Depressive Erkrankungen – ein Ausdruck von Bindungsunsicherheit

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Bindung in der Medizin – Vom Molekül zur Arzt-Patienten-Beziehung
Depressive Erkrankungen – ein Ausdruck
von Bindungsunsicherheit?
Henning Schauenburg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und
Psychosomatik
Übersicht
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Grundthemen der Depression
Von der Bindungsunsicherheit zur Depression
Typologie der Depression
Therapeutische und kommunikative Konsequenzen
Depression: „Endstrecke“ mit vielen Wurzeln
Soziale „Trends“
Interpersonelle
Faktoren
Persönlichkeit
Depression
Kritische
Lebensereignisse
Genetische
Merkmale
Epigenetik
Depressive Vulnerabilität ?
• (Frühe) psychosoziale Deprivation (G. Brown, 1979)
• Genetische Faktoren: (empirisch ja, Genort nein; GenUmwelt-Interaktion (Caspi et al. 2003, umstritten)
Was ist der Kern?
Zur Psychologie der Depression
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Verlassenheit
Angst
Hilflosigkeit
Handlungsunfähigkeit
Hoffnungslosigkeit
Ist Bindungsunsicherheit ein
Depressionsrisiko?
Bindungsmuster bei Erwachsenen
(Studien mit AAI, Metaanalyse van Ijzendoorn, 2009)
Stichprobe (AAI)
Mütter (N=748)
sicher
(%)
56
vermeidend
(%)
16
ambivalent
(%)
9
ungelöst
(%)
18
Väter (N=439)
51
24
11
15
Depression (N=254)
31 (30)
26 (36)
21 (34)
22
Psych.Patienten (N=1965)
21 (27)
23 (37)
13 (37)
43
Bindungsunsicherheit besonders spezifisch für Depression!
Bindungsmuster und Depression in Hochrisikogruppe
(Bifulco et al. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2002)
12-Monatsprävalenz (in %)
50
40
30
20
10
0
verstrickt
ängstlich-verm.
vermeidend
Gesamtstichprobe (N=302)
Chi-Quadrat: p < .001
sicher
Bindungsmuster und Depression II
(Bifulco et al. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2002)
12-Monatsprävalenz von Depression (in %)
100
80
60
40
20
0
deutlich
ziemlich
wenig
keine
Hochrisikogruppe, Grad der Bindungsunsicherheit
Chi-Quadrat: p < .013
Fragen
• Wie entwickelt sich Vulnerabilität bei Kindern?
• Welche Persönlichkeitszüge sind besonders
relevant?
• Jeweilige Zusammenhänge mit Bindungsrepräsentanzen
Noch einmal: Kindliche Bindungsmuster
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Typologie:
- sicher
(flexibles Bindungssystem)
- unsicher vermeidend
(habituell desaktiviertes Bindungssystem)
- unsicher-ambivalent/verstrickt
(habituell hyperaktiviertes Bindungssystem)
Wichtig: diese „sekundären“ Strategien bieten relative
Stabilität! Deshalb unbewusste Aneignung und
Ausgestaltung im weiteren Leben.
Außerdem:
- ungelöst/desorganisiert (Main & Solomon, 1990)
(höchstes pathogenes Potenzial, Prädiktor, auch
für „Hostile Helplessness“ und besonders fragilen
Selbstwert Þ Vorläufer für sog. „strukturelle
Störungen“?)
Stationen der Vulnerabilität
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Bisher: Depression erst ab früher Adoleszenz aus
Persönlichkeit vorhersagbar
Befragungen vor 9. LJ. nicht valide, aber Experimente
(Typisch: unlösbare Aufgaben und Umgang damit)
Z.B.: Hilfloser Erklärungsstil im Kindergarten sagt negativen
Selbstwert und depressive Symptome im 10. LJ. voraus!
Ausdruck unsicherer Bindung?
- Vermeidende Kinder è externalisierende
Verhaltensprobleme
- Ambivalente Kinder è internalisierende (depressivängstliche) Entwicklungen. (z.B. Pierrehumbert et al.,
Inf. Child Dev. 2000)
Sichere Kinder zeigen selten stabile internale und globale
Ursachenzuschreibungen („Flexibilität“)
Modell zur Entstehung von Vulnerabilität
Qualität der
frühen
Eltern-KindBeziehung
Kritische
Lebensereignisse
Selbstrepräsentanz
Frühe Bindungsrepräsentanzen
Hilflose Reaktion
auf Versagen
Säugling Þ Frühe Kindheit
Þ
Vulnerabilität
für Depression
Spätere Kindheit
Þ
Depression
Jugendl./Erwachsene
mod. n. Morley & Moran, 2011
Hintergründe von Hilflosigkeit:
Psychodynamische Theorie der depressiven Vulnerabilität
Unsicheres Bindungserleben als Folge früher oder späterer Deprivation,
Traumatisierung etc. (Erleben von Leere und Verlassenheit)
Unsicheres Selbstwertgefühl, überstarke Bedürftigkeit nach Zuwendung oder
Bestätigung durch „idealen“ anderen, unbewusste Größenphantasien
„Depressiver Grundkonflikt“(G. Rudolf)
Wunsch nach Zuwendung
Unmöglichkeit/Verbot Zuwendung
einzufordern (Autonomiestreben)
Angst vor Alleingelassensein
Enttäuschung und destruktive
Impulse gegenüber anderen
Maladaptive Interaktionen
je nach Verarbeitungstypus
„verstrickte“ Verarbeitung:
„vermeidende“ Verarbeitung:
Hohe Selbstanforderungen
Ambivalenz
Selbstentwertung
Pseudoaltruismus
Hohe Selbstanforderungen
Kränkbarkeit
Entwertung anderer
Neg. Reaktion der Umgebung (J. Coyne)
z.T. Rückzug (Verstärkerverlust, L. Lewinsohn)
Wachsende Bedürftigkeit/Depressivität
Tradition der Typisierung der depressiven
„Risikopersönlichkeit“
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(Sensitizers vs. Repressors (D. Byrne, 1964))
Soziotropie vs. Autonomie (A. Beck, 1972)
Anaklitische vs. introjektive Depr. (S. Blatt, 1980)
(Validation seekers vs. growth seekers (B. Dykman, 1998))
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Analogie zu Bindungsmustern
Unsichere Bindungsmuster bei
Erwachsenen
• Vermeidendes Bindungsmuster
• Betonung von Autonomie, oft wenig biographische
Erinnerungen, teilweise inkohärente Schilderung
von Beziehungserfahrungen (z. B. Idealisierung),
Bagatellisierung und Rationalisierung von
Trennungserfahrung, Affektarmut, weniger
Empathie.
• Habituelle Desaktivierung des Bindungssystems.
Unsichere Bindungsmuster bei
Erwachsenen
• Ambivalentes (ängstliches) Bindungsmuster
• Verstrickte Beziehungen mit Hinweisen auf
übermäßige Abhängigkeit und Verlustangst, oft
widersprüchliche Schilderungen vergangener
Bindungen, wenig objektiv, oft anklagend,
affektgeladen (Angst und Ärger).
• Habituelle Hyperaktivierung des Bindungssystems.
Zwischenfazit:
Bindung und Depression
• Unsichere Bindung ist bedeutender Risikofaktor für
depressive Erkrankungen
• Ambivalente Nähesuche (Hyperaktivierung) bzw. –Vermeidung (Desaktivierung) als alltägliche
Grundlage von schwierigen Selbstrepräsentanzen
und Interaktionsmustern
• Depressive Dekompensation als Hilflosigkeitsreaktion bei fehlenden (inneren) Schutz-/Trostinstanzen
Folgen unsicherer Bindung
- Depressive Vulnerabilität Erwachsener• Beeinträchtige Stressregulation
• Höhere Trennungsangst/Abhängigkeit
• Stärkere „Schadensvermeidung“ (Harm avoidance),
d.h. untergründige bis offen soziophobe Züge
• Ungünstigere Affektregulation (negativer Affekt)
• Kompensatorische „Überregulation“
(selbstkritischer Perfektionismus)
Bindung, Abhängigkeit, selbstkritischer
Perfektionismus und Depression
Querschnittsuntersuchung (Fragebögen): Catanzaro & Wei, 2010)
Konsequenzen für den ärztlichen / therapeutischen
Kontakt
Spezifische („komplementäre“)
Psychotherapieziele
„Diagnose“
Primäre Ziele
Depressiv-vermeidend
Bedürftigkeit akzeptieren, Fähigkeit
Nähe zu genießen
Depressiv-ambivalent (abhängig)
Fähigkeit „Getrenntheit“ als
Bereicherung zu erleben
Selbstkritisch/Introjektiv
Fähigkeit Unvollkommenheit und
Unsicherheit zu tolerieren
Patientenmerkmale und ärztlicher/
therapeutischer Kontakt
„Diagnose“
Beziehungsgestaltung
(Übertragungsangebot)
Hilfreiches
Therapeutenverhalten
Depressiv-vermeidend
Abweisend, kritisch,
bagatellisierend,
evtl. kontrollierend
mehr Aktivität, eigenes Vorgehen
erklären, Angst vor
Nähe/Angewiesenheit/
Kontrollverlust respektieren
Depressiv-ambivalent
(abhängig)
Anklammernd,
fordernd, ängstlich
Vermeidung von Überengagement
oder Zurückweisung, stützen und
fordern
Selbstkritisch / introjektiv
z.T. entwertend,
pseudounabhängig
Konzentration auf gute ther.
Beziehung, vorsichtige
Anerkennung, ther. Selbstschutz
wichtig
(ängstlich und vermeidend
möglich)
Exkurs: „Rupture-Repair“-Prozesse: Grundelement
hilfreicher therapeutischer Beziehungen
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(J. Safran & C. Muran)
Zu Beginn guter Kontakt wichtig, im Verlauf dann
Differenzierung Þ
Annahme: „Heilsam“ ist nicht die gute Beziehung per se,
sondern der entwicklungsfördernde Umgang mit den
unausweichlichen Brüchen (z.B. durch Miss- bzw.
Unverständnis) im ther. Prozess (Lewis 2000). Vgl. auch
moderne Bindungsforschung („mittleres Maß an
Kontingenz“, B. Beebe et al. 2010)
Wichtig für ärztlichen/therapeutischen Kontakt: „Ongoing
Regulations“, z.B. immer wieder eigenes Denken und
Handeln im Gespräch mit Patienten überprüfen
Fazit
• Bindungsrepräsentanzen (Inner Working Models)
zentrales Element für depressive Vulnerabilität
• Pfade der Vulnerabilität gut beschreibbar
• Abhängige und selbstkritisch-perfektionistische Züge bei
Erwachsenen klinisch zentral
• Therapie: Einsicht in bindungsbezogene
depressionsfördernde Muster fördern und
komplementäres Angebot machen; Vermeidung des
„Mitagierens“ der Muster
• Bindungsorientiertes Verständnis erleichtert Umgang mit
schwierigen Interaktionsangeboten depressiver
Patienten.
Vielen Dank!
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