Hilde Weiss Soziologische Theorlen der Gegenwart Darstellung der graBen Paradigmen Springer-Verlag Wien New York Univ.-Doz. Dr. Hilde Weiss Institut fur Soziologie, Universitat Wien, Osterreich Das Werk ist urheberrechtlich geschutzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1993 Springer-Verlag/Wien Gedruckt auf saurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF Mit 6 Abbildungen ISBN-13: 978-3-211-82494-8 001: 10.1007/978-3-7091-9309-9 e-ISBN-13: 978-3-7091-9309-9 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Theorieniiberblick und zur Systematik der Darstellung ... 1.2 Wissenschaftstheoretisches Vorwort: der Stellenwert der "groBen Theorie" in der Soziologie ................................. 2. Der Strukturfunktionalismus 2.1 Die Vorlaufer: Durkheim und Radcliffe-Brown ..... 2.2 Handlung und System in der Theorie von Talcott Parsons 2.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Handeln und Struktur - Individuum und Gesellschaft als System .. 2.2.3 Die Systemintegration - der biologische Organismus mehr als eine Analogie? .......................................... 2.2.4 Kritik und theoretische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Der empirische Bezug der Theorie und ihre Forschungstradition 2.3 Luhmanns Korrektur und radikale Fortfiihrung der Systemtheorie von der Organisation des Systems zur Organisation der Elemente 3. Konflikttheorien - Antwort auf Parsons, Kritik an Marx .......... 3.1 Die liberalistischen Stromungen ........... . 3.1.1 Einleitung .............. . 3.1.2 Zwischen Strukturfunktionalismus und Herrschaftstheorie: Dahrendorf . . . . . . . . . . . ........ . . . . . . . .. 3.1.3 Fur und wider Konsens- oder Konflikttheorie .. 3.1.4 Was erklart die Konflikttheorie? Zu den Ebenen der Theorie und das Problem des sozialen Wandels . . . . . . . . . .. 3.2 Konflikttheorie und marxistische Tradition 3.2.1 Marxistische und neomarxistische Perspektiven 3.2.2 Struktur und Handeln - Giddens' "Theorie der Strukturierung" 4. Theorien des sozialen Handelns: Symbolischer Interaktionismus, phanomenologische Soziologie und Ethnomethodologie 4.1 Einleitung ............................ 4.2 Meads Fundierung des Symbolischen Interaktionismus: Symbolisches Lemen und Interaktion .............. 4.2.1 Soziale Konstitution des Ich und Intersubjektivitat 4.2.2 Rollenspiel, Kreativitat und Gesellschaft ........ 4.3 Blumers Programmatik des "Symbolischen Interaktionismus" und die Forschungstradition .................. 4.4 Goffman: Gesellschaft als soziale Dramaturgie - Ich-Inszenierung und Ritual ........ 6 13 13 16 16 18 26 33 39 42 49 49 49 51 54 57 59 59 61 65 65 68 68 72 76 80 VI Inhaltsverzeichnis 4.5 4.6 4.7 4.8 4.4.1 Rolle und Subjektivitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.4.2 Institution, Organisation und Selbst ....................... 4.4.3 Interaktionsordnung und fonnale Struktur .................. Erklarungsprobleme - Zur Kritik des Symbolischen Interaktionismus ... Phanomenologische Soziologie: Die "common-sense-Welt" .......... 4.6.1 Die Erkenntnisgrundlagen der "Alltagswelt" nach SchutzRekurs auf Husserls Methode und Webers verstehende Soziologie. 4.6.2 Schutz' phanomenologische Soziologie .................... 4.6.3 Kritik am Theoriemodell: getrennte Sinnwelten versus Intersubjektivitat ..................................... 4.6.4 Berger und Luckmann: Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit . 4.6.5 Konsequenzen und Anwendungen der phanomenologischen Soziologie .......................................... Die Ethnomethodologie Garfinkels: Wie die common-sense-Welt auch ge(zer)st6rt werden kann ................................... 4.7.1 Das "Krisenexperiment" als Demonstration alltagsweltlicher Strukturen .......................................... 4.7.2 Die Ebenen des Diskurses uber die Wirklichkeit .............. 4.7.3 Anwendungen und Konsequenzen fur die Soziologie .......... 4.7.4 Zum Stellenwert der ethnomethodologischen Theorie und kritische Auseinandersetzungen .......................... Zusammenfassung: Mead, Goffman und Garfinkel ................. 80 84 86 90 92 92 99 102 106 108 110 110 114 119 121 123 5. Der Strukturalismus - die Logik der Struktur als eigentliche Wirklichkeit ... 126 5.1 Struktur, System und Funktion: alter und neuer Strukturalismus ....... 5.2 Der anthropologische Strukturalismus von Levi-Strauss: Die soziale Welt als Spiegelung des menschlichen Geistes ........... 5.2.1 Sprachtheorie als Modell und Methode ..................... 5.2.2 Das linguistische Modell in der ethnologischen Forschung ...... 5.2.3 Methode oder Metaphysik - Einschatzung und Kritik des Strukturalismus im Werk von Levi-Strauss ................... 5.3 Die Logik des Sprechens - Wende zum Poststrukturalismus .......... 5.3.1 Die radikalisierte Sprachtheorie der Poststrukturalisten ......... 5.3.2 Foucault: Von der Macht des Diskurses zum Diskurs der Macht ... 5.3.3 Auseinandersetzung mit Foucault - was bedeutet der . Poststrukturalismus fur die soziologische Theorie? ............ 5.4 Strukturalistischer Marxismus und Soziologie ..................... 5.4.1 Althussers strukturale Marx-Lekture ....................... 5.4.2 Problematik und Anwendungen des strukturalistischen Marxismus 5.4.3 Bourdieus strukturalistische Soziologie ..................... 5.5 Zusammenfassung: Strukturalismus - Methodologie, Theorie oder Metaphysik? ............................................. 126 129 129 132 138 141 141 143 148 151 151 157 160 165 6. Die Kritische Theorie (Frankfurter Schule) ......................... 169 6.1 Die Untersuchung des verdinglichten Bewu1Stseins: Lukacs .......... 6.1.1 Verdinglichung, Totalitat und Dialektik .................... 6.1.2 Verdinglichung und Erkenntnis .......................... 6.1.3 Klassen und Bewu1Stsein - die inneren Schranken des Kapitalismus. Kritik an Lukacs' messianistischer Marx-Version .... 6.2 Die "Frankfurter": Adorno, Horkheimer, Marcuse .................. 6.2.1 Marxismus als Ausgangspunkt? .......................... 6.2.2 Positivismus und instrumentelle Vemunft ................... 6.2.3 Affinnative Kultur und Kulturindustrie ..................... 169 169 172 174 175 175 178 180 Inhaltsverzeichnis 6.2.4 Sozialpsychologie der totalitaren Herrschaft ................. 6.2.5 Theorie oder Zeitdiagnose? ............................. 6.3 Fortfuhrung der Kritischen Theorie: Habermas ................... 6.3.1 Ausgangspunkt: Kritische Theorie und Rekonstruktion des Marxismus ......................................... 6.3.2 Erkenntnisinteressen und Positivismuskritik ................. 6.3.3 Kommunikatives Handeln, Lebenswelt und Systemtheorie ....... 6.3.4 Kommunikative Rationalitat und Sprache ................... 6.3.5 Die Synthese von Handeln und Struktur bei Habermas .. . ..... VII 181 185 188 188 192 193 197 199 Anhang: Themen und Begriffe der Theorien ................. . 203 Literaturverzeichnis ....................................... . 206 1. Einleitung 1.1 Zum Theorieniiberblick und zur Systematik der Darstellung Die Soziologie wird oft, teils auch ironisch, als "Multi-Paradigmen-Disziplin" bezeichnet; die implizite Kritik dabei: es soUte doch heute, nach langst schon erfolgreicher Etablierung dieser neueren Disziplin innerhalb der modemen Wissenschaftsentwicklung, ein Konsens unter den Soziologen dariiber bestehen, welche der Theorien den anderen uberlegen ist, kurz, welches das herrschende Paradigma sein solI. Ein Dberblick uber die - sehr verschiedenartigen und kontroversen - Theorien mag aber eher als eine soziologische "Revue" vielfaltigster Wirklichkeits- und GeseUschaftsauffassungen erscheinen, denn als forschungslogischer Autbau eines Wissensbestandes. Eine der Erklarungen fur diesen Zustand macht die vieUeicht auch unuberwindbare Kluft zwischen Natur- und Sozialwissenschaften geltend. Wahrend die Naturwissenschaft sich mit einer unbelebten Objektwelt befaBt, sind die sozialwissenschaftlichen "Objekte" lebendig. Gesellschaft ist das Produkt menschlichen Handelns, und Menschen sind in ihrenAktivitaten von Glauben und Wissen, von Selbstreflexion und Wahrnehmungen ihrer sozialen Umwelt zutiefst beeinfluBt. Aufgrund der keineswegs immer rationalen Handlungselemente bleibt soziales Handeln stets auch "unberechenbar". Weder Prognosen noch Erklarungen konnen hundertprozentig sein und enthalten einen nicht unbetrachtlichen Rest an nicht Erklartem. Dieser Sachverhalt ist eine der Hauptursachen soziologischer "Para digmenvielfalt", die die Tendenz zu immer weiterer Differenzierung und innerer Fragmentierung zeigt. Die Spaltung in zumindest zwei Paradigmen - naturwissenschaftliche und hermeneutische Tradition - hat den Beginn der Soziologie als Disziplin gepragt. Die Sozialwissenschaften insgesamt entwickelten sich im spaten 18. und im 19. Jahrhundert aus der Begegnung mit den spektakularen Fortschritten in Technik und Naturwissenschaft, vornehmlich aber 2 Einleitung aus der Konfrontation mit den fundamentalen gesellschaftlichen Umwalzungen von der feudalen Agrargesellschaft zur sich formierenden Industriegesellschaft. Das Ende des Unbegriffenen, das Ende der sakralen, mystifizierenden Weltbilder sahen Marx und Comte gleichermaBen voraus. Wenn man die Natur als diesseitige Ordnung darstellen konnte, warum sollte sich der Mensch selbst, sein Handeln, ein Ratsel bleiben? Das Anliegen des "revolutionaren" Marx wie auch des "reaktionaren" Comte war die Befreiung des menschlichen Geistes von Dogmen und ungepriiften Vorstellungen durch die Wissenschaft. Auch die Gesellschaftswissenschaft sollte sich am rationalen Vorgehen, also an der Methodik und am rationalen Weltbild der Naturwissenschaft orientieren -lautet das Grundprinzip des Positivismus. Auch in der Philosophie trat die Trennung zwischen logischem Positivismus, mit seiner strengen Festlegung, was wissenschaftliche Erkenntnis gegenuber anderen Arten der Erkenntnis sei, und den Stromungen der Phanomenologie und Sprachphilosophie ein. Deren Position lautet, kurz umrissen, etwa folgendermaBen: Die Wirklichkeit des Menschen besteht nicht aus "auBeren" beobachtbaren Merkmalen, sondern aus den Ideen und Vorstellungen von der Wirklichkeit. Nicht naturwissenschaftliches Messen kann daher die Basis der Theoriebildung sein Cauch nicht die kausale Verknupfung zwischen zwei Sachverhalten), sondern das deutende Verstehen ist die angemessene Methode, ihr Resultat die Interpretation. Diese Kontroverse besteht bis heute in der Soziologie fort, mit Variationen und Fragmentierungen innerhalb der Richtungen. Die Debatte Verstehen oder Erklaren uberlagert sich mit der, was als Objekt der Forschung, als Thema angesehen wird. Einer positivistischen Orientierung verhaftet sind jene Theorien, die "Strukturen", also Beziehungsmuster und RegelmaBigkeiten des Verhaltens - ohne die ein koordiniertes Zusammenleben von Menschen nicht moglich ware - thematisieren und deren Zustandekommen analysieren. Sie postulieren die vorrangige Bedeutung der strukturierten gesellschaftlichen Umwelt fur das Handeln des einzelnen Individuums. Vertreter dieser Richtung sind etwa Marx, der das Funktionieren des Kapitalismus "hinter dem Rucken" der Individuen darstellte; oder Durkheim, der mittels Statistiken zeigte, wie eine so absolut individuelle Entscheidung wie der Selbstmord von gesellschaftlichen Strukturmerkmalen bedingt ist. Die am Verstehen und Nachvollziehen von "Sinn" orientierte Soziologie stellt dagegen das Individuum ins Zentrum. Sie urnfaBt Richtungen des Symbolischen Interaktionismus, der phanomenologischen Soziologie und Ethnomethodologie, deren Gemeinsamkeit darin liegt, daB sie den Aufbau der Gesellschaft yom Individuum ausgehend nachvollziehen und nachzeichnen mochten. Eng verknupft mit dem die Soziologie bis heute bestimmenden Paradigmenstreit ist naturlich auch die Frage nach den konkreten Beweisen Zum Theorienuberblick und zur Systematik der Darstellung 3 der jeweiligen Theorien. Mangel an Ergebnissen und Niehtanwendbarkeit werfen einander jeweils die Theorienanhanger vor. Betrachtet man die Theorien tatsachlich auf ihre Anwendungen hin, so sind sie unter diesem Aspekt vielleieht fur viele, die ihre Aussagen "anwenden" wollen, egal welcher theoretischen Ausriehtung, frustrierend und mehr eine iiberfliissige Kunst. Stimmt man diesen Kritiken zu und nimmt man noch Poppers Forderungskatalog gegeniiber Theorien hinzu, so miigte man aber dies en Typ von Theorie, die (darin der Philosophie nachfolgend) die "grogen Fragen" iiber Gesellschaft stellt, aufgeben. Von den grogen Fragen - wie und warum funktioniert das Ganze, warum verandem sich groge Gebilde, warum manchmal mit, warum manchmal ohne Gewalt, was haben die grogen Bewegungen mit dem Handeln vieler Einzelner zu tun usf - miigte man ablassen und konsequent, wie Merton es forderte, sich auf "Theorien mittlerer Reiehweite" (also Analyse konkreter Organisationen, bestimmter Teilbereiche) beschranken. Denn die hier angesprochenen Theorien sind "totalisierend", die Frage riehtet sieh prinzipiell auf das Ganze: Wie entsteht aus Individuen eine Gesellschaft? Erklaren sich gesellschaftliehe Strukturen (bzw. Gesellschaft schlechthin) aus dem Handeln Einzelneroder ist umgekehrt das Handeln Einzelner nur in Hinblick auf die umgebende gesellschaftliche Struktur erklarbar? 1st Gesellschaft als eine dem Individuum iibergeordnete Wirklichkeit beschreibbar, woran erkennbar? Wie kommt Ordnung im Ganzen zustande und umgekehrt, warum lost sie sich, in Kriegen, Revolutionen, immer wieder auf? Das Ziel dieses Buchs ist nieht ein Theorievergleich mit dem Ziel der "Auslese" und Priifung; eher im Gegenteil: Zu zeigen, was das jeweils Neue ist, welche andersartige Erkenntnis eine Theorie im Vergleich zur anderen bietet, was fur eine bislang nieht beach tete "latente" Wirklichkeit sie ans Licht bringt. Den einzigen, alles umfassenden und erkennenden Blick auf das gesellschaftliche Ganze kann es sicherlich nicht geben. Jede der "grogen" Theorien (eine Bezeichnung, die auf Parsons zuriickgeht, urn das Hinausgehen iiber empirische Details und Mikrosoziologie als theoretischen Anspruch klarzulegen) wahlt sieh aber vorweg die Perspektive und trifft methodologische Annahmen (Was ist wie erkennbar). Jede dieser Theorien kann daher wahrscheinlich doch nur als eine Facette des "das Ganze suchenden Blicks" aufgefagt werden. Dies zeigt sieh schlieglich auch am Zerfall jeder der grogen Theorien in immer kleinere Theorienfragmente, die den Blick dann wieder auf Details und ihre Genauigkeit richten; so z.B. am Zerfall des Parsonsschen Strukturfunktionalismus, der Handlungsund Systemebene integrieren wollte, in reine Systemtheorie und in Konflikttheorie, wahrend seine Handlungstheorie zum Symbolischen Interaktionismus hingefuhrt hat. Goffmans Interaktionsanalyse zerfallt 4 Einleitung schlieBlich in die noch radikalere, detailliertere Ethnomethodologie Garfinkels und andere phanomenologische Ansatze. Analoges laBt sich auch in den marxistischen und strukturalistischen Theorien beobachten. Wie die totalisierenden Theorien wieder in ihre Bestandteile zerfallen, zeigt sich auch in der chronologischen Entwicklung. Gerade die in den Theorien eingeschlossene Perspektivenvielfalt beweist aber auch das Faszinierende des soziologischen Denkens, das Fragen stellt, die keine andere Disziplin sonst stellt, und die von brennendem Interesse bleiben werden, solange an der Forderung festgehalten wird: Mit wissenschaftlichem Verstandnis sollte der Mensch fahig sein, seine Existenzbedingungen, sein soziales Zusammenleben, rational zu gestalten; dies erfordert einen Blick, der tiber Details und Kleinraumigkeit hinausgeht. Nicht strenger Theorienvergleich, urn etwa eine Selektion zu treffen, ist also, wie schon betont, das Ziel, aber doch eine Systematik in der Darstellung und Theoriendiskussion. Von der zuvor erwahnten Fragmentierung der groBen Theorien ausgehend, gestaltet sich auch der Autbau der Kapitel. Das erste Kapitel befaBt sich mit dem Strukturfunktionalismus von Parsons, der wahrscheinlich bis heute noch der umfassendste Entwurf ist, Handlungs- und Systemebene zu verbinden. Ais zweites Kapitel folgen die Konflikttheorien, die auch unmittelbare Reaktion auf Parsons waren, sie sind aber auch bereits der erste Schritt "zurUck", auf die Handlungsebene der Konflikte. Der vierte, ziemlich umfangreiche Abschnitt befaBt sich mit den Handlungstheorien, die teils eine programmatische Absage an die Strukturtheorien (Systemtheorien) sind, teils den bei Parsons vemachlassigten, zu grob behandelten Handlungsrahmen detaillierter, empirisch angehen mochten. Der aus Frankreich stammende Strukturalismus - er wird in Kapitel 5 behandelt - hingegen stellt wieder die Struktur und ihre innere Logik absolut in den Mittelpunkt. Demzufolge weist die Struktur innere GesetzmaBigkeiten auf, so daB sie sich jenseits von indiviedueller Existenz und Geschichte reproduziert. Den Faden der Handlungstheorien nimmt dagegen eine "humanistisch" orientierte, neomarxistische Theorie wieder auf. Struktur und Handeln, System und BewuBtsein, bzw. "verdinglichtes" BewuBtsein und Chancen des Handelns, sind die Themen der Kritischen Theorie (Kapitel 6.). Habermas schlieBlich rekuriert wieder auf Parsons; das "Paradox der Modeme" stellt sich bei ihm in der Theorie durch den Dualismus der beiden Strange, System- und Handlungsebene, dar. Wie Parsons versucht Habermas wieder, diese beiden in einer umfassenden Theorie zu integrieren. Die Gliederung der einzelnen Kapitel wird sich an folgenden Punkten orientieren: Was ist der primare Ausgangspunkt - Handlung oder Struktur; welcher Problemstellung wird primar nachgegangen (etwa Ordnung oder Kon- Zum Theorieniiberblick und zur Systematik der Darstellung 5 flikt, ahistorische Struktur gegeniiber Historizitat etc.). Was fUr ein Begriffssystem wird daher aufgebaut. Wie wird die vorgegebene Problematik gelost, d.h. was erkHirt die Theorie wirklich. Welche "tiefere Wirklichkeit" bringt sie ans Licht? Wie gut ist schlieBlich der eigene Erklarungsanspruch abgesichert? Fast immerwird versucht, Handlungs- und Strukturebene miteinander zu verkniipfen. Wie gelingt dies, welche Mechanismen werden aufgezeigt? Was fUr ein Bild yom Individuum respektive der Gese11schaft entsteht dadurch? Jede Theorie stiitzt sich schlieBlich auf eine empirische Realitat, auf bestimmte Beobachtungen. Es sol1 daher offengelegt werden, worin der empirische Riickbezug besteht und es sol1 die entsprechende Forschungstradition dargeste11t werden. SchlieBlich enthalten nahezu a11e Theorien dieses Typs implizit erkenntnistheoretisch methodologische Annahmen; manche eine Anthropologie (also ein bestimmtes, philosophisch gefarbtes Menschenbild). Auch diese latenten , teils metaphysischen Inhalte sol1en explizit gemacht und, soweit es in diesem Rahmen moglich ist, die historischen Wurzeln, philosophisch ideengeschichtlichen Beziige benannt bzw. kurz charakterisiert werden. Sicherlich nicht angestrebt wird hiermit , ein Urteil im Sinn von "richtig" oder "falsch" am Ende iiber jede Theorie abzugeben. Die gebotenen Erklarungen und Auffassungen konnen aber, besonders im Licht gegenseitig erhobener Kritiken und Repliken, im Lichte der (iiberaus umfangreichen, daher selektiv beriicksichtigten) Folgeliteratur durchschaubarer gemacht werden. Ein besonderes Erschwemis im Zugang zu den soziologischen Theorien liegt in den eigens entwickelten "Theoriesprachen", die, so scheint es, die Theorien abschotten und schwer zuganglich machen. Nach Moglichkeit sollen sie in einer einfachen Ausdrucksweise geschildert werden, wenn es auch notwendig ist, sich innerhalb der jeweiligen Begrifflichkeiten zu bewegen. 1m Vordergrund stehen daher auch nicht Begriffe und Definitionen, das Ziel der Darste11ung ist es, ein Nachvo11ziehen des theoretischen Gedankengebaudes zu ermoglichen. Das Buch befaBt sich mit den "groBen" Entwiirfen der modemeren Soziologie etwa nach 1945. Diese Jahresangabe ist natiirlich willkiirlich, steht aber als Indiz fUr eine wichtige Zasur. In Europa hat die Soziologie durch den Faschismus ein jahes Ende gefunden (so wie a11e kritischrationalen Wissenschaften in autoritaren Systemen keinen Platz haben). In den USA war deshalb auch die Institutionalisierung der Soziologie, trotz der friiheren Anfange in Europa (Marx, Weber, Durkheim), nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeschrittener. Die Emigranten aus Europa fanden dort wahrend des Krieges positive Aufnahme und vielfaitige Tatigkeitsfel- 6 Einleitung der - und trugen viel zur theoretischen und empirischen Entfaltung der Soziologie bei. Auch in den USA hat die Soziologie nach 1945 durch die Integration vielfaltiger Stromungen, Methoden- und Theorietraditionen, nach einem mehr spekulativen Theoretisieren auf der einen, einer mehr "belanglosen" Empirie auf der anderen Seite, ein neues, interessantes Bild gewonnen (vgl. Shils 1975). DaB jede Theorie neben Erkenntnis auch Ideologie, Werte oder Moral, Zeitgeist und Biographisches mehr oder weniger verborgen mitzieht, ist heute nichts Neues mehr; dies soli einbezogen werden, aber nicht im Mittelpunkt stehen. Es bleibt die Frage offen, welchen Stellenwert die dargestellten Theorien im Rahmen moderner soziologischer Forschungstatigkeit, d.h. innerhalb der empirischen Methodologie, einnehmen. Hinsichtlich der strengen Kriterien, die die empirische Forschung an die Begriffsbildung und Operationalisierung stellt, sind diese "groBen Theorien" durchwegs problematisch. Die Entwicklung zeigt, daB zunehmend nur Teile, d.h. Theoriefragmente, aus den umfassenden Entwlirfen herausgelost werden, urn sie operationalisierbar und damit priifbar zu machen. So geht etwa der rational-choice-Ansatz aus den Handlungstheorien hervor, systemtheoretische Fragestellungen werden mit formalisierten Modellen (Spieltheorie, Logik der Aggregation, vgl Boudon 1980) behandelt, urn prazise Aussagen tiber das Zustandekommen und den Verlauf sozialer Krisen und kollektiver Phanomene machen zu konnen. Diese aus den Fragmentierungen der umfassenden Theorien hervorgehenden Entwicklungen werden allerdings hier nicht mehr dargestellt. Der folgende Abschnitt ist ein wissenschaftstheoretischer Exkurs und soil Gesichtspunkte diskutieren, nach denen Theorien bewertet werden konnen. 1.2 Wissenschaftstheoretisches Vorwort: der Stellenwert der "groSen Theorie" in der Soziologie Die strengen Kriterien empirisch naturwissenschaftlicher Forschungslogik sind auch in den Naturwissenschaften selbst ins Kreuzfeuer der Kritik geraten; besonders seit Kuhn (1973) in seiner historischen Analyse epochaler Entdeckungen bzw. revolutionarer Veranderung von Theorien nachzuweisen suchte, daB der Fortschritt in der Praxis anderen Mechanismen gehorcht als dem idealisierten Erkenntnismodell. Popper hatte an die Stelle der Uberpriifbarkeit durch positive, bestatigende Beweise (Verifikation) vor allem zwei Themen gesetzt: Die prin- Der Stellenwert der "groBen Theorie" in der Soziologie 7 zipiell mogliche Falsifizierbarkeit (und Falsifikation) und die Abgrenzung der Wissenschaft von anderen Anschauungsformen. Er behielt dabei aber wohl im Auge, daB Wissenschaft ein gemeinschaftliches, soziales Unternehmen ist. Seiner Meinung nach ist sie abhangig von der Institutionalisierung "kritischer Vernunft", d.h. einer institutionell abgesicherten Autonomie des Wissenschaftsbetriebs. Nicht nur das von den Methoden geleitete Falsifizieren entscheidet uber die Akzeptanz einer Theorie, sondern auch die kritische Herausforderung der Wissenschaftler untereinander, deren Konsens, ob Theorie und methodischer Nachweis gultig seien. Deshalb sei Wissen nie absolut, sondern von der Wissenschaftsdiskussion der "scientific community" abhangig. Die Theorie selbst entspringt der Kreativitat des Denkens, der Phantasie des individuellen Wissenschaftlers, ihre Akzeptanz aber unterliegt sowohl einem Test an der Wirklichkeit, der in widerlegender Absicht gefUhrt werden solI, als auch der wissenschaftlichen, kritischen Debatte; sie existiert daher stets auf Widerruf. Kuhn kritisierte aber beides, das Wirken kritischer Vernunft im normalen Wissenschaftsbetrieb und die Falsifikation. Die "normale" Wissenschaft funktioniere vielmehr auf der Basis des - zumindest zeitweiligen nicht-Hinterfragens wissenschaftlicher Regeln, Methoden und Erkenntnisse. Dieses Herrschen eines "Paradigmas" zeichnet sich bisweilen durch bewuBtes auBer-Acht-Lassen nicht erklarbarer oder widerspruchlicher Fakten aus. BefaBt man sich nun, aus welchen Grunden auch immer, mit den vom herrschenden Paradigma nicht geklarten Fakten, so fUhrt dies in den meisten Fallen zu einem neuen Paradigma. Besser ware es also, von Unwahrscheinlichkeiten oder nur von einem "Grad an Falsifikation" als Kriterium einer Theorie zu sprechen. "Alle geschichtlich bedeutsamen Theorien haben mit den Fakten ubereingestimmt, aber nur bis zu einem gewissen Grade ... Es ist durchaus sinnvoll zu fragen, we1che von zwei miteinander konkurrierenden Theorien besserzu den Fakten paBt" (Kuhn 1973, S. 195). Ware jeder Fehler im "Passen" der Fakten ein Grund fUr das Zuruckweisen der Theorie, wlirden zu jeder Zeit alle Theorien zuruckgewiesen worden sein. Es sind aber noch andere Uberlegungen, die in dieser Debatte ins Blickfeld ruckten, und die besOIyiers fUr die soziologische Theorie relevant sind. Die drei wichtigsten sind: (1) Das Problem der "theorieneutralen" Beobachtung, d.h. das Verhaltnis zwischen Fakten und Interpretation: Sehen die Anhanger verschiedener Theorien dieselben Fakten, die sie nur anders interpretieren? Damit wurden Fakten zuletzt uber die Theorie entscheiden lassen. Das Problem ist aber, daB Theorien Verschiedenes "sehen", weil sie daruber schon unterschiedliche theoretische Annahmen haben. Denn jede Theorie gibt auch die Anleitung zur Beschreibung dessen, was gesehen wird, vor und determiniert das, was sie sieht, indem sie Begriffe, Konzepte und SchluBfolgerungen impliziert. Daher ist es besser, die Theorie nicht absolut zu 8 Einleitung bewerten, sondern sie in den "relativen Verdiensten" gegenuber anderen einzuordnen. (2) Das Problem des Wahrnehmungsaspekts bzw. -inhalts: Ausgehend von der Psychologie menschlicher Wahrnehmung laBt sieh auch fur die Theorie Wahrnehmungsverschiebung am Phanomen (shift-of-aspect phenomena) postulieren (analog den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie, wonach das Hervortreten bestimmter Aspekte die Wahrnehmung des ganzen Phanomens bestimmt). Sinnvoll ist daher die Frage: 1st das, was die Theorie sieht, relevant fur die Wissenschaft? (3) Das Problem der Sprache: Theorienvergleiche scheitern schlieBlich an der mangelnden "gemeinsamen Sprache". DaB Beschreibungen, Begriffe schon "theoriegeladen" sind, wurde bereits festgestellt. Daraus folgt aber auch, daB es nieht sinnvoll ist, sie in ihren erklarenden und vorhersagenden Fahigkeiten unmittelbar zu vergleiehen, eben weil es die gemeinsame, theorieneutrale Sprache, in der ein solcher Vergleich durchgefuhrt werden muBte, nieht gibt. Nieht aile in wegen des Prinzipienstreits "Verstehen oder Erklaren" menschlichen Handelns treffen die oben genannten Probleme besonders auf die Soziologie zu. Es hat auch mit dem vieldeutigen, schillernden Begriff bzw. Phanomen "Gesellschaft" selbst zu tun - welche Aspekte sind "theoretisch relevant", was kann wie wahrgenommen, wie beschrieben werden. Etwa das Handeln Einzelner oder geordnete Strukturen moglichst groBer Einheiten; Veranderungen oder das, was uber lange Zeitraume hinweg invariant bleibt; oder nurTeile wie Institutionen, Normensysteme usf. Die in diesem Buch beschriebenen Theorien unterscheiden sieh in allen denkbaren Aspekten, unter denen man Gesellschaft wahrnehmen kann, und sind somit geradezu beispielhaft fur "shift-of-aspect phenomena". Auch wenn nach Kuhn die Wissenschaftler deshalb in "verschiedenen Welten" arbeiten, teilen sie doch die Standards der scientific community in der "Normalitat", d.h. die zur Zeit anerkannten Regeln des jeweiligen Paradigmas. Seit dieser "Paradigmendiskussion" (besonders zwischen Popper und Kuhn, vgl. dazu Lakatos und Musgrave 1974) verwendet man in der Soziologie gerne den Begriff des Paradigmas, einerseits, urn damit ein "mehr" an Theorie auszudrucken, namlich einen Wissensbestand aus Erkenntnis, Methode und "Weltsicht"; andererseits, urn damit einen eingeschrankteren Sinn von Theorie auszudrucken (z.B. Merton 1973, wonach das Paradigma eine Kodifikation von Begriffen und Problemen ist, welche die Forschung anleiten und zu Postulaten fuhren). Offenbar aber, urn damit zum Ausdruck zu bringen, daB die Theorien der Soziologie per se weniger einem konventionellen, "strengen" Theoriebegriff (System von Gesetzesaussagen, logische wenn-dann-Verknupfungen etc.) zuzurechnen sind. Doch gibt es durchaus Kriterien, uber die Konsens besteht, wenn auch nur innerhalb der "Paradigmen-Relativitat". Der Stellenwert der "groBen Theorie" in der Soziologie 9 Worin grenzt sich das soziologische theoretische Wissen nun yom Alltagswissen tiberhaupt ab? In ihrem Alltag verfUgen Menschen normalerweise tiber eine Vielzahl von Cindividuell unterschiedl\chen) Erklarungen tiber ihre Lebensprobleme, tiber Beziehungen, tiber das Schicksal anderer; tiber Phanomene wie Krieg, Reichtum und Armut etc. Die Leistung dieser "naiven" Theorien ist es, eine gewisse Klarheit im AUtag zu schaffen, indem sie den diversen Erfahrungen und Meinungen Ausdruck verleihen. In der soziologischen Theorie ist es genaugenommen umgekehrt. Sie steHt Thesen auf, die den unmittelbaren AUtagserfahrungen widersprechen, und sie wird auch nur dann eine interessante Theorie sein, wenn sie etwas Neues, Latentes ans Licht bringt; wenn die bekannten, aHtaglichen Erfahrungen im Licht neuer Informationen - etwa statistischer Daten, Beobachtungen, Feldexperimente - als eine neue, andere Wirklichkeit erscheinen. Und wei! Tatsachen oder Fakten nicht schon fUr sich selbst sprechen, gehen Theorien durch die interpretativen Verkntipfungen von Fakten tiber die unmittelbare Erfahrung hinaus. Erst in bezug auf die vermutete, verborgene Wirklichkeit erhalt die Theorie ihren eigentlichen Wert, namlich etwas Neues tiber die Welt mitzutei!en. Eines der bekanntesten Beispiele ist Freuds Theorie tiber die menschliche Psyche, seine Offenlegung unbewuBter Prozesse, der Verdrangungen von Wtinschen, im Licht aUtaglicher Erfahrungen wie Traume, Vergessen, sich-Versprechen etc. Ein Beispiel aus den soziologischen Theorien ist Durkheims Theorie der Religion; hinter den sakralen Regeln und Ritualen der Religion verbergen sieh, behauptet Durkheim, die soziaIe Regeln des Zusammenlebens. Die Anerkennung sozialer Normen, auch des erlebten sozialen Zwangs, druckt sich im religiosen Ritual aus CDurkheim 1981). Ais Versuche des Selbstverstehens - wie funktionieren soziale Einheiten, entstehen Konflikte etc. - ermoglichen soziologische Theorien (wie die psychologischen Theorien oder die Psychoanalyse) Selbstaufklarung und werden auf diese Weise selbst Teil der sozialen Wirklichkeit. Dies trifft auf eine Vielzahl von Theorien, die auch Diagnosen der Wirklichkeit sind, zu; z.B. die Auswirkungen der Marxschen Theorie auf soziale Bewegungen bis zur Entstehung sozialstaatlieher Institutionen; die Theorien des Definierens und Aushandelns von Wirklichkeit, die Veranderungen in RoUen, Organisationen und Anstalten bewirkten, oder die konflikttheoretischen Spieltheorien, die politische Wahlstrategien, Kriegs- bzw. Friedensstrategien entwickeln lieBen, urn nur einige Beispiele zu nennen. Ein Sammeln von Fakten ist ohne Kategorien (auch im AHtag) nicht moglich. Ais fester Bestandtei! der Orientierung ist "Kategorisieren" im Alltag aber stets emotional, mit Motiv- und Wertzuschreibung verbunden CTajfeI197S). Soziologische Begriffe sind dagegen lediglich auf die Theo- 10 Einleitung rie bezogene Instrumente der Analyse (z.B. Rolle, soziale Schicht, Herrschaft, soziale Handlung, Struktur etc.), d.h. sie sind nicht fest an bestimmte Beschreibungen oder Erklarungen gekniipft, sondern haben erst im Kontext der jeweiligen Theorie ihre - daher oft unterschiedliche - Bedeutung. Damit ist das Beschreiben innerhalb eines geordneten Rahmens von Kategorien auch schon ein Theoretisieren, denn der auf die Theorie bezogene Begriffsrahmen ordnet und wahlt aus, was beschrieben wird. In manchen Versuchen, den konzeptuellen Rahmen zu verbessern, wird die ganze Betonung auf die Definition der Begriffe gelegt, mehr als auf den Gebrauch in der Erklarung. Diese Kritik wird oft gegen Theorien vorgebracht, deren aufwendiges Klassifikationssystem auf Kosten theoretischer Erklarungskraft geht (z.B. gegeniiber der Parsonsschen Theorie, die hier am Anfang steht; vgl. dazu auch Bottomore 1975). Widerspruchsfreiheit und logische Konsistenz von Aussagen sind unbestritten die wichtigsten Regeln. Umstrittener sind MaBstabe dafiir, wann eine Theorie "adaquat" ist; durch Falsifikation, wie Popper sie, als sicher strengstes Kriterium, fordert, oder durch bestatigende empirische Beobachtung (Verifikation); oder nur dann, wenn auch "Laien" ihr Denken und Handeln in der Theorie wiederfinden, da es speziell die Aufgabe soziologischer Theorie sei, das Handeln der Menschen "verstehend" nachzuzeichnen - wie es die radikal antipositivistische Richtung fordert. Fast jede Theorie ist daher auch mit Annahmen metatheoretischer Art, mit Thesen iiber "ontologische" Bedingungen der menschlichen Gesellschaft, uber die Erkenntnisproblematik und die Methodologie der Sozialwissenschaften im spezie11en verknupft. Auch dieser Teil der soziologischen Theorien sol1 in diesem Buch behandelt werden. Eine Konsequenz gerade der methodologischen Dispute (zwischen Verstehen und Erklaren) ist, daB soziologisches Denken in philosoph ische Grundfragen der Wissenschaftlichkeit involviert ist (s. Giddens 1984). Auch die Frage- und Problemste11ungen soziologischer Theorien reichen in ihren Wurzeln weit in die Vergangenheit zurUck und sind daher von philosophischen Denktraditionen gepragt. Der totalisierende Zugang zu Phanomenen, die oft schwer verstandliche Theoriesprache mag sich auch daraus erklaren. Welche Art von Erk1arungen kann es daher geben? Es wird sich zeigen, daB jeder Theorieansatz in seinem Erklarungsanspruch problema tisch ist und seine ungezahlten Kritiker gefunden hat. Zu einem guten Teil f01gt dies eben aus dem oben erwahnten totalisierenden Zugang - zur Diskussion stehen anthropologische Bedingungen menschlicher Existenz, das Funktionieren der Gese11schaft als Ganzes, die Entwicklung der Geschichteo Ein strenger Positivismus verbietet diese Art ganzheitlichen Fragens, da auf dieser Ebene keine Technik empirischen Beweisens moglich ist (siehe dazu die Debatten zum "Positivismusstreit", Adorno u.a. 1972). Wo be- Der Stellenwert der "graBen Theorie" in der Soziologie 11 ginnt das Feld der Metaphysik? Allerdings mug hier auch angemerkt werden, dag soziologische Theorien sich mit Grundfragen der menschlichen sozialen Existenz befassen, die aus einer Reflexion tiber den Menschen nicht ausgeklammert werden kbnnen. Ein anderes zentrales Problem bezieht sich darauf, welcher Typ des Erklarens fur menschliche und soziale Phanomene angemessen ist. Kann menschliches Handeln analog zum naturwissenschaftlichen Vorgehen kausal erklart werden oder sind teleologische Erklarungen (Erklarung aus angestrebten Zielen) angemessen? Menschliches Verhalten sei nur an Zielen erklarbar, also teleologisch, behauptet die eine soziologische Schule und wendet sich vehement gegen eine kausal erklarende Cnaturwissenschaftlich-positivistische) Soziologie. Nur in der Natur seien Beziehungen yom Typ der "mechanischen Kausalirat" auffindbar, soziale Beziehungen dagegen folgen Regeln, die von subjektiven Bedeutungen, Sinn und Werten bestimmt sind. Daher kbnne man auch nicht universelle Satze anstreben, sondern bestenfalls die Konstruktion von Typologien, die als Rahmen fur das Verstehen menschlichen Strebens, der Ziele in verschiedenen Situationen dienen. Diese auf Dilthey zUrUckgehenden Argumente verwendet z.B. Hayek (952); und geht damit weit hinter Max Weber (921) zurUck, der Soziologie definierte als: "... das interpretierende Verstehen des sozialen Handelns, urn dabei schlieglich zu einer kausalen Erklarung seines Verlaufs und seiner Effekte zu gelangen." Weber demonstrierte dies an seiner Analyse der Beziehung zwischen Protestantismus und Kapitalismus, die eine kausale Erklarung der Entwicklung des westlichen Kapitalismus auf der Basis des Handelns von Individuen, ihrer subjektiven Handlungsziele, ist. Die Frage des Typs der Erkbirung Ckausal, teleologisch, funktionalistisch oder auch deren Kombination) ist zumeist damit verkntipft, welche Ebene oder Beobachtungseinheit primar ist, Individuum oder Gesellschaft, Handlung oder Struktur. Zweifellos mbchte jede Theorie den "gordischen Knoten" Ibsen und zeigen, wie Individuen zu Handlungssystemen finden und wie daraus zugleich ein System erwachst, welches das Handeln des Einzelnen "transzendiert", indem es unabhangig von der individuellen Existenz Bestand hat und Krafte erzeugt, die gegen seinen Willen und "hinter seinem Rticken" wirken. Wie vollzieht sich die Metamorphose von handelnden Individuen zu gesellschaftlichen Systemen, yom "freien" Handeln des Einzelnen zur (ihm immer schon vorgegebenen) Struktur? Auf welche Art und Weise bestimmt das Handeln des Individuums die umgebende soziale Struktur und/oder umgekehrt, wie bzw. wie sehr determiniert die Struktur den Einzelnen? Holistische Theorien gehen in ihren Analysen yom gesellschaftlichen Ganzen aus, das "mehr als die Summe der einzelnen Teile" ist. Individualistische Theorien dagegen betrachten Gesellschaft, trotz "Verdingli- 12 Einleitung chung" und Verfestigungsprozessen, primar abhangig von Handlung und Wahmehmung des Einzelnen. In den Struktur- und Systemtheorien (etwa Durkheim, Parsons) liegt der Interessensschwerpunkt bei der Frage der Bestandserhaltung von Strukturen, den Bedingungen von Kontinuitat oder Auflbsung. Da die ProblemsteUung sich vorweg auf die Reproduktion von Strukturen, also das Aufrechterhalten struktureUer Identitaten (auch wenn die Einzelnen durch Geburt und Tod permanent ersetzt werden) tiber die Zeit richtet, kann das geseUschaftliche Leben aus dieser Sicht nicht als Produktion durch "aktive Subjekte" begriffen werden (wie Giddens 1984, S. 146f ausfiihrt). Daher ist das Individuum aus diesem Blickwinkel in seinem Handeln immer schon von bestehenden Strukturen festgelegt; in den RoUen, die den Menschen von Geburt an erwarten und ihn bis in den Tod begleiten, erscheint das Leben vorfabriziert. Die Handlungstheorien Cindividualistische Theorien) dagegen begreifen Strukturen, also RoUen, als unmittelbares Ergebnis von "Interaktion", d.h. des zueinander in-Beziehung-Tretens. Auch hier geht es darum, daB Menschen ihr Handeln aneinander ausrichten und dabei bestimmten Regeln folgen. Menschliches Handeln ist in dieser Sichtweise intentional, "sinnhaft" (verfolgt Ziele und Zwecke) und Sprache ist daher ein elementares Medium. Nur in Kommunikation miteinander etablieren und aktualisieren Menschen Normen, interpretieren sie die Intentionen anderer, bauen sie Moral und Weltbilder auf. Aus dem "Sinn" von Handlungen entsteht Gesellschaft. Struktur ist das Resultat permanenten Herstellens und Emeuems von Regelsystemen, daher nichts fest Bestehendes, sondem genaugenommen ein permanenter ProzeK Zwischen diesen Extremen bewegen sich die im folgenden dargestellten theoretischen Strbmungen. 2. Der Strukturfunktionalismus 2.1 Die Vorliiufer: Durkheim und Radcliffe-Brown Die Urspriinge eines funktionalistischen und holistischen Denkens gehen weit zuriick, im modemeren Sinn auf Comte, der davon tiberzeugt war, daB alle Institutionen einer Gesellschaft bis hin zu moralischen Vorstellungen miteinander so sehr verflochten sind, daB das Einzelphanomen nur im Rahmen des Ganzen erklart werden kann. Der Urheber der strukturell-funktionalen Theorie ist aber sicher Durkheim, der diese Theorie so anwandte, wie es bis heute fUr diese Tradition charakteristisch ist. Das bestimmende Thema sind zwei Phanomene: die Differenzierung der Gesellschaft in Einheiten wie Familie, Gruppen etc. und ihre gleichzeitige, dem Zerfall entgegenwirkende Integration. Daher stellen sich zwei zentrale Fragen: Wie erklart sich dieser interdependente Zusammenhang der Teile? Und welchen Beitrag leistet der Teil fUr das Ganze? In seiner Studie tiber die Arbeitsteilung (De la division du travail social, 1893; 1977) steHt Durkheim eine fiktive UrgeseHschaft an den Beginn; ihr innerer Zusammenhalt beruht auf der Ahnlichkeit (in Denken und Handeln) aller, ihre innere Homogenitat fUhrt zu einer rein "mechanischen" Solidaritat, bewirkt durch Riten, Brauche und Sanktionen der Gruppe. Sie steht als gedachter Kontrast zur differenzierten Gesellschaft mit ihrer "organischen Solidaritat". Diese ist dadurch charakterisiert, daB die Einzelnen verschiedene Funktionen austiben, wodurch sich aber eine gegenseitige Abhangigkeit voneinander ergibt. Mit zunehmender Arbeitsteilung steigt auch die gegenseitige Abhangigkeit, bis die gegenseitige Verpflichtung schlieBlich als moralische Tatsache akzeptiert wird. In dieser Gesellschaft, mit ihrer Kooperation trotz und durch Verschiedenheit, ist der Einzelne mit dem "Ganzen" nicht mehr unmittelbarverbunden (wie in der fiktiven, als Clan oder Gruppe gedachten einfachen Gesellschaft, von der die Entwicklung ihren Ausgang nahm), sondem nur noch tiber Gruppen und tiber symbolische Akte, die KollektivgefUhle, wie z.B. NationalgefUhl, auslosen. Durkheims Vorgehen besteht darin, die Analyse 14 Der Strukturfunktionalismus der Strukturen von der der Funktion zu trennen. Die Typologie sozialer Strukturen ist die eigentliche Voraussetzung der Analyse; von ihr erst kann man zur Bestimmung einer Funktion gelangen. Damit hat Durkheim die Gefahr der funktionalistischen Erklarung - namlich den Zirkelschlug, von der Funktion eines Phanomens auf seine Ursache zu schliegen - erkannt. So hat er bezOglich der zunehmenden Arbeitstei!ung sehr deutlich unterschieden: ihre FUnktion ist die Integration der Gesellschaft, die Ursache aber ist einfach das stete Anwachsen der Bevolkerung, also die Dichte als wesentliches Bestimmungsmerkmal der Struktur. Durch die zunehmende Bevolkerungszahl, durch vielfache soziale Interaktionen losen sich Sitte, Brauch, unmittelbare soziale Kontrolle, die "mechanischen Zwang" ausOben, allmahlich auf, zunehmende Rivalitaten und Wettbewerb beherrschen das soziale Geschehen. Die Spezialisierullg in den Aufgaben aber halt diesen Wettbewerb jeder gegen jeden in Schach und bewahrt vor seinen zerstorerischen, destruktiven Foigen, wei! zugleich die gegenseitigen Abhangigkeiten zunehmen. Die strukturell-funktionale Analyse zeigt, dag Einrichtungen nicht urn eines bestimmten Zwecks willen geschaffen werden - damit konnte man weder ihre spezifischen Formen erklaren, noch wie sie entstanden sind - sondern dag sie aus strukturellen Zusammenhangen erwachsen. Damit wird die handlungstheoretische Frage, die von bewugtem Wahlen von Alternativen oder von unbewugten Motiven ausgeht, hier explizit vermieden. Die Funktion einer Institution entsteht aus der Erhaltung der strukturellen Voraussetzungen, aus denen sie erwachsen ist. Sie ergibt sich aus ihrem Beitrag zum "UberJeben" der Gesellschaft (gegenOber der augeren Umwelt) und zur Sicherung ihres inneren Zusammenhangs. Das Thema der zunehmenden Differenzierung stammt aber nicht erst von Durkheim, sondern ist Bestandtei! der - Darwin nachfolgenden Evolutionstheorien. Mit den fundamentalen sozialen Veranderungen durch den industriellen Kapitalismus, mit seiner komplexen Arbeitsteilung befassen sich etwa Saint-Simon, Comte (mit seiner Frage nach einer rational konstruierten sozialen Ordnung) bis zu Marx (dessen Thema die tiefe Entfremdung des Arbeiters yom Produkt und seiner Arbeit ist) oder Tonnies (mit seinem nostalgischen ROckblick auf die noch das gesamte Individuum urnfassende Einbindung in der "Gemeinschaft"); und schlieglich Weber mit seiner ambivalenten, zuletzt aber negativen Einschatzung der Entwicklung des rational aufgebauten, bOrokratischen Staates. Ihr gemeinsames Thema ist "Ordnung und Wandel"; mit Ausnahme von Marx entwerfen sie "vorher-nachher" Typologien des Vergleichs traditionaler und moderner Gesellschaften. Dag Interdependenz allein doch nicht die notwendige Solidaritat fOr den Zusammenhalt eines ganzen Systems erzeugt, diese Skepsis fiihrte Durkheim letztlich dazu, sich intensiv mit Fragen letzter Werte und nicht