Beitrag bei der 11. Österreichischen Konferenz

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Beitrag bei der
11. Österreichischen Konferenz Gesundheitsfördernder Krankenhäuser
DPGK Anneliese Erdemgil-Brandstätter
Mag.a Christine Hirtl
Titel: Gewalt gegen Frauen hat gesundheitliche Folgen
Frauengerechte Gesundheitsversorgung – Forderungen der WHO
Gewalt in der Paarbeziehung ist weltweit die häufigste Form der Gewalt gegen Frauen. Auch in Österreich ist die gesellschafts- und gesundheitspolitische Problematik der männlichen Gewalt im sozialen Nahraum für jede fünfte Frau Realität, wobei aktuelle repräsentative Studien fehlen. Gewalt
gegen Frauen zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und kennt keine kulturellen, religiösen
oder schichtspezifischen Grenzen.
Der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hat die Weltgesundheitsorganisation oberste Handlungspriorität eingeräumt. Die Voraussetzung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist, dass häusliche Gewalt und Vergewaltigung als Probleme der öffentlichen Gesundheit erkannt werden. Der epidemische Charakter und die schwerwiegenden Auswirkungen machen Gewalt im Geschlechterverhältnis zu einem spezifischen, sich häufig lebensgeschichtlich wiederholenden und sehr verbreiteten
Gesundheitsrisiko für Frauen (WHO 94/99).
Die Schlüsselrolle des Gesundheitswesens
Die Akut- und Langzeitfolgen auf die psychische, körperliche, sexuelle und reproduktive Gesundheit
sowie auf die soziale Gestaltung des Lebens der Gewaltopfer sind komplex und werden unterschätzt.
Da viele Frauen z.B. aus Angst vor weiterer Gewalt oder aus Scham- und Schuldgefühlen die Ursachen ihrer Verletzungen bzw. psychosomatischen Beschwerden verschweigen, kommt es in der täglichen Praxis immer wieder vor, dass sie nicht als Opfer von Gewalt erkannt werden.
In Ihrer täglichen Praxis können folgende Verletzungen sowie psychosomatische Beschwerden und
psychiatrische Erkrankungen auf Gewalt hinweisen: Prellungen, Hämatome, Knochenbrüche,
Schnitt- und Stichwunden, Verbrennungen, innere Verletzungen, Verletzungen im Genitalbereich,
unerwünschte Schwangerschaften, Fehlgeburten, gynäkologische Beschwerden, sexuell übertragbare
Erkrankungen, HIV und Aids, Verlust des Selbstwertgefühls, Depressionen, Angstzustände, Schlaf
und Essstörungen, Suizid(versuche), Medikamenten- und/oder Alkoholabhängigkeit ...
Bei den Langzeitfolgen sind eine Vielzahl von anhaltenden psychosomatischen Symptomen zu beobachten. Im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörungen, wie sie unter anderem auch bei
Folteropfern auftreten, wird von der wichtigen Erkenntnis ausgegangen, dass verschiedenste „Symptome“ als Verarbeitungs-, Anpassungs- und Überlebensstrategien anzusehen sind. Diese Erkenntnis
ist für die (Differential)Diagnose sowie die Form der Hilfestellung und Behandlung von großer Bedeutung.
Frauen brauchen also medizinische Hilfe. 75 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen nehmen
unter anderem in den Bereichen der (Unfall)Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Psychosomatik,
Psychiatrie und bei niedergelassenen ÄrztInnen medizinische Hilfe in Anspruch, weil sie körperliche
Verletzungen haben und/oder die psychischen (Langzeit)Folgen erlebter Gewalt nicht mehr bewältigen können. Frauen, die Hilfe bei der Polizei suchen, überschneiden sich kaum mit jenen, die Kontakt mit dem Gesundheitswesen aufnehmen. Somit sind Ärzte/Ärztinnen, MitarbeiterInnen des Pflegedienstes, Hebammen u.a. häufig ihre ersten AnsprechpartnerInnen. Diese Tatsache macht deutlich,
1
dass die MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens beim Erkennen von Gewalt, dem Verlauf der Hilfestellung und der Prävention von weiterer Gewalt an Frauen und Kindern eine zentrale Rolle einnehmen.
Aktuelle Studie aus Deutschland1
Diese Studie beleuchtet u.a. das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen (Gesamtprävalenz 25 Prozent),
die gesundheitlichen Folgen und die Bedeutung des Gesundheitswesens. Die Untersuchung hat ergeben, dass jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren, die in einer Beziehung gelebt hat, mehrfache körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch den männlichen (Ex-) Partner erlebt hat. Ein
Drittel der Frauen berichtet von mindestens zehn bis zu mehr als 40 Situationen, in denen sie körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt waren.
Bei 64 Prozent der Frauen, die für die Studie befragt wurden, hatte die Gewalt durch den (Ex-) Partner körperliche Verletzungsfolgen. Bei allen erfassten Formen von Gewalt berichten 56 bis über 80
Prozent der betroffenen Frauen von mehrfachen psychischen Folgebeschwerden. Mehr als ein Drittel
der Frauen (37 Prozent) mit Verletzungsfolgen nahm medizinische Hilfe in Anspruch.
Die Studie bestätigt, dass die körperliche und sexuelle Gewalt stark mit der psychischen Gewalt verwoben ist und an Häufigkeit und Schwere zunimmt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass viele erwachsene Frauen, die das Gesundheitswesen kontaktieren, in
ihrer Kindheit/Jugend von psychischer, körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen waren sowie Zeugen von Gewalt gewesen sein können. Aus dieser Perspektive betrachtet, hat Gewalt auch
eine generationenübergreifende Bedeutung.
Kosten für das Gesundheitswesen – Internationale und nationale Daten
Es gibt noch wenige Berechnungen, die die gesundheitlichen Folgekosten von Gewalt erfassen. Lt.
Berechnungen der britischen Regierung2 muss das britische Gesundheitswesen für die Behandlung
der gesundheitlichen Folgen durch Gewalt gegen Frauen und Kinder jährlich rund 2 Milliarden Euro
zur Verfügung stellen.
Lt. einer ersten österreichischen Schätzung betragen die gesellschaftliche Folgekosten von akuter
Gewalt 78 Millionen € pro Jahr. 3 Davon entfallen 14 Millionen € auf das Gesundheitswesen. Es ist
davon auszugehen, dass die Kosten bei Einbeziehung der Langzeitfolgen viel höher sind.
Die Folgen mangelnder Kenntnisse im Gesundheitswesen4
Mangelnde Kenntnisse im Gesundheitssystem über die Verbreitung und die Erscheinungsformen von
Gewalt im Geschlechterverhältnis und über die Rolle bei der Entstehung gesundheitlicher Störungen
und Krankheiten hat derzeit hohe Kosten für die Gesellschaft zur Folge:
• in medikamentösen und operativen Behandlungen, denen keine ausreichende Einschätzung der Ursachen der Beschwerden zugrunde liegt
• in der Chronifizierung von Beschwerden und schließlich in sekundären Erkrankungen als
Folge einer nicht erkannten primären Ursache des Leidens
Die psychosozialen Kosten für die betroffenen Frauen, denen keine Hilfe zuteil wird, sind jedoch
ebenso gravierend.
1
Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in
Deutschland. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004
2
vgl. The Cost of Domestic Violence, University of Leeds. Wolby, S. 2004
3
Institut für Konfliktforschung (Hrsg.): Kosten häuslicher Gewalt in Österreich. Wien 2006.
http://www.bmags.gv.at/cms/site/attachments/7/6/1/CH0007/CMS1152689606565/kosten.pdf, 22.11.2006
4
Verbundprojekt zur gesundheitlichen Situation von Frauen. BM für Jugend, Familie, Senioren und Frauen. Berlin 1999
2
Die effiziente Intervention im Gesundheitswesen
Da Frauen aus Scham oder Schuldgefühlen bzw. aus Angst vor weiterer Gewalt über die wahren
Gründe z.B. ihrer Verletzungen und/oder psychosomatischen Erkrankungen nicht sprechen, ist es
notwendig, Gewalt als Ursache in Betracht zu ziehen und auch direkt anzusprechen.
Bei der Hilfestellung ist es von großer Bedeutung, dass
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der Schutz und die Sicherheit von Frauen und Kindern oberste Priorität hat
das vertrauliche (ärztliche) Gespräch mit der Frau alleine stattfindet
die Möglichkeit besteht, mit einer Ärztin/Krankenschwester zu sprechen
es muttersprachlich versierte Mitarbeiterinnen für Migrantinnen gibt
über die Möglichkeit/Verpflichtung zur Anzeige informiert wird
die genaue Dokumentation von Verletzungen/Sicherung von Beweismitteln für ein mögliches Strafverfahren wichtig ist
die Situation von (eventuell anwesenden) Kindern angesprochen wird
Informationsmaterial von frauenspezifischen Hilfseinrichtungen aufliegt
die Weitervermittlung an eine frauenspezifische Einrichtung in Betracht gezogen wird
Es ist wichtig, die Entscheidung von Frauen, wenn sie über die Ursachen von Verletzungen und/oder
psychosomatischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen nicht sprechen wollen, zu akzeptieren.
Ziele der Fortbildung im NÖ Gesundheitswesen
Sensibilisierung durch Schulung – Chance zur Früherkennung von Gewalterfahrungen
Die in NÖ angebotene Fortbildung ist von großer Bedeutung, weil in der Praxis immer wieder Frauen, die Gewalt erleben, nicht als solche erkannt werden. Die Ursachen dafür liegen u.a. im Informationsmangel, im Stress des Arbeitsalltages oder darin, dass Frauen über die wahren Ursachen ihrer
Verletzungen und/oder psychosomatischen Erkrankungen nicht sprechen bzw. die Gewaltfolgen
(Ängste, Depressionen...) sich „maskiert“ präsentieren.
In den USA sind die positiven Auswirkungen von Fortbildungen und der daraus resultierenden Sensibilisierung gegenüber Männergewalt erforscht worden. Im normalen Umgang der Ärzte/Ärztinnen
wird nur eine von 25 Frauen mit Misshandlungen als solche erkannt. Bei geschulten MitarbeiterInnen steigt die Identifizierungsrate immerhin auf 22.9 bis 30 Prozent.5
Konkrete Zielsetzungen in Bezug auf die Zielgruppen
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Sensibilisierung der im Gesundheitswesen Tätigen, da sie bei der Aufdeckung von Gewalt, dem Verlauf der Hilfestellung und der Prävention eine zentrale Rolle spielen
Erkennen der eigenen Bedeutung in einem ganzheitlichen Konzept der Gewaltprävention
Stärkung des professionellen Umganges mit von Gewalt Betroffenen
Vermittlung von Information und Wissen bezüglich der Erkennung von Formen und
Mustern von Gewalt sowie deren gesundheitliche Akut- und Langzeitfolgen
Adäquate Interventionsmöglichkeiten in der täglichen Praxis (z.B. Umgang mit Krisensituationen, Gesprächsführung, Notfallpläne, rechtliche Möglichkeiten, Dokumentation)
Kooperationsmöglichkeiten mit internen (z.B. Kinderschutzgruppen) und externen Hilfseinrichtungen (Frauenhäuser, Polizei, Interventions- und Frauenberatungsstellen...) sowie
mit den niedergelassenen Ärzten/Ärztinnen.
Männergewalt gegen Frauen beenden. Heiliger, A. Leske und Budrich, Opladen 2000
3
Feed back der SeminarteilnehmerInnen
Alle 1036 MitarbeiterInnen des NÖ Gesundheitswesens, die in den Jahren 2000 – 2005 an zweitägigen Seminaren, Workshops und Informationsveranstaltungen teilgenommen haben, bestätigten, wie
wichtig ihnen die Auseinandersetzung mit der Thematik „Gewalt gegen Frauen und deren gesundheitliche Folgewirkungen“ sowie mit den praxisrelevanten Handlungsmöglichkeiten ist. Das große
Interesse zeigt, dass die MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in hohem Ausmaß mit von Gewalt
betroffenen Frauen und Kindern konfrontiert sind. Wie die Rückmeldungen verdeutlichen, haben die
TeilnehmerInnen trotz bereits vorhandener Fachkompetenz von der Fortbildung profitiert und wollen
ihr gewonnenes Verständnis in ihrem Arbeitsbereich umsetzen. Weiters wurde die verbesserte regionale Kooperation begrüßt sowie betont, dass diese Thematik in die Aus- und Fortbildung implementiert werden muss.
Nach sechs Jahren Fortbildung kann festhalten werden, dass dieses Angebot
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die Zielgruppen zu den komplexen gesundheitlichen Folgen von Gewalterfahrungen
sensibilisiert
das Erkennen der eigenen Schlüsselrolle sowie die Interventionsmöglichkeiten stärkt
die Diagnosestellung, die Dokumentation und Spurensicherung verbessert
zu einer Verbesserung der interdisziplinären Kooperation führt
zu einer praxisrelevanten Weiterentwicklung der konzeptionellen Grundlagen führt
Die im NÖ Gesundheitswesen geleistete Arbeit entspricht internationalen Grundlagen, wie z.B. dem
„Rahmenkonzept der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation“6 und dem „Österreichischen Frauengesundheitsbericht 2005“7, welche u.a. darauf hinweisen, dass bestimmte gesundheitliche Problematiken nur Männer oder Frauen betreffen bzw. zu anderen Folgen führen und nur mit
einem besseren Verständnis der Krankheitsursachen auch wirksamere Maßnahmen zur Verbesserung
der Gesundheit entwickelt werden können. Das heißt, die Fortbildung hat die Voraussetzung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen8 geschaffen, welche darin liegt, dass häusliche Gewalt und Vergewaltigung als Probleme der öffentlichen Gesundheit erkannt werden.
Implementierung der Thematik in die Aus-, Fort- und Weiterbildung
Verbesserung der Dokumentation im NÖ Gesundheitswesen
Im Arbeitsjahr 2006 wird die Implementierung in die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller medizinischen Berufsgruppen sowie die Erstellung einer einheitlichen und gerichtsverwertbaren Dokumentation weiter diskutiert werden.
Finanzierende Stellen
Landesakademie NÖ - Bereich Gesundheit und Soziales
Frauenreferat der NÖ Landesregierung
Gesundheitsressort der NÖ Landesregierung
Fond „Gesundes Österreich“
NÖGUS – Bereich Soziales
Gala „Wider die Gewalt“ – Aktion Dr. Franz Vranitzky
Eigenbeiträge - NÖ Krankenhäuser und Psychosozialen Dienste
Eigenbeiträge - NÖ Gesundheits- und Krankenpflegeschulen
6
Gesundheit 21. Das Rahmenkonzept „Gesundheit für alle“ für die Europäische Region der WHO 1999
vgl. Österreichischer Frauengesundheitsbericht 2005, Kurz- und Langfassung, Ludwig Boltzmann Institut für Frauengesundheitsforschung, April 2005 : www.bmgf.gv.at
8
vgl. Wiener Konferenz „Women’s Health Counts“ 1994
7
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Projektleitung und Leiterin der Frauenberatungsstelle
DPGK Anneliese Erdemgil-Brandstätter
Frauenberatungsstelle Kassandra
Franz Skribany-Gasse 1
2340 Mödling
Telefon: 02236/42 0 35
[email protected]
www.gewaltgegenfrauen.at
DGKS Anneliese ERDEMGIL-BRANDSTÄTTER
Dipl. Gesundheits- und Krankenschwester für Psychiatrie und Neurologie; seit 1994 Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle „Kassandra“ in Mödling; seit 2000 Koordination des NÖ Fortbildungsprojekts „Gewalt gegen
Frauen - Die Bedeutung des Gesundheitswesens“; Leitung von Seminaren „Gewalt gegen Frauen“ für MitarbeiterInnen des NÖ Gesundheitswesens
Umsetzung des Projektes in der Stiermark
Das Frauengesundheitszentrum in Graz arbeitet an der Umsetzung des niederösterreichischen Projektes in der Steiermark. Dazu wurde 2003 ein Arbeitskreis gegründet, an dem Vertreterinnen aller Einrichtungen teilnehmen, die zum Bereich Gewalt gegen Mädchen und Frauen arbeiten. Daraus entstand ein Projekt nach niederösterreichischem Vorbild, welches vom Fonds Gesundes Österreich zu
2/3 genehmigt wurde. Es wurden bereits zahlreiche Gespräche mit politischen VertreterInnen, Berufsverbänden, VertreterInnen der KAGES Verwaltung und VertreterInnen von Steirischen Krankenhäusern geführt. Das Projekt wird von der Steirischen Patientenombudsfrau unterstützt und voraussichtlich kofinanziert. Voraussichtlicher Projektstart ist im Februar 2007 an einigen steirischen
Modellkrankenhäusern.
Projektleitung
Mag.a Christine Hirtl
Frauengesundheitszentrum
Joanneumring 3
8010 Graz
Telefon: 0316/83 79 98
Fax: 0316 83 79 98-25
[email protected]
www.fgz.co.at
Maga. Christine Hirtl – Projektleiterin
Psychologin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektassistentin im Frauengesundheitszentrum.
Projektleiterin des Projektes in der Steiermark. Praktikum bei S.I.G.N.A.L. in Berlin. Referentin für
das Thema „Gesundheitliche Folgen von Gewalt“. Vertreterin des Frauengesundheitszentrums in
Netzwerken und Kooperationen, u. a. im Netzwerk gegen sexuelle Gewalt.
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