Wissenschaftlicher Fortschritt und militärischer Stillstand

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
SWR2 extra: Der Erste Weltkrieg
1915: Wissenschaftlicher Fortschritt und militärischer Stillstand
Autor: Wolfram Wessels
Redaktion: Jürgen von Esenwein / Udo Zindel
Regie: Michael Utz
Erst-Sendung: Freitag, 23. April 2004, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen
Wiederholung: Freitag, 4. Juli 2014, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen
Bitte beachten Sie:
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1
MANUSKRIPT
Archiv-O-Ton:
Wie ein Münchener Infanterist an seine Geliebte schreibt:
“Du Haserl wie ham wir gedroschen
Franzosen und Engländer schwer;
Auch d’ Russen ham eins kriegt auf d’Goschen,
Mein Liebchen, was willst Du noch mehr.“
Wie der Zar an den Hindenburg schreibt:
“Oh Hindenburg, oh Hindenburg ...
Ansage:
„1915. Wissenschaftlicher Fortschritt und militärischer Stillstand.“ Eine Sendung von
Wolfram Wessels aus der Reihe: Der Erste Weltkrieg – La Grande Guerre – World
War One
Zitator – Werner Sombart:
Die 42 cm-Mörser, die feldgrauen Uniformen, die bombenwerfenden und
auskundschaftenden Flugapparate, die Unterseeboote haben uns wieder einen Sinn
des technischen Fortschritts offenbar gemacht. Werner Sombart, Professor und
Nationalökonom.
Zitator – Hans Martens:
Das ist das Scheußliche im jetzigen Krieg - alles wird maschinenmäßig, man könnte
den Krieg eine Industrie gewerbsmäßigen Menschenschlachtens nennen. (...) Mein
künftiges Leben betrachte ich als Urlaub vom Tode. Hans Martens, Soldat und
Student.
Erzähler:
Nach dem Scheitern aller militärischen Vorkriegs-Pläne verharrt die Front im Westen
im Stellungskrieg, im Osten wogt sie hin und her.
Sprecher:
Frühjahr 1915: Zeppeline der deutschen Marine greifen Städte in Frankreich und
Südengland an.
Erzähler:
Bereits in den Kämpfen um das belgische Lüttich wurden Luftschiffe eingesetzt; die
Franzosen haben darauf mit Flugzeug-Angriffen geantwortet und im Dezember 1914
Freiburg bombardiert.
Zitator 1:
Der leitende Maschinist half dem Wacheoffizier im Bombenraum beim Abwerfen der
Bomben, denn die Brandgeschosse mussten mit der Hand abgeworfen werden. Es
wurde ein Splint herausgezogen, wodurch die Bombe scharf gemacht wurde, dann
flog sie in sanftem Bogen außenbords, um nach kurzer Zeit unten aufzuschlagen und
dort zu brennen.
2
O-Ton – Frau:
Meine Mutter hat erzählt, wie mal eine Bombe auf die Bockenheimer Landstraße
gefallen ist. Da seien alle Scheiben in der Umgebung zertrümmert gewesen, ein
Milchmann wäre da gefahren, dem hätte es den Hut weggetragen bis zum
Opernplatz. Und da, wo die Bombe draufgefallen wäre, das wäre nur ein Loch
gewesen wie ein Teller und dann wäre alles nach der Seite gespritzt.
Zitator 1:
Nachdem wir den ersten Eindruck des Bombenwerfens auf feindliches Gebiet
verdaut hatten, war natürlich die erste Frage: „Wie hieß eigentlich der Ort, über dem
wir gewesen sind?“
Erzähler:
Die Flugzeuge sind noch langsam und technisch sehr anfällig. Entsprechend hoch
sind die Verluste.
Sprecher:
In Frankreich werden rund 68.000 Flugzeuge im Laufe des Krieges gebaut,
dreiviertel von ihnen werden abgeschossen.
Erzähler:
In England wird eine viermotorige Maschine entwickelt und in Deutschland das erste
Flugzeug aus Metall gebaut. Neue Techniken machen die Maschinen schneller und
wendiger. Damit erweisen sie sich den Zeppelinen überlegen.
Sprecher:
Im Januar berät der britische Premierminister mit dem ersten Lord der Admiralität,
Winston Churchill ein Memorandum zum Kriegsverlauf.
Erzähler:
Die Situation an der Westfront ist festgefahren. In Sachen Deutsches Reich kommt
das Papier zu dem Ergebnis, dass ein Durchbruch nur möglich sei mit neuen
technischen Mitteln oder durch einen Ablenkungsangriff auf die Türkei
beziehungsweise auf deutsche Kolonien. Empfohlen wird auch eine neue Waffe
gegen feindliches Sperrfeuer:
Zitator 2:
Einen mit Benzin betriebenen Traktor auf Raupenketten mit gehärteten Stahlplatten
als Schutz.
Musik:
The Tanks that Broke the Ranks ...
Erzähler:
Kaum sind die Tanks im Einsatz, da werden sie auch schon besungen, wie sie die
Reihen in der Picardie in Nordfrankreich durchbrechen.
Zitator 2:
Hier kommt die britische Navy, sie segelt an Land!
3
Erzähler:
Die Tanks gleichen gepanzerten Kriegsschiffen und werden deshalb auch
„Landschiffe“ genannt. Im September ist „Little Willy“ fertig, der erste Prototyp, aber
erst gegen Ende des Krieges erlangt die neue Waffe entscheidende Bedeutung.
Zitator 2:
Der Kanonendonner ist häufig derart lebhaft, dass man keinen einzelnen
Kanonenschuss hört, sondern nur ein ununterbrochenes Rollen. Abgesehen vom
Kanonendonner ist es ein stiller Krieg. Keine Signalhörner, keine Musik, keine lauten
Kommandorufe. Der Offizier gibt seine Befehle mit Zeichen; niemand spricht.
Zitator 5:
Das Grauenhafte dieses Geschehens übersteigt alle Vorstellungskraft. Niemand
vermag so etwas zu fassen – Menschen, die in die Schützengräben zu einem so
sicheren Gemetzel gehen, wie das Schlachtvieh in die Schlachthäuser eines
Viehhofes getrieben wird. Es gibt keine Möglichkeit, dem zu entgehen. Nichts ist von
der alten „Poesie“ des Krieges übriggeblieben – nicht die Salve, der Sturm, der
Hurraruf, das Waffengeklirr, nicht das Nachgeben hüben oder drüben. Das alles ist
vorbei.
Archiv-O-Ton – Großadmiral Alfred von Tirpitz:
Unsere wirtschaftliche Entwicklung ging in den letzten Jahrzehnten unterstützt von
deutschem Fleiß, deutscher Wissenschaft mit Riesenschritten vorwärts.
Sprecher:
Großadmiral Alfred von Tirpitz:
Archiv-O-Ton – Großadmiral Alfred von Tirpitz:
Nur durch starke Berührung mit der See können wir den für uns nötigen
weltumspannenden geistigen Horizont gewinnen. Ich meine nicht den im Himmel
oder im Abstrakten, sondern den jedem Menschen nötigen hier auf der Erde.
Sprecher:
12. Februar 1915: Von Tirpitz erklärt die Gewässer um Großbritannien und Irland
sowie den Kanal zum Kriegsgebiet, in dem auch neutrale Handelsschiffe Gefahr
laufen, angegriffen zu werden.
Erzähler:
Er rechtfertigt diesen Schritt als Reaktion auf die geheime britische Anordnung,
Handelsschiffe neutral zu beflaggen.
Archiv-O-Ton – Emil Fischer:
Die deutsche Naturforschung und die vielfach mit ihr in Wechselwirkung stehende
Technik haben mit Ausbruch des Krieges von seiten des feindlichen Auslandes
mancherlei Geringschätzung und Kränkung erfahren. So bedauerlich diese
Erscheinung auch sein mag, so sicher wird sie in ruhigeren Zeiten wieder
verschwinden.
Sprecher:
Prof. Emil Fischer, Chemie-Nobelpreisträger von 1902, Leiter des Kaiser-WilhelmInstituts für Chemie in Berlin.
4
Erzähler:
Fischer hat Haber an das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie nach
Berlin geholt. Haber wird als wissenschaftlicher Berater in die Kriegs-RohstoffAbteilung des Ministeriums berufen, weil mit dem von ihm und Carl Bosch
entwickelten Verfahren zur Ammoniaksynthese Salpeter hergestellt werden kann, der
für die Sprengstoff-Produktion unentbehrlich ist. Er widmet sich nun auch der
Entwicklung von waffentauglichen Giftgasen.
Musik
Zitator 1:
Im Februar befiehlt die oberste Heeresleitung den Abmarsch der neuen Gastruppe
an die Front, aus Tarnungsgründen „Desinfektionskompanien“ genannt.
Erzähler:
Dazu gehören auch Fritz Haber, Otto Hahn und Gustav Hertz, später allesamt
Nobelpreisträger.
Zitator 1:
Es beginnt der schwierige Einbau der Kampfgasflaschen in der ausgewählten
Stellung.
Sprecher:
22. April 1915: Habers Blas-Verfahren wird getestet.
Zitator 1:
Der Wind dreht sich wie vorausgesagt auf West-Nordwest und am gleichen Tage,
etwa sechs Uhr nachmittags, wird der erste Gasangriff planmäßig durchgeführt. Der
Angriff reißt die feindliche Front in einer Breite von sechs Kilometern auf. Vor uns
liegt, kaum zerstört, die schöne alte Stadt Ypern.
Sprecher:
Bilanz des Giftgasangriffs: rund 5.000 Tote und 15.000 Vergiftete.
Atmo:
Britischer Giftgasangriff
Zitator 1:
Der Krieg mit Gaswolken hat seit dem Frühjahr 1915 Monat um Monat seinen
Fortgang genommen. Die Panik, welche der erste Angriff vor Ypern beim Feind
ausgelöst hat, ist im Osten bei den Russen erst (später), dann aber regelmäßig
beobachtet worden.
Erzähler:
Fritz Haber wird zum Hauptmann befördert und entwickelt weitere Gift-Gase:
Phosgen und Senfgas.
Sprecher:
Haber erhält den Chemie-Nobelpreis 1918 für seine Ammoniaksynthese.
5
Erzähler:
Da haben längst auch die Engländer und Franzosen Giftgaswaffen eingesetzt.
Während die Berliner Professoren Emil Fischer, Max Planck und Fritz Haber sich vor
den Karren der deutschen Militärs spannen lassen, verweigert sich ihr Kollege Albert
Einstein.
Zitator – Albert Einstein:
Die Gelehrten gebärden sich, als ob ihnen vor acht Monaten das Großhirn amputiert
worden wäre.
Erzähler:
Vor allem Fritz Haber hat sich dafür eingesetzt, dass Einstein 1914 von Zürich nach
Berlin an das neue Kaiser Wilhelm Institut für theoretische Physik wechselte.
Vorübergehend residiert er in Habers Institut.
Sprecher:
Im November hält Einstein Vorträge vor der Akademie der Wissenschaften und
publiziert sie als Sonderdruck.
Zitator – Albert Einstein:
Damit ist endlich die „Allgemeine Relativitätstheorie“ als logisches Gebäude
abgeschlossen.
Zitator – Gustav Landauer:
Was Einstein angeht, so gefällt er mir ausnehmend gut; ich werde öfter mit ihm
zusammen sein. Aber meine Absicht, ihn schlankweg für unsere Sache als Initiator
zu gewinnen, konnte ich nicht durchführen.
Erzähler:
Der anarchistische Publizist und Schriftsteller Gustav Landauer hofft auch nach dem
Auseinanderfallen des Forte-Kreises, einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern,
die sich in Potsdam trifft, noch immer auf einen Zusammenschluss europäischer
Kriegsgegner.
Zitator – Gustav Landauer:
Ich hatte nicht den Mut, ihn aus seinen Studien über Gravitation und dergleichen
auch nur für eine Stunde herauszureißen und in so was wie Tageskampf zu holen.
Musik:
Unsre Berta, unsere dicke Berta, so hat man sie genannt, unsre Kanone. Ein Konzert
macht die dicke Berta, wenn sie kracht, dann Feinde gute Nacht!
Erzähler:
Auf dem Schlachtfeld bringt es eine schwere Kanone mit einem Rohr von 42 cm
Durchmesser zu trauriger und martialischer Berühmtheit. Das Ungetüm wird von der
Firma Krupp hergestellt und trägt den Namen der Firmenchefin: „Dicke Berta“.
Zitatorin:
Wir erklären feierlich, jeder Neigung zu Feindschaft und Rache zu widerstehen,
dagegen alles Mögliche zu tun, um gegenseitiges Verständnis und guten Willen
zwischen den Nationen herzustellen.
6
Sprecher:
27. April bis erster Mai 1915: In Den Haag tagt der internationale Frauen-FriedensKongress. 1.126 Frauen sind aus zwölf Ländern angereist.
Zitatorin:
Dieser Internationale Kongress von Frauen der verschiedenen Nationen, Klassen,
Parteien und Glaubensrichtungen ist einig im Ausdruck warmen Mitgefühls mit dem
Leiden aller, die unter der Last des Krieges für ihr Vaterland arbeiten und kämpfen,
gleichviel welcher Nation sie angehören.
Erzähler:
Die deutsche und die britische Regierung haben ihren Delegierten die Teilnahme
erschwert, ihnen Pässe und Schiffsverbindungen verweigert. Dennoch gelingt es
einigen, an dem Kongress teilzunehmen; die französische Delegation schafft es
nicht. Aus den USA kommt Jane Addams und übernimmt die Kongressleitung.
Zitatorin – Jane Addams:
Da die Völker aller im Kriege befindlichen Länder glauben, keinen Angriffskrieg zu
führen, können keine unversöhnlichen Gegensätze zwischen ihnen bestehen.
Erzähler:
Jane Addams, die 1931 den Friedensnobelpreis erhalten wird, informiert Woodrow
Wilson, in dessen Friedensvorschläge von 1917 Ideen dieses Kongresses einfließen.
Musik:
When the Lusitania Went down
Zitator 1:
Die Nation ist traurig wie nie
Eine Nachricht kam von Übersee
Tausende oder mehr, die von unseren Ufern kamen
sie gingen in die Ewigkeit.
Sprecher:
7. Mai 1915: Ein deutsches U-Boot versenkt das britische Passagierschiff Lusitania
auf seiner Fahrt von New York nach Liverpool. Nahezu 1.200 Menschen ertrinken,
darunter 128 Amerikaner.
Zitator 5:
Sir Edward Grey sagte gestern Abend zu mir: „(Die Deutschen) sind Amokläufer“.
Der offizielle Kommentar ist natürlich zurückhaltender. Die offen ausgesprochene
inoffizielle Ansicht ist die, dass die Vereinigten Staaten den Krieg erklären müssen,
wenn sie nicht in Europa an Respekt verlieren wollen.
Zitator – Woodrow Wilson:
Es ist eine sehr ernste Sache, dass solche Dinge gedacht werden! – Woodrow
Wilson.
7
Zitator 5:
Der vorsichtigste Schritt, auf den die besten Freunde Amerikas hier hoffen, wäre der,
die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland abzubrechen.
Zitator 2:
Es gibt auch so etwas wie eine Nation, die zu stolz ist, um zu kämpfen!
Erzähler:
Noch belässt es Amerika bei Protest-Noten.
Zitator 5:
Der Auslandsredakteur der „Times“ ist gerade von einem einwöchigen Aufenthalt in
Frankreich zurückgekehrt. Er erzählt mir streng vertraulich, dass England, Frankreich
und Russland am 30. April mit Italien einen Vertrag abgeschlossen hätten. (Sie)
seien übereingekommen, Italien sehr große Teile österreichischen Gebietes zu
überlassen, wenn Italien in einem Monat in den Krieg eintreten würde.
Archiv-O-Ton:
Soldaten an den Alpengrenzen. Endlich hat der Italiener die trügerische Maske
abgeworfen. Schwere Kämpfe harren unser, aber die brandende Flut soll einen
Felsen an uns finden. Soldaten! Noch flammt in uns der Geist Radetzkys, der Geist
Erzherzog Albrechts, der Geist jener Helden, vor deren Namen die Welt schon immer
gezittert haben. Noch jedes Mal waren die Italiener in der Übermacht, doch jedes Mal
ist unsere tapfere Minderzahl ihrer Herr geworden.
Musik:
La legenda del Piave
Zitator 2:
Die Piave floss still und ruhig dahin, als sie die 1. Infanterie am 24. Mai überquerte.
Die Armee steuerte auf die Front zu, dem Feind entgegen. Die Soldaten waren still in
dieser Nacht. Sie mussten leise sein und vorwärts gehen.
Archiv-O-Ton – Svetosar Boroević:
Kameraden der Isonzo-Armee! An Euch richte ich auch bei diesem Anlass das Wort,
um Euch zu sagen, wie stolz und glücklich ich darüber bin, an eurer Spitze zu
stehen.
Sprecher:
Svetosar Boroević, österreichischer Generaloberst.
Archiv-O-Ton – Svetosar Boroević:
Viele von Euch begrüße ich als meine alten Kriegskameraden aus den galizischen
und Karpaten-Schlachten. Alle aber als die Helden von den Kämpfen am Isonzo,
deren Ruhm durch die Welt hallt.
Erzähler:
Wie an der Westfront, kommt es auch in den Alpen zu keiner Entscheidung.
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Archiv-O-Ton – Svetosar Boroević:
Solange es Kulturmenschen geben wird, wird man Euch als Muster von
Vaterlandsliebe, Gehorsam und Pflichtgefühl preisen.
Archiv-O-Ton:
Herrgott is des a Sturmwind. Is es in de Karparten alleweil so stürmisch? – Das ist
ungarischer Ruf. Da is a bisserl Paprika dabei. – I spürs. Mir brennt scho s ganze
Gsicht. – Pass auf, es wird noch angenehmer, wenn wir mit den Kosaken
zusammenkommen. – Besser Kosaken als ka Socken bei die Költn. – Hörst das
Pferdegetrappel? Die Kosaken kommen schon! (Schlachtenlärm mit Trompete)
Erzähler:
Wie diese Propaganda-Schallplatten glauben machen wollen, laufen auch die
Schlachten in den Karpaten nicht mehr ab. Gleichwohl sind die österreichischungarischen Truppen im Sommer 1915 erfolgreich.
Archiv-O-Ton:
Kameraden. Der Oberst hat mich beauftragt, der gesamten Mannschaft die höchste
Zufriedenheit auszudrücken. Es war in jeder Beziehung eine glänzende Waffentat
unserer Truppen und die Armeeleitung spricht Euch die vollste Anerkennung aus.
(Hurra!) Auf dem Rathaus weht die österreichisch-ungarische Fahne und legt
Zeugnis ab von den Heldentaten der gemeinsamen Armeen, die soeben
telegraphisch von unserem allerhöchsten Kriegsherrn belobt wurde. Seine Majestät,
unser heißgeliebter Kaiser Franz Joseph I., er lebe hoch! (Hoch! - Gott erhalte ...
Erzähler:
Russland gerät in Bedrängnis und bittet die Verbündeten um Entlastungsangriffe im
Westen, zumal die Auseinandersetzung mit der Türkei im Süden zu einem Fiasko zu
werden droht.
Zitator 5:
Ein privater Bericht meldete, dass die Franzosen vor einiger Zeit versucht hätten, mit
einer halben Million Mann die deutsche Linie zu durchbrechen, dass sie fünf Meilen
vorwärts gekommen seien, mehr als zweihunderttausend Mann Verluste gehabt und
das Unternehmen dann aufgegeben hätten. Wenn sich diese Meldungen
bewahrheiten, so wird die Entscheidung über den Landkrieg in der Türkei, auf dem
Balkan oder in Russland fallen.
Sprecher:
7. Juni. 1915: Das Dardanellen-Komitee der britischen Regierung beschließt, neue
Truppen in die Region zu schicken.
Zitator 2:
Die Erzwingung der Dardanellen ist die beste Verteidigung unserer Stellung in
Ägypten und im Osten.
Erzähler:
Die Dardanellen trennen Europa von Asien und sind zugleich die Verbindung vom
Schwarzen ins Mittelmeer. Sie werden vom Osmanischen Reich kontrolliert, einem
muslimischen Staat.
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Zitator 1:
Moslems, die im gegenwärtigen Krieg unter England, Frankreich, Russland, Serbien,
Montenegro gegen Deutschland und Österreich, den türkischen Verbündeten,
kämpfen, haben die es nicht verdient, durch den Zorn Gottes bestraft zu werden, weil
sie das Kalifat und den Islam geschädigt haben?
Erzähler:
Die türkische Regierung spricht eine Fatwa aus und ruft zum Djihad auf, zum heiligen
Krieg.
Zitator 1:
Die Antwort ist: Ja.
Erzähler:
Die britische Regierung sieht darin eine Gefahr für ihre Kolonien im Fernen und
Nahen Osten, die einen hohen Anteil an muslimischer Bevölkerung haben.
Musik:
We must all fall …
Zitator 2:
Aus den Schützengräben fragen die Jungs die Zuhause gebliebenen, warum sie
nicht an der Front stehen, wie sie. Es ist auch ihr Job! Wir müssen alle antreten,
wenn wir siegen wollen!
Erzähler:
Die auf der Halbinsel Gallipoli, am Westufer der Dardanellen gelandeten
französischen und britischen Truppen besitzen weder Landkarten noch
Informationen über die türkische Truppenstärke und sind trotz massiver
Unterstützung durch schwere Schiffsgeschütze den Verteidigern unterlegen.
Zitator 1:
Meine Helden! Meine Soldaten! Verliert in diesem heiligen Krieg, den wir gegen die
Feinde unserer Religion und unseres heiligen Vaterlandes führen, nie Euer
Selbstbewusstsein.
Erzähler:
Die türkischen Truppen werden von Mustafa Kemal Atatürk angeführt, der nach Ende
des Ersten Weltkrieges zum Begründer der laizistischen Türkei wird.
Sprecher:
Die Briten verlieren 205.000 Soldaten; ein großer Teil von ihnen kommt aus
Neuseeland und Australien. Frankreich 47.000 und die Türkei 250.000.
Erzähler:
Die Eroberung der Dardanellen scheitert kläglich, Ende des Jahres räumen die
alliierten Truppen Gallipoli.
Sprecher:
Bericht des deutschen Oberlehrers Dr. Martin Niepage an Reichskanzler Bethmann
10
Hollweg:
Zitator – Martin Niepage:
Als ich im September 1915 von einem dreimonatigen Ferienaufenthalt aus Beirut
nach Aleppo zurückkehrte, hörte ich mit Entsetzen, dass eine neue Periode von
Armeniermassakern begonnen habe, die weit fürchterlicher als die früheren unter
Abdul Hamid, zum Zwecke hätten, das intelligente, erwerbsfreudige und
fortgeschrittene Volk der Armenier mit Stumpf und Stiel auszurotten und dessen
Besitz in türkische Hände übergehen zu lassen.
Erzähler:
Das Siedlungsgebiet der christlichen Armenier ist zwischen russischem und
osmanischem Reich geteilt. Seine Bewohner werden gezwungen, in beiden Armeen
zu kämpfen. Als die türkische Offensive gegen Russland Anfang des Jahres in einem
Desaster endet, werden die Armenier zu Verrätern gestempelt. – Die erste
Dolchstoßlegende des Krieges.
Zitator – Martin Niepage:
Um das aus meinen Informationen gewonnene Urteil nachzuprüfen, besuchte ich alle
Plätze der Stadt, wo Armenier lagen, die von den Transporten zurückgeblieben
waren. In verfallenen Karawansereien ... fand ich Haufen von Toten und
Halbverwesten und noch Lebende darunter, die bald ihren letzten Seufzer
aushauchen mussten. Rings um die deutsche Realschule, an der ich als Oberlehrer
tätig bin, befanden sich vier solcher Karawansereien mit sieben bis achthundert
Deportierten, die am Verhungern waren. Unsere Schulkinder mussten sich des
Morgens in der engen Straße an den zweirädrigen Ochsenkarren vorbeidrängen, auf
denen täglich acht bis zehn steife Leichen ohne Sarg und Hülle fortgeschafft wurden,
während Arme und Beine aus den Karren heraushingen.
Erzähler:
Bis Oktober 1916 schätzt die deutsche Botschaft 1,5 Millionen Tote, das entspricht
2/3 der armenischen Bevölkerung. Der türkische Innenminister:
Zitator – türkischer Innenminister:
Die armenische Frage existiert nicht mehr.
Kriegsgesang
Sprecher:
27. Oktober 1915: Per Erlass des Preußischen Kultusministers wird eine Kommission
eingesetzt für phonographische Aufnahmen von Sprachen und Gesängen
Kriegsgefangener.
Zitator 2:
Donnerstag, 11. November: Abscheulicher Stumpfsinn. Manchmal scheint es mir, als
hätte ich schon zu leben aufgehört und als bewegte ich mich in einer Art posthumen
Traum, einer Art Nachtrag zum Leben, ohne Gewicht und Bedeutung. Dieser
apathische Zustand ist vermutlich die natürliche Folge der gefühlsmäßigen
Überanstrengung im Foyer.
11
Erzähler:
Der Schriftsteller André Gide arbeitet nach wie vor im Foyer franco-belge, einem
Flüchtlingshilfswerk.
Zitator – André Gide:
Gestern hat mich beim Kriegsgefangenenwerk der Leiter gefragt, ob es mir möglich
gewesen sei, mein „literarisches Steckenpferd“ wieder aufzunehmen.
Erzähler:
Gustav Landauer denkt stattdessen über neue Bildungskonzepte nach.
Zitator – Gustav Landauer:
Was ist mit dem „Sozialist“? Der Zustand Europas ist so geworden, dass ich nicht
mehr schreiben kann, ohne beschlagnahmt zu werden. Die Aufgabe scheint mir zu
sein: freie Hochschulen zu gründen, für die Bildung des Charakters, des Denkens,
des Herzens. Dem Lehrer der studierenden Jugend ist aufzutragen: dem Geist und
seiner Bewegtheit ein lebendiger Repräsentant zu sein; die Arbeit des Forschens
ansteckend vorzuleben; die Methoden der wissenschaftlichen Arbeit zu lehren; den
Geist der eigenen Prüfung, der Gründlichkeit, des Widerspruchs und der Ehrfurcht zu
erwecken und zu stählen.
Musik:
Landwehrmanns Weihnachtstraum 1915
Zitator 3:
In meinem Hause ist Weihnachten 1915 gerade so verpönt wie 1914. Verpönt als
etwas, was die Familie in Beziehung setzt zur mitlebenden Menschheit; diese
Beziehung soll als zerrissen, soll in ihrem Nichtvorhandensein demonstriert werden.
Musik:
Landwehrmanns Weihnachtstraum 1915
Im Feindesland in stiller Nacht
am Lager eines Landwehrmanns ein Engel wacht.
Ein still Gebet, man hört es kaum, aus seinem Traum,
erweckt den Kriegersmann das Lied vom Weihnachtsbaum.
Zitator – Walter Hines Page:
Meine Weihnachtsprophezeiung geht dahin, dass der Krieg im nächsten Sommer
oder Herbst beendet sein wird. Wir leben hier in einer zensurierten Welt – in einer Art
Nebel; doch gibt es zu viele Anzeichen von dem Zusammenbruch, der Deutschland
bevorsteht, als dass man an seinem Kommen zweifeln könnte, trotz der
ungewöhnlich vielen Misserfolge der Alliierten, wie des Versagens vor den
Dardanellen und auf dem Balkan und der zwei Niederlagen in Frankreich. Die
Regierung ist so höflich wie immer; doch jeder dort arbeitet sich halb tot. Die
Ermüdung hängt wie eine dicke Wolke über ganz London. Niemand liest ein Buch.
Die Zeitungen sind inhaltslos.
Herr Präsident! Im Gegensatz zu den Prophezeiungen weiser Männer hoffe ich noch
immer, dass der Krieg Ende 1916 beendet sein wird. Ich muss jedoch eingestehen,
12
dass ich fürchte, die weisen Männer, die 1917 oder 1918 sagen, könnten besser
raten als ich. Ihr aufrichtiger Walter H(ines) Page.
*****
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