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Wenn die Liebe schwindet
Möglichkeiten und Grenzen der Paartherapie
Bearbeitet von
Jürg Willi, Bernhard Limacher
Neuausgabe 2007. Buch. 244 S. Hardcover
ISBN 978 3 608 94409 9
Format (B x L): 16,1 x 2,5 cm
Gewicht: 514 g
Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie >
Familientherapie, Paartherapie
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Leseprobe
Jürg Willi: Einleitung
In diesem Buch sind die überarbeiteten Vorträge des Psychotherapiekongresses Paartherapie - im
Fokus die Liebe zusammengestellt, den das Institut für Ökologischsystemische Therapie vom 23.25. September 2004 an der Universität Zürich durchgeführt hat. Es war für alle Mitwirkenden eine
außergewöhnlich anregende Veranstaltung, weshalb wir uns entschlossen, die Hauptbeiträge in
diesem Buch einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen. Schon im zeitlichen Vorfeld des
Kongresses kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen, über die ich in dieser Einleitung kurz
berichten möchte.
Zum Thema Paartherapie - im Fokus die Liebe waren wir durch den fast gleich lautenden Titel von
Astrid Riehl-Emdes Buch Liebe im Fokus der Paartherapie (Klett-Cotta, 2003) angeregt worden,
das während der Planungsphase des Kongresses erschien. Astrid Riehl-Emde hatte in der Zeit,
als sie noch Dozentin unseres Ausbildungsteams in Zürich war, eine Studie zum Thema Was hält
Paare zusammen? ausgearbeitet, ursprünglich in der Absicht, die Thesen meines gleich
lautenden, 1991 erschienenen Buches zu überprüfen. Sie untersuchte eine repräsentative
Stichprobe von Paaren mit einem von ihr ausgearbeiteten Fragebogen mit 18 Items. Viele
Befragte wiesen darauf hin, dass nach dem Wichtigsten, was Paare zusammenhält, nicht gefragt
worden sei, nämlich nach der 'Liebe'.
Es zeigte sich in der Folge, dass 'Liebe' neben 'Identifikation mit der Partnerbeziehung ' von den
Befragten als wichtigster Faktor für den Zusammenhalt ihrer Beziehung bezeichnet wurde. Dieses
Ergebnis mag für Laien selbstverständlich und banal erscheinen. Umso erstaunlicher ist es, dass
'Liebe' bis vor wenigen Jahren kein Stichwort der Paartherapie war und in der Fachliteratur bisher
kaum behandelt wurde. Aus der Überzeugung heraus, dass offensichtlich ein zentraler
Gesichtspunkt in der Paartherapie vernachlässigt wird, entschlossen wir uns, erstmalig die Liebe
ins Zentrum eines wissenschaftlichen Kongresses über Paartherapie zu stellen. Doch das erwies
sich als schwieriger als erwartet.
Zunächst hatten wir die Absicht, mit einem breiten Spektrum internationaler Referenten das
Thema Liebe und Paartherapie abzudecken. Angefragt wurden Referenten zu Fragen der
Biochemie, Soziologie, Ethnologie und Ethologie von Partnerwahl und Liebesbeziehungen sowie
zu 'Stalking', einem bei uns noch wenig bekannten psychopathologischen Begriff. Wir hatten dann
aber den Eindruck, dass Beiträge aus diesen Disziplinen vom eigentlichen Kongressthema zu weit
entfernt lägen. Als 'Headhunter' begab ich mich daraufhin im Oktober 2003 nach Long Beach,
Kalifornien, zur AAMFT-Conference, dem Jahrestreffen der American Association for Marital and
Family Therapy, der weltweit größten Gesellschaft für Paar- und Familientherapie. Aber mit
Ausnahme von David Schnarch gelang es mir nicht, Referentinnen oder Referenten ausfindig zu
machen, die etwas Interessantes zu unserem Kongressthema hätten beitragen können.
Doch dann stellten wir auf einmal fest, dass die interessantesten Wissenschaftler nicht in Übersee
zu suchen waren, sondern im deutschen Sprachraum selbst. Fast wie Pilze aus dem Boden
schießen, so erschien in den letzten Jahren hintereinander eine Vielzahl von Fachbüchern über
Liebe und Paartherapie/Sexualtherapie, und zwar Bücher, die sich voneinander deutlich
unterschieden und eine Vielfalt neuer Gesichtspunkte in origineller Weise bearbeiteten.
2002 publizierte ich das Buch Psychologie der Liebe, in welchem ich mich vor allem mit der
persönlichen Entwicklung durch die Herausforderung der Liebe befasste und dabei die
partnerschaftliche Kritik als wichtigen Trigger dieser Entwicklungen beschrieb. Ebenfalls 2002
publizierte Arnold Retzer in der Zeitschrift Familiendynamik eine zweiteilige Arbeit über 'Das Paar.
Eine systemische Beschreibung intimer Komplexität', ein Thema, das er in seinem 2004
erschienenen Buch Systemische Paartherapie (Klett-Cotta) noch weiter ausgeführt hat. Völlig
anders als unsere eher koevolutive Sicht von Liebesbeziehungen, geht er vom Paar als
Kommunikationssystem aus und beschreibt die Kommunikationscodes der Liebe. Der
Kommunikationscode der Liebe stellen die kulturellen Vorschriften darüber bereit, was man sich
unter 'Liebe' vorzustellen hat, wie man Gefühle ausdrücken, anderen unterstellen und auch
leugnen kann. Die Beziehungsgeschichte wird von den Paaren in Form von Liebesmythen erzählt,
um der gegenwärtigen Beziehung Sinn und Bestand zu verleihen. Liebesmythen haben eine
exklusive Funktion, indem sie die Familie und die Moral ausgrenzen und die entzauberte Welt
wieder verzaubern. Retzer führt eine interessante Unterscheidung zwischen Liebesbeziehung und
Partnerschaft an, welche für ihn unterschiedlichen Logiken folgen: Zur Logik der Partnerschaft
gehört ein Austauschverhältnis von Leistung und geforderter Gegenleistung, die aufgerechnet und
gerecht verteilt werden sollen. Zur Logik der Liebesbeziehung gehört dagegen die freiwillige,
bedingungslose Gabe ohne Einforderung einer gerechten Gegenleistung.
Astrid Riehl-Emde führt diese Klärung der Unterschiede zwischen Partnerschaft und
Liebesbeziehung in ihrem 2003 erschienenen Buch Liebe im Fokus der Paartherapie weiter. Für
viele Paare reicht die Funktionalität der Partnerbeziehung nicht aus. Wenn die Paarbeziehung auf
Liebe verzichtet, verliert sie ihre Bindungskraft. Astrid Riehl-Emde zufolge bleibt der Ursprung der
Liebe im Dunkeln. Konzepte des Unbewussten haben oft eine höhere Erklärungskraft als
systemische Ansätze. Therapeutisch legt sie einen Schwerpunkt auf den Umgang mit
zwiespältigen Gefühlen in der Liebe und auf deren Akzeptation.
2004 erschien Guy Bodenmanns Buch Verhaltenstherapie mit Paaren. Ein modernes Handbuch
für die psychologische Beratung und Behandlung, in welchem er sich eingehend aus
verhaltenstherapeutischer Sicht mit dem Begriff 'Liebe' auseinander setzt und sich - im Kapitel
über die Revitalisierung der Partnerschaft - mit der Wiederbelebung von Liebe in der Therapie
befasst. Schließlich erschien kurz vor dem Kongress das Buch Das neue Der Die Das. Über die
Modernisierung des Sexuellen (2004) von Gunter Schmidt, in welchem er verblüffende und
spannende Aspekte des kulturellen Wandels, auch in Bezug auf das moderne Sexualleben
beschreibt. Nachdem es um die Sexualtherapie in den letzten Jahrzehnten ruhig geworden war,
befindet sie sich gegenwärtig in einer Aufbruchstimmung. Das ist u.a. auf David Schnarch
zurückzuführen, der die auf Übungen beruhenden Techniken der Sexualtherapie von W. H.
Masters und V. E. Johnson (Impotenz und Anorgasmie, 1973) radikal in Frage stellte und zur
Belebung sexueller Beziehungen eine bessere Qualität der Intimität und Differenzierung von
Liebesbeziehungen postuliert. Dabei haben die Partner zu lernen, sich selbst und den Partner so
zu akzeptieren, wie sie sind, ein oft schmerzlicher und auch risikoreicher Weg. Auf unsere
Empfehlung hin entschloss sich der Verlag Klett-Cotta, das umfangreiche Buch Passionate
Marriage von David Schnarch (1998) ins Deutsche zu übersetzen (bei Klett-Cotta für 2006 in Vb.).
Unmittelbar vor dem Kongress wurde Ulrich Clements Buch Systemische Paartherapie (KlettCotta, 2004) veröffentlicht, in welchem er sich u.a. aus systemischer Sicht mit dem sexuellen
Begehren in langjährigen Paarbeziehungen beschäftigt. Er kommt dabei zu überraschenden und
einleuchtenden Äußerungen zu verbreiteten Fehlmeinungen über sexuelle Beziehungen und
therapeutischen Fehlern, die, damit zusammenhängend, oft begangen werden.
Nachdem sich diese Autoren bereit erklärt hatten, bei unserem Kongress einen Hauptvortrag
und/oder die Leitung eines Workshops zu übernehmen, gerieten wir in eine Krise. Die von uns
eingeladene daseinsanalytische Psychotherapeutin und Philosophin Alice Holzhey-Kunz erteilte
uns eine Absage, in der sie unser Kongresskonzept grundsätzlich in Frage stellte. Ich zitiere eine
Passage aus ihrem Brief:
'Der letzte Satz Eurer Vorankündigung: ?Strategien und Techniken einer auf Liebe fokussierten
Paartherapie? hat mich zwar schon zu einigen Gedanken angeregt, die in der Frage kulminieren,
ob das nicht ein Widerspruch in sich selbst ist. Liegt es nicht in der Natur der Sache bzw. der
Eigenart von strategisch-technisch konzipierten Psychotherapien, dass hier die Liebe gar nicht
hineinpasst? War es also nicht folgerichtig, dass die Liebe in der Paartherapie bisher kein
Stichwort war? Über das so vieldeutige und abgründige Phänomen der Liebe kann man zwar
versuchen zu reden (wenn auch immer nur annähernd und vorläufig), weshalb die Liebe in
psychoanalytischen Psychotherapien durchaus immer schon ihren sogar wichtigen Platz hatte und
weiterhin hat. Wenn man versucht, sie zweckrational in den Griff zu bekommen und die Leute
anzuweisen, wie sie?s richtig machen sollen, was wird dann von der Liebe übrig bleiben? Ich
zweifle, dass das Problem damit gelöst ist, dass man nun das Stichwort Liebe ins Vokabular
zweckrational konzipierter Paartherapien einführt, ja die Liebe sogar zum eigentlichen Fokus der
Therapie erklärt.'
Diese Kritik machte uns deutlich, dass wir uns mit dem Kongressthema Paartherapie - im Fokus
die Liebe etwas voreilig und unbedacht in ein äußerst spannendes, aber schwer fassbares
Neuland hineingewagt hatten. Aber was will man Besseres für einen Kongress als eine
kontroverse Diskussion? So setzte ich mit Erfolg alles daran, Alice Holzhey umzustimmen und
doch für unseren Kongress zu gewinnen, um uns mit der Frage zu konfrontieren, ob und wie
'Liebe' überhaupt zu einem rationalen Gegenstand und Ziel von Psychotherapie gemacht werden
kann.
Doch es folgte gleich die nächste Kritik, diesmal von der Psychologin Gisela Ana Cöppicus
Lichtsteiner. Sie stellte in Frage, ob die Methode der Paartherapie ein geeignetes
Therapiekonzept zur Bearbeitung von tiefer liegenden Liebesproblemen sei. In der
therapeutischen Arbeit mit frühgestörten, meist sexuell missbrauchten Patientinnen gewann sie
den Eindruck, dass bei diesen Patientinnen die Voraussetzungen zum Eingehen und Leben einer
Paarbeziehung oft gar nicht vorliegen. Bei diesen Patientinnen ist das Urvertrauen in die Liebe oft
gerade durch jene Personen zerstört worden, die sich ihnen für die grundlegenden, ersten
Erfahrung von Liebe angeboten hatten. Früh verletzte Personen mussten ihrer Meinung nach mit
einer geduldigen, subtilen und über einen größeren Zeitraum sich hinziehenden Einzeltherapie
behandelt werden, um so eine korrigierende Liebeserfahrung in der Beziehung zur Therapeutin
machen zu können. Die Patientinnen mussten sich zunächst noch lange davor schützen,
Bindungssehnsüchte oder gar Liebesgefühle aufkommen zu lassen. Die Therapeutin erlebte, dass
das Aufkeimen der Liebe in einem ersten Schritt oftmals eine religiöse Qualität hat, als Erfahrung
einer bedingungslosen Gottesliebe. Diese Erfahrung ereignet sich, zeitlich lange bevor sich die
Patienten in die Wechselseitigkeit einer liebevollen Interaktion mit einem konkreten Partner
einlassen können. Es stellte sich somit die Frage, ob in ihrer Liebesfähigkeit schwer verletzte
Menschen überhaupt von einer Paartherapie profitieren können oder ob sie zunächst die
Möglichkeit haben sollten, eine korrigierende Erfahrung im stärker geschützten Einzelsetting zu
machen. Ist die Paartherapie somit überhaupt die zuständige Therapieform zur Bearbeitung von
tiefer liegender Liebesproblemen? In dieser Irritation entschlossen wir uns, die Hauptreferenten
kurzfristig für den 24. und 25. April 2004 zu einem Gedankenaustausch über das Kongressthema
einzuladen. Und siehe da: Obwohl es sich durchwegs um zeitlich stark in Anspruch genommene
Referentinnen und Referenten handelte, kamen alle. Wir werteten das als Ausdruck des
Interesses, aber auch der Verunsicherung in Bezug auf das Kongressthema. Die einleitende
Diskussion zeigte, dass das Kongressthema Paartherapie - im Fokus die Liebe unterschiedlich
verstanden werden kann, nämlich - wie für den Kongress vorgesehen - als Frage, welchen
Stellenwert die Liebe in der Paartherapie haben sollte, oder - radikaler - als Postulat, wonach
Liebe zum zentralen Fokus der Paartherapie gemacht werden sollte.
Wie zu erwarten war, prallten in der weiteren Diskussion unterschiedliche therapeutische
Haltungen aufeinander: auf der einen Seite die Überzeugungen der existenzialphilosophischen
und religiös inspirierten Kritikerinnen und Einzeltherapeutinnen, auf der anderen Seite die von
ihnen fast als zynisch erlebten Positionen der rationaler denkenden systemischen
Paartherapeuten. Es wurde darüber gestritten, ob Liebe - oder eher die Liebesfähigkeit - durch
Therapie gezielt gefördert werden kann und ob die Paartherapie nicht gut daran täte, das
Liebesthema zu vermeiden. In dem Ausmaß, in dem die Debatte persönlicher wurde, rückte das
Liebesverständnis der Therapeuten ins Zentrum, mit der Frage, welche Art von Gesprächsführung
es den Klienten ermöglicht, sich dem Thema 'Liebe' zu öffnen. Offensichtlich war das
Kongressthema geeignet, heftige Diskussionen auszulösen. Alle Anwesenden hatten den
Eindruck, dazu mehr Fragen als Antworten zu haben. Mit diesem Thema hatten wir etwas in die
Welt gesetzt, für das sich keiner von uns als Experte fühlte.
Wenn am Ende unseres Vorbereitungstreffens auch nur wenig konkrete Ergebnisse vorlagen, so
hatte dieser Gedankenaustausch doch den Effekt, dass alle Referentinnen und Referenten sich in
ihren Vorträgen wirklich mit dem Kongressthema auseinander setzten und sich dieses wie ein
roter Faden durch die hier präsentierten einzelnen Beiträge hindurchzieht.
Zum Formalen sei noch gesagt, dass die jedem Beitrag vorangestellten Vorspänne von uns
Herausgebern verfasst wurden.
Wir hoffen, dass das Buch die Leserinnen und Leser ebenso anregt, sich mit dem Thema Wenn
die Liebe schwindet. Möglichkeiten und Grenzen der Paartherapie, dem Titel des Buches,
auseinander zu setzen und dass viele der darin präsentierten Überlegungen in der
therapeutischen Arbeit mit Einzelpersonen und Paaren nutzbar gemacht werden können.
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