamtkapital
sind 31,4% der Gastfamilien verortet, für 4,9% der Gastfamilien fehlen die Angaben,
weil die Berufsbezeichnung nicht angegeben werden konnte. Aus diesen Verortungen
kann ein Vergleich der sozialen Übereinstimmungen zwischen der Herkunftsfamilie und
den Gastfamilien ermittelt werden. Aus dem ersten Quadranten stammen 19,6% aller
Gastfamilien aber nur 4,8% der Gastschülerinnen. Im zweiten und dritten Quadranten
sind mehr Gastschülerinnen als Gastfamilien und im vierten Quadranten sind mehr
Gastfamilien als Gastschülerinnen verortet.
Dieser theoretische Vergleich kann explizit in ein Achsenkreuz abgetragen werden, um
die Überschneidungen zu verdeutlichen, denn bisher wurden soziale Gleichheiten nach
den Möglichkeiten von Bourdieu nicht berücksichtigt, so dass eine Verdeutlichung dieser Tatsache als evident erachtet werden kann. Nur wenn es theoretisch möglich ist
Schülerinnen in sozial ähnlichen Familien zu platzieren, ist auch ein soziales Lernen im
engeren Sinne möglich, wie weiter oben dargestellt.
100
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 21: Vergleich von Gastfamilie und Gastschülerinnen
37
GESAMTKAPITAL+
GF 13,7%
AT 28,4
GF 30,4%
AT 31,3%
GF 19,6%
AT 4,8%
Kulturelles Kapital+
Ökonomisches Kapital +
Ökonomisches Kapital-
Kulturelles Kapital-
GF 13,7%
AT 23,8 %
GF 11,8%
AT 5,6%
GF 5,9%
AT 5,7%
GESAMTKAPITALGF: Gastfamilie
AT: Austauschschülerin
Theoretisch ergeben sich Schnittmengen wie auch Divergenzen in allen Quadranten.
Im I. und IV. Quadranten herrscht ein Gastfamilienüberhang vor, während im II. und III.
Quadranten die Gastschülerinnen überwiegen.
Für die Untersuchung der sozialen Gleichheit wurde neben der Zugehörigkeit zu einem
Quadranten, der Gast- und der Herkunftsfamilie auch die expliziten Berufe verglichen
und deren Gleichwertigkeit festgestellt. Für das Regelprogramm ergab sich eine Lücke
für Kinder deren Väter Lehrer und höhere Beamte sind, da diese Berufsgruppen unter
den Gastfamilien weniger häufig sind als bei den deutschen Entsendefamilien. Jugendliche aus diesen Familien haben daher geringe Chancen eine sozial ähnliche Verortung im Auslandsjahr zu erleben.
Trotz aller Divergenzen und Ungleichheiten hätten im Betrachtungszeitraum 35% der
Teilnehmerinnen sozial gleich platziert werden können, tatsächlich war die Übereinstimmung aber deutlich geringer, da die Platzierungspraxis des AFS nach anderen
Kriterien erfolgt als nach sozialen Unterschieden oder Gleichheiten. So spielen bei der
Platzierung im Ausland Kriterien, wie das Geschlecht, Interessen und das Herkunftsland des zukünftigen Gastkindes eine größere Rolle als die Berufe der Väter. Ebenfalls
entscheidend bei der Platzierung ist die sinkende Anzahl der Gastfamilien. So können
inzwischen ca.10% bis 15% der Schülerinnen nicht rechtzeitig vor der Ausreise plat37
GF: Gastfamilie; AT: Austauschschülerin
101
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ziert werden und müssen in sog. Übergangs- oder Willkommensfamilien untergebracht
werden. In diesen Fällen wird die Platzierung im Gastand möglichst schnell nachgeholt,
auch wenn dafür erhebliche soziale Unterschiede in Kauf zu nehmen sind, denn eine
sozial stark abweichende Gastfamilie ist besser als keine Gastfamilie. Diese sich seit
der Jahrtausendwende verdichtenden Probleme deuten auf immer mehr soziale Divergenzen zwischen Gastfamilie und Gastschülerinnen hin, die mit entsprechendem sozialem Lernen überbrückt werden müssen, so dass soziales Lernen für den Schüleraustausch als notwendig nachgewiesen werden konnte.
3.1.3. Der soziale Raum – Stipendienprogramm
Wie bereits im ersten Kapitel festgestellt, sind die sozialen Unterschiede zwischen dem
Regel- und Stipendienprogramm nach den sozioökonomischen Daten geringfügig. Die
Verteilung der Geschlechter, die besuchte Schulart und das Durchschnittsalter, wie
auch der Bildungsgrad der Eltern waren bei den Auswahlverfahren sehr ähnlich. Allerdings wurde am Anfang der Unersuchung die akademische Ausbildung der Eltern unabhängig von Vater und Mutter gemessen. Die Unterschiede werden daher erst sichtbar, wenn im sozialen Raum die Berufe der Väter berücksichtigt werden und nicht die
der Mütter. Aus dieser Betrachtung ergibt sich ein etwas anderes soziales Gefüge als
im Regelprogramm.
Waren die Kinder von Hochschullehrern im Regelprogramm stark unterrepräsentiert, so
kommen im Stipendienprogramm gar nicht vor. Ärzte und Manager sind zu 60% weniger vertreten als beim Regelprogramm und die Kinder von Lehrern an höheren Schulen
sind mit 18% am Stipendium (21% im Regelprogramm) beteiligt. Damit bilden die Lehrer in beiden Programmen die stärkste akademische Berufsgruppe. Kinder höherer
Beamter partizipieren mit 9% am Stipendium während sie mit 4,1% am Regelprogramm beteiligt sind. Kinder von mittleren Beamten halten ihren Anteil mit 10% fast
gleich gegenüber dem Regelprogramm (9,8%), während Kinder von kaufmännischen
Angestellten deutlich besser im Stipendium mit 12,9% (5,6% Regelprogramm) vertreten sind. Unternehmerkinder sind in beiden Programmen gleich schlecht vertreten. Für
das Stipendienprogramm ergibt sich die in Übersicht 22 dargestellte Verteilung der
Teilnehmerinnen im sozialen Raum.
102
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 22: Verortung der Teilnehmerinnen im sozialen Raum – Stipendienprogramm
GESAMTKAPITAL+
17,2%
27,0%
5,5%
Kulturelles Kapital+
Kulturelles Kapital -
Ökonomisches Kapital -
Ökonomisches Kapital+
4,7%
33,5%
8,2%
GESAMTKAPITAL–
Im Bereich des positiven Gesamtkapitals sind 49,7% aller Teilnehmerinnen und damit
14,8% weniger als im Regelprogramm angesiedelt. 46,4% der Teilnehmerinnen am
Stipendium gehören zum dritten und vierten Quadranten und damit 11,3% mehr als im
Regelprogramm. Im Stipendium herrscht ein fast ausgeglichenes Verhältnis zwischen
den Teilnehmerinnen aus dem Bereich des positiven und des negativen Gesamtkapitals. Zum Bereich des positiven kulturellen Kapitals (zweiter und dritter Quadrant)
gehören 60,5%, zum neutralen Bereich zwischen dem kulturellen und ökonomischen
Kapital 25,4% und zum Bereich des positiven ökonomischen Kapitals gehören lediglich
10,2% aller Teilnehmerinnen. Im Stipendienprogramm unterstützen die Schichten mit
positivem kulturellen Kapital ihre Kinder ins Ausland zu gehen, wie schon im Regelprogramm.
Da im Stipendienprogramm spezifisch die Länder Mittel- und Osteuropas angeboten
werden, ist eine andere Verteilung der Gastfamilien auf den sozialen Raum, wie auch
unterschiedliche Verteilungen der Gastfamilien zwischen den Ost– und Westeuropäischen Ländern zu erwarten als im Regelprogramm. Die Gastländer Italien, Frankreich,
Spanien und Finnland werden zur Gruppe Westeuropa, und die Länder Lettland, Polen,
Tschechien, Slowakei, Ungarn und Russland zu Osteuropa zusammengefasst und
gesondert untersucht.
Im westeuropäischen Raum ist, wie schon im Regelprogramm, das Interesse der Austauschschülerinnen am Beruf des Gastvaters gering, dennoch konnten die Berufe weitgehend ermittelt und die Gastfamilien im sozialen Raum verortet werden. In Westeuropa sind die Gastfamilien mehrheitlich im zweiten Quadranten (41,5% aller Schülerinnen) und im Umfeld von Freiberuflern (16,7%) verortet. Im ersten und dritten Quad-
103
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ranten sind jeweils 16,7%, im vierten Quadranten lediglich 8,3% der Gastfamilien verortet. In Westeuropa sind im Bereich des positiven Gesamtkapitals 74,9% aller Gastfamilien und entsprechend 25,1% im Bereich des negativen Gesamtkapitals angesiedelt.
Übersicht 23: Verortung der Gastfamilien in Westeuropa– Stipendienprogramm
GESAMTKAPITAL+
16,7%
41,5%
16,7%
Kulturelles Kapital+
Kulturelles Kapital -
Ökonomisches Kapital -
Ökonomisches Kapital+
8,3%
16,7%
0%
GESAMTKAPITAL–
Gegenüber den Westeuropäischen Ländern, kann in der Ländergruppe „Osteuropa“
eine auffällige Häufung von freien Berufen und Arbeitslosen beobachtet werden. Besonders häufig sind russische und slowakische Gastfamilien von Arbeitslosigkeit betroffen. Lehrerfamilien und Familien von Hochschullehrern sind unter den Gastfamilie stark
unterrepräsentiert, während die mittleren und kleinen Unternehmer mit 25,9% aller
Gastfamilien gut vertreten sind.
Obwohl Bourdieu die Gruppe der Arbeitslosen nicht im sozialen Raum berücksichtigt,
weil dieses Phänomen zum damaligen Zeitpunkt keine relevante Rolle spielte, werden
in dieser Untersuchung die Arbeitslosen unabhängig vom ihrem jeweiligen Ausbildungsstand im neutralen Bereich des negativen Gesamtkapitals verortet, da der Zugang der Arbeitslosen zu kulturellen Gütern durch begrenzte finanzielle Mittel erschwert ist und eine so hohe Anzahl von Gastfamilien nicht unberücksichtigt bleiben
kann. Die Gastfamilien mit arbeitslosen Vätern wurden vielfach durch die Berufstätigkeit der Mütter und durch Verwandte unterstützt. Die Verortung ist in Übersicht 24
zusammengefasst.
104
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 24: Verortung der Gastfamilien in Osteuropa – Stipendienprogramm
GESAMTKAPITAL+
18,5%
7,4%
25,9%
Kulturelles Kapital+
Kulturelles Kapital -
Ökonomisches Kapital -
14,8%
Ökonomisches Kapital+
14,8%
18,3 %
GESAMTKAPITAL–
Im Stipendienprogramm gehören in den osteuropäischen Ländern 51,8% der Gastfamilien zu den Klassen mit positivem Gesamtkapital, in Westeuropa beträgt dieser
Anteil 74,9%. Die westeuropäischen Gastfamilien sind deutlich häufiger im positiven
Bereich des Gesamtkapitals angesiedelt, während die osteuropäischen Gastfamilien
gleichmäßig auf den Bereich des positiven, wie auch des negativen Gesamtkapitals
verteilt sind. Die Unterschiede der beiden Ländergruppen machen deutlich, dass eine
getrennte Untersuchung sinnvoll ist und die Überschneidungsmengen von Gastschülerinnen und Gastfamilien zwischen West- und Osteuropa Unterschiede aufweisen
müssen. Für die theoretischen Überschneidungen gelten die Aussagen aus dem Regelprogramm analog. Insgesamt wurden in Westeuropa 25% und in Osteuropa 17%
aller Schülerinnen in Gastfamilien platziert, die der Herkunftsfamilie nach Bourdieus
Kriterien gleich sind. Besonders in den osteuropäischen Ländern konnten soziale
Gleichheiten oder Ungleichheiten keine besondere Berücksichtigung finden, denn
Gastfamilien sind schwer zu finden, warum auch Familien mit arbeitslosen Vätern und
entsprechenden sozialen Problemen akzeptiert werden.
3.1.4. Sozialer Raum - Gastschülerinnen in Deutschland
Im Betrachtungszeitraum konnten auch die ausländischen Gastschülerinnen untersucht
werden, die mit einem „Baden-Württemberg-Stipendium“ in Deutschland waren. Die
Untersuchung folgt den gleichen Kriterien, wie bei den deutschen Austauschschülerin-
105
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
nen im Ausland, so dass zunächst ein Vergleich der Verortung im sozialen Raum vorgenommen wird.
Die ausländischen Gastschülerinnen kommen im Jahr 2004 zu 61% aus dem positiven
und zu 30% aus dem negativen Gesamtkapitalbereich des sozialen Raumes. Die deutschen Stipendiatinnen waren zu fast 50% im positiven und zu 50% im negativen Gesamtkapitalbereich angesiedelt.
Die Verteilung der ausländischen Gastschülerinnen auf den positiven kulturellen Bereich betrug 40,3%, im neutralen Bereich 12,8% und im positiven ökonomischen Bereich 36,3%. Zum Vergleich waren die deutschen Teilnehmerinnen zu 60% im positiven
Kapital verortet. Das folgende Schaubild zeigt die Verteilung der Gastschülerinnen und
der deutschen Gastfamilien, gemessen in den Berufen der Väter.
Übersicht 25: Vergleich der Verortung der Gastschülerinnen in Deutschland38
GESAMTKAPITAL+
AT 5,5%
GF 25,0%
AT 27,5%
GF 22,0%
AT 28,0%
GF 14,0%
Kulturelles Kapital+
Ökonomisches Kapital -
Kulturelles Kapital Ökonomisches Kapital+
AT 8,3%
GF 5,5%
AT 12,8%
GF 24,9%
AT 8,3%
GF 0,0%
GESAMTKAPITAL–
Neben den theoretischen Überschneidungen zwischen Gastschülerinnen und den
Gastfamilien sind von den 36 befragten Gastschülerinnen 25% in vergleichbaren sozialen Verhältnissen und 75% in zum Teil erheblich anderen sozialen Bezügen in
Deutschland verortet.
Der Nachweis von sozialen Ähnlichkeiten zwischen den Gastschülerinnen und den
Gastfamilien führt dazu, dass die weiter oben gestellte Frage ob Gleichheiten bestehen
jetzt bejaht werden kann. Trotz einer anderen Platzierungspraxis seitens des AFS sind
Überschneidungen nachweisbar, so dass auch das sozial- interkulturelle Lernen im
engeren Sinne untersucht werden könnte. Insgesamt sind von 88 befragten Gastschü38
AT : Austauschschülerin, GF: Gastfamilien
106
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
lerinnen sieben aus dem Regelprogramm und sieben aus dem Stipendienprogramm in
Deutschland, davon vier aus Westeuropa und drei in Osteuropa in Gastfamilien aufgenommen, die der eigenen Familie sozial, gemessen im Beruf des Vaters, sehr ähnlich
sind. Von insgesamt 112 Austauschschülerinnen im Regelprogramm und 38 im Stipendienprogramm aus Baden-Württemberg konnten 50% der Teilnehmerinnen auch nach
dem Austausch im Jahr 2004 und 2005 befragt werden, um Erkenntnisse für das Lernen im Ausland zu gewinnen. Von den 56 befragten Schülerinnen und Schülern wurden 14 als in sozial gleichen Verhältnissen verortet festgestellt, also 25% aller Teilnehmerinnen. Von den 39 ausländischen Stipendiaten, die in Baden-Württemberg waren, konnte keiner vor und nach dem Austausch befragt werden, die Untersuchung
wurde während des Austauschjahres 2003 – 2004 vorgenommen. Damit ergibt sich für
Baden- Württemberg eine repräsentative Aussage, deren Gültigkeit für das Bundesgebiet nicht überprüft werden konnte.
3.2. Untersuchung des sozialen Lernens
Das soziale und interkulturelle Lernen der Schülerinnen mit sozial gleicher oder ähnlicher Verortung im In- und Ausland wird exemplarisch in Fallbeispielen dargestellt und
mit Statistiken aus den standardisierten Befragungen ergänzt.
Neben den Einflüssen der sozialen Verortung wurden auch die politischen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Länder berücksichtigt, so beeinflusst die Religion über wichtige Feiertage und damit verbundene Feste den Jahresablauf, sowie
Werte und Einstellungen zum Leben und zum Umgang mit Anderen. Wirtschaftliche
Unterschiede können am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und im Durchschnittseinkommen festgemacht werden. Der allgemeine Lebensstandard eines Landes entspricht
den Einkommensverhältnissen, so dass Länder mit einem deutlich geringeren Einkommensniveau als Deutschland, feststellbare Unterschieden im Lebensstandard aufweisen können.
Der Stand der demokratischen Entwicklung kann insbesondere zu Unterschieden der
Presse- und Meinungsfreiheit führen, die zu Unterschieden der Wahrnehmung von politischen Entscheidungen beitragen. Im konkreten Fall divergieren die Gastländer bezüglich der Religion, christlich oder orthodox, und bezüglich der wirtschaftlichen und der
demokratischen Entwicklung. In dieser Untersuchung wurden Austauschschülerinnen
untersucht, die in die Länder West- und Osteuropas, die USA, Südamerika und Russland entsandt wurden, sowie Gastschülerinnen aus West-, Mittel- und Osteuropa. Die
folgende Systematik verdeutlicht die Unterschiede.
107
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Übersicht 26: Systematik der Austauschländer
Cluster A
Cluster B
Cluster C
Wirtschaft: ähnlich
Wirtschaft in Ent-
Wirtschaft ungleich
Cluster D
Wirtschaftlich ungleich
Demokratisch
wicklung
Demokratie in Entwick-
Undemokratisch
christlich
Demokratisch
lung
Nicht christlich
christlich
Christlich oder orthodox
Länder
Länder
Länder
Länder
USA; Frankreich, Spa-
Tschechien, Ungarn,
Russland
China, Thailand,
nien, Benelux, Italien,
Polen, Slowakei, Kroa-
Südafrika
Vietnam
Skandinavien
tien, Lettland
Südamerika
3.2.1. Soziales und interkulturelles Lernen bei sozialer Gleichheit von
Herkunfts- und Gastfamilie
Zunächst werden die Schülerinnen untersucht, deren Gast- und Herkunftsfamilie keine
oder sehr geringe Unterschiede der Positionen im sozialen Raum aufweisen. Um auch
die Einflüsse der jeweiligen Länder zu berücksichtigen, wurden drei Untersuchungsgruppen gebildet, die nach dem Programm und den Aufnahmeländern zu unterscheiden sind.
Übersicht 27: Untersuchungssystematik bei sozialer Gleichheit
Gruppe
Gruppe 1
Programm
Regelprogramm
Austauschland
Westeuropa, USA
Gruppe 2
Stipendienprogramm
Westeuropa
Gruppe 3
Stipendienprogramm
Osteuropa
Im Folgenden wird pro Gruppe eine Fallbeschreibung gegeben, die auf die familiären
Verhältnisse, den sozialen Umgang der Gastfamilie mit Gastschülerin oder Gastschüler
und die Schulsituation eingeht. Auf die eingangs gestellten Fragen der Gruppe a)
Erleichtert soziale Gleichheit den zwischenmenschlichen Umgang und die Integration in eine fremde Gesellschaft?
Werden Interaktionsprobleme mit habituellen Anpassungen gelöst und welche
Anpassungen sind das?
Sind Unterschiede des inkorporierten Kapitals feststellbar?
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Welches Einordnungssystem verwenden die Betroffenen um Unterschiede zu
klassifizieren?
werden Antworten gesucht. Die Informationen wurden aus strukturierten Einzelinterviews gewonnen. Zur Wahrung der Anonymität der Befragten werden die personenidentifizierenden Informationen knapp gehalten.
3.2.1.1. Fallbeispiele
Die ausgewählten Fallbeispiele sind in ihrem Verlauf typisch und gleichzeitig komplex,
so dass sie die immer wieder berichteten Verläufe reflektieren. Allerdings handelt es
sich um persönliche Erlebnisse und subjektive Einschätzungen ohne repräsentativen
Charakter.
Fallbeispiel 1 (Regelprogramm, USA)
Familie:
Die Austauschschülerin verbrachte ein Jahr in einer Gastfamilie die nach dem Kriterium
„Beruf des Vaters“ der sozialen Stellung ihrer deutschen Familie gleich ist. Auch die
Dummyvariablen „Berufstätigkeit der Mutter“ und „Geschwister“ entsprachen sich, so
dass von einer hohen Überschneidung der Herkunfts- und der Gastfamilie gesprochen
werden kann.
Auf die Frage nach der Vergleichbarkeit der Gastfamilie und der Herkunftsfamilie stutzt
die Teilnehmerin zunächst und muss überlegen, um dann mit einem klaren nein zu
antworten. Sie empfand die Gastfamilie als völlig anders im Vergleich zur Herkunftsfamilie. Die wesentlichen Unterschiede empfand sie in den persönlichen Beziehungen
zur Gastmutter, zum Gastvater, und in der Geschwisterfolge. Als Unterschied hat die
Gastschülerin die Launenhaftigkeit der amerikanischen Gastmutter und andere Arbeitszeiten des Gastvaters genannt. Als weiteren großen Unterschied empfand sie die
Wohnlage der Gastfamilie, die ein großes Haus in einem entlegenen Vorort ohne Subzentrum oder soziale Infrastruktur bewohnte. Ohne ein Auto konnte man weder in die
Stadt, noch ins Kino oder zum Treffen mit Freundinnen fahren. Insbesondere aus der
Wohnlage erwuchs der Gastschülerin das Gefühl der Isolierung und mangelnder Kontakte. Während die Schülerin in Deutschland schnell und unkompliziert auch an den
Wochenenden mit öffentlichen Verkehrsmitteln überall hinkommt und Freunde treffen
kann, empfand sie sich in den USA als von diesen Aktivitäten ausgeschlossen, wenn
sich keine Fahrgelegenheit anbot. Die Gasteltern wollten die Wochenenden nicht mit
Fahrdiensten für die Gasttochter verbringen und der Gastbruder wollte auch mal ohne
seine Gastschwester losziehen. Die soziale Ähnlichkeit der beiden Familien verblasste
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
gegenüber den Unterschieden der Umgebungsfaktoren. Die Schülerin nannte nicht die
Gemeinsamkeiten, sondern betonte ihr Gefühl weitgehend nichts vom Land gesehen
zu haben und auf die Gastfamilie angewiesen gewesen zu sein. „Das Ganze war mit
wenig Spaß und anderen Leuten verbunden, eher dröge. USA habe ich mir vorher
anders vorgestellt.“
Die Erwartung der Gastschülerin an die Gastfamilie, die deutlich anders sein sollte, als
ihre eigene Familie, wurde in diesem Fall nicht erfüllt, jedoch konnte das die Schülerin
nicht als soziale Gleichheit erkennen, sondern empfand den Mangel an Reisen und
Spaß als störend.
Obwohl die große soziale Schnittmenge der beiden Familien nicht erkannt wurde, hatte
die Schülerin das Gefühl sich unproblematisch in die Gastfamilie integriert zu haben,
was sie ihren sozialen Fähigkeiten zusprach. Die Schülerin hatte während des Jahres
keine gravierenden Probleme und hat sich an die Gastsfamilie angepasst, indem sie ihr
Freizeitverhalten änderte und weniger mit Freunden unternahm.
Schule:
Die Schülerin hat die Senior- Klasse (Abschlussklasse) besucht und ihre Graduation
(Abschluss) gemacht. In die Schule ging sie regelmäßig, vor allem um andere Jugendliche zu treffen. Schulprobleme konnte die Schülerin nicht berichten: „Alles war
sehr einfach, wenn man in Deutschland lernen gelernt hat, dann konnte man dort alles
mit A bestehen.“ Einige der Schulaktivitäten, wie Sport in den frühen Morgenstunden,
oder am Wochenende, konnte sie nicht wahrnehmen, weil der Schulbus nicht so früh
kam, was sie als störend empfand.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Der Beruf des Vaters und des Gastvaters wurden nicht als vergleichbar wahrgenommen, weil die Arbeitsweise und Anwesenheit der beiden Väter zu Hause unterschiedlich war. Das Verhältnis zur Gastmutter litt an der von der Schülerin vorgetragenen Launenhaftigkeit der Gastmutter.
Die Einrichtung des Hauses wurde als anders beurteilt, vor allem weil ein anderer Geschmack vorherrschte und die Haushaltsgeräte viel größer waren. Der Umgang mit
Hygiene, wie tägliches Duschen und immer frische Kleider wurde als kulturell anders
eingeschätzt. Die Lage des Hauses wurde sogar als problematisch empfunden, weil
daraus Probleme beim Zusammenkommen mit Peers resultierten. Dennoch kann man
keine nennenswerten Probleme erkennen, die bis zu einem Familienwechsel, oder
Abbruch des Jahres hätten führen können, die Integration ist, nach Aussage der Schülerin, gelungen. Eine differenzierte Sicht dessen, was sie im Ausland gelernt hatte,
konnte die Schülerin nicht geben. Sie betonte, dass ihr Englisch sehr gut sei und sie
sonst auch noch einiges gelernt hätte.
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die Schülerin würde wieder ins Ausland gehen, weil es spannend ist und man eine
andere Sicht entwickelt, aber das nächste Mal würde sie ein anderes Land und einen
größeren Ort aussuchen.
Fallbeispiel 2 (Stipendienprogramm, Westeuropa)
Familie:
Die Schülerin verbrachte ein Jahr in Mittelwesteuropa bei einer Familie deren soziale
Ähnlichkeit durch den Beruf des Vaters und die Dummyvariablen „Geschwister“ groß
war, die Dummyvariable „Berufstätigkeit der Mutter“ divergierte.
Die Schülerin konnte, wie schon im ersten Fall, keine Gleichheiten zwischen ihrer deutschen und der Gastfamilie feststellen, allerdings auch keine Befremdungen. Sie hat
sich schnell in die Familie eingelebt und das deutlich andere Familienleben genossen,
weil sie als Gastschülerin alleine zu Hause war. Von den Gastgeschwistern lebte keiner mehr zu Hause, während die Schülerin in Deutschland die Aufmerksamkeit der
Eltern mit mehreren Geschwister teilen muss. Die konkurrenzlose Aufmerksamkeit der
Gasteltern war daher eine neue Erfahrung, die sie sehr genoss. Für die Schülerin war
dieser Unterschied so gravierend, dass alle anderen Gleichheiten der Familien unerheblich wurden. Durch die völlig andere Familienkonstellation waren auch die Kontrakte zu Peers und der Umgang innerhalb der Gastfamilie anders. Die Schülerin hat sich
an die Rolle des Einzelkindes angepasst, konnte aber keine Anpassungen an einen
anderen Lebensstil oder Habitus nennen.
Schule:
Die Schülerin hat die letzte Abschlussklasse des Gymnasiums im Ausland besucht und
das Abitur bestanden. Diese Tatsache ist so ungewöhnlich, weil der Abschluss in diesem westeuropäischen Land als besonders schwierig gilt, dass dies hinterfragt wurde.
Die Motivation in einer fremden Sprache einen nicht ganz leichten Abschluss zu erwerben konnten nicht ganz schlüssig ermittelt werden, die Schülerin hat lediglich ein „ich
habe es halt gemacht“ als Erklärung angeboten. Aus weiteren Schilderungen der Schülerin kann man schließen, dass sie Freude am Lernen mit den Gasteltern entwickelte.
Das gemeinsame abendliche Lernen und Erklären war eine intensive Betreuungszeit,
die sie sehr liebte und aus Deutschland nicht kannte. Die Schule und der Schulabschluss als Ziel des Lernens hatte eine verbindende Funktion zwischen Gasteltern und
Gasttochter. Hier ergibt sich eine deutliche Verknüpfung von Schule und Gastfamilie,
die in anderen Fällen nicht beobachtet werden konnte. Das Verhältnis der Schülerin zu
den Gasteltern war so gut, dass sie den Hausschlüssel der Gastfamilie nie zurückgegeben hat und aufgefordert wurde jederzeit wieder zu kommen. Probleme konnte die
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Schülerin weder aus der Familie, noch aus der Schule berichten. Die Schülerin schätzt
die Erfahrung des Auslandsjahres als sehr wertvoll ein.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Das Lernen im Ausland beschreibt die Schülerin wie folgt: „Man fällt ständig auf die
Schnauze und steht wieder auf weil man Missverständnisse durch Sprachprobleme
hat, Höhen und Tiefen und immer wieder Heimweh.“
Durch die anfänglichen Sprachprobleme und die damit verbundenen Missverständnisse konnte die Schülerin weder die soziale Gleichheit der Familien, noch die damit
verbundenen Integrationsbedingungen erkennen, ihre persönliche Erfahrung der ungeteilten Aufmerksamkeit der Gasteltern hat das Austauschjahr zu einem Ausnahmejahr
gemacht.
Wie außergewöhnlich das Jahr für sie gewesen sein muss und wie sehr sie auch nach
der Rückkehr mit der Verarbeitung beschäftigt war, kann man an dem Umstand erkennen, dass sie in Deutschland in die 11.Klasse zurückgegangen ist, anstatt mit der
12.Klasse weiter zu machen oder gleich zum Studium zu gehen. Mit dem sehr anerkannten Abitur, das sie im Ausland gemacht hat, wäre die sofortige Aufnahme eines
Studiums möglich gewesen. Der Hinweis auf ihr Heimweh nach der deutschen Familie
macht aber auch deutlich, dass sie die Reintegration in ihrer eigenen Familie braucht,
dennoch ist es ihr gelungen eine zweite Familie zu gewinnen und den Kontakt zu dieser zu pflegen.
Fallbeispiel 3 (Stipendienprogramm Osteuropa)
Familie:
Der Schüler wurde in einer Familie in Osteuropa platziert die nach dem Beruf des Vaters und den Dummyvariablen „Geschwister“ und „Berufstätigkeit der Mutter“ übereinstimmt. Die sozialen Gemeinsamkeiten zwischen Herkunfts- und Gastfamilie konnte
der Schüler nicht erkennen, vor allem weil er sich von der Gastmutter eingeengt fühlte,
die viele Aktivitäten wegen Ängstlichkeit verbot. Die eigene Mutter empfindet der Gastschüler dagegen als sehr anders und sehr locker. Dieser Unterschied war wichtiger, als
die sozialen Positionen der Familien. Den Gastvater schildert er als angenehmen Gesprächpartner über Fußball und andere wichtige Männerthemen, aber auch er ist keine
Vertrauensperson. Eine Vertaute hatte der Schüler außerhalb der Familie in einer
Schulfreundin gefunden. Diese Schulfreundin war ebenfalls im Ausland gewesen,
sprach Deutsch und half in schwierigen Situationen. Wie bereits in den anderen Fällen
konnte der Schüler die sozialen Gleichheiten nicht klar erkennen und hat seine Integration dadurch nicht als einfacher empfunden. Das Gastland und Deutschland unterscheiden sich im Einkommensniveau und im Lebensstandard. Ob diese Faktoren, die
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
in äußeren Bedingungen, wie weniger gut renovierte Häuser und schlechte Straßen
sichtbar sind auch den Blick auf die Gemeinsamkeiten trüben, wurde hinterfragt. Auf
die Frage «Gab es Unterschiede zwischen den Ländern die dir aufgefallen sind?»
nannte der Schüler die Herzlichkeit der Menschen im Gastland, ihre Gastfreundschaft
und das tolle Essen, während die Deutschen reservierter sein. Auf die Frage, ob die
Menschen in seinem Umfeld ärmer gewesen sein, als in Deutschland antwortete der
Schüler, dass Häuser und Wohnungen zwar anders aussehen, aber die Menschen
alles hätten, wie Radio, TV, Computer. Daher wollte der Schüler nicht behaupten, die
Menschen im Gastland seien ärmer.
Als wichtigern Unterschied gab der Schüler die Wochenendhäuser an, die viele Menschen besitzen und in denen die Jugendlichen an den Wochenenden feiern konnten.
Die Unterschiede des sozialen Umgangs waren dem Schüler wichtiger als materielle
Unterschiede.
Schule:
In die Schule ging der Teilnehmer regelmäßig, Probleme in der Schule wurden durch
Verständnis der Lehrer und einen reduzierten Stundenplan beseitigt. Als Fazit stellte
der Schüler fest:
Für die Schule muss man nicht so viel tun
Man hat mehr Spaß
Man kann die Sache lässiger angehen
Abstand zur Schule in Deutschland
Arbeiten in Deutschland sind Stress
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Die Anpassungen an die Gastfamilie konnte der Schüler nicht genau benennen. Allerdings konnte auch keine große Verunsicherung durch soziale Unterschiede festgestellt
werden. Der klare Fokus des Schülers auf die sozialen Umgangsformen im Weiteren
Umfeld der Familie, also mit Freunden und Bekannten, deutet darauf hin, dass der
Schüler mentale Unterschiede deutlich mehr wahrgenommen hat, als materielle. Aus
dieser Kontrasterfahrung kann er sowohl sozial, wie auch interkulturell gelernt haben.
Zu diesem Erfahrungsfeld gehört auch, dass der Schüler vom Austausch begeistert
und froh war nicht auf die Vorurteile der deutschen Freunde gehört zu haben, die ihm
den Austausch nach Osteuropa ausreden wollten. Alles in allem sei es ein tolles Jahr
gewesen und die Widereingliederung in Deutschland war unproblematisch.
Als Fazit nannte der Schüler ein für ihn persönlich wichtiges Jahr. Neben dieser pauschalen Einschätzung konnte er keine differenzierten und insbesondere minimalen
habituellen Unterschiede oder Lerngewinne benennen.
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.2.1.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Gleichheit
Zusammenfassend kann man feststellen, dass alle genannten Einzelfälle die soziale
Gleichheit der Herkunfts- und der Gastfamilie nicht wahrnahmen, sondern äußere oder
emotionale Unterschiede diese Gleichheit überdeckten. So kann eine andere Einrichtung oder die emotionale Distanz zur Gastmutter die soziale Gleichheit in den Hintergrund rücken.
Diese Ergebnisse können noch mit den anderen Gastschülerinnen überprüft werden
die ebenfalls in sozial ähnlichen Familien platzier wurden. So kann überprüft werden,
ob die soziale Gleichheit allgemein nicht wahrgenommen wurde, oder nur in Einzelfällen.
Tabelle 13: Wird soziale Gleichheit erkannt?
Umgang mit Mutter
2004
War gleich
3,7%
War etwas anders
27,7%
War ganz anders
46,3%
Habe meine Gastmutter nicht als Mutter wahrgenommen
22,2%
Umgang mit Vater
War gleich
5,5%
War etwas anders
20,4%
War ganz anders
3,7%
Es gab keinen Vater
Habe meinen Gastvater nicht als Vater wahrgenommen
5,6%
31,5%
Umgang mit Geschwistern
War gleich
4,6%
War etwas anders
27,1%
War ganz anders
37,0%
Hatte keine Geschwister
Habe ich nicht als Geschwister wahrgenommen
5,6%
25,9%
Aus den geringen Nennungen beim Vergleich der Gastmutter, des Gastvaters und der
Gastgeschwister und den hohen Anteilen der Antworten für „nicht als Vater/ Mutter/
Geschwister wahrgenommen“ kann geschlossen werden, dass die sozialen Ähnlichkeiten nicht erkannt wurden. Darüber hinaus zeugen diese Antworten von einer beträchtlichen Distanz zur Gastfamilie. 38,4% der Austauschschülerinnen nannten geringere
Freiheiten und die Kontrolle der Gasteltern als problematisch. Sie hätten sich im Austauschjahr mehr Freiheiten und weniger Kontrolle durch die Familie gewünscht, so
dass die Missachtung der Gasteltern z.T. zur Schaffung von Freiräumen benutzt wurde. 27,5% der Austauschschülerinnen fühlten sich wie Kinder und nicht wie Jugendli-
114
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
che behandelt und weitere 19,8% meinten sie hätten weniger Freiheiten als die Gastgeschwister gehabt. Je strenger die Gasteltern waren, desto schwieriger war auch das
Verhältnis zu den Gasteltern. In diesen Fällen dominierten die sozialen Aspekte das
Gastkind-Gasteltern-Verhalten und den täglichen Umgang. Die daraus resultierenden
Konflikte wurden als kulturelle Unterschiede wahrgenommen.
In der Mehrheit der Fälle neigen die Gastmütter, gegenüber den leiblichen Müttern,
weniger dazu den Gastkindern Vorschriften bezüglich Kleidung oder Frisur zu machen.
Lediglich 10,8% der Austauschschülerinnen gaben an immer wieder wegen Äußerlichkeiten angeeckt zu sein.
Die oben gestellte Frage, ob Gleichheiten erkannt werden, kann somit eher verneint
werden und die Fragen der Gruppe a) nicht beantwortet werden. Damit müssen auch
bei Schülerinnen, die in sozial ähnlichen Familien platziert wurden die Fragen der
Gruppe b) beantwortet werden.
Gibt es soziale Gleichheit nicht, oder wird sie übersehen?
Werden alle auftretenden Probleme als kulturelle Probleme verstanden?
Welches Einordnungssystem verwenden die Betroffenen um Unterschiede
zu klassifizieren?
Soziale Gleichheit wird übersehen, weil das Sensorium dafür fehlt, die Schülerinnen
wurden nicht darauf vorbereitet, dass es im Ausland gleiche Berufe und damit gleiche
soziale Bedürfnisse wie in Deutschland gibt. Auftretende Probleme wurden häufig als
kulturelle oder kulturell bedingte Probleme betrachtet, weil der Blick auf die interkulturellen Unterschiede ausgerichtet war und nicht auf habituelle. So konnten auch Vorurteile bestätigt werden, wenn z.B. aus dem Haus einer amerikanischen Familie geschlossen wird, alle Amerikaner leben abgelegen und ein Auto ist notwendig, dann
passen vorhandene Vorurteile und die eigene Erfahrung zusammen und andere Zusammenhänge werden nicht reflektiert.
3.2.2. Soziales und interkulturelles Lernen bei sozialer Ungleichheit von
Herkunfts- und Gastfamilie
Im Fall großer sozialer Unterschiede muss untersucht werden, ob die Wahrnehmung
der sozialen Unterschiede im direkten Umfeld die Wahrnehmung so beansprucht, dass
daneben andere Unterschiede der Länder wie die wirtschaftliche Entwicklung oder die
religiösen Bezüge in den Hintergrund rücken, weil die Jugendlichen zunächst die sozialen Unterschiede und deren Einfluss auf das tägliche Leben und den Umgang miteinander verarbeiten müssen.
115
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Ziel der Untersuchung ist
Werden die gravierenden sozialen Unterschiede erkannt und dann als solche
benannt?
Wenn die sozialen Unterschiede nicht erkannt werden, werden sie dann als
kulturelle Unterschiede klassifiziert?
Welche sozialen Unterschiede fallen eher auf, vom kulturellen zum ökonomischen Kapital, oder vom positiven zum negativen Gesamtkapital?
In dieser Untersuchung wird ein Vergleich des Wechsels von einem Quadranten in
Deutschland in unterschiedliche Quadranten im Ausland in den Mittelpunkt gestellt.
Wie bereits in den vorhergehenden Untersuchungen festgestellt, kam eine deutliche
Mehrheit der Teilnehmerinnen aus dem 2.Quadranten des sozialen Raumes. Daher
wurden die Jugendlichen so ausgewählt, dass eine Veränderung vom zweiten in den
ersten, dritten und vierten Quadranten verglichen werden kann. Ziel der Untersuchung
ist es Antworten auf die oben genannten Fragen zu erhalten.
3.2.2.1. Fallbeispiele
Für die Platzierungen in ungleichen sozialen Verhältnissen wurden so weit möglich
typische Beispiele ausgewählt.
Fallbeispiel 1 (von Quadrant II nach Quadrant I )
Familie:
Die Schülerin ist in Westeuropa zunächst in eine Übergangsfamilie gekommen. Diese
Lösung war notwendig, da eine Jahresfamilie nicht rechtzeitig gefunden werden konnte. Von dieser Übergangslösung war die Schülerin noch vor der Ausreise informiert
worden. Die Übergangsfamilie hatte nie die Absicht für ein ganzes Jahr zur Verfügung
zu stehen und dieses der Schülerin oder der Organisation mitgeteilt. Dennoch unternahm die Schülerin große Anstrengungen, um aus der Übergangsfamilie ihre Jahresfamilie zu machen und war sehr enttäuscht, als die beruflich stark engagierten Gasteltern den Familienwechsel forderten. Die Unsicherheit und der Wechsel verursacht der
Schülerin erheblichen Stress.
Die Suche nach einer neuen Familie gestaltete sich schwierig und aus Sicht der Schülerin für sie verletzend, da sie über das schwarze Brett der Schule vermittelt werden
sollte. Aus Sicht der Organisation ist die Art der Suche sinnvoll, weil man so eine Familie in der Nähe finden möchte, um neben dem Familienwechsel den Schulwechsel zu
vermeiden.
116
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die Schülerin war durch dieses, in ihren Augen unwürdige Vorgehen verletzt und fühlte
sich wie ein alter Schrank, der zum Kauf angeboten wird. Diese Einschätzung der Situation durch die Schülerin lässt vermuten, dass die Sprachkompetenz der Schülerin am
Anfang des Austausches nicht ausreichend war, um die Unausweichlichkeit des Wechsels zu realisieren. Die Organisation hat diesen Umstand und den damit verbundenen
Stress der Schülerin nicht richtig erkannt und daher auch nicht ausreichend betreut.
Schließlich wurde eine Familie gefunden, die allerdings so weit entfern wohnte, dass
ein Schulwechsel unvermeidbar war. In dieser Situation fühle sich die Schülerin deprimiert, falsch verstanden und wollte nur noch nach Hause. Ein Abbruch des Austauschjahres wäre möglich gewesen. Die Verunsicherung der Austauschschüler, die
nach wenigen Wochen wieder die Familie wechseln müssen, sollte daher nicht unterschätzt werden.
Der Abbruch des Austausches konnte verhindert werden, weil sich die neue Gastfamilie als Glücksfall erwies. Die Gastfamilie hatte ein riesiges Anwesen und ein eigenes
Pferd, der Kontakt zu den drei Gastschwestern und zur deutschstämmigen Gastmutter
war schnell hergestellt. Diese Familie schildert die Schülerin als Traumfamilie. „Es war
ein Traum, ich dachte ich bin im Märchen, es war so wie man sich das vorstellt.“ Die
Schülerin ist aus einer Problemsituation in einem Austauschtraum angekommen mit
allem Luxus und vielen Dingen, die sie zu Hause nicht hat. Sie ist überwältigt vom Lebensstil der Gastfamilie, kann aber die angeblich so schlechte Behandlung durch den
AFS beim Familienwechsel nicht vergessen.
Die Gastfamilie wird überschwänglich als perfekt geschildert, weil sie die Erwartungen
an eine ganz andere Familie im positiven Sinne erfüllt. Die Schülerin ist in der Lage,
den sozialen Unterschied als solchen zu erkennen und lebt ein Jahr lang ihren Traum
vom sozialen Aufstieg. Sie hat sich keine Gedanken gemacht welche kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Ländern auch ins private Familienleben hinein wirken
können, sondern bezeichnet den Austausch als perfektes Jahr mit ganz anderen Eindrücken als das in Deutschland möglich gewesen wäre. Die notwendigen Anpassungen an den anderen Lebensstil der Familie nimmt die Schülerin gerne vor, weil das
ihrem Wunschdenken entspricht.
Schule:
Die Schülerin meint durch ihre recht ordentlichen Sprachkenntnisse wäre die Schule
kein Problem gewesen. Der zunächst von ihr befürchtete Schulwechsel wird später
nicht mehr thematisiert, denn sie geht mit ihren Gastschwestern gemeinsam in die
Schule und findet dort Kontakt. Ihre Ambitionen in der Schule sind allerdings nicht sehr
ausgeprägt, sie nimmt an einem reduzierten Unterricht teil und bekommt keine Noten.
117
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Der Wechsel in eine Unternehmerfamilie mit erheblichem ökonomischen Kapital wird
als positiv und genau das beschrieben, was man im Austausch erleben will, denn hier
kann man den Luxus und die Annehmlichkeiten erleben, die man sonst nur im Fernsehen sieht. Die Schilderungen der Schülerin machen deutlich, dass sie einen Traum und
nicht unbedingt ein Auslandsjahr erleben wollte. Ihre Übertreibungen des von vornherein klaren Familienwechsels, wie die überschwängliche Wahrnehmung der zweiten
Gastfamilie und die kaum vorhandene Wahrnehmung außerfamiliärer Beziehungen
sind klare Indizien für diesen Traum. Ihre Überempfindlichkeit gegenüber der Organisation lassen eine tiefe Verunsicherung vermuten, die in der neuen Familie abgebaut
werden konnte, weil die Schülerin dort einen Schutzraum erhielt. Erst in dieser Umgebung, in der sie viele äußere Einflüsse ausblenden konnte, wird sie der Austauscherfahrung gerecht. Insgesamt kann man von einer unreflektierten und unreifen Schülerin
sprechen, die am Familienwechsel beinahe gescheitert ist.
Fallbeispiel 2 (von Quadrant II nach Quadrant III)
Familie:
Die Schülerin kommt aus einer Lehrerfamilie und wurde in Osteuropa in einem kleinen
Dorf platziert. Gastvater und Gastbruder sind arbeitslos, die Gastmutter sichert den
Lebensunterhalt. Am Anfang fühlt sich die Schülerin von der Familie ignoriert weil sie
meint von niemandem gegrüßt zu werden und der Kontakt auch sonst schwierig ist.
Das Zimmer muss sie mit der Gastschwester teilen und empfindet das als schwierig,
weil sie keinen privaten Rückzugsbereich hat. Auf die unangenehme Situation reagiert
die Schülerin mit eigenen Aktivitäten. So stellt sie selbständig den Kontakt zum AFS
her und versucht eine neue Gastfamilie zu bekommen. Ihre Bemühungen scheitern,
weil der AFS in diesem Land erst am Anfang des Aufbaus steht und noch keinen
Rückhalt bei den Ehrenamtlichen aufbauen konnte. Ein Familienwechsel ist in Komitees mit schmaler Ehrenamtlichenbasis immer sehr schwierig. Am Ende des Austauschjahres bewertet die Schülerin die Situation positiver und ist froh durchgehalten
zu haben, allerdings beschäftigen sie die ungewohnten Probleme auch nach der Rückkehr noch.
Die Probleme einer Familie mit arbeitslosem Bruder und Vater übersteigen den Erfahrungshorizont der Schülerin und sie fühlt sich durch die Organisation unzureichend
betreut. Ihre einzige Vertraute ist eine andere Gastschülerin, die mit ihr in dieselbe
Gastschule geht. Die Schülerin ist aktiv und kontaktfreudig, so dass ihr der Kontakt zu
anderen Jugendlichen im Dorf gelingt und sie sogar Hühnerkönigin wird.
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Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Schule:
Die Schülerin muss mit dem Bus in die Kreisstadt zur Schule fahren und geht regelmäßig hin. Sie nimmt an einem reduzierten Unterricht teil und konzentriert sich auf das
Erlernen der Landessprache. In der Schule kann sie außer einer anderen Gastschülerin keine Freunde finden, weil sie nach der Schule mit dem Bus wieder in das
Dorf der Gastfamilie zurückkehren muss, während die Schulfreundinnen in der Stadt
bleiben, oder in andere Dörfer müssen.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Wie die meisten anderen Schülerinnen hatte auch diese Schülerin keine klaren Vorstellungen was ein Auslandsjahr bedeuten kann. Sie ist von der konkreten Situation der
sozialen Unterschiede überfordert und geht aktiv an eine Veränderung heran. Auch
nach Abschluss des Jahres, wird ihre Wahrnehmung vor allem auf Negatives gerichtet,
innerhalb und außerhalb der Familie. „Die Camps waren total unorganisiert und wir
mussten uns selbst beschäftigen. Die Betreuer sind Kinder reicher Eltern die kein Interesse an der Zusammenarbeit mit uns Gastschülern hatten, die machten das aus Prestige.“
Das Lernen des Auslandsjahres fasst sie als die Erfahrungen zusammen, die sie im
selben Jahr in Deutschland nicht hätte machen können. Für sie sind das zwei Dinge:
einmal die Sprachkenntnisse und zum anderen die Freundschaft mit der anderen Gastschülerin. Obwohl die Situation stark verunsichernd gewesen sein muss, ist die Schülerin durch Eigeninitiative und Humor in der Lage die Probleme zu bewältigen. Über
sprachliche Missverständnisse kann sie genauso lachen, wie über eigene Fehler. Sie
hätte gerne mehr erlebt, in einer größeren Stadt und einer anderen Familie gelebt,
würde aber trotzdem jederzeit ins Gastland zurückkehren, nur nie wieder in ein Dorf.
Die Schülerin ist mit den sozialen Unterschieden der Gastfamilie zur eigenen Familie
überfordert und versucht die Situation für sich durch einen Familienwechsel positiv zu
beeinflussen. Die sozialen Unterschiede fallen ihr zwar auf, da sie aber im Austauschjahr keine Sozialabenteuer erleben will, verweigert sie sich anfänglich der Auseinandersetzung. Durch ihren Humor und durch persönliche Stärke steht sie das Jahr
ohne Verletzungen durch und macht nicht den Fehler die Gastfamilie als Blaupause
des ganzen Landes zu sehen.
Fallbeispiel 3 (Von Quadrant II nach Quadrant IV)
Familie:
Die Schülerin kommt aus einer gut situierten Familie und wird in eine osteuropäische
Handwerkerfamilie entsandt. Die Gastfamilie lebt in bescheidenen Verhältnissen und
119
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
trotz der offensichtlichen Unterschiede nimmt die Schülerin ihre Gastfamilie zunächst
sehr positiv war. Die Gastfamilie bemüht sich, der Gasttochter gerecht zu werden und
organisiert ein neues Bett und Musikstunden, was diese erkennt und honoriert. Dass
die Familie unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen lebt, als die eigene Familie,
nimmt die Schülerin wahr, ohne sich die Konsequenzen, wie z.B. finanzielle Engpässe
und geringeren Konsummöglichkeiten, klar zu machen. So spricht die Schülerin immer
wieder von „erschreckenden Unterschieden“, wie einem anderen Verhältnis zu Weihnachten und von ärmlichen Geschenken über die man übertriebene Freude erwartet.
Neben den materiellen Unterschieden bestürzt sie die andere Männerrolle in der Familie: „Meine Gasteltern haben mir sehr früh klar gemacht was ich zu tun habe und wer
der Chef ist. Hier ist der Mann noch der absolute Boss im Haus.“
Die Schülerin beugt sich den konservativen Verhältnissen und fängt bald an die Familie
umzuerziehen. Freudig erwähnt sie, der Gastvater habe im zweiten Halbjahr ihres Aufenthaltes das Essen gemacht und die Familie damit überrascht. Die Schülerin empfindet die Familie und die übrigen Verhältnisse als rückständig und altmodisch. Kulturelle Unterschiede kann sie nicht exakt von sozialen trennen und verfällt in die Ansicht,
was sie erlebt sei sehr typisch für das ganze Land.
Schule:
Die Schülerin nimmt an den schulischen Aktivitäten teil, kann aber von einigen naturwissenschaftlichen Fächern befreit werden. Sie geht regelmäßig in die Schule und
nimmt auch dort die Unterschiede wahr, wie einen altmodischen Frontalunterricht und
die wenig diskussionsfreudigen Mitschülerinnen und –schüler.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Die Schülerin kann nach dem Austauschjahr nicht immer genau zwischen Gastfamilie
und Gastland unterscheiden. So wird z.B. die konservative Rolle des Gastvaters als
Männerbild des ganzen Landes beschrieben. Die ärmlichen Verhältnisse der Familie
verleiten sie dazu das ganze Land für ärmlich und rückständig zu halten. Insgesamt
wirkt die Schülerin unreif und vereinfacht den Vergleich auf: „die Deutschen sind…“
und „die anderen sind...“. Intellektuell egozentrisch nimmt sie für sich in Anspruch eine
guten Einblick ins Land gewonnen und die Denk- und Handlungsmuster der Menschen
verstanden zu haben, so dass sie sich als Expertin des Gastlandes fühlt. Dass ihr Blick
auf das Gastland durch die im Einzelfall der Gastfamilie wahrgenommenen Dinge verstellt ist, nimmt sie nicht wahr. Unterschiede der Gastfamilie zur Herkunftsfamilie wertet
sie entsprechend als kulturelle Unterschiede und nicht als soziale.
120
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.2.2.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Ungleichheit
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Austauschschülerinnen unter den
z.T. deutlich anderen sozialen Umständen einen Sozialschock erleiden, den sie je nach
Persönlichkeitsstruktur besser oder schlechter verkraften. Nach den Einzelfalluntersuchungen stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse von den allgemeinen Untersuchungen bestätigt werden können.
Wie im Falle der sozial ähnlichen Platzierung, wurde auch von den Jugendlichen mit
sozial abweichenden Gastfamilien das Verhältnis zu Gastmutter, Gastvater und den
Gastgeschwistern erfasst.
Tabelle 14: Umgang mit der Gastfamilie bei sozialer Ungleichheit
Umgang mit Mutter
2004
gleich
4,2%
etwas anders
24,3%
ganz anders
42,2%
nicht als Mutter wahrgenommen
29,3%
Umgang mit Vater
gleich
3,9%
etwas anders
7,2%
ganz anders
48,3%
kein Vater
10,8%
nicht als Vater wahrgenommen
29,9%
Umgang mit Geschwistern
gleich
5,6%
etwas anders
20,1%
ganz anders
40,2%
keine Geschwister
nicht als Geschwister wahrgenommen
7,2%
28,9%
Die Nennung „Umgang mit der Gastmutter anders als mit der eigenen Mutter“ ist bei
42,2% der Befragten etwas niedriger als bei den Jugendlichen, die in einer sozial ähnlichen Familie platziert waren und die zu 46,3% einen anderen Umgang mit der Gastmutter angaben. In der Gesamtuntersuchung sind fast 30% der Jugendlichen, die sozial unähnlichen Familien platziert waren, der Meinung, sie hätten ihre Gastmutter nicht
als Mutter wahrgenommen, in der Gruppe der Jugendlichen mit sozial ähnlicher Platzierung waren es mit 22,2% erheblich weniger. Die Wahrnehmung des Gastvaters
zeitigt zwischen den Platzierungen von sozial ähnlichen und sozial unähnlichen Familien kaum Unterschiede. 29,9% der Jugendlichen in sozial unähnlichen und 31,8% der
Jugendlichen in sozial ähnlichen Familien nehmen den Gastvater jeweils nicht als sol-
121
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
chen war. Bei den Gastgeschwistern gibt es ebenfalls nur geringe Unterschiede. Die in
sozial ähnlichen Familien platzierten Jugendlichen nahmen zu 25,8% ihre Gastgeschwister nicht als Geschwister war und 28,9% der in sozial unähnlichen Familien Platzierten taten dies ebenfalls nicht.
Der Umstand, dass ein Drittel der Jugendlichen jeweils die Gastmutter, den Gastvater
oder die Gastgeschwister nicht als Bezugspersonen wahrnimmt, deutet auf ein innerlich distanziert Verhältnis und erhöhte Integrationsprobleme in den sozial unähnlichen
Familien hin, allerdings sind die Divergenzen zu den sozial ähnlichen Familien nur
bezüglich der Mutter deutlich und der Geschwister etwas größer. Neben der emotionalen Wahrnehmung der Gasteltern spielen in diesen Fällen die z.T. drastisch anderen
sozialen Verhältnisse eine große Rolle. Auf diese sozialen Unterschiede waren die
Schülerinnen nur bedingt vorbereitet.
3.3. Ausländische Gastschülerinnen in Deutschland
Neben den deutschen Austauschschülerinnen, die in Länder Ost- und Westeuropas
entsandt wurden, bestand die Möglichkeit alle Stipendiaten in Baden–Württemberg
während des Austausches zu befragen. Hauptanliegen der Untersuchung war es festzustellen, ob signifikante Unterschiede zwischen den deutschen Gastschülerinnen im
Ausland und denen in Deutschland bestehen. Die Unterschiede können sozial bedingt
sein, weil die Gastfamilien in Deutschland einer anderen Schicht angehört, als die Herkunftsfamilie, oder weil kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Unterschiede zwischen
dem Herkunftsland und Deutschland bestehen.
3.3.1. Soziale Gleichheit zwischen Gast- und Herkunftsfamilie
Wie in der Voruntersuchung gezeigt, konnten auch für die Austauschschülerinnen in
Deutschland soziale Überschneidungen zwischen den Schülerinnen und den Gastfamilien festgestellt werden. Hier werden zwei Fallbeispiele, eine Schülerin aus Westeuropa und eine aus Osteuropa, vorgestellt die relative soziale Nähe zwischen ihrer
Herkunftsfamilie und der Gastfamilie erlebt haben und diese werden dann mit der Gesamtuntersuchung unterlegt.
122
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.3.1.1. Fallbeispiele
Ein Vergleich der Gastschülerinnen die im Stipendium nach Deutschland gekommen
sind mit den deutschen Schülerinnen im Ausland, kann zeigen, ob es Unterschiede der
Wahrnehmung von sozialen Unterschieden zwischen Gast- und Herkunftsfamilie eventuell von der Nationalität abhängt.
Fallbeispiel 1 (Stipendiatin aus Westeuropa, II. Quadrant)
Familie:
Die Austauschschülerin kommt aus Westeuropa und erfüllt nach dem Kriterium „Beruf
des Vaters und Gastvaters“ die Voraussetzung der sozialen Gleichheit von Herkunftsund Gastfamilie. Die Dummyvariablen stimmen überein. Die Schülerin fühlt sich sehr
wohl und ist gerne in Deutschland, auch wenn sie alles als anders wahrnimmt, insbesondere erscheinen ihr die Deutschen als gut organisiert. Eine Ähnlichkeit oder sogar
Gleichheit der Gastfamilie zur Herkunftsfamilie kann sie nicht feststellen, da ihre Mutter
zu Hause ganz anders wäre und sich mehr um die Familie kümmern würde. Die Schülerin bemerkt, dass die deutsche Mutter eine andere, also deutsche Mentalität hätte,
wenn die Gastmutter z.B. immer wieder fragt was in der Schule los war, aber dann
nicht zuhört, wenn ihr die Schülerin eine Antwort gibt. Mit dem Gastvater hat die Schülerin kaum Kontakt, weil er viel unterwegs ist, oder alleine zum Sport geht. Unterschiede hat die Schülerin beim Umgang innerhalb der Familie, wie auch außerhalb festgestellt. Die Menschen wären alle weniger kontaktfreudig als im Herkunftsland, was für
die Schülerin ein Problem ist. Die Schülerin stimmt zwar zu, dass die Gast- und Herkunftsfamilie andere Lebensstile und ein anderes Verhalten hätten, kann aber keine
Beispiele nennen. Ihre Ausführungen sind oberflächlich, eine Reflexion der Unterschiede und Gleichheiten hat bisher bei der Schülerin nicht stattgefunden.
Schule:
In der Schule kann die Schülerin kaum Freunde gewinnen, weil die Deutschen zum
Lernen oder anderen Aktivitäten nach der Schule schnell weg müssen und keiner Zeit
für sie hat. Die Schülerin hat einen reduzierten Stundenplan und kann die Deutschstunden von mehreren Klassenstufen besuchen, um möglichst viel in Deutsch zu lernen. Dieses Angebot nutzt sie, bedauert aber nicht wie eine normale Schülerin behandelt zu werden. Der Kontakt zur Klasse wird durch diesen Sonderstundenplan erschwer, so dass sich die Gastschülerin nicht als gut integriert bezeichnet. Ihre
Deutschkenntnisse sind sehr gut, aber sie fühlt sich keiner Klassengemeinschaft zugehörig.
123
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Die Schülerin empfindet subjektiv emotionale Unterschiede und kann Gemeinsamkeiten nicht wahrnehmen. Insbesondere die Kontaktprobleme in der Schule machen ihr
zu schaffen und nagen am eigenen Selbstbewusstsein. Anpassungen des Äußeren
durch Kleidung, Frisur oder Schmuck hat die Schülerin nur verhalten vorgenommen
und dann vor allem, um in der Schule weniger als Ausländerin aufzufallen. Eine erleichterte Integration in der Familie durch soziale Gleichheit ist nicht feststellbar, die Schülerin fühlt sich einsam.
Fallbeispiel 2 (Stipendiatin aus Osteuropa)
Familie:
Die Schülerin kommt aus Osteuropa und erfüllt die Kriterien der sozialen Gleichheit
nach dem Beruf des Vaters. Die Dummyvariable „Geschwister“ stimmt nicht überein,
die leiblichen Eltern sind geschieden, sie lebt bei der Mutter und hat regelmäßigen
Kontakt zum Vater, die Gasteltern leben zusammen.
Die Schülerin und ihre Gastfamilie verbindet neben dem Beruf des Vaters vor allem ein
Hang zu denselben Sportarten. Beide, die Gast- und die Herkunftsfamilie, sind sehr
aktiv und praktisch jedes Wochenende bei sportlichen Aktivitäten unterwegs. Die Frage
nach der Gleichheit der beiden Familien beantwortet die Schülerin negativ, schon der
Umstand, dass in Deutschland Vater und Mutter zusammen wohnen, wird als anders
empfunden. Besonders das Verhältnis zur leiblichen Mutter sei schwieriger als das
Verhältnis zur Gastmutter, die besser zuhören kann als die eigene Mutter.
Die Schülerin sieht noch andere Unterschiede. Während ihre Familie sportliche Aktivitäten wie mountain biking, Skifahren oder Wandern vor allem in der näheren Umgebung ihres Heimatortes macht, ist die deutsche Familie in den deutschen und französischen Alpen unterwegs. Diese Ziele kann sich die Herkunftsfamilie nicht leisten,
die Preisniveauunterschiede zwischen den Mittelosteuropäischen und Westeuropäischen Ländern sind hoch. Die Schülerin empfindet daher ihre Gastfamilie, verglichen
mit der eigenen Familie, als reicher. Die Häuser in Deutschland sind neuwertiger und
sauberer als sie das von zu Hause kennt. Neben den anderen Verhaltensweisen der
Mütter und den Zielorten des Sports sind die finanziellen Unterschiede ein Hauptkriterium für die empfundenen Unterschiede.
Schule:
In der Schule kommt die Schülerin gut zu Recht, weil sie die deutsche Schule und besonders die naturwissenschaftlichen Fächer als leicht empfindet. Sie nimmt am normalen Unterricht der elften Klasse teil und ist in der Klasse ihrer Gastschwester, die das
124
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Jahr in USA verbringt, gut integriert. Obwohl die Schülerin keine Kontaktprobleme in
der Schule hat, kann sie öfters nicht mit den Mitschülerinnen ins Kaffee oder abends in
die Diskothek gehen, weil ihr dafür das Geld fehlt.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Die Schülerin sieht mehrheitlich die Unterschiede zwischen ihrer als arm und der als
reich empfundenen Gastfamilie. Die finanziellen Unterschiede sind hier dominierend,
weil auch schulische Kontakte und die Wochenendaktivitäten mit den Schulfreundinnen
an Geldknappheit scheitern. Auch die von AFS angebotenen Aktivitäten scheitern,
wenn es nicht finanzielle Hilfe gibt, oder die Gastfamilie finanziell aushilft. Der Schülerin
ist dieser Umstand sichtlich peinlich. Die leibliche Mutter schickt regelmäßig Pakete mit
Pflege- und Verbrauchsartikeln, die in Deutschland horrend teuer sind, so kann die
Schülerin Taschengeld einsparen.
Der größte Effekt des Austausches sei für sie der „eigene Blick auf ein anderes Land“,
also nicht die 'second hand' Meinung von Anderen, aus Zeitungen oder dem Fernsehen, sondern der eigene persönliche Kontakt zu konkreten Menschen erleichtere für
sie das Verständnis für einen schwierigen Nachbarn. Die geographische Nähe des
Herkunfts- und Gastlandes empfindet sie als großen Vorteil, so kann man auch später
Kontakt halten und sich wieder sehen.
Die Schülerin ist froh in den Austausch gekommen zu sein, ohne Stipendium wäre ihr
der Weg zu dieser Erfahrung verbaut gewesen.
3.3.1.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Gleichheit
Die Einzelinterviews können, wie im Fall der deutschen Austauschschülerinnen, mit einer Übersicht der empfundenen Ähnlichkeiten ergänzt werden, so dass neben den
Einzelfällen auch gemeinsame Grundlinien erkennbar werden.
Die Austauschschülerinnen kamen zu 10,6% aus Westeuropa (Italien, Frankreich),
32,3% aus Südeuropa (Spanien, Kroatien), 19,4% aus Nordeuropa (Finnland und Lettland) und 38,7% aus Osteuropa. Die Gleichheit des Umgangs mit der Gastmutter und
den Gastgeschwistern wird höher angegeben als bei den deutschen Rückkehrerinnen,
die bei ca. 6% lagen. Hier handelt es sich um subjektive Empfindungen, die schwer zu
vergleichen sind, aber wichtige Aspekte und hohen Erkenntniswert im Prozess des
sozialen Lernens ermöglichen. Die Angaben können daher die empfundenen Unterschiede und die Problematik einer absoluten Messung – wie bei Hammer - nochmals
verdeutlichen.
125
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Tabelle 15: Umgang mit der Gastfamilie bei soziale Ähnlichkeit
Umgang mit Mutter
2004
Gleich
18,2%
Ähnlich
27,3%
Ganz anders
27,3%
Nicht als Mutter wahrgenommen
27,3%
Umgang mit Vater
Gleich
Ähnlich
Ganz anders
Kein Vater
Nicht als Vater wahrgenommen
8,3%
8,3%
41,7%
0,0%
33,3%
Umgang mit Geschwistern
Gleich
16,7%
Ähnlich
8,3%
ganz anders
25%
keine Geschwister
8,3%
nicht als Geschwister wahrgenommen
41,6%
Die ungleiche Wahrnehmung der Gastmütter mit 27,3% liegt gegenüber den deutschen
Schülerinnen, die in sozial ähnlichen Familien platziert waren, um ca.2% höher. Die
Wahrnehmung der Gastväter mit 33,3% als keine Bezugsperson ist hoch und daher mit
den Angaben der deutschen Austauschschülerinnen vergleichbar.
Dagegen ist die Wahrnehmung der Gastgeschwister mit 41,6 % als „nicht als Geschwister wahrgenommen“ sehr hoch. Bei den deutschen Schülerinnen lag die Quote
bei 30%. Die Gründe für die negative Wahrnehmung sind zum Teil im Altersunterschied der Gastschülerinnen zu den Gastgeschwistern zu suchen. Wohnen die Gastgeschwister nicht mehr zu Hause, dann werden sie auch nicht als Gastgeschwister
wahrgenommen. Allerdings berichten manche Eltern von Eifersucht und Neid der eigenen Kinder gegenüber dem Gastkind, so dass es unter den Kindern zu Streit und Problemen kommt.
Die Überprüfung der Situation der Gastschülerinnen in den deutschen Gastfamilien
ergab deutliche Fremdheitsgefühle. Das deutsche Familienleben wurde im Vergleich
zur eigenen familiären Erfahrung als sehr anders empfunden. Die folgenden Aussagen
beleuchten kurz welche Unterschiede von den Jugendlichen wahrgenommen werden.
„In Deutschland hat er [Gastvater] weniger (oder keine) Autorität!“ (18,m Westeuropa)
„Er (Gastvater) ist viel mehr beschäftigt, als mein Vater, weiß nie was seine eigenen
Tochter machen, nimmt sich kein Zeit mit ihnen zu sprechen, interessiert sich nur für
126
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
seine Fachgebiet, sehr ungeduldig, kennt nur Witze, die etwas sexistisch sind. (Die
Frauen kommen immer ein bisschen blöd vor).“ (16,w Osteuropa)
„Er ist Bauer, also meist daheim. Er regelt alles im Hause, er ist „head of the family“ .
Aber ich kann mit meinem leiblichen Vater mehr reden.“ (16,w Osteuropa)
Die Gastväter wurden distanziert, manchmal freundlich distanziert betrachtet und lediglich in einem Fall als sexistisch. Die häufigsten Irritationen bei den Gastmüttern resultierten aus der regelmäßigen Rückfrage nach dem Befinden der Gastschülerin. Die
Gastschülerinnen waren verblüfft, dass sie jeden Tag nach der Schule gefragt wurden
wie es in der Schule war. Dieses regelmäßige Hinterfragen der immer gleichen Situation überforderte und ärgerte sie, weil sie das auch als Einbruch in ihr Privatleben empfanden. Die folgenden Einzelaussagen geben wieder nur einen kurzen Eindruck:
„Die [Gastmutter] labert zu viel, die kocht nicht, die kann nicht sehr gut Auto fahren.“
(18,m Osteuropa)
„Sie ist ein bisschen kalt. Sie ist nicht so wie meine echte Mama. Meine Mama ist ganz
lieb, für sie die Kinder sind die ganze Welt, sie liebt einfach alle Kinder. Die von
Deutschland ist irgendwie anders, wie ein Mann oder so was. Für sie ist ihr Mann wichtiger, als Kinder, glaube ich.“ (17,w Osteuropa)
„Gastmutter zu nett, konservativ, versteht mich nicht
.... nicht verständlich.“ (16,w Südeuropa)
Als kulturell fremd und sehr deutsch wurden Spielabende mit der Gastfamilie empfunden. Zwei Drittel der Gastschülerinnen kannten das Spiel „Die Siedler von Kathan“, weil
sie es regelmäßig mit der Gastfamilie spielten. Die Bemühungen der Gastfamilien den
Gastkindern Gemeinschaft und Geselligkeit zu vermitteln, wurden eher negativ gesehen. 64% der befragten Schülerinnen gaben „Gemütlichkeit“ als großen kulturellen Unterschied an. Diese besondere Art des Zusammenseins hatte für die Schülerinnen eine
sehr deutsche Konnotation, über die sie entweder lächelten oder die sie als fremd empfanden. Die mit der deutschen Art von Gemütlichkeit verbundenen Emotionen können
nicht ohne weiteres von Ausländern nachempfunden werden.
3.3.2. Soziale Unterschiede zwischen Gast- und Herkunftsfamilie
Insgesamt dreißig Schülerinnen, die im Jahr 2003-2004 in Deutschland waren, mussten in einer Familie platziert werden, die soziale Unterschiede zur Herkunftsfamilie
aufwies. Die Einzelinterviews beleuchten Details und eine Gesamtuntersuchung den
Zusammenhang über alle dreißig Schülerinnen.
127
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.3.2.1. Fallbeispiele bei sozialer Ungleichheit
Die ausgesuchten Fallbeispiele nicht repräsentativ, da der Arbeit entsprechende soziale Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu berücksichtigen waren. Die Schülerin aus Westeuropa musste vom ersten Quadranten mit hohem ökonomischem Kapital in den zweiten Quadranten mit hohem kulturellem Kapital wechseln, während die Schülerin aus
Osteuropa aus dem ersten Quadranten in den dritten Quadranten mit negativem Gesamtkapital gewechselt ist.
Fallbeispiel 1 (Aus Westeuropa, Wechsel Quadrant I nach Quadrant II)
Familie:
Die Gastschülerin kommt aus stabilen Verhältnissen eines Kleinunternehmers und hat
zwei Geschwister. In Deutschland ist sie bei einem Lehrerehepaar mit zwei Kindern
platziert. Das Verhältnis zu den Gastgeschwistern ist distanziert, weil diese deutlich
jünger sind. Sie unternimmt nur wenig mit den Gastgeschwistern, vor allem weil die
Gastmutter viele Aktivitäten macht und so wenig Zeit bleibt. Sie sieht einige Unterschiede zwischen ihrer Familie und der Gastfamilie, wie den Umgang miteinander. Die
häufigen Nachfragen was die Schülerin mache, wohin sie gehe, mit wem sie zusammen sei, seitens der Gastmutter, irritieren und verunsichern sie. Zuhause wäre das
nicht so, ihre Mutter hätte keine Zeit sich dafür zu interessieren. Die Gasteltern sind
deutlich jünger als ihre eigenen Eltern, was einerseits interessant ist, andererseits eben
irritierend, da die Schülerin mehr Informationen weitergeben muss. Für die Gasteltern
ist eine fast erwachsene Gasttochter einerseits spannend, andererseits haben sie keine eigene Erfahrung im Umgang mit dieser Altersgruppe, so dass häufiges Nachfragen
notwendig ist. Die Gastfamilie unternimmt nichts mit der Gasttochter, weil das eigene
Familienleben sehr durchgeplant zu sein scheint und viele Aktivitäten mit den eigenen
Kindern Zeit binden. Ein vertrauensvolles Verhältnis kann nicht aufgebaut werden.
Die Schülerin ist außerhalb der Gastfamilie sehr aktiv. Sie trifft sich mit anderen Gastschülern, wie auch mit deutschen Freunden, geht in die Diskothek und ins Kino. Ihre
Probleme löst sie durch Gespräche mit anderen Austauschschülern und ihrer Betreuerin, die sich von Anfang an sehr gut um sie kümmert und regelmäßige Treffen vereinbart. Durch die völlig andere Familienkonstellation kann die Schülerin die sozialen
Unterschiede nicht erkennen. Die zeitintensive Betreuung der kleinen Kinder empfindet
sie als kulturell unterschiedlich und meint in ihrem Heimatland werden Kinder anders
behandelt. Das größte Problem ist auch nach einem halben Jahr in Deutschland Heimweh, das sie regelmäßig überkommt.
128
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Schule:
Die Schülerin ist in der 11.Klasse eingestuft und geht nach eigenen Angaben regelmäßig zum Unterricht. Im Vergleich zur Heimatschule erscheine ihr der Unterricht in
Deutschland unspezifisch und sehr generalistisch. Insgesamt fühlt sie sich in der Schule unfrei. In der Heimatschule könne sie ihr Lernen mehr selbst organisieren und gestalten. Einen besonderen Stundenplan hat ihr die Schule nicht angeboten, so dass sie
in einer Klassengemeinschaft eingebettet ist.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Die Position im sozialen Raum der deutschen Familie geht mit einer sehr intensiven
Betreuung der eigenen Kinder einher, die viel Zeit der Gastmutter beansprucht. Die
noch jungen Gasteltern sind mit den Problemen von Teenagern nicht vertraut und reagieren daher mit häufigen Nachfragen, die als Kontrolle seitens der Jugendlichen missverstanden werden. Dieser Unterschied ist für die Schülerin deutlicher spürbar, als die
unterschiedliche soziale Klasse. Sie kommt mit dem anderen Familienleben jedoch
zurecht und sieht ihre Gastfamilie als typisch deutsch an. Ob in anderen Familien auch
andere Verhaltensmuster möglich oder üblich sind, kann die Schülerin auf Nachfragen
nicht beurteilen.
Fallbeispiel 2 (Aus Osteuropa, Quadrant I nach Quadrant III)
Familie:
Die Gastschülerin kommt aus einem Kleinunternehmerhaushalt und ist in Deutschland
in der Familie eines Angestellten platziert. Die materiellen Unterschiede fallen der
Gastschülerin eher generell, denn spezifisch in der Gastfamilie, auf. Im Vergleich zum
Herkunftsland erscheint ihr Deutschland wesentlich reicher. Zwar ist ihr im Vergleich zu
anderen Gastschülerinnen klar, dass es auch in Deutschland Familien mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen gibt und ihre Gastfamilie nicht zu den Reichen gehört,
aber sie ist mit den materiellen Verhältnissen ihrer Gastfamilie sehr zufrieden. Die
Gastfamilie bemüht sich der Schülerin etwas zu bieten, geht mit ihr ins Kino, in die
nahe gelegene Großstadt und ins Kaffee. Dennoch ist die Schülerin verunsichert und
meint immer sie könne den Erwartungen der Familie nicht genügen. Sie kann aber
nicht sagen welche Erwartungen der Gastfamilie sie nicht erfüllt. Ein Gespräch darüber
fand nicht statt.
Ihr Kontakt zu anderen Gastschülern und Schulfreunden ist gut, aber im Herkunftsland
fühlt sie sich selbständiger, als in Deutschland. Zu Hause müsse sie mehr selbst entscheiden und unternehmen, als in Deutschland, weil ihre Eltern weniger Zeit für sie
haben. Die Schülerin hat zum Teil deutliche Veränderungen an Haaren und Schmuck
vorgenommen. Ihre finanzielle Ausstattung lässt nicht mehr zu, weil ihr die Eltern nicht
129
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
mehr Taschengeld geben können und in Deutschland alles, wie z.B. der Friseur, sehr
teuer sei. Ihr oberstes Ziel ist die Anpassung, um nicht als Ausländerin überdeutlich
aufzufallen.
Schule:
Die Schülerin ist in Kursen der 12. und 13. Klasse eingestuft. Durch diese zerrissene
Einstufung ohne eine klare Klassengemeinschaft ist der Kontakt zu Mitschülern schwierig, gelingt aber zu einigen Mitschülerinnen dennoch ganz gut. Die Schule empfindet
die Schülerin als eher einfach.
Fazit zum sozialen und interkulturellen Lernen:
Das Wichtigste, was sie in Deutschland gelernt habe, sei auf Menschen zuzugehen
und mit neuen Leuten zu sprechen. Das habe ihr auch in der deutschen Schule geholfen. Die Kontakte zur Betreuerin sind nicht eng, aber sie glaubt im Falle eines Problems auf jeden Fall Hilfe zu bekommen, nur ihre Familie könnte vielleicht mehr Hilfe
brauchen.
Die Schülerin sieht mehr die generellen Unterschiede zwischen dem Gast- und dem
Herkunftsland, statt spezifischer Unterschiede zwischen der Gast- und Herkunftsfamilie. Die Lebens- und Einkommensverhältnisse zwischen beiden Ländern empfindet
sie als deutlich anders und diese Wahrnehmung überlagert den Blick auf andere Unterschiede, wie die soziale Schicht von Gast- und Herkunftsfamilie. Die soziale Anpassung hat die Schülerin auch durch eigene äußere Veränderungen gut gemeistert und
ihre Kommunikationsmöglichkeiten deutlich gesteigert.
Die Beispiele belegen den bereits bei den deutschen Schülerinnen festgestellten Eindruck, dass die Wahrnehmung durch optische und akustische Eindrücke dominiert wird
und soziale Unterschiede von Gast- und Herkunftsfamilie kaum wahrgenommen werden. In manchen Fällen werden die Unterschiede des Alters der Gasteltern im Vergleich zu den eigenen Eltern oder ein deutlich anderer Umgang der Eltern mit den Kindern wahrgenommen, vor allem wenn die Schülerinnen davon in ihren Augen negativ
betroffen sind. Soziale Unterschiede oder Gleichheiten können auch von dieser Gruppe
nicht benannt werden, weil der Blick dafür nicht geschärft wurde.
130
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.3.2.2. Gesamtuntersuchung bei sozialer Ungleichheit – Stipendiatinnen
in Deutschland
Die Einzelerfahrungen werden durch eine Zusammenstellung der ausgewerteten Daten
ergänzt. Die Unterschiede zu den sozial ähnlichen Familien sind im Stipendienprogramm, wie schon im Regelprogramm, gering. Man kann feststellen, dass die Unterschiede und nicht die Gleichheiten die Wahrnehmung bei allen befragten Schülerinnen
dominieren.
Tabelle 16: Umgang mit der Gastfamilie bei sozialen Unterschieden
Umgang mit Mutter
2004
Gleich
16,7%
Ähnlich
25,0%
Ganz anders
25,0%
Nicht als Mutter wahrgenommen
33,3%
Umgang mit Vater
Gleich
4,2%
Ähnlich
12,5%
Ganz anders
54,2%
Kein Vater
Nicht als Vater wahrgenommen
0%
29,2%
Umgang mit Geschwistern
Gleich
8,3%
Ähnlich
16,6%
ganz anders
25%
keine Geschwister
8,3%
nicht als Geschwister wahrgenommen
41,6%
Mit über 40% ist die Nennung „nicht als Mutter wahrgenommen“ sehr hoch, höher als
bei sozial ähnlichen Familien in denen sie bei 33,3% lag. Die Gastgeschwister können
auch hier mit über 40% keine integrative Position einnehmen.
Die Gründe für die distanzierte Wahrnehmung der Geschwister kann wieder die bereits
genannten Gründe haben, allerdings sind in dieser Untersuchungsgruppe 50% der Befragten ohne Geschwister aufgewachsen und haben keine Erfahrung mit Geschwistern.
In diesen Fällen kann eine Illusion über den großen Bruder oder die kleine Schwester
in der Austauschrealität enttäuscht worden sein.
Aus den Einzelfällen wurde deutlich, dass die Gastmütter als Kontrollinstanzen wahrgenommen werden und damit ein negatives Image bei den Gastschülerinnen erwerben.
Allerdings darf man die Aussagen „Anders“ nicht nur als negative Einschätzung inter-
131
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
pretieren. Die Gastmutter kann auch im positiven Sinne als anders wahrgenommen
und wert geschätzt werden. Die folgenden Zitate geben einen Überblick.
„Sie [Gastmutter] ist viel jünger, als meine echte Mutter, ihre Hobbys sind auch anders.
Meine Gastmutter ist Deutsche, ihr Charakter ist auch anders. Die Beziehung ist auch
anders, die Beziehung mit meine Gastmutter ist mehr wie eine Freundin.“ (18,w Südeuropa)
„Ihre [Gastmutter] Art Probleme zu lösen – viel offener.“ (18,m, Südeuropa)
Wenn es gelingt die Gastmutter als Freundin zu gewinnen mit der man über Dinge
reden kann, über die man mit der leiblichen Mutter nicht sprechen konnte, dann ist das
ein positiver Unterschied.
Die Gastväter werden auch in dieser Gruppe entweder als gestresste Abwesende oder
als harmlose Anwesende wahrgenommen.
„Mein Papa ist stark. Er hat eine entscheidende Rolle in der Familie und wir haben ein
besonderes Verhältnis, er ist sehr wichtig für mich. Mein Gastvater spielt viel mit uns
und ist sehr hilfsbereit, aber wenn ich einen Ratschlag brauche oder ein Problem habe,
wende ich mich an meine Gastmutter.“ (18,w, Osteuropa)
„Er lebt noch...“(18,m, Osteuropa)
Die Unterschiede zwischen den deutschen Gastschülern im Ausland und den ausländischen Stipendiaten in Deutschland sind gering und die Probleme sind sich sehr ähnlich. Daraus kann man schließen, dass es allgemeine Problemen des Austausches
gibt, die von der Nationalität der Austauschschülerinnen unabhängig sind.
Insgesamt spielen die Erwartungen der Jugendlichen an ein besonders spannendes
Jahr eine große Rolle. Diese Erwartungen können zwar kaum richtig benannt, nichts
desto trotz aber vielfach enttäuscht werden. Die materiellen Unterschiede haben die
Wahrnehmung der Schülerinnen, wie bereits gezeigt, beeinflusst. Schülerinnen aus
ärmeren Ländern nehmen Deutschland allgemein und ihre Familie im Besonderen als
reich wahr, während deutsche Schülerinnen in ärmeren Ländern alles als allgemein
ärmer und ihre Gastfamilien als rückständiger wahrnehmen. Insofern hat der Lebensstandard des Gastlandes einen deutlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Schülerinnen im Austausch und die Clusterung ist sinnvoll.
132
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
3.4. Fazit der empirischen Überprüfung
Die Anfangshypothese der Untersuchung folgte der Annahme, dass interkulturelles
Lernen immer auch soziales Lernen sei. Die Analyse der Austauschschülerinnen nach
der Platzierung im sozialen Raum ergab zwei Gruppen, einmal die mit einer sozial ähnlichen Ausprägung der Gast- und Herkunftsfamilie und zum Andren die mit einer sozial
sehr unähnlichen Verortung von Gast- und Herkunftsfamilie.
Zu Beginn des Kapitels wurde festgestellt, dass es mit 60% eine relativ hohe Überschneidung der Gast- und der Herkunftsfamilien gibt, in der Austauschrealität aber
lediglich zwischen 20% und 30% der Schülerinnen in sozial ähnlichen Gastfamilien
platziert werden. Dafür gibt es mehrere Gründe, zum einen ist die Feststellung der
sozialen Ähnlichkeit z.B. mit Bourdieu bisher nicht vorgenommen worden, so dass eine
andere Betrachtung der sozialen Ähnlichkeit in der Austauschorganisation vorherrscht.
Neben der Platzierungspraxis des AFS spielt die Freiheit der Gastfamilien ein Gastkind
nach eigenen Kriterien auszusuchen eine wichtige Rolle. Zunehmend muss der generelle und weltweite Mangel an Gastfamilien ein deutlicher Einschränkungsgrund bei der
Auswahl der Gastfamilien. Daher stellt sich zum Schluss des Kapitels die Frage welche
Erkenntnisse aus Bourdieus Verankerung im sozialen Raum gewonnen werden können
und ob durch die Ergebnisse eine Verbesserung der Austauschpraxis abgeleitet werden kann.
3.4.1. Soziale Gleichheit und ihr Einfluss auf das soziale Lernen
Wurde soziale Gleichheit nach dem Kriterium des Berufes der Väter zwischen der Herkunfts- und der Gastfamilie bei den Schülerinnen des Regelprogramms und des Stipendienprogramms festgestellt, dann kann für beide Programme folgendes festgestellt
werden:
Soziale Gleichheit wird nicht bewusst erkannt, weil sie nicht erwartet wird.
Unterschiede werden stärker wahrgenommen als Gleichheiten.
Persönliche Beziehungen stehen im Vordergrund der Austauscherfahrung.
Die Mehrheit der Schülerinnen ist nicht in der Lage die sozialen Ähnlichkeiten der Gastfamilie zur eigenen Familie wahrzunehmen, weil sie durch die Austauschorganisation
auf diese Ähnlichkeiten nicht vorbereitet sind. Die wahrgenommenen Unterschiede
werden an fremden optischen Eindrücken, der Fremdsprache und anderen Beziehungen zur Gastfamilie festgemacht. Die Wahrnehmung des Fremd- und Andersartigen ist
deutlich besser vorbesetzt, als die Wahrnehmung des Ähnlichen und Gleichwertigen.
133
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die Gastmutter ist in der Austauschsituation die stärkere Bezugsperson, während der
Gastvater in allen untersuchten Gruppen kaum als Bezugsperson wahrgenommen
wird. Kann die Gastmutter nicht als Vertrauensperson gewonnen werden, dann werden
Freunde, meistens andere Gastschüler als Vertrauenspersonen genannt.
Die Wahrnehmung der Gleichheit von Gastfamilie und Herkunftsfamilie nach dem Kriterium der Verankerung im sozialen Raum gehört nicht zum Erwartungsrepertoire der
Schülerinnen, die mehrheitlich die Erwartung einer möglichst andersartigen Gastfamilie
zur Herkunftsfamilie genannte hatten. Das Vorbereitungskonzept des AFS basiert nicht
auf der Wahrnehmung sozialer Vergleichskriterien, sondern stellt Unterschiede in den
Vordergrund und wertet diese generell als kulturell. Das Kulturmodell des Eisbergs, wie
im ersten Kapitel vorgestellt, ermöglicht dabei keinen differenzierten Umgang mit Unterschieden und verbaut die Sicht auf Gleichheiten.
Da die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Familien nicht erkannt werden, können auch
keine feinen Unterschiede der habitualisierten Formen, wie sie aus der sozialen Verankerung folgen, erkannt und gelernt werden. Weder können die Austauschschülerinnen
unterschiedliche Kapitalausstattungen vergleichen, noch habituelle Anpassungen gezielt vornehmen und verbalisieren. Ein soziales Lernen im engeren Sinne kann bei
keinem der Befragten festgestellt werden. Vielmehr wurden optische Unterschiede
überdeutlich wahrgenommen, ohne z.B. die technische Gleichwertigkeit der Wohnungsausstattung erkennen zu können.
Folgerichtig geben die Austauschschülerinnen an, der wichtigste Lerneffekt im Ausland
war das Lernen der Sprache, sowie persönlich wichtige Erfahrungen.
Auffällig ist in den Fällen der sozialen Gleichheit eine geringe Problemquote. So berichten weder Teilnehmerinnen im Regel-, noch im Stipendienprogramm, noch die ausländischen Gastschülerinnen von so gravierenden Problemen, dass ein Familienwechsel
notwendig geworden wäre. Diese Tatsache spricht für eine einfachere Integration, bei
geringen sozialen Unterschieden durch geringere kognitive Dissonanzen und allgemeine Verunsicherungen.
3.4.2. Soziale Ungleichheit und ihr Einfluss auf das soziale Lernen
Bei sozialer Ungleichheit der Gast- und der Herkunftsfamilie konnte bei den Schülerinnen des Regel- und des Stipendienprogramms das Folgende festgestellt werden:
Objektive soziale Unterschiede werden mehrheitlich nicht als soziale, sondern
als kulturelle Unterschiede gewertet.
Sehr große soziale Unterschiede können sowohl einem positiven, wie auch
negativen Sozialschock auslösen.
134
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Gastfamilie und Gastland werden bei starken wirtschaftlichen Unterschieden
von Herkunfts- und Gastland gleichgesetzt.
Persönliche Umgangsformen und emotionale Wärme oder Kälte spielen in der
Wahrnehmung der Schülerinnen eine größere Rolle, als soziale Unterschiede.
Interaktionsformen werden nicht als sozial, sondern als kulturell anders gewertet.
Der soziale Schock, wenn eine Schülerin in einem Austauschtraum ankommt kann als
positiv gesehen werden, weil viele immanente Erwartungen erfüllt werden. Der negative soziale Schock bei erheblicher Armut und damit einhergehenden Problemen wie
Hunger und Alkoholmissbrauch kann die Schülerinnen überfordern und sowohl das
soziale, wie das kulturelle Lernen verhindern.
Allen Schülerinnen, die eine deutliche soziale Veränderungserfahrung machen, fehlen
Einordnungskriterien, um soziale und kulturelle Unterschiede zu unterscheiden, so
dass mehrheitlich eine Gleichsetzung von sozialen mit kulturellen Unterschieden festzustellen ist.
3.4.3. Soziales und habituelles Lernen im Ausland
Wie bereits am Anfang festgestellt, ist das interkulturelle Lernen in vielen Untersuchungen mit einem Kulturbegriff verbunden, so dass abhängig vom Kulturbegriff nur jene
Lernerfahrungen untersucht werden können, die vom Kulturbegriff gedeckt sind.
In dieser Arbeit wurde ausdrücklich auf einen Kulturbegriff verzichtet und interkulturelles Lernen als soziales Lernen nach den Kriterien des sozialen Raumes und des Habitus nach Bourdieu in zwei Gesellschaften betrachtet. Es stellt sich die Frage welche
Erkenntnisse dadurch gewonnen werden. Verzichtet man auf einen Kulturbegriff und
stellt das sozial Lernen des Austausches in den Vordergrund, dann ergeben sich die
folgenden Vorteile:
Soziale Kontakte können als soziale Beziehungen gesehen werden, ohne sie
mit einem kulturellen Überbau zu überfrachten.
Die Integrationshürde in einer neuen Gesellschaft sinkt.
Eine Definition von Kultur kann zunächst unterbleiben.
Unterschiede können habituell erklärt werden
Werden neben den sozialen auch die wirtschaftlichen und politischen Umstände eines
Landes berücksichtigt, dann kann Kultur als derjenige Rest begriffen werden der weder
sozial, noch politisch, noch wirtschaftlich oder religiös erklärt werden kann.
Kultur wird zu einem Restbegriff, um das zu erklären, was nicht mit anderen Kategorien
zu erklären ist. Bisher ist Kultur ein Überbegriff in dem alle anderen Kategorien irgend-
135
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
wie verschwinden, so dass interkulturelles Lernen entlang eines unspezifischen Kulturbegriffes nicht zu definieren ist.
In der Untersuchung gab die Mehrheit der befragten Schülerinnen an automatisch interkulturell gelernt zu haben. Aus dieser Behauptung und den weiter oben angeführten
Analysen kann man feststellen, dass die Jugendlichen keine Trennung zwischen sozialem und kulturellem Lernen vornehmen und folgerichtig auch soziale Unterschiede als
kulturell benennen. Eine differenzierte Betrachtung der im Ausland erworbenen Kompetenzen ist daher nicht möglich, vielmehr kann nur subjektiv von den einzelnen Befragten festgestellt werden, das man gelernt habe, auf die Frage was man gelernt habe
aber keine Antwort geben kann, was für die Betroffenen, ihre Eltern und die Gastfamilien unbefriedigend sein muss.
Als Ergebnis der Untersuchungen kann man eine Erweiterung die sozialen Handlungskompetenzen der Teilnehmerinnen feststellen, weil das Einleben in einem anderen
sozialen Umfeld zu Anpassungen zwingt. Allerdings wären diese Kompetenzen leichter
und zielgerichteter zu erwerben, wenn man soziale Komponenten in den Mittelpunkt
des Lernprozesses stellen würde.
Die Kenntnisse der politischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge
des Gastlandes waren bei den meisten Teilnehmerinnen sehr gering. Vor dem Austausch hatten viele Schülerinnen nicht die Zeit für eine gründliche Vorbereitung und im
Ausland konnten sie dem Schulunterricht in den entsprechenden Fächern sprachlich
nicht folgen. Kognitive Zuwächse sind nur dann möglich, wenn auch die Sprachbeherrschung entsprechend hoch ist, sonst ist der Lerneffekt im Ausland auf sozialen Interaktionen und das Erlernen der Sprache beschränkt, was sich mit den Erkenntnissen
von Hammer teilweise deckt.
Wenn sich aber die Teilnehmerinnen mehrheitlich auf das Erlernen der sozialen und
sprachlichen Kompetenzen beschränken, stellt sich die Frage, welche Erkenntnisgewinne die Jugendlichen im Auslandsjahr erwerben können, die sie durch einen Wechsel des sozialen Umfeldes in Deutschland nicht auch erwerben ließe. Im letzten Kapital
muss geklärt werden, ob die von AFS behaupteten Lerngewinne eventuell mit einem
anderen Lernkonzept zu realisieren wären und dann auch ein Mehrwert des Austauschjahres feststellbar ist.
136
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
4. Zugänge zum interkulturellen Lernen
Wie bereits im ersten Kapitel herausgearbeitet ist die theoretische Grundlage des interkulturellen Lernens im AFS nicht nachvollziehbar. Der AFS hat es in den letzten 60
Jahren seiner Geschichte versäumt tragfähige Konzepte zu entwickeln und in der Austauschrealität umzusetzen. Den Erfolg des AFS - Schüleraustausches kann man nicht
als kulturpädagogischen Erfolg, sondern als Marketingerfolg werten. Es stellt sich die
Frage, ob eine nachfrageorientierte Begründung des interkulturellen Lernens ausreicht,
wenn immer mehr Stipendiengeber öffentliche Gelder für diese Form des Austausches
zur Verfügung stellen.
Wird aber eine steigende Nachfrage nach Austauschmaßnahmen nicht als ausreichendes Qualitätsmerkmal gewertet, dann muss ein transparentes Lernkonzept generiert
werden, um die Wirkungen des Austausches für Eltern, Jugendliche und Stipendiengeber transparent zu machen und externe Evaluationen zu ermöglichen. Darüber hinaus verlangt die Zielgruppe der 16-18jährigen besondere Sorgfalt bei Auslandsaufenthalten, um deren aufgezeigte Überforderung zu minimieren und Vorurteilsbildungen
vorzubeugen. Im nachfolgenden wird auf der Grundlage des theoretischen Ansatzes
von Pierre Bourdieu ein Konzept für den langfristigen Auslandsaufenthalt aufgezeigt.
4.1. Modell des sozialen Lernens nach Bourdieu
Anhand der theoretischen Überlegungen im zweiten Kapitel konnte gezeigt werden,
dass eine theoretische Fundierung des 'interkulturellen Lernens' notwendig ist, um den
Lernprozess nachvollziehbar und die Ziele des Lernens überprüfbar zu machen. Die
Überprüfung der theoretischen Basis des AFS machte deutlich, dass die Begriffe der
Rolle und Sozialisation für das Lernen in einem Auslandsjahr nicht ausreichend fundiert sind. Eine stringente Theorie des sozialen Lernens und eine Verbindung von Individuum und Gesellschaft konnte weder mit Parsons Systemtheorie noch den neueren
Sozialisationstheorien formuliert werden.
Ein Wechsel zu Bourdieu und dessen Begriff des sozialen Raumes, sowie des Habitus
bringt analytische Vorteile, weil detaillierte Kenntnisse des sozialen Raumes für Effekte
des Lernens im Ausland genutzt werden können, ohne gleichzeitig eine Kulturdefinition
mit dem Lernen verbinden zu müssen.
137
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
4.1.1. Modell des interkulturellen Lernens nach Bourdieu
Im Gegensatz zur üblichen Beschreibung des Lernens im Ausland als interkulturelles
Lernen mit einem schwierigen Kulturbegriff, bietet der Ansatz des sozialen Lernens
ohne einen Kulturbegriff deutliche Vorteile. Wird Gesellschaft mit den Begriffen des sozialen Raumes erfasst, der durch Kapitalien, deren Zusammensetzung und die soziale
Komponente des Berufes strukturiert ist, dann können nach Bourdieu zwei Subräume,
der des sozialen (Beruf, Kapitalien) mit dem der Lebensstile (Habitus) verbunden werden. Soziales Lernen muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Neben der Verbindung des sozialen Raume s mit dem Lebensstil innerhalb einer Gesellschaft, können mit dieser Theorie auch zwei Gesellschaften bezüglich der objektiven Gleichheiten und Unterschiede der sozialen Räume und der subjektiven Ausprägungen des Lebensstils und des Habitus in Familien oder sozialen Gruppen verglichen werden. Der Begriff Kultur wird durch den Begriff Habitus ersetzt, der als Wahrnehmungs- und Denkmuster dient. Der analytische Vorteil des Modells von Bourdieu ist
seine zweidimensionale Verbindung sozialer Ausprägungen mit dem konkreten Lebensstil und Habitus und damit der gelebten Praxis.
Übersicht 28: Sozialer Raum - Allgemein
Kapitalvolumen+
kult. Kapital +
ökon.Kapital +
ökon. Kapital -
kult. Kapital -
Kapitalvolumen -
Wie bereits im zweiten Kapitel ausgeführt, sind im ersten Quadranten des sozialen
Raumes die Unternehmer, im zweiten Quadranten die Lehrer und Hochschullehrer, im
dritten Quadranten die Grundschullehrer und mittleren Beamten und im vierten Quadranten die Arbeiter und kleine Handwerker angesiedelt. Die professionellen Komponenten des Berufs hat Bourdieu mit einer Fülle feiner Unterschiede von Essen, Trinken,
Musik, Literatur, Sport u.a., wie sie durch die Kapitalausstattungen impliziert werden,
138
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
unterlegt, so dass ein differenziertes Bild der Unterschiede entsteht und der hohe Abstraktionsgrad aufgelöst wird. Den Nachteil der hohen Abstraktion, die notwendig ist, um
einen synchronen Blick auf die Gesamtgesellschaft zu erhalten, überbrückt Bourdieu
durch die Feldtheorie. Für das Lernen im Ausland ergeben sich daraus mehrere Möglichkeiten. Das Lernen der Detailkenntnisse des eigenen und des fremden sozialen
Raumes können, je nach Altersgruppe, angepasst werden. Die Austauschschülerinnen
müssen für ein erfolgreiches Lernen im Ausland nicht den gesamten sozialen Raum
und dessen Details erfassen, sondern die für sie relevanten Positionen und Felder. Die
relevanten Positionen der Herkunftsfamilie sind determiniert durch deren Kapitalausstattung und Lebensstil sowie das soziale Feld und deren Kapitalausstattung, die sich
im symbolischen Kapital niederschlagen und Zugehörigkeit ermöglichen.
Die Lernleistung des Auslandsjahres besteht im Vergleich der sozialen Räume durch
die erlebte Praxis der konkreten Positionen in diesen Räumen und die Habitualisierung
neuer Routinen. Dieses Lernen ist nicht abstrakt und intellektuell, vielmehr praktisch,
weil die Schülerinnen in einer Gastfamilie leben und dort konkrete Erfahrung machen.
Die gelebte Alltagspraxis kann bei den Gastfamilien unbewusst und automatisch ablaufen, während die Gastschülerinnen, durch neue Praktiken verunsichert, diese mit den
eigenen Praktiken bewusst vergleichen müssen. Die Gastfamilien können aber auch
die Chance des Austausches nutzen und eigene Alltagspraktiken reflektieren. Der Vergleich zweier sozialer Räume kann für die Gastschülerinnen umso effizienter sein,
wenn mit dem sozialen Lernen ein System zur Erklärung, Einordnung und Verarbeitung
der Eindrücke einhergeht. Die Einordnung der Eindrücke muss auf zwei Ebenen erfolgen. Die täglich gelebte Lebenspraxis der Gastfamilie muss mit dem aktuellen sozialen
Feld in Verbindung gebracht werden. So können persönliche Praktiken im Habitus
(strukturierte Struktur) verankert werden, der mit dem Umfeld (strukturierende Struktur)
korrespondiert. „Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und
übertragbarer Dispositionen als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als
strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen
für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können (...).“
(Bourdieu 1993, S. 99)
Damit dieses soziale Lernen im Ausland gelingt, müssen auf den Aufenthalt vorbereitende Veranstaltungen, Begleitveranstaltungen des Aufenthaltes und Nachbereitungsveranstaltungen dieses Modell aufnehmen. Das Verständnis des interkulturellen
Lernens als Transzendierung der Rolle muss durch die Erklärung des sozialen Raumes, die konkrete Verortung im Feld und den Lebensstil ersetzt werden.
139
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
4.1.1.1. Vorbereitungskonzept
Die Vorbereitungscamps des AFS sind im Hinblick auf Anzahl und Dauer ausreichend,
legt man aber die Erkenntnisse der vorhergehenden Untersuchungen zugrunde, dann
müssen die inhaltlichen Schwerpunkte modifiziert werden. Das Thema der ersten Vorbereitung im AFS ist die eigenkulturelle Prägung der Teilnehmerinnen. Die Kultur des
Gastlandes kann nur unter kulturrelativen Aspekten und daher in Relation zur eigenen
Kultur verstanden und kulturell geprägte Verhaltensweisen im Vergleich der eigenen
Verhaltensweisen gelernt werden, so dass man davon ausgeht, dass das Verständnis
für die eigene Kultur auch Verständnis für andere Kulturen ermöglicht.
Ein Verständnis für Kultur hängt aber deutlich mit einem Verständnis für Kultur und
dessen Kulturbegriff zusammen, so dass wieder deutlich wird, wie notwendig ein Kulturbegriff ist, wenn die kulturrelativen Aspekte des interkulturellen Lernens in den Mittelpunkt gestellt werden. Fehlt eine verbindliche und nachvollziehbare Kulturdefinition,
dann wird interkulturelles Lernen unverbindlich oder individualistisch und muss in Beliebigkeit abgleiten. Der Begriffswechsel hin zum Habitus entbindet nicht von der Definition des verwendeten Begriffs, kann aber geleistet werden, da Bourdieu bereits umfassende Vorarbeiten liefert. Geulen hat in seiner Rezeption Boudieus die folgende zusammenfassende Definition gefunden: „Er [der Habitus] bezeichnet ein System relativ
dauerhafter Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsmuster, die im Sinne von
Dispositionen gesellschaftliches Handeln noch unterhalb der Ebene expliziten Bewusstseins 'generieren' (...).“ (Geulen 2005, S. 79)
Habitus kann als Dispositionssystem des Einzelnen gesehen werden, das durch die
Herkunft und die damit verbundene Verankerung im sozialen Raum und die damit verbundenen Kapitalien beeinflusst ist. Gegenüber einem nationalstaatlichen Kulturverständnis das kulturelle Grenzen mit staatlichen Grenzen gleichsetzt, ist der Habitus an
die soziale Verankerung gebunden. Soziale Klassen können über staatliche und
sprachliche Grenzen hinweg gleiche habituelle Ausprägungen finden. Der Habitus als
Denk- und Handlungsmuster ist nicht an kulturelle Dispositionen, sondern an ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalien gebunden.
Die relativistische Sicht wird auch im Konzept des habituellen Lernens beibehalten. Der
eigene habitualisierte Lebensstil ist mit den Bedingungen des sozialen Raumes der
Herkunftsfamilie verbunden. Wenn eine Gastschülerin in eine fremde Gesellschaft geht
und dort vor dem Hintergrund ihrer eigenen habituellen Praxis einen neuen Lebensstil
in einer Gastfamilie kennen lernt, dann muss der neue Lebensstil in Relation zum bisherigen Stil gesetzt werden. Statt auf die deutsche Herkunftskultur wird, mit dem Konzept des Habitus, auf den subjektiven Lebensstil und dessen Verbindung zum sozialen
Feld abgestellt. Statt Kulturen zu vergleichen, wird der eigene Habitus relativ zum Le-
140
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
bensstil der Gastfamilie betrachtet. Der besondere Vorteil des sozialen Lernens eines
habitualisierten Lebensstils ist seine Konkretisierbarkeit.
Es ist zwar schwer z.B. die bayerische von der württembergischen und diese von der
badischen Kultur abzugrenzen, auch wenn man von der Bier- und der Weinkultur als
Kontrast sprechen kann, aber je mehr Kulturbezüge hergestellt werden, desto abstrakter muss der Kulturbegriff werden, bis schließlich vieles unsichtbar wird und in einer
Deutschen Kultur verschwimmt. Dagegen konkretisiert sich der Habitus im Lebensstil
der sozialen Klasse und der konkreten sozialen Umgebung.
Ist es noch schwer die Kultur der Badener gegen die Kultur der Württemberger abzugrenzen, kann der eigene Lebensstil als Badener, von dem der Württemberger und
der Bayern in den Elementen Essen und Trinken, so wie bei Festen, Sprachstilen und
Verhaltensweisen deutliche oder feine Unterschiede aufweisen. Gleichzeitig können
die Kapitalausstattungen der sozialen Klassen sehr ähnlich sein und Verbindungen
herstellen, die in der Kultur nur im übergeordneten Modell der deutschen Kultur möglich sind. Die Lebensstile sind sichtbar gelebte Alltagspraxis in Handlungen, Sprachstilen und Bewertungen die ohne eine Verbindung zu Kultur oder Hochkultur Erklärungswert haben, da sie von der gesellschaftlichen Gesamtumgebung und der konkreten
sozialen Klasse geprägt sind.
So ist der Lebensstil die sozial gelebte Praxis des Individuums geprägt durch die eigene Familie, Freunde, Schule, Stadt und Landstrich. Nur diese gelebte und immer wieder modifizierte Praxis ermöglicht die Zugehörigkeit zum engen und weiteren sozialen
Umfeld, so dass Lebensstil auch deutlich verbindende Elemente hat. Teilen die Württemberger eine gemeinsame Vorstellung ihres Lebensstils, ohne dass der Manager
dieselbe habitualisierte Alltagspraxis wie der Arbeiter hat, dann ist Habitus etwas Eigenes auch Verbindendes.
Die drei Vorbereitungswochenenden können dann als gemeinsame Klammer den Habitus explizieren, der zunächst in der engen und konkreten Umgebung der Familie und
Schule reflektiert wird, dann in der weiteren Umgebung des Landes erweitert und in der
dritten Vorbereitung muss auf das Gastland und dessen sozialen Raum ausgeweitet
wird. Das erste Vorbereitungswochenende für ein Auslandsjahr muss den Lebensstil
der konkreten Umgebung der Jugendlichen reflektieren und kann die folgenden Themen aufgreifen:
Was ist die soziale Differenzierung des eigenen sozialen Raumes (welche
Freundinnen habe ich welche nicht)?
Wie ist meine eigene soziale Zugehörigkeit (über Eltern und Schule)?
Was ist mein kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital?
Über welches symbolische Kapital verfüge ich und meine Familie?
141
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Was macht meine eigene Zugehörigkeit aus mir?
o
welche Erwartungen habe ich an Beruf und Familie
o
welches Selbstbild habe ich
Wie viel soziale Ungleichheit ertrage ich?
Um dem sozialen Raum nach Bourdieu gerecht zu werden, muss in dieser Vorbereitung ausgelotet werden, wie viele Berufe die Teilnehmerinnen kennen und welche
Vorstellungen sie mit diesen verbinden. Der soziale Raum kann bezüglich der bekannten Ausbildungsberufe eingeteilt und diskutiert werden. In diesem Zusammenhang
können Vorstellungen über Bildung und Bildungsabschlüsse, Einkommen, Geschmack
und die Bedeutung des Symbolischen konkretisiert werden. Der Begriff der Kapitalien
kann in diesem Zusammenhang zu abstrakt sein und sollte daher mit Beispielen, wie
Automarken, Essen, Trinken und Sportarten, enger gefasst werden. Die Teilnehmerinnen können ihre eigenen Sportarten und Interessen vergleichen und deren Abhängigkeit vom sozialen Umfeld überlegen und so die eigene Wahrnehmung schärfen.
Wäre es möglich Jugendliche mit anderen sozialen Hintergründe zu dieser Vorbereitung einzuladen, auch solche, die nicht am Austausch teilnehmen, dann könnte eine
sehr effiziente Schärfung sozialer Zusammenhänge und Unterschiede entstehen, die
über den Austausch hinaus zu sozialem Lernen beiträgt. Die Kenntnis der eigenen
Prägung durch den umgebenden Raum, die Eltern, Schule und Freunde ist wichtig, um
andere Prägungen entsprechend wahrnehmen und tolerieren zu können und den Filter
des Habitus und Lebensstils zu erkennen. Die Erkenntnis des gefilterten Wahrnehmens
ist in Lebensstil und Habitus greifbar und besser zu vermitteln als im abstrakten Begriff
der „Cultural Awareness“. Der Eindruck, dass man durch die Auseinandersetzung mit
einem Auslandsjahr vor allem über das eigene Land und sich selbst lernt, ist richtig und
wird von reflektierten Rückkehrerinnen bestätigt.
Bei der zweiten Vorbereitung kann der persönliche Habitus und Lebensstil, der mit der
konkreten Familiensituation eng verbunden ist, auf die weitere Umgebung der regionalen Bezüge ausgeweitet werden. Themen dieser Vorbereitung können sein:
Lebensstil der Mehrheit in einer Region
Sprache und Sprachbeherrschung in der Region
Unterschiede der habitualisierten Lebensstile (soziale Klassen und sozialer
Raum)
Einflüsse auf den Lebensstil: Religion, Geschichte, soziale Unterschiede
Diese abstrakten Themen können für das Land Baden-Württemberg mit den folgenden
Themen konkret gefasst werden:
Das Land Baden-Württemberg: Baden minus Württemberg?
Arbeiten im Ländle: Man schafft bei Daimler, Porsche, Bosch & Co.
142
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Sprache: „Wir könnet alles bis auf Hochdeutsch“
Hocket´se das schwäbische Palaver
Regionales Essen: Spätzle, Saiten und die religiöse Bedeutung der Maultasche
Vorurteile im eigenen Land: Von der Alb ´ra?
Die Vorbereitung sollte die historischen Umstände der Landesgründung aufnehmen, da
die historisch gewachsenen Animositäten von Badenern und Württembergern bis heute
nachwirkten. Die anderen Themen greifen die Rahmenbedingungen der Wirtschaft und
deren Bedeutung für das Land, sowie Essen und Kochen und den Einfluss der Religion
auf. Die wirtschaftliche Struktur des Landes trägt nicht nur zum Wohlstand der gesamten Region bei, sondern erzeugt auch ein habituelles Selbstverständnis, das sich im
„Wir könnet alles, außer Hochdeutsch“ äußert und einerseits mit den Leistungen weltbekannten Firmen wie Daimler, Porsche und Bosch eng verbunden ist, andererseits
durch den schwäbischen Einschlag der Sprache auch Zugehörigkeit vermittelt.
Daneben können die feinen und wichtigen Unterschiede der Umgebungsfaktoren, wie
der Religion einen besseren Zugang zu anderen habituellen Formen ermöglichen, als
abstrakte Unterschiede zwischen Ländern die entlang der nationalstaatlichen Grenzen
gezogen werden. Der Begriff Religionskultur mit Reformation und Gegenreformation in
Deutschland kann bei Jugendlichen eine abschreckende Reaktionen bewirken, während die Maultasche keine solchen Negativassoziationen weckt, gehört sie doch zum
Lebensstil des Schwaben. Die Ursprünge der Maultausche sind deutlich religiös geprägt und können den Teilnehmerinnen im Rahmen der Vorbereitungen zugänglich gemacht werden. So können Maultaschen nach verschiedenen Rezepten selbst zubereiten werden, um dann über diese Unterschiede zu diskutieren, wie über die Sitte
Fleisch für den Freitag in Teig zu hüllen. Da in den katholischen Gegenden der Herr
Pfarrer, bei überraschenden Inspektionen der Gemeinde das Fleisch nicht sehen sollte,
das am Freitag regelwidrig konsumiert wurde, erfanden pfiffige Hausfrauen die Maultasche. Anderswo haben ähnlich pfiffige Hausfrauen oder –männer Piroggen und Ravioli als ebenso schmackhafte und effiziente Methode des verdeckten Fleischkonsums
erfunden. Der Habitus des verdeckten Fleischkonsums machte offensichtlich nicht an
Landesgrenzen halt und kann daher als verbindend, oder ähnlich verstanden werden,
während der Kulturbegriff diese habituellen Ähnlichkeiten als Esskultur nationalstaatlich
trennt. Diese praktische Ausformung des Lebensstils in Verbindung von Religion und
landestypischem Essen kann wesentlich tiefere Einblicke in die eigene Prägung und
die verbindenden Elemente der Lebenspraxis über Landesgrenzen hinweg geben als
ein abstrakter und zudem unklarer Kulturbegriff.
143
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
So können auch die Lebensstile innerhalb Deutschlands verglichen werden, um festzustellen, ob es einen „deutschen“ Lebensstil gibt oder ob die Divergenzen zwischen
Nord- und Süddeutschland, zwischen dem Westen und Osten nicht so groß sind, dass
man nicht von einem einheitlichen deutschen Lebensstil sprechen kann.
Die Erkenntnis, dass eine Generalisierung von „die Deutschen“ genauso unzulässig ist,
wie Generalisierungen von „die Engländer“, „die Amerikaner“ oder „die Russen“ ist hier
entscheidend.
Am zweiten Vorbereitungswochenende muss der allgemeine Lebensstil eindeutig mit
dem sozialen Raum verbunden werden, weil dieser Lebensstil Unterschiede zu dem
der Bayern aufweisen kann, so wie die Lebensstile innerhalb einer Region abweichen
können, wenn der Vater Lehrer oder Ingenieur ist. Die Abweichungen der Berufe und
der Zugang zum sozialen Raum über Ausbildung und Einkommen muss deutlich aufgezeigt werden. Die zentrale Frage ist dann wie der Lebensstil z.B. des württembergischen Managers vom norddeutschen Manager abweicht und worin Ähnlichkeiten begründet sind. Der Einfluss von Umgebung und Kapitalien wie Bildung, Einkommen und
sozialen Beziehungen muss einbezogen werden, um einen mehrdimensionalen Zugang zum Lebensstil zu ermöglichen. Diese Mehrdimensionalität kann dann eine Brücke zur dritten Vorbereitung schlagen und Anregung geben, wie ähnliche Kapitalausstattungen über Landesgrenzen hinweg soziale und daher habituelle Gleichheiten erzeugen können.
In der zweiten Vorbereitung kann der eigene Lebensstil und Habitus mit den sozialen
Feldern und dem sozialen Raum der Region verbunden werden. Die Erkenntnis der
eigenen Verankerung in einem sozialen Raum und die Ähnlichkeit der Lebensstile in
gleichen oder ähnlichen sozialen Klassen, auch über Landesgrenzen hinweg, dominiert
den Lernprozess und ermöglicht den Rückgriff auf bekannte Interpretationsmuster.
Das dritte Wochenende ist dem Gastland gewidmet. Dafür können schon im Vorfeld
Recherchen über typische Bildungswege bestimmter Berufsgruppen gemacht werden.
So können Informationen über das Internet, von ehemaligen Gastschülerinnen oder
Kollegen des Vaters gesammelt werden, die erste Informationen zum sozialen Raum
des Gastlandes liefern. Das Lernen über das eigene und fremde Land beginnt vor der
Ausreise in der bewussten Beobachtung der eigenen Umwelt und des eignen Habitus.
Die Betrachtung des Ziellandes ist durch den Perspektivwechsel zum Lebensstil einfacher und griffiger als mit dem Begriff der Kultur. Da für das Zielland keine Erfahrungen der Teilnehmer erwartet werden können, müssen Informationen zum sozialen
Raum des Gastlandes, dem Habitus und Lebensstilen vermittelt werden. Die Informationen können in die folgenden Teile untergegliedert werden:
144
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Sozialer Raum und Politik:
Regierungsform
Staatsoberhaupt
Nationalhymne
Ökonomisches Kapital (Wirtschaft):
Landwirtschaftliche, industrielle oder Dienstleistungsprägung
Durchschnittsgehälter
Arbeitslosenquote
Einkommensverteilung
Kulturelles und soziales Kapital (Religion):
Mehrheitsreligion
Religionsfreiheit
Kulturelles Kapital (Bildungssystem):
Aufbau des Schul- und Bildungssystems
Bildungsabschlüsse
Privates versus öffentliches Bildungswesen
Kosten der Ausbildung
Quote der Abiturienten im Vergleich zu Deutschland
Zugang zu Theater, Museen, Kunstveranstaltungen
Geschichte:
Wichtige historische Ereignisse des Gastlandes
Historische Verbindungen zu Deutschland
Je nach Ausfächerung der wirtschaftlichen Sektoren, ob landwirtschaftlich oder industriell geprägt, dominieren entsprechende Berufe und Berufsgruppen den sozialen
Raum. Den Teilnehmerinnen sollte bewusst werden, welche Unterschiede die wirtschaftliche Entwicklung auf den sozialen Raum, z. B. über das Einkommensniveau im
Gastland hat, um soziale und wirtschaftliche Unterschiede besser einschätzen zu können. Die Religion beeinflusst die Feste im Jahresablauf und deren Ausprägungen. So
wird in Asien und Osteuropa Weihnachten als Konsumfest gefeiert, der religiöse Hintergrund ist weitgehend unbekannt (Asien) oder irrelevant (Osteuropa), während in
Deutschland die christlichen Wurzeln immer unwichtiger geworden sind, so dass auch
hier der Konsum im Vordergrund steht. Trotz der Ähnlichkeiten weichen die Konsummuster erheblich voneinander ab. Deutsche Teilnehmerinnen verbinden mit Konsum
andere Vorstellungen als das in Osteuropa der Fall ist. In den ärmeren Bevölkerungsschichten Osteuropas sind viel Essen und Trinken, verbunden mit einem kleinen Geschenk schon ein Freudenfest, das bei deutschen Austauschschülerinnen Verwunderung auslösen kann.
145
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Daneben müssen den Schülerinnen andere religiöse Formen, wie z.B. die der orthodoxen Kirche, vor der Ausreise bewusst und mit historischen Fakten unterlegt werden.
Austauschschülerinnen in Russland und Bulgarien sollten die Wurzeln der Kirchenteilung von 1054 und den damit verbundenen Bann durch die katholische Kirche kennen,
um die deutsche Reformation nicht als die erste Kirchenteilung zu bezeichnen, was bei
Orthodoxen Irritationen auslöst.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gastlandes sollte bei den Vorbereitungen verbessert werden, denn das politische, historische und allgemeine Wissen
der Schülerinnen über die Gastländer ist selbst nach der Rückkehr gering. Über die
ehemalige Sowjetunion und den kalten Krieg als historische Tatsache, beziehen heutige Jugendliche ihr Wissen vor allem aus einigen James Bond Filmen und nicht aus
fundierten Quellen. Wenn die meisten Rückkehrerinnen aus Russland und den Staaten
von Mittel- und Osteuropa nicht wissen, wann der Vertrag von Helsinki unterschrieben
wurde, welche Bedeutung dieser Vertrag für Europa, oder welche Bedeutung der Prozess der Glasnost für die deutsche Einheit hatte, dann sind das nicht nur Wissenslücken, sondern vergebene Lernchancen, die für das Verständnis anderer Länder entscheidend sind. Gerade die komplexen historischen Verflechtungen der europäischen
Länder gehören, neben dem Bewusstsein über die eigene Prägung, zu den Möglichkeiten des Austauchjahres in Europa, die umfassender genutzt werden sollten, um die
Vielfalt in der Einheit lebendig zu erhalten. Die Annahme des automatischen Lernens
im Ausland sollte, wie auch von Hammer in der AFS –Studie vorgeschlagen, endlich
aufgegeben werden. Historische und geographische Tatsachen fliegen den meisten
Austauschschülerinnen nicht automatisch zu, sondern müssen zugänglich gemacht
werden. Der Besuch der Gastschule reicht nicht aus, denn dem Unterricht in Geschichte und Geographie der 11.Klasse können viele Gastschülerinnen im Ausland nicht folgen und vielfach werden in dieser Stufe nicht mehr nationale, sondern internationale
Themen behandelt. Nur wer offen dafür einsteht, dass Lernen im Ausland nicht automatisch stattfindet, sonder aktive Mitarbeit verlangt, kann Verbesserungen erreichen
und verhindert die Degradierung das Auslandsjahr zum „Spaßjahr“.
Neben den landeskundlichen und geschichtlichen Bestandteilen müssen in der dritten
Vorbereitung die Ausformungen des sozialen Raumes des Gastlandes vermittelt werden. In diesem Zusammenhang sollte die Einkommensverteilung eines Landes diskutiert werden. Können viele Menschen an der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes
partizipieren, dann sind die Gehälter eher gut über die arbeitende Bevölkerung verteilt.
Kommt es dagegen zu Phänomenen der Ungleichverteilung, dann kann man von deutlich anderen sozialen Bedingungen als in Deutschland ausgehen. Besonders effektiv
ist diese Vorbereitung dann, wenn die Gastfamilie bereits bekannt ist und eine gezielte
146
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Vorbereitung auf die konkrete Gastfamilie erfolgen kann. Das Thema Armut und der
Umgang mit sozialen Ungleichheiten sollte bei dieser Vorbereitung auf keinen Fall ausgespart werden, um den Sozialschock abzumildern. Unabhängig davon, ob die Gastfamilie bei der dritten Vorbereitung bekannt ist oder nicht, sollte den Austauschschülerinnen die folgende Einteilung erklärt werden, um den Blick gleichermaßen auf
soziale Gleich- und Ungleichheiten zu lenken.
Übersicht 29: Vergleich der Familien im sozialen Raum
Vergleich der Gast- und Herkunftsfamilie
soziale Gleichheit
Kapitalausstattung
Bildungsabschlüsse der Eltern
Besuchte Schulart
der Gastgeschwister
Beruf des Vaters
Wohngegend
Interessen
Sportarten
Essen
Theater
Kunst
Vergleich des Habitus
soziale Ungleichheit
Kapitalausstattung
Bildungsabchlüsse
der Eltern
Besuchte Schulart
der Gastgeschwister
Beruf des Vaters
Wohngegend
Interessen
Interessen
Sportarten
Essen
Theater
Kunst
Vergleich des Habitus
Unterschieden/ Gleichheiten bedingt durch:
Unterschieden/ Gleichheiten bedingt durch:
Familie
soziale Schicht
Gesellschaft
Gesellschaft
Soziale Gleichheit kann an den ausgeübten Sportarten der Gast- und Herkunftsfamilie,
dem Beruf des Vaters oder der Mutter und den damit verbundenen Kapitalien festgemacht werden. Ungleichheit äußert sich ebenfalls in Sportarten, Berufen und Kapitalien. Aus diesen Konstellationen und der Verankerung im sozialen Raum leiten sich
Lebensstile ab, die an landestypische Gegebenheiten angepasst sein müssen. Unterschiede des Lebensstils können dann innerhalb der Familien, bei großer sozialer Ungleichheit, oder außerhalb der Familien, bei relativer sozialer Gleichheit auftreten.
147
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Nur wer den sozialen Raum des Gastlandes und die eigene soziale Herkunft kennt,
wird neben den offensichtlichen Ungleichheiten auch die Gleichheiten erkennen können, da der Blick auf die Gastgesellschaft stark von der Gastfamilie und deren sozialen
Bedingungen geprägt ist und diese in Relation zur eigenen Familie und deren sozialen
Bedingungen wahrgenommen wird.
Fassen wir die Vorteile dieses Vorbereitungskonzeptes zusammen. Der soziale Raum
und der konkrete Lebensstil sind in der Praxis des Austausches einfacher handhabbar,
da:
Die Berufe der Väter und Gastväter erfasst und verglichen werden können.
Soziale und habituelle Bestandteile getrennt erfasst werden können.
Der soziale Raum der Gastgesellschaft nur in den wesentlichen Teilen erfasst
und damit der Zugang erleichtert wird.
Der soziale Status der Gastfamilie im sozialen Raum eingeordnet werden
kann.
Soziale Gleichheit erkannt und die damit zusammenhängenden habituellen Unterschiede gelernt werden können.
Soziale Ungleichheit mit sozialem Lernen bewältigt und der soziale Schock
gemildert werden kann.
Die Befürchtungen des AFS, dass die Schülerinnen noch vor der Ausreise durch zu
viele unangenehme Details verunsichert werden und im schlimmsten Fall nicht an der
Austauschmaßnahme teilnehmen, muss man relativieren. Zwar ist die Beobachtung
richtig, dass die Angst vor dem Austausch steigt, je näher der Ausreisezeitpunkt rückt,
diese Angstkurve wurde bislang nicht systematisch untersucht, so dass Schlussfolgerungen schwierig sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Angstpotenziale
aus Unkenntnis erwachsen, wenn die Schülerinnen das Gefühl haben nicht ausreichend mit sozialen und wirtschaftlichen Tatsachen des Gastlandes und der Gastfamilie
vertraut zu sein.
Eine wesentliche Verunsicherung der Schülerinnen resultiert aus der späten Platzierung in den Gastfamilien. Könnten die Schülerinnen bereits mehrere Wochen vor der
Ausreise in einer Gastfamilie platziert werden, dann hätten sie Zeit, sich auf diese konkrete Familie und ihre soziale Situation einzustellen, wodurch Ängste und Befürchtungen reduziert werden. Eine rechtzeitige Platzierung in den Gastfamilien würde den
Stress der Austauschschülerinnen vermindern und die Qualität des Austausches erhöhen. In diesem Punkt konnte der AFS in den letzten Jahren jedoch keine Fortschritte
erzielen. Durch das starke Wachstum des Jahresaustausches und der Aufnahme kürzerer Formate, ist in den letzten zehn Jahren im Gegenteil der Anteil der so genannten
Willkommensfamilien, also Familien die für eine Übergangszeit von sechs bis acht Wo-
148
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
chen zur Verfügung stehen, von 10% auf teilweise über 20% gestiegen. Ein hoher Anteil an Willkommensfamilien bedeutet auch hohe Fluktuationen und Familienwechsel,
die von den Gastschülerinnen als belastend bezeichnet wurden. Hier sollte man über
Qualität statt Quantität nachdenken.
Die gemeinsame Klammer des Vorbereitungskonzeptes über alle drei Vorbereitungen
hinweg ist neben der Reflexion des Habitus die Klärung des sozialen Standpunktes
jeder Teilnehmerin. Daher muss noch einmal betont werden: „Die soziale Welt umfasst
mich als einen Punkt. Aber dieser Punkt ist ein Standpunkt, das Prinzip einer Sichtweise, zu der man von einem bestimmten Punkt im sozialen Raum aus kommt, eine Perspektive, die ihre Form und ihren Inhalt nach von der objektiven Position bedingt ist,
von der aus man zu ihr kommt. Der soziale Raum ist eben doch die erste und die letzte
Realität, denn noch die Vorstellung, die die sozialen Akteure von ihm haben können,
werden von ihm bestimmt.“ (Bourdieu 1998, S. 27)
Was der AFS bislang mit der Sozialisationstheorie und dem Rollenwechsel behauptet,
kann mit Bourdieu konkret gefasst und umgesetzt werden. Soziales Lernen im Ausland
ist nicht das Erkennen der Zufälligkeit von Rollen, sondern eine bewusste Veränderung
des Standpunktes im sozialen Raum. Mit dem Wechsel des Standpunktes gehen Veränderungen der Alltagsroutinen und der habitualisierten Formen einher. Diese Veränderung können mit dem Konzept des sozialen Raumes und seiner konkreten Ausformulierungen in Feldern und Kapitalien wesentlich besser vorbereitet und erfasst werden als mit Sozialisationsansätzen. Statt des abstrakten kulturellen Standortes ist der
soziale Standpunkt im sozialen Raum individuell definierbar, jede Schülerin gehört über
ihre Herkunftsfamilie in eine bestimmte Position des sozialen Raumes und kann diese
Positionierung mit der neuen Position der Gastfamilie vergleichen. Genauso wie auch
Habitus und Lebensstil verglichen und angepasst werden müssen. Die Problematik der
Rückkehr wird im Teilkapitel 4.1.1.3. gesondert beleuchtet.
Unabhängig davon, wie groß die sozialen Unterschiede von Gast- und Herkunftsfamilie
sind, zwingt der Wechsel des sozialen Standpunktes im Ausland und die nicht mehr
funktionierenden Alltagsroutinen zu einer Auseinandersetzung mit dem sozialen Raum
und der eigenen Positionierung in diesem Raum der Herkunftsgesellschaft und der
Gastgesellschaft. All das sind Potenziale die bisher nicht systematisch sondern bestenfalls zufällig genutzt werden.
4.1.1.2. Begleitkonzept
Neben dem Vorbereitungskonzept muss auch das Begleitprogramm des Austausches
angepasst werden. In den Befragungen bei den „großen Nachbereitungen“ also ca.
149
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
sechs Monate nach der Rückkehr haben viele Rückkehrerinnen die Betreuung während des Auslandsaufenthaltes als unzureichend bezeichnet. Die Ergebnisse sind in
Tabelle 17 zusammengestellt.
Tabelle 17: Betreuung im Auslandsjahr
Wie zufrieden warst du mit deinem Jugendbetreuer ?
2004
2005
Ich war zufrieden
27,6%
24,1%
Ich war nicht so zufrieden
19,9%
17,9%
Ich war unzufrieden
12,6%
9,7%
Ich hatte keine Betreuung
39,9%
48,3%
Die Quoten der nicht betreuten Schülerinnen sind mit 39,9% und 48,3% zu hoch. Die
Schülerinnen hatten zwar den Namen und die Telefonnummer eines Betreuers oder
einer Betreuerin, da der Kontakt entweder nur einmal oder nie im Austauschjahr stattfand, haben sich die Schülerinnen subjektiv nicht betreut gefühlt.
Eine Minderheit von 24% - 27% der Rückkehrerinnen ist mit der Häufigkeit und der
Qualität der Betreuung im Auslandsjahr zufrieden, der Rest hätte sich zu 50% eine
häufigere Betreuung und zu 50% einen anderen Betreuer gewünscht. Als Gründe wurden Desinteresse, mangelnde Zeit, mangelnde Sprachkenntnisse und mangelnde Erfahrungen der Betreuer am häufigsten genannt. Konnte z.B. zu Beginn des Austausches die Betreuung nur in einer Fremdsprache (Sprache des Gastlandes oder Englisch) durchgeführt werden, dann hatten die Schülerinnen das Gefühl ihre Probleme
nicht ausreichend kommunizieren zu können. In wenigen Fällen sind durch diese
Kommunikationsprobleme ernste Folgeprobleme entstanden. Die Betreuer haben z.B.
Probleme an den AFS kommuniziert, die der Betreute so nicht hatte. Darüber hinaus
wurden Jugendbetreuer über 25 Jahren als zu alt und von den eigenen Problemen entfernt empfunden, so dass kein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden konnte.
Das Betreuungskonzept sollte durch deutlich mehr Qualität aufgewertet werden, indem
ausreichend qualifizierte Jugendbetreuer zur Verfügung stehen, die ausreichend Zeit
und Erfahrung für die Betreuung mitbringen. Die Qualitätssteigerungen sind schwierig,
weil Vereinbarungen mit ehrenamtlichen Betreuern nicht bindend sind und eine intensive Betreuung durch hauptamtliche Betreuer finanziell kaum tragbar sein dürfte.
Auch in den Gastsschulen können die Schüler weltweit nur in knapp 50% der Fälle
betreut werden, weil entweder keine Betreuungskapazität vorhanden ist oder der Be-
150
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
treuungsbedarf durch die Schulen nicht gesehen wird. Die Ergebnisse sind in Tabelle
18 zusammengestellt.
Tabelle 18: Betreuung in den Gastschulen
Wurdest du in der Schule betreut?
2004
2005
ja
43,30%
47,80%
nein
56,60%
53,30%
Wer war der Betreuer?
Deutschlehrer
6,60%
14,30%
Englischlehrer
16,60%
28,90%
Allgem. Betreuungslehrer
13,30%
14,30%
Spez. Gastschülerbetreuer 3,30%
0,00%
Rektor
9,90%
3,30%
Eine spezielle Betreuung für Gastschüler gibt es nach Angaben der Rückkehrerinnen
nur an einigen Highschools der USA, in anderen Ländern wurde die Aufgabe an
Fremdsprachenlehrer oder, falls vorhanden, an einen Deutschlehrer delegiert. Diese
Lehrerinnen und Lehrer haben, wie in Deutschland auch, keine spezielle Vorbereitung
für ihre Aufgabe erhalten und sind wie in einigen Schulen in Tschechien, der Slowakei
oder Polen im Jahr 2004 zum ersten Mal mit der Problematik einer Gastschülerin konfrontiert worden. Diese Situation zu ändern ist noch schwieriger als bei den Jugendbetreuern, da der AFS den Schulen keine Vorgaben für die Betreuung machen kann.
Vielfach sind die Schulen in Westeuropa und USA nur noch dann bereit Schülerinnen
aufzunehmen, wenn ihnen daraus keine zusätzlichen Belastungen entstehen. Die
Frustration der Schülerinnen ist nachvollziehbar, die Erwartungen der Teilnehmerinnen
waren in diesem Punkt eindeutig und wurden nachhaltig enttäuscht. Die Probleme in
den ausländischen Schulen sind nach Einschätzung der Schülerinnen größer als allgemein angenommen und nur durch eine ausreichende Betreuung zu lösen.
Einen Ausweg aus der allgemeinen Betreuungsnot könnten die Begleitcamps während
des Austausches bieten. In Russland finden solche Camps sehr regelmäßig statt und
werden von den Teilnehmerinnen gelobt, vor allem weil sie Kontakt unter den Austauschschülerinnen und eine Auszeit von der Gastfamilie ermöglichen. Allerdings konnte das Konzept dieser russischen Begleitcamps weder im Aufbau, noch der Zielsetzung, oder dem Ablauf ausreichend nachvollzogen werden, um daraus Erkenntnisgewinne zu ziehen. In allen anderen Gastländern werden die begleitenden Camps qualitativ und quantitativ unterschiedlich angeboten, der AFS schreibt verbindlich ein Survival - Camp direkt nach Ankunft im Gastland und ein End-of-Stay-Camp kurz vor der
151
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Ausreise vor. Viele Austauschländer können aus finanziellen Gründen und Mangel an
ehrenamtlichen Mitarbeitern keine weiteren Camps anbieten.
Aus den Erfahrungen in Baden – Württemberg der Jahre 1996 bis 2004 konnte ein
Verlauf der Stimmung der Schülerinnen nachgezeichnet werden, der auch Phasen des
Betreuungsbedarfs reflektiert.
Übersicht 30: Stimmungsverlauf im Austausch
Stimmung
0
Zeit
Ausreise
Weihnachten
Rückreise
Ein erhöhter Bedarf an Betreuung zeichnet sich zwischen September und Dezember,
also in der Anfangsphase des Austauschs ab, während in der zweiten Hälfte die Betreuung individuell angeboten werden kann. Erst gegen Ende des Austauschjahres
wird wieder mehr Betreuung gewünscht.
Die meisten Austauschschülerinnen erleben eine Hochstimmung zum Zeitpunkt der
Ausreise, die auch in den ersten Wochen im Ausland anhält und dann kontinuierlich
abfällt, bis ein Stimmungstief zu Weihnachten erreicht ist. Neben der emotionalen Belastung zu Weihnachten haben auch Faktoren, wie Heimweh, Erschöpfung und Überforderung einen Einfluss auf den Stimmungsabfall. Die meisten Gastfamilien äußerten
die Erwartung, dass die Eingliederung der Gastkinder bis Weihnachten vollendet, die
gegenseitigen Erwartungen abgeglichen und das Sprachniveau angemessen sein sollte. Diese Erwartung ist aus Sicht der Familien berechtigt, führt bei vielen Austauschschülerinnen aber zu Stress und Überforderung. Die Austauschschülerinnen sind nach
den ersten drei bis vier Monaten in einem fremden Umfeld erschöpft und wollen weder
in der Fremdsprache kommunizieren, noch fremdes Essen zu sich nehmen, noch sonstige Fremdartigkeiten hinnehmen. In den Untersuchungen des dritten Kapitels konnte
gezeigt werden, dass die Wahrnehmung des Fremden als dominant bezeichnet worden
muss. Erst wenn die Schülerinnen ihre Anfangserschöpfung überwunden haben und
sich Vertrautheit mit der neuen Umgebung einstellt, können sie neue Integrationsziele
152
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
angehen. In einigen Fällen können die Gastschülerinnen ihre Sprachprobleme über
das ganze Austauschjahr hinweg nicht lösen, so dass ein akzeptables Kommunikationsniveau nur mit einem Sprachunterricht während des ganzen Austauschjahres erreicht werden kann. Bei großen sozialen Unterschieden zwischen Familie und Austauschschülerin können ein schlechtes Sprachniveau der Gastschülerin und eine deutlich andere Kapitalausstattung der Gastfamilie einen Sozialschock auslösen, der während des ganzen Jahres nicht überwunden wird. Insbesondere dann, wenn die Schülerin die sozialen Tatsachen nicht erkennt oder sie zum Selbstschutz leugnet. Eine verbesserte Vorbereitung und Begleitung mit dem Modell des sozialen Raumes kann bei
der Feststellung und Verarbeitung sozialer Unterschiede deutliche Verbesserungen
bringen, da soziale Unterschiede zum ausdrücklichen Bestandteil des sozialen Lernens
im Ausland werden.
Die Begleitbetreuung kann zwischen Januar und Mai reduziert werden, da die Stimmung der Teilnehmerinnen deutlich besser wird und die Integrationsbemühungen erste
Früchte tragen. Erst gegen Ende des Austausches kommen Ängste vor der Rückkehr
und das unausweichliche Ende eines ungewöhnlichen Jahres, die wieder mehr Betreuung verlangen. Mögliche Themen der Begleitcamps sind:
Bis Weihnachten:
Klärung der gegenseitigen Erwartungen von Gastfamilie und Gastschülerin
Reflexion erster Erfahrungen mit dem sozialen Raum der Gastgesellschaft
Neue Positionierung reflektieren: Heimweh – Fremdsein – Ankommen
Weihnachten – Bräuche und Sitten kennen lernen
Zur Mitte des Jahres:
Was habe ich gelernt und was will ich noch lernen?
Ein Jahr wie kein Anderes?
Am Ende des Jahres:
Ein Jahr wie kein Anderes?
Ende eines Ausnahmejahres, was erwartet mich zu Hause?
Die Begleitcamps bieten neben der Reflexionen des aktuell Erlebten die Chance verdeckte Probleme einzelner Teilnehmerinnen zu erkennen und individuell zu beheben.
Insgesamt können die Schülerinnen durch eine konstante Betreuung ihre Probleme
besser verarbeiten und dadurch ihre Kenntnisse über das Gastland erhöhen. Für eine
Verbesserung der Betreuungssituation spricht auch die Erfahrung der Komiteevorsitzenden in Baden-Württemberg nach deren Meinung der Betreuungsbedarf in den
letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Die einfachen, interessierten und selbständigen Austauschschülerinnen gibt es heute kaum noch, die anspruchsvollen und ver-
153
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
wöhnten Schülerinnen die ihre Probleme nicht selbständig lösen können, werden häufiger.
4.1.1.3. Nachbereitungskonzept
Das Nachbetreuungskonzept des AFS verzeichnet seit Jahren rückläufige Teilnehmerzahlen. Im Jahr 2004 und 2005 lag die Teilnehmerquote deutlich unter 50% aller Rückkehrerinnen. Die Gründe sind nachvollziehbar, die Rückkehrerinnen empfinden die
Nachbereitungen als verspätete Angebote, denn die Wiedereingliederung muss sofort
nach der Rückkehr beginnen und nicht erst bei der ersten Nachbereitung, zwei bis drei
Monate später. Eine noch spätere Nachbereitung hat den einzigen Vorteil andere
Rückkehrerinnen zu treffen, falls noch kein eigenes Netzwerk aufgebaut werden konnte. Die Wiedereingliederungsprobleme haben die Meisten bis zu den Nachbereitungen selbst entweder durch Reflexion oder noch häufiger durch Leugnung gelöst.
Viele Befragte beklagten das mangelnde Interesse des AFS an den Rückkehrern, weil
sie erst Wochen nach der Rückkehr vom AFS angesprochen wurden. Die Rückkehrerinnen fühlen sich auch nach der Rückkehr als Kundinnen und erwarten vom AFS
aktiv einbezogen zu werden. Sie sind nicht in der Lage selbständig als Ehrenamtliche
zu agieren. Die Irritationen resultieren nicht nur aus der späten Kontaktaufnahme des
AFS, sondern aus dem allgemeinen Desinteresse der unmittelbaren Umwelt. 80% der
Befragten sagten die schwierigste Erfahrung nach der Rückkehr sei das Desinteresse
der deutsche Umwelt, die sich darin äußert, dass nur schlichte Kurzbeschreibungen
des Auslandaufenthaltes akzeptiert werden. Die Mitschülerinnen wollen keine detaillierten Erfahrungsberichte hören, weil sie nicht dieselbe Erfahrung haben und daher vieles
nicht nachvollziehen können oder es als Angeberei missverstehen. Die Eltern der
Rückkehrerinnen erwarten, dass ihre Kinder wie vorher ins alte Umfeld passen und
akzeptieren daher Änderungen im Lebensstil und Habitus des eigenen Kindes nicht.
Die Rückkehrerinnen machen die unangenehme Erfahrung, sich bei der Rückkehr nicht
als neue Person mit außerordentlichem Erfahrungsschatz angenommen und als Erwachsene behandelt zu werden.
Das Nachbereitungskonzept muss die ersten Löcher füllen und möglichst unmittelbar
nach der Rückkehr Gespräche und Treffen anbieten. In den Interviews für diese Untersuchung gaben vielen Befragte an, sie hätten das erste Mal das Gefühl jemand interessiere sich für ihre Erlebnisse, so dass das Interview teilweise von 45 Minuten auf bis
zu 180 Minuten ausgedehnt wurde. Die Schülerinnen erlebten das Jahr im Interview
nochmals und konnten durch gezielte Nachfragen ihre Erlebnisse überdenken und einordnen. Ein schneller telefonischer Kontakt und etwas Zeit würden in der Anfangs-
154
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
phase genügen, um die Rückkehrerinnen zu betreuen und diejenigen mit großen Problemen und Unterstützungsbedarf zu identifizieren. Die Problematik der Rückkehr ist
nicht, wie in den Handbüchern geschildert ein Luxusproblem des neuen Rollenverständnisses, sondern vielfältig. Zum einen erkennen viele Rückkehrerinnen, dass ein
außergewöhnliches Jahr vorbei ist und sie in die Normalität ihres Alltags zurückkehren,
in dem sie wieder den alten Anforderungen ausgesetzt sind. Zum Anderen sind viele
vom Desinteresse der Umgebung enttäuscht.
Man sollte im AFS darüber nachdenken, ob die erste Nachbereitung durch diese telefonische Betreuung ersetzt werden kann und die zweite Nachbereitung einen systematischen Vergleich der sozialen Räume, sozialen Positionen und die Verarbeitung des
Jahres mit dem Abstand von sechs Monaten angeht. Diese systematische Einordnung
der Erlebnisse entlang der von den Vorbereitungen bekannten Begriffe und deren Verknüpfung sollte erfolgen, um den Lernprozess des Auslandsjahres abzuschließen und
die Erfahrungen der ehemaligen Austauschschülerinnen zu reflektieren und zu relativieren.
Die wichtigsten Probleme der Rückkehr wurden durch Selbsteinschätzungen der Rückkehrerinnen erfragt. Auf die Frage:“ Was wird deiner Meinung nach am Austauschjahr
von Freuden, Familie, Lehrern und anderen total überschätzt?“ gaben die Schülerinnen die folgenden Antworten:
Erlernen der Sprache wird total in den Mittelpunkt gestellt.
Der Spaßfaktor, alle wollen nur tolle und lustige Erlebnisse hören, um mein Jahr als
„gut“ zu akzeptieren (Westeuropa, w 18)
Dass es Urlaub sei und total locker (Südamerika, w 17)
Auf die Frage „Was wird deiner Meinung nach am Austauschjahr von Freuden, Familie,
Lehrern im anderen total unterschätzt?“ antworteten die Schülerinnen die aus Osteuropa zurückgekehrt sind:
Dass man sich verändern kann, man Freunde fürs Leben finden kann und richtig Party machen
kann (m,17)
Das Zurückkommen ist schwieriger, als viele denken. Die Widereingliederung in Familie, Schule
und Freunde wird unterschätzt (m,18)
Dass das Lernen einer fremden Sprache sehr schnell geht weil man sie jeden Tag hört usw. War
bei mir nicht so, weil die Sprache sehr schwer war. Viele denken man kommt in eine perfekte
Familie und Schule, am besten noch in der Hauptstadt, ist aber oft nicht so. (w,17)
Rückkehrerinnen aus Westeuropa gaben die folgenden Antworten:
Unterschätzt wird, was ich alles erlebt habe und wie viel ich darüber nachgedacht habe. Wie viel
ich gelernt habe und gelacht. (m 18)
155
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die Einsamkeit/ Verletzbarkeit die ich durchlebt habe wie z.B. die Probleme in der ersten Gastfamilie. Es wird falsch eingeschätzt, dass ich im Ausland war und nicht auf einer Sprachreise. (w
17)
Lehrer im Ausland: Unterschätzen die Probleme mit Sprache und Stimmungsschwankungen und
dass man nicht volle Leistung bringen kann.
Freunde zu Hause: wissen nicht wirklich, was es heißt 10 Monate weg zu sein. (m 17)
Es gibt Schwierigkeiten sich an neue Regeln zu gewöhnen.
Dass Austauschschüler in dem Jahr oft auf vieles sensibler / verletzlicher reagieren.
Selbständigkeit der Austauschschüler (Ausgeh- und Reiseverbote)
Fähigkeit verantwortungsbewusst zu sein und Reife der ATS (w,18)
Es wird unterschätzt, wie schwer es ist in die neuen „Gruppen“ zu kommen, wenn man die Sprache nicht kann. (w 17)
Die Probleme der Jugendlichen sind vielfältig und unterschieden sich zwischen Ostund Westeuropa nicht. Probleme wie Einsamkeit, sich unverstanden fühlen und dadurch verletzbar werden, Sprach- und Kommunikationsprobleme und vor allem Alltag,
Alltag, Alltag sind allgemeine Erfahrungen des Austausches. Ein Jahr im Ausland ist
kein Urlaub, sondern vor allem Alltag. Damit reduzieren sich die Aufregungen und Besonderheiten des Auslandsaufenthaltes, was Freunde und Eltern in Deutschland nicht
sehen und daher nicht akzeptieren. Alltag ist gerade das Feld des sozialen Lernens der
üblichen Routinen und der Vergleich mit den Routinen des alten Alltags.
Genauso wenig wird akzeptiert, dass die Verarbeitung der Eindrücke eines Austauschjahres länger dauert als ein Jahr. Es wäre daher auch zu überlegen, wie die Entsendeeltern effektiver in die Erfahrungen ihrer Kinder einbezogen werden können, um die
Missverständnisse bei der Rückkehr zu minimieren oder zu vermeiden.
4.1.2. Situation der Gastfamilie
Wenn das Modell des sozialen Raumes und des Lebensstils erfolgreich umgesetzt
werden soll, müssen die Gastfamilien in diesen Interpretationsrahmen eingebunden
werden. Bisher gibt es für die Gasteltern kein Lernkonzept, sondern die Annahme,
dass entweder für die Gastfamilie keine Änderungen zu befürchten sind, weil sich das
Gastkind in die bestehenden Routinen anpasst, oder aber auch die Gastfamilien automatisch interkulturell lernen, weil Alltagsroutinen hinterfragt werden und Vieles mit einem Gastkind nicht mehr reibungslos funktioniert.
Erfahrene Gastfamilien passen die Routinen den Gastschülerinnen am Anfang an, um
dann gemeinsam in die gebräuchliche „deutsche“ Routine zu gleiten. Dieses Verfahren
bedarf, neben Erfahrung, eines hohen Maßes an Reflexion, das unerfahrene Familien
in diesem Maß nicht haben können. Für unerfahrene Gastfamilie wird die Gastschülerin
156
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
zu einer Herausforderung im eigenen Alltag, in manchen Fällen zur Bedrohung nie
hinterfragter Selbstverständlichkeiten oder unterschwelliger Konflikte und damit zur
Überforderung.
Die meisten Gastfamilien sind bereit ein Gastkind aufzunehmen, weil sie keine Probleme mit den Gastkindern erwarten. Viele Gastfamilien erwarten ein motiviertes, sich
an die bestehenden Verhältnisse anpassendes Gastkind, das für die Chance des Austausches dankbar ist und sie aktiv und eigenständig nutzt. Viele Gastfamilien sind irritiert, wenn unmotivierte und überforderte Teenager am eigenen Esstisch sitzen, die
aus den unterschiedlichsten Motiven in den Austausch gegangen sind, aber scheinbar
nicht aus Interesse am Gastland. Das führt zu beiderseitigen Enttäuschungen und
Missverständnissen.
Im Jahr 2005 gaben die befragten deutschen Gastfamilien zu 76% an sie hätten keine
Probleme mit den Gastschülerinnen, aber die Schülerinnen hätten falsche Erwartungen
an das Austauschjahr gehabt.
Tabelle 19: Einschätzung der Gastfamilien ihrer eigenen Leistung
Welcher Aussagen stimmen Sie zu?
Die Gastfamilien leben ihr Familienleben wie vorher auch
48,40%
Das Leben der Gastfamilien ändert sich nur wenig
45,20%
Die finanzielle Belastung der Gastfamilie ist hoch
32,30%
Ein Gastkind zu betreuen ist zeitlich sehr aufwendig
41,90%
Man gibt als Familie mehr als man bekommt
74,20%
Man ist in einer Ausnahmesituation, die Viele nicht begreifen
16,10%
Wir haben uns oft mit der Situation überfordert gefühlt
9,70%
Knapp die Hälfte (48,4%) der befragten Familien gaben an trotz des Gastkindes keine
Veränderungen im Alltag vorgenommen zu haben, während die andere Hälfte z.T.
erhebliche Veränderungen vornehmen musste. Die Betreuung des Gastkindes ist vor
allem zeitlich aufwendiger als ursprünglich angenommen (41,9%). Die Annahme, dass
Gasteltern bereits interkulturell lernen, wenn sie beim Frühstück ihre Alltagsroutine
erklären, muss verworfen werden. Die unerfahrenen Eltern möchten, dass vorhandene
Routine übernommen werden und alle pünktlich aus dem Haus in die Schule und zur
157
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Arbeit kommen. Eine kulturrelativistische Komponente der Reflexionen konnte bei keinem der Befragten festgestellt werden. Viele Gasteltern bereiten intensiv die Besuche
von Sehenswürdigkeiten und Kulturgütern vor, weil sie sich auf ein kulturell und geschichtlich interessiertes Gastkindes einstellen, um dann festzustellen, dass das Gastkind sie als Partytaxi oder das Hotel „Gastfamilie“ missbraucht. Die Zustimmung von
74% zur Aussage 'Man gibt als Familie mehr als man bekommt' macht diesen Zusammenhang deutlich. Daher wünschten sich viele Gastfamilien ein besseres Auswahlund Vorbereitungskonzept mit einem klaren Fokus auf 'interkulturelles Lernen', um die
gegenseitigen Irritationen zu reduzieren. Den Gastfamilien muss im Vorfeld ebenfalls
erklärt werden, dass interkulturelles Lernen soziales Lernen im Vergleich zweier Familien und deren sozialer Bezüge ist und kein kulturhistorisches Seminar.
Eine Gastfamilie, die ein Gastkind für ein Jahr aufnimmt und keinen finanziellen Ausgleich bekommt ist nicht bereit sich einem Dauerstreit mit widerwilligen Jugendlichen
über Regeln und Partygewohnheiten zu stellen. Diese Situation zu verbessern ist eine
wichtige Zukunftsaufgabe des gastfamilienbasierten Schüleraustausches. Wenn selbst
erfahrene Gastfamilien zu dem Schluss kommen der Austauschgedanke sei akut gefährdet, dann besteht Handlungsbedarf. „Als uralte AFS-Familie beobachten wir, dass
die „Qualität“ der Gastschüler sich verändert. War es früher die unendliche Offenheit
und Neugier für eine andere Kultur und deren Menschen, ist es heute eher eine Suche
nach der Bestätigung eigener und teilweise egoistischer Lebensvorstellungen.“ (Gastfamilie 2003/2004)
Der Verdacht, dass egoistische und ethnozentrische Sichtweisen den Schüleraustausch heute dominieren, kann aus der Untersuchung nicht bestätigt werden, allerdings
die Zunahme von Frustrationen und nicht erfüllten Erwartungen.
Ein klares Lernkonzept, dass effizientes soziales Lernen in unterschiedlichen sozialen
Räumen ermöglicht und die klare Kommunikation von Erwartungen der Gastfamilien an
die Austauschschülerinnen scheinen ein vordringliches Problem des modernen Schüleraustausches zu sein. Durch den demographischen Wandel werden belastbare Familien in der Minderzahl sein. Die Gastfamilien wünschen sich daher alles, nur keine zusätzlichen zeitlichen Belastungen und Aufregungen durch den Austausch.
Tabelle 20: Gastfamilienvorbereitung
Sollten die Gastfamilien vorbereitet werden?
ja
22,50%
nein
29,00%
k.A.
48,40%
158
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Tabelle 21: Camps für Gastfamilien
Sollten Camps für Gastfamilien angeboten werden?
ja
19,40%
nein
58,10%
k.A.
22,60%
Camps zur Vorbereitung oder während des Jahres sind von den Familien abgelehnt
worden. Lediglich 20% der Familien wollen hier Zeit investieren, 20% sind unentschlossen und 60% sind dagegen. Auch wenn eine intensivere Betreuung an den Wochenenden abgelehnt wird, wird eine Vorbereitung auf das Austauscherlebnis mehrheitlich
befürwortet, so dass neue Formen der Familienbetreuung gesucht werden müssen, um
die Betreuungsqualität zu verbessern. Mit klaren Lernkonzepten und der Möglichkeit
die eigene soziale Kompetenz zu vergrößern, können auch Gastfamilien in das Lernkonzept aktiv eingebunden werden.
Tabelle 22. Familienbetreuung
Die Familienbetreuung war:
gut
29%
mittel
41,90%
schlecht
Die Informationen an Gasteltern waren:
29,00%
gut
38,70%
schlecht
61,30%
Knapp 30% fanden die persönliche Betreuung gut, weitere 41% hätten sich punktuelle
Verbesserungen gewünscht und 30% waren unzufrieden, vor allem mit der Informationspolitik des AFS. Einladungen zu Wochenendveranstaltungen werden traditionell
an die Schülerinnen gesandt und nicht an die Gastfamilie. Früher war es selbstverständlich, dass Gastschülerinnen ihre Gastfamilie über solche Einladungen rechtzeitig
informierten. Heute ist das mehrheitlich nicht mehr der Fall, die Gastfamilien erfahren
im günstigen Fall einen Tag vor der Abfahrt der Schülerin vom Termin, im ungünstigen
Fall am Tag der Abreise.
Die Betreuung der Eltern zu verbessern, heißt die aktuelle Schülerinnensituation zu erkennen und ins Betreuungskonzept einfließen zu lassen. Neben der Umstellung der In-
159
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
formationsübermittlung müssen erfahrene und engagierte Gasteltern für die Betreuung
gewonnen und nach einem klaren und nachvollziehbaren Konzept geschult werden.
Die solitäre Erfahrung der Gastfamilien muss honoriert und in einen allgemeinen Gesamtkontext gebracht werden.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang der Ausbau der AFS-Programme auf immer mehr Schülerinnen und immer mehr Formate. Qualität kann mit vielen Schülerinnen und Gastfamilien nur gesichert werden, wenn mehr qualifizierte, motivierte und
dauerhaft zur Verfügung stehende Ehrenamtliche eingebunden werden können. Die
Aufnahme kurzer Austauschformen im AFS dürfte die Suche nach Familien noch erschweren. Wenn in Baden-Württemberg gleichzeitig 100 Familien für einen zehnmonatigen und 30 für einen dreimonatigen Aufenthalt gesucht werden, dann werden in Zukunft nicht mehr 20 Willkommensfamilien für die langfristigen Schülerinnen notwendig
sein, sondern 50. Diese Befürchtungen werden auch von erfahrenen Gastfamilien geteilt: „Die „Exklusivität“ des Programms (im positivsten Sinne) ist gefährdet und der
AFS nähert sich der 'Reisebüro-Mentalität'.“ (Gastfamilie 2003/04) Ehrenamtliche Gastfamilien sind bereit einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten, aber sie wollen
die Zielsetzung gesichert sehen, ohne sich ausnutzen zu lassen. Bei den ausländischen Gastfamilien sind darüber hinaus finanzielle Probleme zu nennen. Der vielfach
erwähnte Sozialschock hing mit tatsächlicher Armut der Familien zusammen. Dieser
Zusammenhang konnte mit Fragen, die in Ländern der dritten Welt zur Ermittlung des
Hungers benützt werden, systematisch ermittelt werden.
Tabelle 23: Wie war das Essen im Ausland?
Es gab manchmal nicht genug zu essen
Osteuropa
40,0%
Westeuropa
0,0%
USA
0,0%
Südamerika
Asien
14,0%
0,0%
Die Gastfamilie hat meine Essenswünsche berücksichtigt
Osteuropa
14,0%
Westeuropa
50,0%
USA
42,8%
Südamerika
42,8%
Asien
67,0%
160
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Die Zahlen geben die Erfahrungen der Rückkehrerinnen des Jahres 2004 wieder. In
Osteuropa, im Stipendien- und im Regelprogramm, gaben 40% der Befragten an, es
hätte manchmal nicht genug zu essen gegeben. Gleichzeitig wurde ermittelt, dass nur
14% der Gasteltern in Osteuropa auf die Essenswünsche der Gastschülerinnen eingegangen sind oder eingehen konnten, so dass man davon ausgehen muss, dass nicht
immer das Essen auf dem Tisch war, das die Schülerinnen essen wollten. Daraus kann
man schließen, dass die Familien die Wünsche von verwöhnten Gastschülerinnen nicht
immer erfüllen können oder wollen. Wie in den Fallbeispielen gezeigt, ist die Armut der
Familien in Mittel- und Osteuropa teilweise bedrückend und die daraus resultierende
Überforderung von Schülerin und Familie erheblich, da für manche Gastfamilie ein zusätzlicher Esser erhebliche Probleme bedeuten kann.
Das Modell des sozialen Raumes bietet Vorteile, um soziale Abweichungen und Unterschiede zu erkennen und zu erklären. Die Schülerinnen und die Familien können auf
diese Unterschiede besser vorbereiten werden und ihre Erwartungen anpassen, aber
die finanzielle Überforderung der Familien kann auch mit dem Modell des sozialen
Raumes nicht überwunden werden. Soll der Austausch nach Osteuropa weiterhin in
alle sozialen Schichten erfolgen, muss über Hilfen für die sozial schwachen Familien
nachgedacht werden. Die Alternative ist eine deutlich engere soziale Auswahl der
Gastfamilien, wie sie mit dem Modell des sozialen Raum möglich ist. Mit der Auswahl
der Gastsfamilien innerhalb bestimmter Quadranten des sozialen Raumes kann dann
das soziale Lernen im engeren Sinne innerhalb desselben sozialen Feldes in zwei
unterschiedlichen Ländern angeboten werden. Diesem Lernen im engeren Sinne steht
der Nachteil einer Elitebildung gegenüber. Nimmt man die Grundsatzerklärung des
AFS ernst: "AFS ist eine internationale, unabhängige und gemeinnützige Ehrenamtlichenorganisation, die interkulturelle Programme durchführt, um Menschen in der Entwicklung ihres Wissens, ihrer Fähigkeiten und ihres Verständnisses zu unterstützen,
die erforderlich sind, um eine gerechtere und friedvollere Welt zu schaffen. AFS hilft
Menschen in ihrem Bestreben, sich als verantwortungsvolle Bewohner dieser Erde für
den Frieden und ein besseres Verständnis zwischen den unterschiedlichen Kulturen
dieser Welt einzusetzen.(...)“ dann kann die soziale Ausgrenzung kein Ziel des Austausches sein. Mit den entsprechenden Analysen des sozialen Raumes, der Ausweitung der Betreuung von Schülerinnen und Gastfamilien und klaren Lernkonzepten kann
der Schüleraustausch die Grundsatzerklärung auch in Zukunft verwirklichen.
161
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
4.1.3. Evaluationsbasis
Jedes Programm muss bezüglich der Durchführung und Wirksamkeit evaluiert werden,
um Korrekturen und Weiterentwicklung zu sichern. Der AFS führt regelmäßig interne
Evaluationen seiner Programme durch und befragt die Rückkehrerinnen und Gasteltern
nach deren Erfahrungen, Zufriedenheit und dem interkulturellen Lernen. Die Ergebnisse der Betreuungsqualität sind laut AFS im Jahr 2000 auf 52% zufriedene Teilnehmerinnen gesunken und stimmen mit den schlechten Werten dieser Untersuchung
nicht ganz überein. Da über die Betreuungsqualität bereits detailliert gesprochen wurde, soll hier die Evaluation des sozialen Lernens in den Vordergrund rücken.
Die Grundlage der Befragung des AFS ist die Annahme, dass im Ausland automatisch
durch die Transzendierung der alten in eine neue Rolle gelernt wird. Der Prozess der
Transzendierung ist so abstrakt, dass eine Evaluation des 'interkulturellen Lernens'
keine brauchbaren Ergebnisse zeitigt. Bei offenen Fragen nach dem interkulturellen
Lernen wurden entweder unbrauchbare, keine oder stereotype Antworten gegeben, so
dass bisher das interkulturelle Lernen nur indirekt erfasst werden konnte.
Tabelle 24: Was hast du im Ausland gelernt?
Umgang mit schwierigen Situationen
ja
92,00%
vielleicht
7,70%
nein
0,00%
Umgang mit Missverständnissen
ja
84,60%
vielleicht
15,40%
nein
0,00%
Heimweh überwinden
ja
31,00%
vielleicht
31,00%
nein
38,50%
Sprache
ja
92,30%
vielleicht
7,70%
nein
0,00%
Bei Fragen nach der Rolle als Gasttochter und dem Vergleich von Tochter- und Gasttochterrollen, konnten ebenfalls keine brauchbaren Ergebnisse erzielt werden. In den
Einzelinterviews wurde deutlich, dass der soziologische Begriff der Rolle für die Jugendlichen keine nachvollziehbare Bedeutung hatte. Das Erfassen des interkulturellen
Lernens musste daher über andere Kriterien, wie Probleme, Missverständnisse etc.
162
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
abgefragt werden. Über 90% der befragten Schülerinnen gaben an sie hätten im Austausch die Handhabung schwieriger Situationen gelernt, woraus man schließen kann,
dass die Mehrheit der Schülerinnen schwierige Situationen zu bewältigen hatte. Die
Fallbeispiele haben einige der Problemlagen beschrieben. Allgemein wurden Integrationsprobleme in die Gastfamilie, Sprachschwierigkeiten, Isolation und daraus resultierende Einsamkeit im Auslandsjahr genannt.
Die Schaffung eines neuen sozialen Umfeldes und die Lösung der damit verbundenen
Probleme kann eindeutig als soziales und nicht schon primär als interkulturelles Lernen
bezeichnet werden. Die Bezeichnung des Lernens als interkulturelles Lernen ist nur mit
klaren kulturelle Unterschieden zu begründen, die aber im Modell des Eisbergs nicht
spezifisch genug zu fassen sind. Vielmehr wird mit dem Eisbergmodell suggeriert alle
Probleme im Ausland seien interkulturelle Probleme, was zu Problemen der Wahrnehmung führt. Eine Problemlösung konnten mit dem Begriff des interkulturellen Lernens nicht gefunden werden, denn Kultur überformt das soziale Lernen und erschwert
die Lösungen eher als sie zu erleichtern. Die Aussagen zum interkulturellen Lernen mit
'Probleme bewältigen', 'Umgang mit Missverständnissen' und 'Heimweh' macht die Uneindeutigkeit des Begriffs deutlich.
Die Unsicherheit über den Lernvorgang im Ausland macht die Zustimmungen zu den
folgenden, vorgegebenen Antworten der Schülerinnen deutlich. Die Aussagen wurden
als interkulturellen Erfahrungen beschrieben.
Tabelle 25: Die wichtigste Erfahrung im Ausland
Was war das wichtigste in deinem Auslandsjahr?
Ich habe durchgehalten
26,60%
Ich habe die Sprache gelernt
40,00%
ich habe tolle Leute kennen gelernt
76,60%
Ich habe eine einmalige Erfahrung gemacht
80,00%
Ich habe viel gelernt
73,30%
Für 26,6% der Befragten war die wichtigste Erfahrung das Jahres durchgehalten zu
haben. Ob das Durchhalten eine sinnvoll Zielsetzung des Auslandsjahres ist, kann man
nicht generell beantworten, es verdeutlicht aber die Einschränkung der Evaluationsmöglichkeiten auf dieser Basis. Die positiven Erfahrungen wie 'Leute kennen lernen'
und 'eine einmalige Erfahrung machen' wird von der Mehrheit der Befragten genannt,
163
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
kann aber nicht als spezifisch interkulturelle Erfahrung des langfristigen Schüleraustausches gewertet werden, denn diese Erfahrungen sind auch auf Reisen und bei kürzeren Austauschmaßnahmen möglich.
Aus dem Modell des sozialen Lernens nach Bourdieu lässt sich eine neue Evaluationsbasis ableiten, die das Lernen im Ausland deutlich schärfer fassen und evaluieren kann
als bisher. Die Fokussierung auf den Lebensstil gibt neue Evaluationsmöglichkeiten,
um die spezifischen Vorteile eines zehnmonatigen Aufenthaltes im Ausland überprüfen
zu können. Evaluationen müssen nach herrschenden Standards durchgeführt werden.
„Evaluationen sollen Erkenntnisse liefern, die den Auftraggebern der Evaluation und
den Zielgruppen des Programms (des Evaluationsgegenstandes) nutzen. U.a. kann ein
Interesse daran bestehen, zu wissen, ob ein Programmablauf reibungslos funktioniert,
welche Bedarfe die Zielgruppe hat, ob die Maßnahmen die Zielgruppe erreichen,(...),
ob die Durchführungsorganisationen in der Lage sind, das Programm effektiv und effizient umzusetzen, wie sich die Rahmenbedingungen verändert haben, (...) welche Beiträge das Programm zur Lösung des identifizierten Problems liefert (...).“ (Stockmann
2005)
Übersicht 31: Zielfunktionen von Evaluation
Kontrollfunktion
Erkenntnisfunktion
Evaluation
Lernfunktion
Legitimitätsfunktion
Stockmann, Internet 2005
Der AFS hat die Ablauforganisation zwischen der Auswahl und der Entsendung in den
1990er Jahren professionalisiert, denn nur so sind ca.1000 Schüler pro Schuljahr zu
verwalten. Die vom AFS durchgeführten internen Evaluationen betrafen vor allem die
Ablauforganisation und die Zufriedenheit der Zielgruppen mit diesem Ablauf. Als Zielgruppe wurden 1999 die teilnehmenden Schülerinnen, die Gastfamilie und die entsen-
164
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
denden Familien identifiziert. In den letzten Jahren hat die Zielgruppe der Stipendiengeber an Bedeutung gewonnen.
Nicht nur gegenüber den Stipendiengebern, sondern auch gegenüber Teilnehmern und
den Gastfamilien sollte über die Ablauforganisation hinaus das Lernen im Auslandsjahr
spezifiziert und entsprechend evaluiert werden. Das in dieser Arbeit dargestellte Modell
des sozialen Raumes kann Kompetenzgewinne im sozialen Verhalten für große und
geringe soziale Unterschiede unterscheiden, die auch in einer Evaluation nachgewiesen werden müssen. Das soziale Lernen im Auslandsjahr kann in die folgenden Kategorien gegliedert werden:
I.
Sprache und Kommunikationsfähigkeit
II.
Sozialer Raum, soziales Feld und die Vergleichbarkeit der Gast- mit der
Herkunftsfamilie (Unterschiede des Lebensstils und der Gesellschaft)
III.
Probleme des Austausches
IV.
Kompetenzen im Umgang mit fremden Menschen
Kategorie I. erfasst neben der Fremdsprachenbeherrschung das Kommunikationsniveau der Austauschschülerinnen in Bezug auf die soziale Angemessenheit. Die Angemessenheit der Kommunikation kann in der Gastfamilie und in der Schule festgestellt
werden und ist dann ein wichtiges Lernziel, wenn die soziale Umgebung von Schule
und Gastfamilie voneinander abweichen. In der II. Kategorie lassen sich die Lernerfolge des sozialen Lernens anhand des Vergleichs der Beherrschung sozialer Formen
evaluieren. Ziel des sozialen Lernens ist die Anpassung an das jeweilige soziale Umfeld, dessen Unterschiede zum Umfeld der eigenen Familie feststellbar sind. Der gezielte Vergleich von Herkunfts- und Gastfamilie kann Unsicherheiten mindern und die
Toleranz für anderes Verhalten erhöhen. Werden Unsicherheiten durch die Klarheit
sozialer Differenzen gemindert, dann können die emotionalen Beziehungen zu Gastmutter und Gastvater in den Hintergrund und der von der Gastfamilie gelebte Lebensstil in den Vordergrund treten. Der Habitus und Lebensstil erfasst die Beziehungen
der gesamten Familie und objektiviert die Beziehung der Gastschülerinnen zur Gastfamilie.
In Kategorie III. müssen neben den allgemeinen Problemen die konkreten Probleme
des Austausches evaluiert werden. Neben Problemen des Ablaufs und der Betreuung,
müssen die aus sozialen Unterschieden resultierenden Problemen und damit einhergehende persönlichen Unstimmigkeiten voneinander isoliert werden. Die Feststellung,
dass eine Schülerin mit dem Habitus und Lebensstil der Gastfamilie Probleme hat, ist
eine Andere als die Feststellung im Gastland wären alle arm und rückständig. Das
Erkennen objektiver sozialer Unterschiede muss den konkreten Umgang mit einer Familie aus dem kulturellen Vergleich befreien, Toleranz ist dann sehr konkret gegenüber
165
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
sozialen Umständen und nicht mehr gegenüber abstrakten Kulturen nötig. Die Erkenntnis mit Menschen einer anderen sozialen Zugehörigkeit persönlich Probleme zu
haben ist zunächst eine sinnvolle Feststellung, die man unter anderen Umständen
nicht hätte machen können.
Ziel des sozialen Lernens im Ausland, sind daher die Orientierungsklarheit, Verhaltenssicherheit und das Erreichen eines Mindestanspruchsniveaus der Schülerinnen.
Übersicht 32: Prototypischer Akkulturationsverlauf 39
hoch
Mindestanspruchsniveau
niedrig
Ankunft
Zeit
.... Verhaltensangemessenheit
--- Orientierungsklarheit
Nach Grove und Torbiörn ist die Orientierungsklarheit am Anfang eines Auslandsaufenthaltes sehr hoch, weil sie überschätzt wird und sinkt dann deutlich unter das Mindestanspruchsniveau. Die Orientierungsklarheit erfasst Verhaltensregeln und das Erkennen symbolischer Zeichen und deren Bedeutung. Die Verhaltensangemessenheit
ist bei der Ankunft in einer fremden Gesellschaft gering und steigt durch soziales Lernen vor allem dann an, wenn klare Vorgaben existieren und in der jeweiligen sozialen
Situation effizient gelernt werden kann. Der Wegfall bekannter Alltagsroutinen und die
daraus resultierende Verunsicherung kann durch das Lernen neuer sozialer Verhaltensweisen kompensiert werden. Der Prozess der Verhaltenssicherheit kann durch die
Kenntnis des sozialen Raumes und Reflexion des aktuellen Geschehens schneller
bewältigt werden als ohne soziale Differenzierungen. Fehlen Erklärungsmodelle für das
soziale Lernen im Ausland, dann wird die Orientierungsklarheit und das Erreichen eines für Gastschülerin und Gastfamilie akzeptablen Mindestanspruchsniveaus erheblich
39
Torbiörn und Grove 1985
166
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
erschwert. Der soziale Raum mit einer konkreten sozialen Zugehörigkeit und der eindeutigen Verbindung zu Kapitalien, Lebensstil und Habitus bietet ein Einordnungssystem innerhalb dem soziales Lernen reflektiert, Verunsicherungen abgebaut und Handlungssicherheit auf unterschiedlichen sozialen Niveaus erreicht werden kann. Dies gilt
allerdings nur, wenn die Konzepte zur Vorbereitung und Begleitung des Austausches
angepasst werden. Die kognitive Erweiterung des Weltbildes und die Erweiterung der
Handlungskompetenzen kann nicht als Automatismus begriffen werden, der immer
dann abläuft wenn man im Ausland ist. Vielmehr müssen junge Menschen ausreichende Orientierungshilfen erhalten, um ihre ersten Erfahrungen mit fremden sozialen Bezügen erfolgreich zu meistern. Ein konsistentes Modell der sozialen Lernmöglichkeiten kann die Interpretationsmöglichkeiten fremder Situationen eingrenzen und
dadurch Verunsicherungen abbauen. Gleichzeitig muss das Modell den Teilnehmern
die Möglichkeit der individuellen Anpassung geben, um den Gegebenheiten von konkreten Menschen gerecht zu werden und so Stereotype zu vermeiden. Um die Vorurteilsbildung zu minimieren, müssen die Gastfamilien vermutlich ebenfalls ein hohes
Reflexionsniveau des eigenen Verhaltens aufweisen und ihre Denk- und Verhaltensmuster transparent machen.
Ein Auslandsjahr ist eine der wichtigsten Möglichkeiten soziale Kompetenzen und damit die eigene Orientierungsklarheit in unterschiedlichen sozialen Räumen und Zusammenhängen zu erweitern. Jugendliche können über den Horizont der eigenen Gesellschaft und des eigenen sozialen Feldes und des damit verbundenen Lebensstils
neue soziale Bezüge entdecken und sich weiter entwickeln.
Eine Ausformulierung des sozialen Lernmodells mit klaren Zielen des Austausches
bietet Evaluationsmöglichkeiten um das Erreichen der Ziele zu überprüfen und das
Lernmodell weiter zu entwickeln. Dieses ist notwendig, um das Lernen unterschiedlicher Lebensstil in offenen und pluralen Gesellschaften als wichtigen Bestandteil des
sozialen Lernens im Ausland zu etablieren und damit sowohl die kleinen feinen Unterschiede der sich angleichenden Gesellschaften, wie auch die sozialen Divergenzen der
globalisierten Welt bewältigen zu können.
4.2. Zusammenfassung und Ausblick
Diese Arbeit geht von der Annahme aus, dass interkulturelles Lernen immer auch als
soziales Lernen zu bezeichnen ist. Der Vorteil dieser Annahme liegt in der Überwindung sperriger Kulturdefinitionen, die mit so großen Problemen behaftet sind, dass
sie den Lernprozess letztlich mehr behindern als fördern.
167
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
4.2.1. Vom interkulturellen Lernen zum soziales Lernen
Die Überlegung das Lernen auch im Ausland auf sozialen und nicht auf kulturellen
Interaktionen basiert, konnte überprüft und bestätigt werden. Der AFS selbst erklärt das
interkulturelle Lernen mit soziologischen Begriffen, was die These des sozialen Lernens zwar stützt, aber als Nachweis nicht genügt, da das Konzept des AFS nicht
schlüssig fundiert und auch in der Untersuchung nicht stringent nachvollzogen werden
konnte.
Der Wechsel zum habituellen Lernen Bourdieus konnte eine geschlossene Untersuchung des sozialen Lernens in einer Gastfamilie und Gastschule nachvollziehbar
machen. Dagegen geht der AFS vom sozialen Lernen in Rollen und der Transzendierung der alten in eine neue Rolle aus, ohne dieses Konzept hinreichend zu erklären.
Die theoretische Fundierung dieser Annahmen mit der Theorie Parsons erfolgte, weil
der Schüleraustausch in seinen Anfängen der 1950er Jahre stark von normativen Überlegungen beeinflusst war, die sich mit den Bemühungen der Re-Education der
Deutschen deckten. Die Überprüfung der Theorie des funktionalen Strukturalismus und
der Handlungstheorie von Parsons ergab eine in sich geschlossene Theorie, auf der
Grundlage geltender Normen. Diese Annahmen decken sich jedoch nicht mehr mit den
gesellschaftlichen Entwicklungen moderner Gesellschaften und können keine Erklärungsmuster für soziales Lernen in modernen Gesellschaften oder im Austausch mit
anderen Gesellschaften mehr geben.
Eine Überprüfung der allgemeinen Sozialisationstheorie lieferte wichtige Aspekte des
sozialen Lernens in Institutionen und in Lebensphasen. Diese Erkenntnisse können
bisher noch nicht in einen stringenten Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum gebracht werden, was für die Erklärung der Lernprozesse nicht nur im Auslandsjahr unabdingbar notwendig ist, um ein Lernmodell mit Erklärungswert abzuleiten.
Das soziale Lernen im Gastland unterscheidet sich vom sozialen Lernen im Herkunftsland nur wenig, wenn die Sozialisationsinstanzen Familie und Schule vergleichbar sind.
Eine sozialrelativistische Herangehensweise ist dann im Vergleich der Instanzen und
dem Umgang mit den Rollen Kind, Schüler und Geschwister möglich. Diese Eckpunkte
könnten dann als interkulturelles Lernens bezeichnet werden, wenn der Vergleich sozialer Größen mit einem eindeutigen Kulturbegriff verbunden wäre. Da genau dieser
Kulturbegriff fehlt, kann man nicht mehr vom interkulturellen Lernen sprechen.
Insofern ist ein Paradigmenwechsel von der kulturrelativistischen hin zu einer sozialrelativistischen Betrachtung notwendig.
Bourdieus Theorie kann diesem Paradigmenwechsel ein Rückrad geben, denn sie
strukturiert den sozialen Raum durch Kapitalien, Berufe und die damit verbundenen
feinen Unterschiede und bietet mehrere Vorteile für die Analyse sozialer Lernprozesse
168
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
auch über Landesgrenzen hinweg. Zum einen wird ein synchroner Zusammenhang des
Gesellschaftsraumes möglich, der gleichzeitig eine Differenzierung der individuellen
Ausstattung mit Kapitalien und dem daraus resultierenden Lebensstil ermöglicht. Für
das soziale Lernen im Ausland bietet das Modell des sozialen Raumes daher mehrere
Vorteile:
Vergleichbarkeit der Herkunfts- und Gastfamilie in den jeweiligen sozialen
Räumen
Ableitung der Anforderungen an das sozialen Lernen nach den konkreten Unterschieden von Herkunfts- zur Gastfamilie
Lernen von Lebensstil und Habitus, statt von Kultur
Der soziale Raum, aufgeteilt in vier Quadranten, verbunden mit der konkreten Positionierung in diesem Raum nach den Berufen des Vaters und Gastvaters, bietet ein handhabbares Modell der sozialen Verortung, ohne ein Schichtenproblem aufzuwerfen.
Die Berufe des sozialen Raumes müssen aktualisiert, internationalisiert und den heutigen Gegebenheiten angepasst werden. Wenn in Westeuropa der Unternehmer immer
mehr durch den angestellten Manager verdrängt wird, dann müssen diese Änderungen
genauso in das Modell des sozialen Raumes eingehen, wie international unterschiedliche Berufsbezeichnungen. Die Vergleichbarkeit der Berufsbezeichnungen wird durch
den europäischen Bildungsraum in Zukunft vereinfacht, aber für eine Übergangszeit
müssen innerhalb Europas die Berufsbezeichnungen geklärt werden. Ein weiteres
Problem der Aktualität stellt die Einbeziehung des Berufs der Mütter dar. Bei einer Beschäftigungsquote von über 70% der Mütter der Teilnehmerinnen können diese nicht
mehr unbeachtet bleiben. Werden die Berufe von Vater und Mutter zur Verortung herangezogen, dann können sich 'spillover' Effekte der Berufe ergeben, die theoretisch
geklärt werden müssen.
Mit den Aktualisierungen stellen die Überlegungen Bourdieus ein hervorragendes Instrument zur Erklärung sozialer Lernprozesse in zwei Gesellschaften dar, denn der
soziale Raum wird in allen Gesellschaften durch Kapitalien strukturiert, die den Wahrnehmungsfilter des Habitus und den Lebensstil als Handlungsmuster beeinflussen.
Geht man außerdem von einer Konvergenz der Gesellschaften hin zu Demokratie und
Kapitalismus aus, dann werden gesellschaftliche Ausgleichprozesse auch über den
europäischen Raum hinaus zunehmen. Die Konvergenz der ökonomischen und politischen Bedingungen der Gesellschaften, ohne dass damit kulturelle Fragestellungen
berührt sind, macht das soziale Lernen über Landesgrenzen hinweg wichtiger, um der
Offenheit moderner Gesellschaften gerecht zu werden. Wie bereits mehrfach ausgeführt bestreiten die bisherigen Überlegungen zum 'interkulturellen' Lernen die Konvergenz der Gesellschaften nicht, gehen aber neben ökonomischen und politischen An-
169
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
gleichmechanismen davon aus, dass kulturelle Muster langlebig sind und daher nicht
konvergieren werden. Die Problematik dieser Annahme besteht in der Unmöglichkeit
einer griffigen und gleichzeitig richtigen Kulturdefinition.
Geht man vom Kulturbegriff zum Habitus, dann werden Gleichheiten im sozialen Raum
erkennbar, ohne die Unterschiede zwischen Gesellschaften zu verdecken. Die Verbindung dieser sozialen Bestandteile mit dem Lebensstil und dem Habitus macht eine
differenzierte und mehrdimensionale Erklärung möglich. Je nach Situation können die
sozialen oder habituellen Unterschiede ausgelotet werden. Trifft der deutsche Manager
einen französischen Arbeiter, dann ist das zunächst eine soziale Auseinandersetzung
und keine kulturelle. Trifft der deutsche Manager den französischen Manager dann
müssen die sozialen Gleichheiten in den Symbolen des jeweils spezifischen Habitus
ausgelotet werden. Dieses soziale Lernen kann mit Bourdieu als Lernen der feinen
Unterschiede des deutschen und des französischen Habitus im selben sozialen Feld
bezeichnet werden. Die Habitualisierung der Lebensstile bezeichnet Bourdieu sehr
radikal als Konditionierung. Stimmt man dieser Sicht des sozialen Lernens zu, dann
sind Änderungen des Habitus durch soziales Lernen schwer denkbar. Werden habituelle Unterschiede als Unterschiede des Lebensstils in einem vergleichbaren sozialen
Feld bezeichnet und nicht als tief sitzende kulturelle Prägungen, dann ist soziales Miteinander möglich aus dem Anpassungen erfolgen müssen. Ein Kennzeichen des sozialen Lernens in offenen Gesellschaften muss die Kenntnis verschiedener Kontexte und
die Anpassung des eigenen Habitus an diesen Kontext sein.
„When you are in Rome, do as the Romans do“, kann nicht als Assimilation des römischen oder italienischen, des englischen oder russischen Habitus und Lebensstils bezeichnet werden, sondern als die Anerkennung dieses Stils, den man achtet und anerkennt. Dieser Lebensstil ist nicht mehr nur von der Nationalität, sondern von der sozialen Verankerung innerhalb des sozialen Raumes in Italien, Deutschland, Russland,
oder in Europa abhängig. Soziale Kompetenz kann dann als die Orientierungssicherheit bezeichnet werden, die es den Handelnden ermöglicht innerhalb des gleichen sozialen Feldes mit feinen Unterschieden des Habitus umzugehen, wie auch mit
sozialen Unterschieden innerhalb der eigenen Gesellschaft und in unterschiedlichen
sozialen Räumen. Der sozial kompetente Mensch wird dann in der Lage sein mit dem
Arbeiter in Argentinien wie mit dem Manager in London angemessen umgehen zu können, indem er die symbolischen Ausprägungen des jeweils anderen Habitus versteht.
Da diese Spannweite sowohl sprachlich, wie auch habituell enorme Anforderungen
stellt, ist es wahrscheinlicher, dass die Brücke zwischen dem Manager in London, Argentinien und New York zu schlagen ist und sich im jeweiligen Umfeld sicher bewegen
170
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
zu können, als alle feinen Unterschiede über Länder und sozialen Klassen hinweg zu
beherrschen.
Wenn diese soziale Kompetenz in Zukunft wichtiger wird, was kann dann der Schüleraustausch zu dieser globalen Sozialkompetenz beitragen?
Der langfristige Schüleraustausch bietet ein Lernfeld, dass weder Schule noch Sprachreise in dieser Komplexität bieten können. Die Lernmöglichkeiten des langfristigen
Schüleraustausches sind:
Lernen durch Wechsel des sozialen Status in einer Gastfamilie
Abhängig vom sozialen Status der Gastfamilie muss:
o
ein angemessenes Kommunikationsniveaus
o
ein angemessenes Verhaltensniveau und
o
eine angemessene Orientierungssicherheit erreicht werden.
Auf der Grundlage des sozialen Raumes nach Bourdieu konnte ein in sich geschlossenes und differenziertes Modell des sozialen Lernens erarbeitet werden, das die Erreichung dieser Ziele ermöglicht.
4.2.2. Ergebnisse der Untersuchung zum sozialen und interkulturellen
Lernen
In den Fallbeispielen der Untersuchung konnte gezeigt werden, dass die Schülerinnen
in keinem der untersuchten Fälle die soziale Ähnlichkeit von Herkunftsfamilie und Gastfamilie erkennen und daher auch nicht berücksichtigten konnten, was als klares Defizit
bezeichnet werden kann.
Dennoch kann ex post festgestellt werden, dass Schülerinnen mit geringen sozialen
Unterschieden zur Gastfamilie über weniger Probleme und eine einfachere Integration
berichten als Schülerinnen die einen negativen sozialen Schock erlebt haben. Auch die
Vorurteilsbildung konnte in den Fällen sozialer Nähe nicht im gleichen Ausmaß festgestellt werden, wie in den Fällen großer sozialer Differenzen. Die kognitiven Dissonanzen und die affektive Anpassung an diese großen Unterschiede sind deutlich schwieriger und mit mehr Barrieren verbunden, als geringe kognitive Dissonanzen in einem
ähnlichen Umfeld.
Die Betonung der kulturellen Unterschiede in Gastfamilie, Gastschule und Gastland hat
den sozialen Lernprozess eher behindert als befördert. Die unklare Formulierung des
interkulturellen Lernens führte zu diffusen Erwartungen die weder von den Gastschülerinnen, noch den Gasfamilien erfüllt werden können. Aus Enttäuschung über nicht
erfüllte Erwartungen, wie eine perfekte Gastfamilie, oder eine angemessene Betreu-
171
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ung, haben die Gastschülerinnen die Gastfamilie nicht wahrgenommen und sich so
über deren Erwartungen hinweggesetzt. Zum anderen haben die bei der Auswahl ermittelten Erwartungen an den Schüleraustausch eine nur kurze Überlebensdauer. Im
Gastland werden die eigenen Bedürfnisse nach einem Jahr „Auszeit“ wichtiger als alle
vorher formulierten Lernziele. Überraschend häufig gaben die Befragten (57%) an,
dass sie die deutsche Schule als stressig empfinden und in der Gastschule daher keine
Ambitionen entwickelt haben. Überraschend ist diese Feststellung deshalb, weil die
Mehrheit der Teilnehmerinnen mit sehr guten schulischen Leistungen aufgefallen war,
so dass man die Negativmotivation der Schülerinnen auch mit den unklaren Zielvorstellungen des Austauschjahres zusammenbringen muss. Wenn keine Transparenz bezüglich des Lernens im Ausland hergestellt werden kann, weil ein entsprechendes
Modell fehlt, stellen die Teilnehmerinnen ihre eigenen Ziele, auch egoistische, in den
Vordergrund. Die Ziele des Austausches als soziales Lernen mit Orientierungsklarheit
müssen deutlich kommuniziert werden, um sowohl Gastfamilien, wie Gastkindern klare
Erwartungen an das eigene Verhalten an die Hand zu geben.
Die Ergebnisse der Befragungen aus den Jahren 2003 bis 2005 ergaben Hinweise,
dass interkulturelles Lernen im Sinne des sozialen Lernens nach Bourdieu möglich ist.
Es ergaben sich erhebliche Überschneidungen der sozialen Verankerungen, die aber
nicht genutzt werden konnten, weil sie in so genannten kulturellen Unterschieden verschwammen. Die sozialen Ähnlichkeiten wurden von den betroffenen Schülerinnen
nicht erkannt, weil sie auf diesen Vergleich nicht vorbereitet waren. Vielmehr haben die
Befragten vor allem Unterschiede wahrgenommen und sich durch eine fremde Sprache
und fremde optische Eindrücke der Einrichtung und des Straßenbildes in dem Glauben
befunden kulturelle Unterschiede zu erleben. Besonders gravierend war diese Wahrnehmung bei Schülerinnen deren Gastfamilien erhebliche soziale Unterschiede zur
eigenen Familie aufwiesen. Ganz allgemein war die Wahrnehmung der Teilnehmerinnen auf kulturelle Unterschiede vorprogrammiert, so dass sie nicht mehr offen an
die vorhandenen Gleichheiten herangehen konnten. Wird der Zugang zum Lernen im
Ausland durch ein neues Denk- und Erklärungsmodell ersetzt, dann können auch soziale Gleichheiten erkannt und feine Unterschiede gelernt werden. Die Probleme der
Integration in Gastfamilien kann dadurch genauso reduziert werden wie die Erschöpfung der Schülerinnen. Wird an Gastfamilie und Gastkind die Erwartung kommuniziert
zunächst Gemeinsamkeiten zu suchen, dann werden Brücken statt Barrieren gebaut.
Diejenigen Schülerinnen, denen große soziale Unterschiede zugemutet werden müssen, können mit dem Modell des sozialen Raumes diese Unterschiede klar erkennen
und ihre Verweigerung des sozialen Lernens durch Umgehungsmechanismen kann
reduziert werden kann. Den Gastschülerinnen muss auch in diesen Fällen klar sein,
172
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
was sie lernen können und welche Ziele sie mit diesem Lernen verfolgen. Dennoch
stellt sich an dieser Stelle die Frage nach den Grenzen des sozialen Lernens und damit
auch des Schüleraustausches.
Unabhängig von der Möglichkeit der Schülerinnen die sozialen Unterschiede zwischen
der eigenen Familie und der Gastfamilie zu erklären, können Gastfamilien finanziell mit
einer Gastschülerin gefordert oder überfordert sein und die Gastschülerin kann sich
dadurch in einer Problemsituation befinden. Geht sie als reiche Gastschülerin regelmäßig einkaufen und unterstützt die Gastfamilie, werden die sozialen Grenzen verwischt. Die Schülerin kann dann lernen, wie man angemessen mit der Not anderer
Menschen umgeht, oder sie kann sich in eine unangemessene Position der Geldgeberin manövrieren. Fraglich ist, ob diese Situation zu einem vertrauensvollen Miteinander der Familie mit der Gastschülerin führen kann. Noch fraglicher ist, ob dann soziales Lernen möglich ist, wenn die Schülerin als reiche Geldgeberin auftritt, anstatt
sich den Umständen anzupassen.
Große soziale Unterschiede zwischen Gastkind und Gastfamilie können im Schüleraustausch nur dann Bestand haben, wenn den Familien extern geholfen wird und sie
Unterstützung und eine Entwicklungsperspektive erhalten. Wenn man im Modell des
sozialen Raumes auch das Lernen großer sozialer Differenzen für sinnvoll hält, dann
müssen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, damit dieses Lernen für
die Gastschülerinnen und die Gastfamilien gelingt.
Insgesamt wird den Gastfamilien, ihren Erwartungen, Problemen und der Reflexion des
sozialen Umgangs mit den Gastsschülerinnen noch zu wenig Beachtung geschenkt.
Auch die Studie von Mitchell R. Hammer hat diesen Umstand betont und auf die bisher
unterschätzte Rolle der Gastfamilien hingewiesen. Die Befragung der Gastfamilien in
dieser Untersuchung hat ebenfalls deutliche Probleme gezeigt. Die Gastfamilien werden zunehmend zur Mangelware im Austausch. Reflektierte, tolerante und finanziell gut
ausgestattete Familien können weder in Baden-Württemberg, noch in Deutschland
noch Weltweit in unbegrenzter Anzahl gefunden werden. Damit der Austausch auch in
Zukunft allen Anforderungen an das soziale Lernen im globalen Dorf der Zukunft gelingen kann, müssen Familien gut ausgewählt, vorbereitet und betreut werden. Wenn
auch die Gastfamilien aktiv in den Austausch eingebunden werden, können die Austauschorganisationen eine wichtige Aufgabe in der eigenen Gesellschaft für mehr Toleranz und soziales Lernen übernehmen.
Zusammenfassend kann man die Ergebnisse des derzeitigen interkulturellen Lernens
mit den Schlagworten:
-
Teilweise angemessener Umgang mit Problemen
-
Teilweise Integration in ein neues soziales Umfeld
173
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
-
Großenteils Erlernen einer Fremdsprache
bezeichnen und als Ergebnis eine höhere Selbständigkeit der Jugendliche ableiten.
Probleme können nur dann angemessen gelöst werden, wenn sie vorher als solche
erkannt und richtig eingestuft wurden. Die Integration uns soziale Umfeld ist dann besonders schwierig, wenn die sozialen Verhältnisse, verglichen mit den sozialen Verhältnissen der Herkunftsfamilie, sehr anders sind und als negativ empfunden werden.
Die befragten Gastfamilien konnten keinen dieser Lernerfolge angeben.
Die Reflexion der im Ausland gewonnen Eindrücke und die Erkenntnisgewinne dauern
bei den Rückkehrerinnen weit über das Jahr hinaus an. Bei den Interviews zu dieser
Arbeit wurden auch zwei bis vier Monate nach der Rückkehr noch deutliche Reflexionsdefizite festgestellt. Die Reflexion war auch deshalb schwierig, weil ein Einordnungssystem mit einem stringenten interkulturellen Erklärungsansatz fehlt. Vielmehr
vermischen sich viele Eindrücke zu einer interkulturellen Vielfalt, die weder reflektierbar, noch verwertbar ist. So blieben die Aussagen zum interkulturellen Lernen vage
und unkonkret und die befragten Schülerinnen waren mit der Konkretisierung des interkulturellen Lernens genauso überfordert, wie die Gastfamilien.
4.2.3. Bourdieu, Bennett und Hammer
Ein konkretes Erklärungsmodell des sozialen Lernens mit dem Lebensstil, erleichtert
das Erfassen und Verarbeiten der Eindrücke, selbst wenn die strenge Form der Habitualisierung des Bourdieuschen Konzeptes für den Schüleraustausch nicht anwendbar
ist. Vor allem dann wenn neben objektiven sozialen Unterschieden auch individuelle
Unterschiede des Habitus und Lebensstils erfasst werden können, ist der Habitus ein
Erklärungsmodell sozialer Unterschiede in der eigenen, wie in fremden Gesellschaften.
Die Nutzung des Modells von Bourdieu ist nur dann sinnvoll, wenn die Vorbereitungs-,
Begleit- und Nachbereitungscamps des Austauschs auf dieses Modell umgestellt werden. Nur wenn alle beteiligten Schülerinnen, Betreuerinnen und Gastfamilien dasselbe
Einordnungssystem verwenden, können Effizienzgewinne realisiert werden, weil Probleme klarer als soziale, persönliche oder mentale zu isolieren sind. Die Anwendung
dieses Modells und sein Erklärungswert für das Lernen in einer ausländischen Gastfamilie muss durch Evaluationen auf die genauen Wirkungen überprüft und falls notwendig angepasst werden. Das hier vorgestellte Modell der Erklärung des sozialen Lernen
mit den konkreten Vorschlägen für die Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung
des Austausches muss in der Realität überprüft werden.
Ganz sicher kann man behaupten, dass soziales Lernen und neue Erfahrungen im
Ausland möglich sind. Diese Erkenntnis kann übereinstimmend mit Mitchell R. Hammer
174
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
und seiner IDI-Studie auch aus den Befragungen zu dieser Arbeit festgestellt werden.
Die Lerneffekte konnten aber nicht genau genug erfasst werden, daher ist es dringend
notwendig das Lernen im Ausland konkret zu fassen. Nur klare Formulierungen was,
wie, wann und wofür gelernt wird, kann die Erwartung eines Spaßjahres im Austausch
reduzieren. Die Befragten äußerten Stress als Begründung für eine Auszeit, oder ein
Spaßjahr im Ausland. Diese überraschende Feststellung kann mit der sozialen Herkunft korreliert sein, denn die enge soziale Auswahl der Schülerinnen im Schüleraustausch entspricht der sozialen Einengung der schulischen Zugänge in Deutschland. Die
Jugendlichen im Schüleraustausch kommen aus bildungsorientierten Elternhäusern die
den Schulerfolg der eigenen Kinder sehr hoch priorisieren und das Schulversagen
durch Nachhilfe reduzieren, was Erwartungsstress aufbaut, dem sich die Schülerinnen
durch ein Auslandsjahr entziehen.
Sollen in Zukunft nicht nur Gymnasiastinnen aus der Mittelschicht mit einem Geschwisterkind und akademisch gebildeten Eltern in den Austausch gehen, sondern auch Realund Hauptschülerinnen, dann müssen die Austauschorganisationen erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die sozialen Einengungen zu durchbrechen. Dafür genügt es nicht die Real- und Hauptschulen über das zuständige Ministerium zu informieren, dies hat das Stipendium der Landesstiftung Baden-Württemberg deutlich vor
Augen geführt. Wenn Realschülerinnen in den Austausch gehen sollen, dann müssen
Rückkehrerinnen aus Realschulen bei entsprechenden Informationsabenden anderen
Schülerinnen Mut machen und den Sinn des Auslandsjahres aus der Sicht einer Realschülerin erklären. Informationsabende an Gymnasien in welchen Gymnasiasten anderen Gymnasiasten den Wert des Austausches erklären, sind dagegen vor diesem Hintergrund nicht notwendig. Die Hauptschulen kämpfen mit anderen Problemen, insbesondere dann wenn sie zu sog. Restschulen degradieren. Der Schüleraustausch könnte der zunehmenden Stigmatisierung entgegenwirken, wenn gezielte Veranstaltungen
mit den Hauptschulen organisiert werden. Das Stipendium der Landesstiftung Baden Württemberg eignet sich für die Zielgruppe der Hauptschüler und Hauptschülerinnen
besonders, bedarf aber sicher eines hohen Einsatzes für gezielte Informationen, den
Abbau von Barrieren bei Schülern, Eltern und Lehrern und eines griffigen Lernmodells.
Der sozialen Kompetenz dieser Zielgruppe würde dieses Engagement sehr entgegenkommen.
4.2.4. Offene Fragen und Ausblick
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem langfristigen Schüleraustausch hat
bisher kaum stattgefunden, was auch an der Exklusivität dieser Austauschform liegt. Im
175
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Jahr 2006 sind, wie auch in den Jahren davor, in Deutschland ca. 0,5% aller Schülerinnen eines Jahrgangs in den langfristigen Austausch gegangen, während Schulpartnerschaften einen deutlich höheren Anteil erreichen.
Der Vorteil des langfristigen Schüleraustausches ist in der Intensität der Lernmöglichkeiten, die er bietet, begründet. Soziale Anpassungen müssen über einen Zeitraum von
zehn Monaten intensiver sein als in einem Kurzzeitaustausch. Die Anforderungen einer
offenen und miteinander verbundenen Welt machen den Bedarf an Lernmöglichkeiten
der sozialen Handlungsfähigkeit über nationale Grenzen hinweg deutlich, so dass in
Zukunft ein deutlich höherer Anteil der 11. Klassen in den Austausch gehen sollte als
das heute noch der Fall ist. Aus diesem Grund werden vertiefende Arbeiten über die
Lernmöglichkeiten und Probleme des langfristigen Schüleraustausches zunehmen.
Aus dieser Arbeit ergeben sich zum Schluss Fragen, die zur Auseinandersetzung für
eine weitere Forschung in Zukunft einladen. Stichwortartig kann man die Fragen wie
folgt zusammenfassen:
-
Entwicklung externe Evaluationsinstrumente
-
Lernmodelle für Gastfamilien
-
Reorientierung oder die Qual der Rückkehrer
-
Soziale Divergenz im Schüleraustausch, warum ist der langfristige Schüleraustausch weiblich?
-
Soziale Divergenz: Real- und Hauptschüler in den langfristigen Austausch einbinden, wo liegen die Barrieren dieser Zielgruppe?
-
Langzeitwirkungen des Schüleraustausch auf die Berufs- und Arbeitplatzwahl
-
Probleme eines misslungenen Jahres
Externe Evaluation von Vorbereitungs-, Begleit- und Nachbereitungscamps für Austauschschülerinnen müssen entwickelt werden, um die Qualität des sozialen und habituellen Lernens in Zukunft zu verbessern und an die jeweils geltenden Anforderungen
anzupassen. Evaluationen sind kein Selbstzweck und sollten der langfristigen Qualitätssicherung dienen, um unzureichende Lernvoraussetzungen rechtzeitig aufzudecken.
Das soziale Lernen der Gastfamilie mit den Gastkindern ist bisher völlig unbekannt. Die
Anforderungen an den gastfamilienbasierten Schüleraustausch werden in Zukunft steigen und Familien werden immer weniger bereit sein zusätzliche Belastungen zu tragen. Nur bei sinnvollen Konzepten und Nutzen für die beteiligten Familien kann diese
Form auch zukünftig Bestand haben, dafür müssen Konzepte des Lernens und Betreuens entwickelt werden. Wenn man die Aussagen Mitchell R. Hammers berücksichtigt, dass die Lerneffekte des Austauschjahres ganz wesentlich von der Qualität der
Familien abhängen, dann ist dies einer der zentralen Punkte für mittelfristigen Ver-
176
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
änderungen im Schüleraustausch. Die Untersuchungen sollten allerdings auf einer
breiten wissenschaftliche Basis und nicht nur behavioristisch erfolgen.
Die Probleme der Wiedereingliederung der Schülerinnen im Herkunftsland können
heute unsystematisch benannt werden, eine wissenschaftliche Untersuchung fehlt jedoch. Eine verbesserte Problembewältigung könnte durch die Verbindung einer soziologischen Untersuchung mit den psychologischen Wirkungen auf die eigene Identität
der Teilnehmerinnen erfolgen. Wichtige Wirkungen des Austausches könnten besser
benannt und die damit verbundenen Probleme erklärt werden.
Darüber hinaus können die Langzeitfolgen des Schüleraustausches auf die Berufs- und
Arbeitsplatzwahl untersucht werden, die bislang unbekannt sind.
Diese Arbeit hat deutliche Hinweise geliefert, dass die soziale Auswahl der Schülerinnen die am Austausch teilnehmen sehr eng ist. Diese soziale Auswahl korrespondiert nicht mit der Grundsatzerklärung des AFS der eine Verständigung mit allen
Menschen und Rassen anstrebt. Wie die Diversität der Geschlechter und der sozialen
Mischung im Schüleraustausch in Zukunft verbessert werden kann ist bislang ungeklärt.
Der AFS und andere Schüleraustauschorganisationen verhelfen jungen Menschen zu
einem wichtigen Jahr, viele Teilnehmerinnen haben es als das wichtigste Jahr ihres
Lebens bezeichnet. Sicher findet soziales Lernen nicht nur im Schüleraustausch statt,
aber die Möglichkeiten des Lernens in einem Austauschjahr sind besonders intensiv,
denn der Vergleich zweier sozialer Räume und Familien führt zu anderen Kompetenzgewinnen als das Lernen im Herkunftsland. Sicher sind alle, die eine Erfahrung der
gelungenen Integration in einem fremden Umfeld mit fremder Sprache und ungewohnten Riten geschafft haben bereichert zurückgekehrt. Denjenigen, die mit problematischen Erlebnissen zurückkamen, sollten allerdings auch Aufmerksamkeit erhalten.
Ihre Probleme gehören genauso zum Austausch wie die guten Erfahrung und müssen
ohne Angst, dass sie der Organisation schaden können, benannt und bearbeitet werden. Die Verantwortung für die Weltgesellschaft beginnt in der Verantwortung für jede
einzelne entsandte Schülerin.
Bleibt zum Schluss die Antwort auf die Frage, ob das interkulturelle Lernen ein soziales
Lernen ist, oder nicht. Ja es ist soziales Lernen ohne wenn und aber.
Alle untersuchten und dargestellten Probleme waren mit sozialen, nicht mit kulturellen
Kompetenzen lösbar. Zwar ist Habitus und Lebensstil auch vom Land, dessen Geschichte und der Entwicklung in Literatur, Musik, Küche etc. geprägt, aber diese Unterschiede sind fein und können mit abstrakten Begriffen nicht operationalisiert werden.
Es ist ein intensives soziales Lernen mit neuen Handlungs- und Verhaltensmustern und
einer neuen Sprache. Dieses soziale Lernen muss angeleitet und begleitet werden, es
177
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
ist keine automatische Erstsozialisation in einer neuen Gesellschaft, die im Vertrauen
auf die sozialen Fähigkeiten der Teilnehmerinnen automatisch und erfolgreich erfolgt.
Ein Auslandsjahr ist eine Herausforderung für die Gastfamilie, die Gastschülerin, die
Entsendefamilie und alle beteiligten Ehrenamtlichen. Ein klares Erklärungsmuster, so
wie es die Theorie Bourdieus sozial differenziert anbietet, kann die Herausforderungen
nicht vermindern, aber die Lernerfolge auf allen Seite vermehren.
178
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
Anhang
179
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
I. Tabellenverzeichnis
Tabelle 1
Soziogramm Regelauswahl
37
Tabelle 2
Besuchte Schularten
38
Tabelle 3
Schulleistungen – Regelauswahl
38
Tabelle 3a
Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit
38
Tabelle 3b
Schulleistungen nach Zeugnissen
38
Tabelle 4
Soziogramm Stipendienprogramm
39
Tabelle 5
Besuchte Schularten Stipendienprogramm
41
Tabelle 6
Schulleistungen- Stipendienprogramm
41
Tabelle 6a
Selbsteinschätzung der Bewerber Stipendienprogramm
41
Tabelle 6b
Zeugnisse - Stipendienprogramm
41
Tabelle 7
Allgemeine Erwartung an das Auslandsjahr - Regelprogramm
42
Tabelle 8
Allgemeine Erwartung an das Auslandsjahr - Stipendienprogramm
43
Tabelle 9
Allgemeine Erwartungen an die Gastfamilie – Regelprogramm
44
Tabelle 10
45
Tabelle 11
Allgemeine Erwartungen an die Gastfamilie –
Stipendienprogramm
Erwartungen an die Gastschule - Regelprogramm
Tabelle 12
Erwartungen an die Gastschule - Stipendienprogramm
47
Tabelle 13
Wird soziale Gleichheit erkannt?
114
Tabelle 14
Umgang mit der Gastfamilie bei sozialer Ungleichheit
121
Tabelle 15
Umgang mit der Gastfamilie bei sozialer Ähnlichkeit
126
Tabelle 16
Umgang mit der Gastfamilie bei sozialer Ungleichheit
131
Tabelle 17
Betreuung im Auslandsjahr
150
Tabelle 18
Betreuung in den Gastschulen
151
Tabelle 19
Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Gastfamilien
157
Tabelle 20
Gastfamilienvorbereitung
158
Tabelle 21
Camps für Gastfamilien
159
Tabelle 22
Gastfamilienbetreuung
159
Tabelle 23
Wie war das Essen im Ausland?
160
Tabelle 24
Was hast du mim Ausland gelernt?
162
Tabelle 25
Die wichtigste Erfahrung im Ausland
163
46
180
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
II. Übersichtenverzeichnis
Übersicht 1
Intercultural Deveopment Inventor
11
Übersicht 2
Interculturelle Sensibilität nach M. Hammer
12
Übersicht 3
Ergenisse des IDI-Tests
13
Übersicht 4
Skala der interkulturellen Sensibilität
15
Übersicht 5
Moralstufen von Habermas
18
Übersicht 6
Formen des Schüler- und Jugendaustausches
23
Übersicht 7
Formen interkultureller Trainings
26
Übersicht 8
Eisbergmodell
29
Übersicht 9
Parsons Gesellschaftssystem
56
Übersicht 10
Sozialisation als produktive Umweltverarbeitung
60
Übersicht 11
Das AGIL-Schema nach Parsons
63
Übersicht 12
Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget
69
Übersicht 13
Stufen der Entwicklung des Weltbildes nach Piaget
75
Übersicht 14
Paradigmen des Lernens
77
Übersicht 15
Bourdieu – Sozialer Raum -1
79
Übersicht 16
Bourdieu – Sozialer Raum - 2
81
Übersicht 17
Soziales Lernen
93
Übersicht 18
Untersuchungsvariablen
97
Übersicht 19
Verortung der Herkunftsfamilie im sozialen Raum - Regelprogramm
98
Übersicht 20
Verortung der Gastfamilie im sozialen Raum - Regelprogramm
100
Übersicht 21
Vergleich der Gastfamilien im sozialen Raum
101
Übersicht 22
Verortung der Teilnehmerinnen im sozialen Raum - Stipendienprogramm
103
Übersicht 23
Verortung der Gastfamilien in Westeuropa - Stipendienprogramm
104
Übersicht 24
Verortung der Gastfamilien n Osteuropa- Stipendienprogramm
105
Übersicht 25
Vergleich der Verortung der Gastschülerinnen in Deutschland
106
Übersicht 26
Systematik der Austauschländer
108
Übersicht 27
Untersuchungssystematik bei sozialer Gleichheit
108
Übersicht 28
Sozialer Raum - Allgemein
138
Übersicht 29
Vergleich der Familien im sozialen Raum
147
Übersicht 30
Stimmungsverlauf im Austausch
152
Übersicht 31
Zielfunktionen von Evaluation
164
Übersicht 32
Prototypischer Akkulturationsverlauf
166
181
Interkulturelles Lernen durch Schüleraustausch
III. Literaturverzeichnis
Aebeli, Hans
(1963)
„Über die geistige Entwicklung des Kindes“
Klett
Apeltauer, Ernst
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