Depression und Manie - Vandenhoeck & Ruprecht

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Stavros Mentzos, Depression und Manie
VSR
© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8
Stavros Mentzos, Depression und Manie
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Stavros M e n t z o s
Depression
und Manie
Psychodynamik und Therapie
affektiver Störungen
M i t 5 Abbildungen
u n d 3 Tabellen
5. Auflage
Vandenhoeck & R u p r e c h t
i n Göttingen
© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8
Stavros Mentzos, Depression und Manie
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G e d r u c k t auf alterungsbeständigem Papier.
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Inhalt
Vorwort
Einleitung
9
13
/. Psychodynamik
der
Depression
Die psychoanalytischen Depressionstheorien
19
Depression und narzißtisches Gleichgewicht
Herabsetzung des Selbstwertgefühls oder
Objektverlust?
Die zwei intrapsychischen »Bankkonten«
Das Dreisäulenmodell
Differentialpsychodynamik depressiver Zustände
32
32
36
38
43
Depressiver Affekt, intrapsychischer Stillstand und
drei Circuli vitiosi
Der depressive Affekt
Drei psychische Circuli vitiosi
Somatische Circuli vitiosi
50
50
53
56
Depressiver K o n f l i k t und die Problematik der
Aggressionshemmungs-Hypothese
K o n f l i k t und Depression
Aggressionshemmung und Depression
59
59
62
Der sogenannte Masochismus
Die Theorie des primären Masochismus
65
66
- 5 -
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Das klinische Bild des sogenannten »moralischen
Masochismus«
Der erogene Masochismus
Der sogenannte Masochismus als »Strategie« und
Schutzmechanismus
Masochismus und Depression
Psychodynamik der Manie
IL
67
73
74
78
82
Therapie
Drei Behandlungsberichte
91
Ziele und therapeutische Technik einer psychoanalytisch
orientierten Psychotherapie psychotischer Depressionen
und Manien - der Stellenwert der Psychopharmaka
Veränderte therapeutische Technik
Drei Behandlungs-Settings
Komplikationen
Auszug aus der Behandlung von Frieda P.
Ist »Einsicht« der therapeutisch hauptsächlich
wirksame Faktor?
Z u r Psychotherapie der Manie
Antriebsarme »leere« Depression
Die Anwendung von Antidepressiva sowie
Psychopharmaka i m allgemeinen
Kurzer Vergleich m i t anderen psychotherapeutischen
Verfahren bei affektiven Psychosen
Zusätzliche Bemerkungen zur therapeutischen
Technik
- 6 -
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
777. Klassifikatorische
und ätiologische
Aspekte
Versuch einer psychodynamischen Klassifikation
psychischer Störungen
Die Polarität zwischen Selbst- und
Objektbezogenheit
K o n f l i k t , Modus der Verarbeitung und der
sogenannte Defekt
Ich und sekundärer Prozeß versus Es und primärer
Prozeß
K o n f l i k t und Bipolarität der M o d i
Psychotische, neurotische, reaktive Depressionen und
das somatische Äquivalent - Narzißtische Krisen
Psychodynamische Präzisierung einer traditionellen
Klassifikation
Narzißtische Krisen und Depression
Somato- und Psychogenese - »Endogene« Psychosen
als somato-psychosomatische Erkrankungen
(Psychosomatosen des Gehirns)
Das Problem und die Notwendigkeit einer
Integration
Das psychosomatische Paradigma
Ein v o m psychosomatischen Paradigma
inspiriertes M o d e l l
Theoretische und praktische Vorteile des Modells
153
154
158
161
163
169
169
175
177
177
180
184
189
Zusammenfassung
194
Literatur
198
Sachregister
202
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Vorwort
Die große Fülle von empirischen Befunden, die eindeutig für
eine Somatogenese - für die körperliche Verursachung - der
psychotischen Depression und Manien sprechen, ebenso wie
der unbestreitbare (wenn auch relative) therapeutische oder
sogar prophylaktische Erfolg der antidepressiv wirkenden
Psychopharmaka, könnten den Untertitel dieses Buches, wenn
nicht absurd, so doch reichlich überzogen erscheinen lassen.
Kann man überhaupt i n sinnvoller Weise von Psychodynam i k , geschweige denn von Psychogenese und Psychotherapie
bei Störungen sprechen, deren Auftreten von chronobiologischen und erbgenetischen Faktoren mitbedingt, deren erneutes Auftreten i n einem großen Prozentsatz durch L i t h i u m
verhindert oder gemildert, deren manifeste Symptomatik m i t
Hilfe der Antidepressiva oft erfolgreich bekämpft w i r d und
die schließlich auch ohne jegliche Therapie nach einigen Wochen oder Monaten spontan abklingen und i n das sogenannte
»freie Intervall« übergehen?
Bemerkenswerterweise werden heute auch von Vertretern
der biologischen Psychiatrie diese Fragen selten gestellt. M a n
liest i m Gegenteil i n vielen wissenschaftlichen Abhandlungen
von der Notwendigkeit einer auch psychotherapeutischen Begleitung des depressiven Patienten, und es werden viele Therapieprogramme für Patienten i n psychiatrischen Kliniken vorgestellt, die v o m Bewältigungstraining über die kognitive
Verhaltenstherapie bis h i n zu der interpersonellen Therapie
-9-
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
reichen. Ich meine nicht, daß es sich dabei nur u m bloße
Lippenbekenntnisse und eine (im Hinblick auf den neuen
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) berufspolitisch
motivierte Anpassung handelt. Ich kenne viele klinische
Psychiater, die m i t großem Engagement u m eine auch psychotherapeutische Begleitung ihrer depressiven Patienten bemüht
sind. Darunter gibt es einige, die nicht nur psychodynamische
Konzepte i n der Behandlung psychotisch affektiver Störungen
anwenden (wie zum Beispiel K R Ö B E R 1992), sondern die auch
theoretisch übergreifend eine Integration der biologischen,
der soziologischen und der psychologischen Dimensionen anstreben. Dazu gehört beispielsweise D A N I E L H E L L , der sich i n
seinem integrativen Ansatz fragt, welchen Sinn die Depression
»mache« (1992).
Diese Tendenz, dieser »Wille« zur Integration scheint i m
Hinblick auf die gleichermaßen relevanten biologischen, psychosozialen und psychodynamischen Gegebenheiten ständig
zu wachsen. Dennoch reicht der »Wille« allein noch nicht
aus! Denn w i r stehen zwar (hoffentlich) vor keinem unlösbaren Problem, aber doch immerhin vor einem großen Rätsel:
Wie k o m m t es, daß solche persönlichen, komplizierten,
auch existentiell hoch signifikanten, psychischen Prozesse wie
Sinnentleerung,
Lebensüberdruß
oder
Versündigungswahn
durch chemische Substanzen günstig beeinflußt werden können? U n d wie ist es auf der anderen Seite möglich, daß intensive körpernahe Symptome und Syndrome wie depressiver
Stupor, Niedergeschlagenheit
oder manische Erregung auch
psychotherapeutisch
beeinflußbar sind? Wie k o m m t es, daß
der gleiche Prozeß sowohl deterministisch erklärbar und
manchmal sogar - etwa beim Absetzen bestimmter M e d i k a mente - voraussagbar ist und daß er auf der anderen Seite
auch finalistisch, vom funktionalen Ziel der Abwehr, der defensiven Verarbeitung eines Konfliktes oder der sinnvollen
Kompensation eines Mangels her genauso gut verstehbar ist?
Ist Depression eine Krankheit, deren Verursachung es aufzudecken und zu beheben gilt? Oder stellt sie eine Lebenskri-
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
se dar, die erst durch das Verständnis der dahinter liegenden
Sinnzusammenhänge zu überwinden ist?
Von der herrschenden Tendenz und dem steigenden »Willen zur Integration« stark motiviert, würde ich selbst spontan
antworten: Beides!
Eine solche Behauptung ist jedoch leichter gesagt, als i m
Detail glaubwürdig gemacht, geschweige denn bewiesen.
Das vorliegende Buch ist ein Beitrag zu diesem Versuch, die
gewünschte und von den therapeutischen Zielsetzungen geforderte Integration i m Detail voranzutreiben und zwar m i t
Hilfe eines zwar psychoanalytisch inspirierten, aber ebenso
intensiv an der psychiatrisch-klinischen Erfahrung orientierten Modells und auch aufgrund von Erfahrungen bei langfristigen psychotherapeutischen Behandlungen v o n Patienten
mit affektiven Psychosen unter verschiedenen Settings.
Meinen Dank möchte ich auch diesmal an erster Stelle an
Frau Dr. med. E V E M A R I E S I E B E C K E - G I E S E für ihre große Hilfe
aussprechen, nicht nur für ihre zahlreichen sprachlichen Korrekturen, sondern auch für ihr heilsames, ständiges Hinterfragen meiner Thesen und Formulierungen.
Bei Frau I S A B E L L A F R E U N D , Frau A N N E L I E S E K E L L E R S u n d
Frau JUTTA L O V Ä S Z bedanke ich mich für die mühevollen
Schreibarbeiten sowie bei Frau G R U D R U N V Ö L K E R für die
wiederholten Korrekturen.
STAVROS M E N T Z O S
-
I I
-
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Einleitung
Die Termini »Depression« und »depressiv« werden sehr oft
zur Bezeichnung von recht unterschiedlichen psychischen Z u ständen verwendet. Die entstandene begriffliche Unsicherheit
und Verwirrung beruht jedoch nicht so sehr auf diesem fast
inflationären Gebrauch (und Mißbrauch) der Termini als vielmehr auf der Tatsache, daß einige grundsätzliche Fragen, welche die Depression betreffen, bis heute nicht klar beantwortet
wurden. Ich erwähne zunächst nur drei der hier relevanten
Fragenkomplexe:
a. M a n muß sich zunächst einmal fragen, w a r u m der Terminus Depression dazu benutzt w i r d , u m so unterschiedliche
psychische Befindlichkeiten und Zustände wie folgende zu benennen:
- Schuldbeladene Zurückgezogenheit und Deprimiertheit
voller Selbstvorwürfe und Selbsterniedrigung, »Schulddepression« also.
- Deprimiertheit, die von Agitiertheit und nach außen gerichtetem V o r w u r f sowie von einer hartnäckig verlangenden
und kritisierenden Haltung begleitet w i r d , »agitierte und
fordernde Depression« also.
- Resignative Hoffnungs- und Hilflosigkeit m i t extremer A n hänglichkeit - eine »anaklitische Depression«.
- Massive, direkte oder »verfeinerte«, indirekte Autodestruktivität, also eine selbstzerstörerische Depression.
- 13 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
- Innere »Leere« m i t dem »Gefühl der Gefühllosigkeit«, das
heißt m i t der Blockade aller Affekte oder m i t der Unfähigkeit zu jeglicher Gefühlsregung, eine »leere Depression«
also.
b . Vom Gesichtspunkt der Ätiologie, von der Verursachung
her betrachtet, muß man zweitens fragen, wie es k o m m t , daß
Depression auf so unterschiedliche Umstände und kausale Bedingungen zurückgeführt w i r d , wie es i n den vielfältigen, i m
klinischen Alltag üblichen diagnostischen Etikettierungen
deutlich w i r d : D o r t spricht man nämlich von puberalen, k l i makterischen, postklimakterischen, postpartalen, involutiven
Depressionen oder man diagnostiziert somatogene (durch Gehirntumor, Cortison oder andere Hormongaben, Alterungsprozesse etc. hervorgerufene) versus psychogene (reaktive,
neurotische) oder endogen-psychotische Depressionen.
c. Ein dritter Fragenkomplex schließlich bezieht sich auf die
bei der Depression doch ungeklärten psychosomatischen und
somatopsychischen Zusammenhänge: Ist das depressive Erleben ein somatopsychisches Phänomen? Ist es also die Folge
eines primär körperlichen Vorganges? U n d sind i n diesem Fall
die depressiven »Inhalte«, wie zum Beispiel die Selbstvorwürfe und die Versündigungsideen, bloße sekundäre Inhaltsbesetzungen unter dem Einfluß der herrschenden depressiven Stimmungs- und Antriebslage?
Oder sind es umgekehrt bestimmte negative Erlebnisse, bestimmte aus ungelösten Konflikten hervorgehende intrapsychische Spannungen und Bedrückungen, welche den Betreffenden depressiv machen? I n diesem Fall entstünde also der
depressive Affekt als verständliche Reaktion auf maßgebende
Verluste, Trennungen, Kränkungen, Enttäuschungen und Erniedrigungen sowie andere konflikthafte Konstellationen, u m
sich dann zu einer generalisierten depressiven Stimmung auszubreiten und schließlich zu den regelrechten depressiven Syndromen zu führen.
-14© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Diese immer noch offene Frage erweist sich i n den letzten 15
bis 20 Jahren noch komplexer und schwieriger zu beantworten als früher, weil die Mehrheit der »Somatogenetiker«, also
jener klinischen Psychiater, welche die erste Auffassung vertreten (die biologisch bedingte Stimmungslage erzeuge sekundär die depressiven psychischen Inhalte), gleichzeitig bereit
waren und sind, auch die kognitive Therapie der Depression
zu favorisieren. Letztere aber geht doch gerade davon aus,
daß es bestimmte psychische kognitive Grundkonzepte (basic
concepts) seien, welche die depressiven Patienten depressiv
machen. Dies entspräche nicht einem biologisch, sondern einem psychogenetisch orientierten Depressionsmodell, wenn
auch i m Sinne einer anderen Psychogenität, als die Psychoanalyse meint.
Z u diesem letzten Problemkomplex gehört auch folgende
Frage: Wenn die antidepressiv wirkenden Psychopharmaka
»endogene« depressive Zustände dadurch günstig beeinflussen (und sie t u n es bestimmt), daß sie die ihnen vermeintlich
zugrundeliegenden Verschiebungen von Neurotransmittern
etc. korrigieren, wie erklärt es sich dann, daß die gleichen M e dikamente eine gewisse W i r k u n g auch bei anderen, nicht »endogenen«, sondern reaktiven oder neurotischen Depressionen
haben? Das läßt sich zwar erklären, aber nur wenn man die
Spezifität der Antidepressiva erheblich relativiert.
Das vorliegende Buch versucht eine A n t w o r t auf solche
und ähnliche Fragen zu geben und zwar m i t Hilfe eines psychodynamischen Modells, das zwar die bisherigen analytischen Theorien der Depression teilweise berücksichtigt, aber
auch neue Konzeptualisierungen zu ihrer Psychodynamik enthält. Dabei werde ich auch versuchen, die Ergebnisse der biologischen Psychiatrie einschließlich der Psychopharmakologie
m i t der psychodynamischen Sicht zu integrieren.
Einen weiteren Schwerpunkt des Buches stellen die psychotherapeutischen Bemühungen
um depressive Patienten dar.
Ich w i l l am Beispiel einiger längerfristiger Behandlungen zeigen, auf welche Weise eine psychodynamisch orientierte
- 15 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
psychotherapeutische Behandlung auch bei den »endogenen«
Depressionen und Manien von Nutzen sein kann.
Schließlich nehme ich diese systematische Beschäftigung
m i t psychotischen affektiven Störungen zum Anlaß, u m mich
erstens kritisch m i t dem Konzept des sogenannten »Masochismus« ausführlicher auseinanderzusetzen und zweitens den
Entwurf einer umfassenden psychodynamischen
Klassifikation psychotischer (nicht nur depressiver) Störungen vorzustellen, der auch von klinischer Relevanz sein kann.
-
16-
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
I
Psychodynamik
der
Depression
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
Die psychoanalytischen
Depressionstheorien
Die hier zugrunde liegende Theorie der Psychodynamik und
Therapie der manisch-depressiven Psychosen sowie auch anderer Depressionsformen stammt teilweise aus der Integration
von schon vorhandenen psychoanalytischen Theorien und
Konzepten. Daher ist ein kurzer historischer Überblick über
die bisherigen Bemühungen der Psychoanalyse auf diesem Gebiet unerläßlich (ausführliche Darstellungen über die Entwicklungen der letzten 80 Jahre findet man bei M E N D E L S O H N
1982 und B E M P O R A D 1983). - Die Tabelle 1 (s. S. 20f) enthält
eine Zusammenfassung.
1 . S I G M U N D F R E U D wies i n seiner epochemachenden Arbeit
über »Trauer und Melancholie« (1917) auf die Bedeutung des
»Objektverlustes«
hin, das heißt des Verlustes einer realen Bezugsperson oder der Trennung von einer wichtigen Person,
Idee, Vorstellung, Utopie. Weiter machte er auf die Bedeutung
der lntrojektion (In-sich-Aufnehmen eines »Objekts«) bei der
Depression aufmerksam, so wie darauf, daß trotz der vielen
Ähnlichkeiten zwischen Trauer und Depression, wie schmerzliche Verstimmung, Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, Verlust der Liebesfähigkeit, Hemmung etc., beide sich i n
einem Punkt grundsätzlich voneinander unterscheiden: Bei
Selbstwertgefühls.
der Trauer gibt es keine Störung des
Alle drei FREUDschen Befunde - Objektverlust, lntrojektion, Selbstwertgefühlsminderung - haben auch innerhalb der
heutigen Theorien ihre zentrale Bedeutung behalten, aller-
-19© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Tabelle 1:
Depressionstheorien - historischer Überblick
1.
F R E U D , S. (1917)
Objektverlust, Introjektion,
Selbstgefühlsminderung
2.
A B R A H A M , K . (1911)
3.
R A D O , S. (1928)
Aggressionshemmung,
Wendung nach innen, Manie
Internalisierung der Sequenz:
Schuld, Buße (durch ein Übermaß an Leistung), Verzeihung.
Melancholie als Reparationsprozeß
4.
B I B R I N G , E . (1953)
5.
SANDLER, J . und
J O F F E , W.G. (1965)
Selbstwertgefühlsverlust nicht
nur durch Frustration bzw.
Objektverlust, sondern auch
Enttäuschung narzißtischer
Bedürfnisse (anale, phallische)
Verlust der narzißtischen Integrität, des »well-being«. Fundamentale psychobiologische
depressive Reaktion unterscheidet sich von der k l i n i schen Depression. Depressive
Reaktion kann sich auch als
nützlich erweisen.
6.
G U T , E. (1989)
Produktive und unproduktive
Depression
7.
J A C O B S O N , E.
Selbstwertgefühlsverlust erklärt sich durch bestimmte
Energieverteilungs- und insbesondere strukturelle Störun-
(1953/1971)
- 20 -
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gen der Selbstrepräsentanz
bzw. des Über-Ich (archaisch)
und Ich-Ideals (zu hoch).
Depressive Position (als universales Stadium bzw. Z u stand). Melancholie: keine
gelungene Internalisation des
guten Objekts. Aggressionshemmung (Angst, das gute
Objekt zu verlieren).
8.
KLEIN, M .
9.
BECK,A.
kognitive, pessimistische
Grundkonzepte, depressiver
Affekt sekundär, Therapie
durch kognitive Korrektur
10.
SELIGMAN, M .
erlernte Hilflosigkeit
11. K O H U T , H .
Mangelhafte Spiegelung, keine
bejahende freudige Reaktion
auf die Existenz des Kindes =
»leere« Depression. Mangelhafte Teilhabe an Ruhe und
Sicherheit eines idealisierten
Erwachsenen = Schulddepression
12.
BENEDETTI, B.
13.
TELLENBACH, H .
Über-Ich-Depression,
Es-Depression,
Ideal-Ich-Depression
Typus Melancholicus
Depression als biosozialer
Schutzmechanismus
14. H E L L , D . (1992)
15. Andere Autoren
M A T U S S E K , R; S C H W A R Z ,
F.; W I L D L Ö C H E R , D . ;
G R E E N , A. (»tote Mutter«),
B O W L B Y , J.
u.a.
- 21 -
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
dings m i t gewissen Akzentverschiebungen und Korrekturen.
Die Störung der Selbstwertgefühlsregulation rückte i n den
letzten Jahren zunehmend i n das Zentrum des Interesses. Die
Folgen der introjektiven Prozesse werden etwas anders als bei
F R E U D konzipiert.
2. K A R L A B R A H A M hat schon 1911 auf die zentrale Bedeutung der Unterdrückung der Aggression aufmerksam gemacht, die i n Zusammenhang m i t einer unerträglichen Enttäuschung durch das Liebesobjekt entsteht sowie auf die
Wendung sadistischer Rachsucht nach innen. Weiter zeigt er,
daß i n der Symptomatik der Manie gerade das enthüllt w i r d ,
was i n der Depression nur versteckt und unsichtbar enthalten
ist. Sein M o d e l l ist zwar seiner Zeit entsprechend einseitig
trieborientiert, die genannten Gesichtspunkte behalten jedoch
auch i n den neueren Theorien ihren Wert.
3. R A D O gelang es 1928 auf dem Hintergrund der inzwischen entwickelten Strukturtheorie F R E U D S die zentrale Bedeutung des Selbstwertgefühls und der leistungsbezogenen
narzißtischen Zufuhr i n der Dynamik der Melancholie aufzuzeigen. Er vergleicht den Depressiven m i t einem kleinen K i n d ,
dessen Selbstwertgefühl i n extremen Maße von der Akzeptanz
seiner Leistungen durch die Eltern sowie von ihrer Liebe abhängig ist. Weiter stellt er folgende, kliniknahe und einleuchtende Hypothese auf: Wenn alle anderen Bemühungen des
verbitterten und aggressiven Kindes versagen, greift es zu der
letzten Waffe. Es internalisiert seine spezifischen Erfahrungen
mit den strafenden Eltern. Gemeint ist die sich wiederholende
Erfahrung, daß die Eltern jeweils nach der Bestrafung des
Kindes einigermaßen zufrieden und umgestimmt erscheinen.
Das K i n d organisiert - so R A D O - nunmehr selbst diesen Vorgang. Durch ständige Schuldgefühle und Selbstbestrafungen
sichert sich das K i n d so, wenn auch sehr mühsam und
schmerzlich, die Zuwendung und Zufriedenheit seiner Eltern
und später i m Erwachsenenalter seines Über-Ich. Die Sequenz
Schuld-Buße-Verzeihung
werde eminent wichtig. Der Objektverlust dagegen spielt bei R A D O eine geringere Rolle. Dieser
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Verlust ist sozusagen nur ein auslösendes Geschehen, das gelegentlich sogar fast erfunden werden muß, u m die Deprimiertheit zu erklären.
Depression könne sich durch jedes Geschehen entwickeln,
das Schuld- und Angstgefühle wachrufe und den Menschen i n
die regressive Abhängigkeit und i n jenen pathologischen Reparationsprozeß, den w i r Melancholie nennen, treibe. Einen
Teil dieses Modells erläutert R A D O i n einer viel späteren Veröffentlichung aus dem Jahre 1951: Das Dilemma des Melancholikers bestehe darin, daß er h i n - und hergerissen werde
zwischen seiner W u t , die ihn dazu treibe, das Liebesobjekt
unter Druck zu setzen, und seiner Furcht, die ihn dem Liebesobjekt gegenüber so unterwürfig mache. Ersetzt man i n diesem Text von R A D O »Furcht« durch Liebe oder Abhängigkeit,
so erhält man die Definition des später auch von vielen anderen Autoren beschriebenen zentralen »depressiven K o n flikts«. Dieser beinhaltet jene Konstellation, bei der i m extremen Fall ein starker Impuls (und dadurch auch die Angst
davor) aufkommt, gerade den zu ermorden, den man liebt
und von dem man abhängig ist.
4. B I B R I N G (1953) ging wie R A D O von der Zentralität der
Selbstwertgefühlsherabsetzung i n der Depression aus. Er
meinte aber, daß keineswegs alle Depressionen solche Reparationsversuche, solche verzweifelten Bemühungen u m die
bitter notwendigen narzißtischen Zufuhren durch Zuwendung der äußeren Objekte oder durch die Versöhnung des
Über-Ich zeigen. Vielmehr meinte er, daß zwar eine »orale«
Fixierung (s.u.) i n der Prädisposition für viele Depressionen
von Bedeutung sein möge, die klinische Erfahrung jedoch
dafür spreche, daß eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls
auch über andere Wege und nicht nur über die Frustration der
Zuwendungs- und Liebesbedürfnissen zustande komme. Es
gebe auch andere und nicht nur diese - i n der früheren psychoanalytischen Terminologie - »oralen« Bedürfnisse, deren
Frustration denselben Effekt hätten. So zum Beispiel solche
»analen« Ursprungs (also den Wunsch »gut«, nicht aggressiv,
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
nicht schmutzig zu sein) oder auch phallische Bedürfnisse, wie
den Wunsch, stark, potent, überlegen, groß, sicher zu sein.
Die Frustrierung aller dieser Wünsche und Bedürfnisse könne
das Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufen und zur Herabsetzung des Selbstwertgefühls führen.
B I B R I N G S Fazit: Die Depression sei letztlich der emotionale
Ausdruck eines Zustandes der Hilf- und Machtlosigkeit des
Ich, und zwar unabhängig von der Frage danach, was den Z u sammenbruch der Mechanismen verursacht hatte, die normalerweise die Selbstachtung des Menschen sichern. Diesen Gedanken B I B R I N G S könnte man noch m i t der Feststellung
ergänzen: Sie ist auch unabhängig davon, welche sekundären
(zum Beispiel »masochistischen«) Kompensationen mobilisiert wurden.
5. S A N D L E R und J O F F E (1965) sehen, wie B I B R I N G , die De-
pression als einen fundamentalen Grundaffekt, welcher der
Angst vergleichbar sei und der dann mobilisiert und empfunden werde, wenn der Mensch etwas verloren zu haben glaubt,
was für sein Wohlergehen von höchster Wichtigkeit war, und
er sich nicht imstande sieht, diesen Verlust zu beheben. Es
gehe u m den Verlust des Gefühls einer narzißtischen
Integrität
und nicht u m den Verlust irgendeines spezifischen konkreten
Objektes. S A N D L E R und J O F F E vermeiden jedoch die Bezeichnung »Selbstachtung«, weil sie davon ausgehen, daß dieser
Begriff etwas i n der Entwicklung Späteres, Reiferes, Komplexeres bezeichnet und nicht jenes elementare »well being«, dessen Existenz man bereits bei Kleinkindern m i t guten Gründen
annehmen kann. Bei der Depression handelt es sich w o h l u m
eine Reaktion aus dem Gefühl heraus, einem Idealzustand
entrückt zu sein, dessen M e d i u m häufig, wenn auch nicht i m mer, die Beziehung zu einem anderen Menschen gewesen ist
( B E M P O R A D 1983, S. 57). Es gebe eine fundamentale psychobiologische Reaktion, die man »depressiv« nennen könne und
davon müsse man eigentlich die klinische Depression unterscheiden. Letztere sei die weitere Ausformung oder abnorme
langlebige Variante der ursprünglichen Reaktion.
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Stavros Mentzos, Depression und Manie
S A N D L E R und J O F F E können der Hypothese nicht zustimmen, daß Depression ein gegen das Selbst gerichteter Z o r n sei.
Sie stehen den psychoanalytischen Theorien, welche die A g gression bei der Erklärung der Depression i n den M i t t e l p u n k t
stellen, eher ablehnend gegenüber. Der Objektverlust erzeuge
zwar natürlicherweise Z o r n oder W u t , diese Feindseligkeit
werde jedoch nicht, wie oft behauptet, gegen das Selbst gerichtet. Der Depressive sei vielmehr der Träger einer blockierten Aggression und dies impliziere nicht notwendigerweise die
Annahme der FREUDschen Introjektionstheorie, nach welcher
der Mensch den »bösen« Anteil des Objektes i n sich aufnehme und sich m i t ihm identifiziere. Das bei der Depression oft
im Vordergrund stehende Autoaggressive sei auch anders zu
erklären.
Schließlich meinen S A N D L E R
und J O F F E
(wie
BIBRING
auch), daß die anfängliche psychobiologisch-depressive Reaktion auch Abwehrkräfte mobilisiere und keineswegs immer i n
die Krise der Depression münde. Sie könne sich damit auch
als heilsam erweisen und zwar i n einer Weise, die an das erinnere, was F R E U D - analog - in bezug auf die Funktion der
Signalangst verarbeitet hat.
6. Diese Tendenz der modernen psychoanalytischen Theorie, auch gewisse positive Aspekte der depressiven Reaktion
hervorzuheben, entspricht i n etwa auch der Linie von E M M Y
G U T ( 1 9 8 9 ) i n ihrer Monographie m i t dem Titel »Produktive
und unproduktive Depression«: Die psychobiologische Reaktion könne den Anreiz zu einer positiven Entwicklung geben,
die den Betreffenden aus dem depressiv machenden Dilemma
herausführe. M a n wisse nicht, i n welchem Ausmaß und m i t
welcher Häufigkeit eine solche positive Wendung realisiert
werde. A u f jeden Fall, so ihre Theorie, komme es i n allen Fällen, i n denen eine solche produktive Wendung nicht möglich
geworden ist, zu Komplizierungen, die dann unaufhaltsam
zur Manifestation einer klinischen Depression führen.
7. E D I T H J A C O B S O N ( 1 9 7 1 ) stellt wiederum die Herabset-
zung des Selbstwertgefühls ins Zentrum ihrer Betrachtung der
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