Stavros Mentzos, Depression und Manie VSR © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Stavros M e n t z o s Depression und Manie Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen M i t 5 Abbildungen u n d 3 Tabellen 5. Auflage Vandenhoeck & R u p r e c h t i n Göttingen © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Bibliografische I n f o r m a t i o n der Deutschen Nationalbibliothek D i e Deutsche N a t i o n a l b i b l i o t h e k verzeichnet diese P u b l i k a t i o n i n der Deutschen N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte bibliografische Daten sind i m Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. I S B N 978-3-525-45775-7 I S B N 978-3-647-45775-8 ( E - B o o k ) © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht G m b H & C o . K G , Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht L L C , Oakville, C T , U.S.A. www.v-r.de A l l e Rechte vorbehalten. Das W e r k u n d seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede V e r w e r t u n g i n anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen E i n w i l l i g u n g des Verlages. H i n w e i s z u § 52a U r h G : Weder das W e r k n o c h seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche E i n w i l l i g u n g des Verlages öffentlich zugänglich gemacht w e r d e n . Das gilt auch bei der entsprechenden N u t z u n g für L e h r - u n d Unterrichtszwecke. P r i n t e d i n Germany. Gesamtherstellung: H u b e r t & Co., Göttingen. G e d r u c k t auf alterungsbeständigem Papier. © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Inhalt Vorwort Einleitung 9 13 /. Psychodynamik der Depression Die psychoanalytischen Depressionstheorien 19 Depression und narzißtisches Gleichgewicht Herabsetzung des Selbstwertgefühls oder Objektverlust? Die zwei intrapsychischen »Bankkonten« Das Dreisäulenmodell Differentialpsychodynamik depressiver Zustände 32 32 36 38 43 Depressiver Affekt, intrapsychischer Stillstand und drei Circuli vitiosi Der depressive Affekt Drei psychische Circuli vitiosi Somatische Circuli vitiosi 50 50 53 56 Depressiver K o n f l i k t und die Problematik der Aggressionshemmungs-Hypothese K o n f l i k t und Depression Aggressionshemmung und Depression 59 59 62 Der sogenannte Masochismus Die Theorie des primären Masochismus 65 66 - 5 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Das klinische Bild des sogenannten »moralischen Masochismus« Der erogene Masochismus Der sogenannte Masochismus als »Strategie« und Schutzmechanismus Masochismus und Depression Psychodynamik der Manie IL 67 73 74 78 82 Therapie Drei Behandlungsberichte 91 Ziele und therapeutische Technik einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie psychotischer Depressionen und Manien - der Stellenwert der Psychopharmaka Veränderte therapeutische Technik Drei Behandlungs-Settings Komplikationen Auszug aus der Behandlung von Frieda P. Ist »Einsicht« der therapeutisch hauptsächlich wirksame Faktor? Z u r Psychotherapie der Manie Antriebsarme »leere« Depression Die Anwendung von Antidepressiva sowie Psychopharmaka i m allgemeinen Kurzer Vergleich m i t anderen psychotherapeutischen Verfahren bei affektiven Psychosen Zusätzliche Bemerkungen zur therapeutischen Technik - 6 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 120 121 123 125 127 131 133 135 138 141 146 Stavros Mentzos, Depression und Manie 777. Klassifikatorische und ätiologische Aspekte Versuch einer psychodynamischen Klassifikation psychischer Störungen Die Polarität zwischen Selbst- und Objektbezogenheit K o n f l i k t , Modus der Verarbeitung und der sogenannte Defekt Ich und sekundärer Prozeß versus Es und primärer Prozeß K o n f l i k t und Bipolarität der M o d i Psychotische, neurotische, reaktive Depressionen und das somatische Äquivalent - Narzißtische Krisen Psychodynamische Präzisierung einer traditionellen Klassifikation Narzißtische Krisen und Depression Somato- und Psychogenese - »Endogene« Psychosen als somato-psychosomatische Erkrankungen (Psychosomatosen des Gehirns) Das Problem und die Notwendigkeit einer Integration Das psychosomatische Paradigma Ein v o m psychosomatischen Paradigma inspiriertes M o d e l l Theoretische und praktische Vorteile des Modells 153 154 158 161 163 169 169 175 177 177 180 184 189 Zusammenfassung 194 Literatur 198 Sachregister 202 -7- © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Vorwort Die große Fülle von empirischen Befunden, die eindeutig für eine Somatogenese - für die körperliche Verursachung - der psychotischen Depression und Manien sprechen, ebenso wie der unbestreitbare (wenn auch relative) therapeutische oder sogar prophylaktische Erfolg der antidepressiv wirkenden Psychopharmaka, könnten den Untertitel dieses Buches, wenn nicht absurd, so doch reichlich überzogen erscheinen lassen. Kann man überhaupt i n sinnvoller Weise von Psychodynam i k , geschweige denn von Psychogenese und Psychotherapie bei Störungen sprechen, deren Auftreten von chronobiologischen und erbgenetischen Faktoren mitbedingt, deren erneutes Auftreten i n einem großen Prozentsatz durch L i t h i u m verhindert oder gemildert, deren manifeste Symptomatik m i t Hilfe der Antidepressiva oft erfolgreich bekämpft w i r d und die schließlich auch ohne jegliche Therapie nach einigen Wochen oder Monaten spontan abklingen und i n das sogenannte »freie Intervall« übergehen? Bemerkenswerterweise werden heute auch von Vertretern der biologischen Psychiatrie diese Fragen selten gestellt. M a n liest i m Gegenteil i n vielen wissenschaftlichen Abhandlungen von der Notwendigkeit einer auch psychotherapeutischen Begleitung des depressiven Patienten, und es werden viele Therapieprogramme für Patienten i n psychiatrischen Kliniken vorgestellt, die v o m Bewältigungstraining über die kognitive Verhaltenstherapie bis h i n zu der interpersonellen Therapie -9- © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie reichen. Ich meine nicht, daß es sich dabei nur u m bloße Lippenbekenntnisse und eine (im Hinblick auf den neuen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) berufspolitisch motivierte Anpassung handelt. Ich kenne viele klinische Psychiater, die m i t großem Engagement u m eine auch psychotherapeutische Begleitung ihrer depressiven Patienten bemüht sind. Darunter gibt es einige, die nicht nur psychodynamische Konzepte i n der Behandlung psychotisch affektiver Störungen anwenden (wie zum Beispiel K R Ö B E R 1992), sondern die auch theoretisch übergreifend eine Integration der biologischen, der soziologischen und der psychologischen Dimensionen anstreben. Dazu gehört beispielsweise D A N I E L H E L L , der sich i n seinem integrativen Ansatz fragt, welchen Sinn die Depression »mache« (1992). Diese Tendenz, dieser »Wille« zur Integration scheint i m Hinblick auf die gleichermaßen relevanten biologischen, psychosozialen und psychodynamischen Gegebenheiten ständig zu wachsen. Dennoch reicht der »Wille« allein noch nicht aus! Denn w i r stehen zwar (hoffentlich) vor keinem unlösbaren Problem, aber doch immerhin vor einem großen Rätsel: Wie k o m m t es, daß solche persönlichen, komplizierten, auch existentiell hoch signifikanten, psychischen Prozesse wie Sinnentleerung, Lebensüberdruß oder Versündigungswahn durch chemische Substanzen günstig beeinflußt werden können? U n d wie ist es auf der anderen Seite möglich, daß intensive körpernahe Symptome und Syndrome wie depressiver Stupor, Niedergeschlagenheit oder manische Erregung auch psychotherapeutisch beeinflußbar sind? Wie k o m m t es, daß der gleiche Prozeß sowohl deterministisch erklärbar und manchmal sogar - etwa beim Absetzen bestimmter M e d i k a mente - voraussagbar ist und daß er auf der anderen Seite auch finalistisch, vom funktionalen Ziel der Abwehr, der defensiven Verarbeitung eines Konfliktes oder der sinnvollen Kompensation eines Mangels her genauso gut verstehbar ist? Ist Depression eine Krankheit, deren Verursachung es aufzudecken und zu beheben gilt? Oder stellt sie eine Lebenskri- - 10 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie se dar, die erst durch das Verständnis der dahinter liegenden Sinnzusammenhänge zu überwinden ist? Von der herrschenden Tendenz und dem steigenden »Willen zur Integration« stark motiviert, würde ich selbst spontan antworten: Beides! Eine solche Behauptung ist jedoch leichter gesagt, als i m Detail glaubwürdig gemacht, geschweige denn bewiesen. Das vorliegende Buch ist ein Beitrag zu diesem Versuch, die gewünschte und von den therapeutischen Zielsetzungen geforderte Integration i m Detail voranzutreiben und zwar m i t Hilfe eines zwar psychoanalytisch inspirierten, aber ebenso intensiv an der psychiatrisch-klinischen Erfahrung orientierten Modells und auch aufgrund von Erfahrungen bei langfristigen psychotherapeutischen Behandlungen v o n Patienten mit affektiven Psychosen unter verschiedenen Settings. Meinen Dank möchte ich auch diesmal an erster Stelle an Frau Dr. med. E V E M A R I E S I E B E C K E - G I E S E für ihre große Hilfe aussprechen, nicht nur für ihre zahlreichen sprachlichen Korrekturen, sondern auch für ihr heilsames, ständiges Hinterfragen meiner Thesen und Formulierungen. Bei Frau I S A B E L L A F R E U N D , Frau A N N E L I E S E K E L L E R S u n d Frau JUTTA L O V Ä S Z bedanke ich mich für die mühevollen Schreibarbeiten sowie bei Frau G R U D R U N V Ö L K E R für die wiederholten Korrekturen. STAVROS M E N T Z O S - I I - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Einleitung Die Termini »Depression« und »depressiv« werden sehr oft zur Bezeichnung von recht unterschiedlichen psychischen Z u ständen verwendet. Die entstandene begriffliche Unsicherheit und Verwirrung beruht jedoch nicht so sehr auf diesem fast inflationären Gebrauch (und Mißbrauch) der Termini als vielmehr auf der Tatsache, daß einige grundsätzliche Fragen, welche die Depression betreffen, bis heute nicht klar beantwortet wurden. Ich erwähne zunächst nur drei der hier relevanten Fragenkomplexe: a. M a n muß sich zunächst einmal fragen, w a r u m der Terminus Depression dazu benutzt w i r d , u m so unterschiedliche psychische Befindlichkeiten und Zustände wie folgende zu benennen: - Schuldbeladene Zurückgezogenheit und Deprimiertheit voller Selbstvorwürfe und Selbsterniedrigung, »Schulddepression« also. - Deprimiertheit, die von Agitiertheit und nach außen gerichtetem V o r w u r f sowie von einer hartnäckig verlangenden und kritisierenden Haltung begleitet w i r d , »agitierte und fordernde Depression« also. - Resignative Hoffnungs- und Hilflosigkeit m i t extremer A n hänglichkeit - eine »anaklitische Depression«. - Massive, direkte oder »verfeinerte«, indirekte Autodestruktivität, also eine selbstzerstörerische Depression. - 13 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie - Innere »Leere« m i t dem »Gefühl der Gefühllosigkeit«, das heißt m i t der Blockade aller Affekte oder m i t der Unfähigkeit zu jeglicher Gefühlsregung, eine »leere Depression« also. b . Vom Gesichtspunkt der Ätiologie, von der Verursachung her betrachtet, muß man zweitens fragen, wie es k o m m t , daß Depression auf so unterschiedliche Umstände und kausale Bedingungen zurückgeführt w i r d , wie es i n den vielfältigen, i m klinischen Alltag üblichen diagnostischen Etikettierungen deutlich w i r d : D o r t spricht man nämlich von puberalen, k l i makterischen, postklimakterischen, postpartalen, involutiven Depressionen oder man diagnostiziert somatogene (durch Gehirntumor, Cortison oder andere Hormongaben, Alterungsprozesse etc. hervorgerufene) versus psychogene (reaktive, neurotische) oder endogen-psychotische Depressionen. c. Ein dritter Fragenkomplex schließlich bezieht sich auf die bei der Depression doch ungeklärten psychosomatischen und somatopsychischen Zusammenhänge: Ist das depressive Erleben ein somatopsychisches Phänomen? Ist es also die Folge eines primär körperlichen Vorganges? U n d sind i n diesem Fall die depressiven »Inhalte«, wie zum Beispiel die Selbstvorwürfe und die Versündigungsideen, bloße sekundäre Inhaltsbesetzungen unter dem Einfluß der herrschenden depressiven Stimmungs- und Antriebslage? Oder sind es umgekehrt bestimmte negative Erlebnisse, bestimmte aus ungelösten Konflikten hervorgehende intrapsychische Spannungen und Bedrückungen, welche den Betreffenden depressiv machen? I n diesem Fall entstünde also der depressive Affekt als verständliche Reaktion auf maßgebende Verluste, Trennungen, Kränkungen, Enttäuschungen und Erniedrigungen sowie andere konflikthafte Konstellationen, u m sich dann zu einer generalisierten depressiven Stimmung auszubreiten und schließlich zu den regelrechten depressiven Syndromen zu führen. -14© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Diese immer noch offene Frage erweist sich i n den letzten 15 bis 20 Jahren noch komplexer und schwieriger zu beantworten als früher, weil die Mehrheit der »Somatogenetiker«, also jener klinischen Psychiater, welche die erste Auffassung vertreten (die biologisch bedingte Stimmungslage erzeuge sekundär die depressiven psychischen Inhalte), gleichzeitig bereit waren und sind, auch die kognitive Therapie der Depression zu favorisieren. Letztere aber geht doch gerade davon aus, daß es bestimmte psychische kognitive Grundkonzepte (basic concepts) seien, welche die depressiven Patienten depressiv machen. Dies entspräche nicht einem biologisch, sondern einem psychogenetisch orientierten Depressionsmodell, wenn auch i m Sinne einer anderen Psychogenität, als die Psychoanalyse meint. Z u diesem letzten Problemkomplex gehört auch folgende Frage: Wenn die antidepressiv wirkenden Psychopharmaka »endogene« depressive Zustände dadurch günstig beeinflussen (und sie t u n es bestimmt), daß sie die ihnen vermeintlich zugrundeliegenden Verschiebungen von Neurotransmittern etc. korrigieren, wie erklärt es sich dann, daß die gleichen M e dikamente eine gewisse W i r k u n g auch bei anderen, nicht »endogenen«, sondern reaktiven oder neurotischen Depressionen haben? Das läßt sich zwar erklären, aber nur wenn man die Spezifität der Antidepressiva erheblich relativiert. Das vorliegende Buch versucht eine A n t w o r t auf solche und ähnliche Fragen zu geben und zwar m i t Hilfe eines psychodynamischen Modells, das zwar die bisherigen analytischen Theorien der Depression teilweise berücksichtigt, aber auch neue Konzeptualisierungen zu ihrer Psychodynamik enthält. Dabei werde ich auch versuchen, die Ergebnisse der biologischen Psychiatrie einschließlich der Psychopharmakologie m i t der psychodynamischen Sicht zu integrieren. Einen weiteren Schwerpunkt des Buches stellen die psychotherapeutischen Bemühungen um depressive Patienten dar. Ich w i l l am Beispiel einiger längerfristiger Behandlungen zeigen, auf welche Weise eine psychodynamisch orientierte - 15 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie psychotherapeutische Behandlung auch bei den »endogenen« Depressionen und Manien von Nutzen sein kann. Schließlich nehme ich diese systematische Beschäftigung m i t psychotischen affektiven Störungen zum Anlaß, u m mich erstens kritisch m i t dem Konzept des sogenannten »Masochismus« ausführlicher auseinanderzusetzen und zweitens den Entwurf einer umfassenden psychodynamischen Klassifikation psychotischer (nicht nur depressiver) Störungen vorzustellen, der auch von klinischer Relevanz sein kann. - 16- © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie I Psychodynamik der Depression © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Die psychoanalytischen Depressionstheorien Die hier zugrunde liegende Theorie der Psychodynamik und Therapie der manisch-depressiven Psychosen sowie auch anderer Depressionsformen stammt teilweise aus der Integration von schon vorhandenen psychoanalytischen Theorien und Konzepten. Daher ist ein kurzer historischer Überblick über die bisherigen Bemühungen der Psychoanalyse auf diesem Gebiet unerläßlich (ausführliche Darstellungen über die Entwicklungen der letzten 80 Jahre findet man bei M E N D E L S O H N 1982 und B E M P O R A D 1983). - Die Tabelle 1 (s. S. 20f) enthält eine Zusammenfassung. 1 . S I G M U N D F R E U D wies i n seiner epochemachenden Arbeit über »Trauer und Melancholie« (1917) auf die Bedeutung des »Objektverlustes« hin, das heißt des Verlustes einer realen Bezugsperson oder der Trennung von einer wichtigen Person, Idee, Vorstellung, Utopie. Weiter machte er auf die Bedeutung der lntrojektion (In-sich-Aufnehmen eines »Objekts«) bei der Depression aufmerksam, so wie darauf, daß trotz der vielen Ähnlichkeiten zwischen Trauer und Depression, wie schmerzliche Verstimmung, Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, Verlust der Liebesfähigkeit, Hemmung etc., beide sich i n einem Punkt grundsätzlich voneinander unterscheiden: Bei Selbstwertgefühls. der Trauer gibt es keine Störung des Alle drei FREUDschen Befunde - Objektverlust, lntrojektion, Selbstwertgefühlsminderung - haben auch innerhalb der heutigen Theorien ihre zentrale Bedeutung behalten, aller- -19© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Tabelle 1: Depressionstheorien - historischer Überblick 1. F R E U D , S. (1917) Objektverlust, Introjektion, Selbstgefühlsminderung 2. A B R A H A M , K . (1911) 3. R A D O , S. (1928) Aggressionshemmung, Wendung nach innen, Manie Internalisierung der Sequenz: Schuld, Buße (durch ein Übermaß an Leistung), Verzeihung. Melancholie als Reparationsprozeß 4. B I B R I N G , E . (1953) 5. SANDLER, J . und J O F F E , W.G. (1965) Selbstwertgefühlsverlust nicht nur durch Frustration bzw. Objektverlust, sondern auch Enttäuschung narzißtischer Bedürfnisse (anale, phallische) Verlust der narzißtischen Integrität, des »well-being«. Fundamentale psychobiologische depressive Reaktion unterscheidet sich von der k l i n i schen Depression. Depressive Reaktion kann sich auch als nützlich erweisen. 6. G U T , E. (1989) Produktive und unproduktive Depression 7. J A C O B S O N , E. Selbstwertgefühlsverlust erklärt sich durch bestimmte Energieverteilungs- und insbesondere strukturelle Störun- (1953/1971) - 20 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie gen der Selbstrepräsentanz bzw. des Über-Ich (archaisch) und Ich-Ideals (zu hoch). Depressive Position (als universales Stadium bzw. Z u stand). Melancholie: keine gelungene Internalisation des guten Objekts. Aggressionshemmung (Angst, das gute Objekt zu verlieren). 8. KLEIN, M . 9. BECK,A. kognitive, pessimistische Grundkonzepte, depressiver Affekt sekundär, Therapie durch kognitive Korrektur 10. SELIGMAN, M . erlernte Hilflosigkeit 11. K O H U T , H . Mangelhafte Spiegelung, keine bejahende freudige Reaktion auf die Existenz des Kindes = »leere« Depression. Mangelhafte Teilhabe an Ruhe und Sicherheit eines idealisierten Erwachsenen = Schulddepression 12. BENEDETTI, B. 13. TELLENBACH, H . Über-Ich-Depression, Es-Depression, Ideal-Ich-Depression Typus Melancholicus Depression als biosozialer Schutzmechanismus 14. H E L L , D . (1992) 15. Andere Autoren M A T U S S E K , R; S C H W A R Z , F.; W I L D L Ö C H E R , D . ; G R E E N , A. (»tote Mutter«), B O W L B Y , J. u.a. - 21 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie dings m i t gewissen Akzentverschiebungen und Korrekturen. Die Störung der Selbstwertgefühlsregulation rückte i n den letzten Jahren zunehmend i n das Zentrum des Interesses. Die Folgen der introjektiven Prozesse werden etwas anders als bei F R E U D konzipiert. 2. K A R L A B R A H A M hat schon 1911 auf die zentrale Bedeutung der Unterdrückung der Aggression aufmerksam gemacht, die i n Zusammenhang m i t einer unerträglichen Enttäuschung durch das Liebesobjekt entsteht sowie auf die Wendung sadistischer Rachsucht nach innen. Weiter zeigt er, daß i n der Symptomatik der Manie gerade das enthüllt w i r d , was i n der Depression nur versteckt und unsichtbar enthalten ist. Sein M o d e l l ist zwar seiner Zeit entsprechend einseitig trieborientiert, die genannten Gesichtspunkte behalten jedoch auch i n den neueren Theorien ihren Wert. 3. R A D O gelang es 1928 auf dem Hintergrund der inzwischen entwickelten Strukturtheorie F R E U D S die zentrale Bedeutung des Selbstwertgefühls und der leistungsbezogenen narzißtischen Zufuhr i n der Dynamik der Melancholie aufzuzeigen. Er vergleicht den Depressiven m i t einem kleinen K i n d , dessen Selbstwertgefühl i n extremen Maße von der Akzeptanz seiner Leistungen durch die Eltern sowie von ihrer Liebe abhängig ist. Weiter stellt er folgende, kliniknahe und einleuchtende Hypothese auf: Wenn alle anderen Bemühungen des verbitterten und aggressiven Kindes versagen, greift es zu der letzten Waffe. Es internalisiert seine spezifischen Erfahrungen mit den strafenden Eltern. Gemeint ist die sich wiederholende Erfahrung, daß die Eltern jeweils nach der Bestrafung des Kindes einigermaßen zufrieden und umgestimmt erscheinen. Das K i n d organisiert - so R A D O - nunmehr selbst diesen Vorgang. Durch ständige Schuldgefühle und Selbstbestrafungen sichert sich das K i n d so, wenn auch sehr mühsam und schmerzlich, die Zuwendung und Zufriedenheit seiner Eltern und später i m Erwachsenenalter seines Über-Ich. Die Sequenz Schuld-Buße-Verzeihung werde eminent wichtig. Der Objektverlust dagegen spielt bei R A D O eine geringere Rolle. Dieser - 22 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie Verlust ist sozusagen nur ein auslösendes Geschehen, das gelegentlich sogar fast erfunden werden muß, u m die Deprimiertheit zu erklären. Depression könne sich durch jedes Geschehen entwickeln, das Schuld- und Angstgefühle wachrufe und den Menschen i n die regressive Abhängigkeit und i n jenen pathologischen Reparationsprozeß, den w i r Melancholie nennen, treibe. Einen Teil dieses Modells erläutert R A D O i n einer viel späteren Veröffentlichung aus dem Jahre 1951: Das Dilemma des Melancholikers bestehe darin, daß er h i n - und hergerissen werde zwischen seiner W u t , die ihn dazu treibe, das Liebesobjekt unter Druck zu setzen, und seiner Furcht, die ihn dem Liebesobjekt gegenüber so unterwürfig mache. Ersetzt man i n diesem Text von R A D O »Furcht« durch Liebe oder Abhängigkeit, so erhält man die Definition des später auch von vielen anderen Autoren beschriebenen zentralen »depressiven K o n flikts«. Dieser beinhaltet jene Konstellation, bei der i m extremen Fall ein starker Impuls (und dadurch auch die Angst davor) aufkommt, gerade den zu ermorden, den man liebt und von dem man abhängig ist. 4. B I B R I N G (1953) ging wie R A D O von der Zentralität der Selbstwertgefühlsherabsetzung i n der Depression aus. Er meinte aber, daß keineswegs alle Depressionen solche Reparationsversuche, solche verzweifelten Bemühungen u m die bitter notwendigen narzißtischen Zufuhren durch Zuwendung der äußeren Objekte oder durch die Versöhnung des Über-Ich zeigen. Vielmehr meinte er, daß zwar eine »orale« Fixierung (s.u.) i n der Prädisposition für viele Depressionen von Bedeutung sein möge, die klinische Erfahrung jedoch dafür spreche, daß eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls auch über andere Wege und nicht nur über die Frustration der Zuwendungs- und Liebesbedürfnissen zustande komme. Es gebe auch andere und nicht nur diese - i n der früheren psychoanalytischen Terminologie - »oralen« Bedürfnisse, deren Frustration denselben Effekt hätten. So zum Beispiel solche »analen« Ursprungs (also den Wunsch »gut«, nicht aggressiv, -23© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie nicht schmutzig zu sein) oder auch phallische Bedürfnisse, wie den Wunsch, stark, potent, überlegen, groß, sicher zu sein. Die Frustrierung aller dieser Wünsche und Bedürfnisse könne das Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufen und zur Herabsetzung des Selbstwertgefühls führen. B I B R I N G S Fazit: Die Depression sei letztlich der emotionale Ausdruck eines Zustandes der Hilf- und Machtlosigkeit des Ich, und zwar unabhängig von der Frage danach, was den Z u sammenbruch der Mechanismen verursacht hatte, die normalerweise die Selbstachtung des Menschen sichern. Diesen Gedanken B I B R I N G S könnte man noch m i t der Feststellung ergänzen: Sie ist auch unabhängig davon, welche sekundären (zum Beispiel »masochistischen«) Kompensationen mobilisiert wurden. 5. S A N D L E R und J O F F E (1965) sehen, wie B I B R I N G , die De- pression als einen fundamentalen Grundaffekt, welcher der Angst vergleichbar sei und der dann mobilisiert und empfunden werde, wenn der Mensch etwas verloren zu haben glaubt, was für sein Wohlergehen von höchster Wichtigkeit war, und er sich nicht imstande sieht, diesen Verlust zu beheben. Es gehe u m den Verlust des Gefühls einer narzißtischen Integrität und nicht u m den Verlust irgendeines spezifischen konkreten Objektes. S A N D L E R und J O F F E vermeiden jedoch die Bezeichnung »Selbstachtung«, weil sie davon ausgehen, daß dieser Begriff etwas i n der Entwicklung Späteres, Reiferes, Komplexeres bezeichnet und nicht jenes elementare »well being«, dessen Existenz man bereits bei Kleinkindern m i t guten Gründen annehmen kann. Bei der Depression handelt es sich w o h l u m eine Reaktion aus dem Gefühl heraus, einem Idealzustand entrückt zu sein, dessen M e d i u m häufig, wenn auch nicht i m mer, die Beziehung zu einem anderen Menschen gewesen ist ( B E M P O R A D 1983, S. 57). Es gebe eine fundamentale psychobiologische Reaktion, die man »depressiv« nennen könne und davon müsse man eigentlich die klinische Depression unterscheiden. Letztere sei die weitere Ausformung oder abnorme langlebige Variante der ursprünglichen Reaktion. -24© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8 Stavros Mentzos, Depression und Manie S A N D L E R und J O F F E können der Hypothese nicht zustimmen, daß Depression ein gegen das Selbst gerichteter Z o r n sei. Sie stehen den psychoanalytischen Theorien, welche die A g gression bei der Erklärung der Depression i n den M i t t e l p u n k t stellen, eher ablehnend gegenüber. Der Objektverlust erzeuge zwar natürlicherweise Z o r n oder W u t , diese Feindseligkeit werde jedoch nicht, wie oft behauptet, gegen das Selbst gerichtet. Der Depressive sei vielmehr der Träger einer blockierten Aggression und dies impliziere nicht notwendigerweise die Annahme der FREUDschen Introjektionstheorie, nach welcher der Mensch den »bösen« Anteil des Objektes i n sich aufnehme und sich m i t ihm identifiziere. Das bei der Depression oft im Vordergrund stehende Autoaggressive sei auch anders zu erklären. Schließlich meinen S A N D L E R und J O F F E (wie BIBRING auch), daß die anfängliche psychobiologisch-depressive Reaktion auch Abwehrkräfte mobilisiere und keineswegs immer i n die Krise der Depression münde. Sie könne sich damit auch als heilsam erweisen und zwar i n einer Weise, die an das erinnere, was F R E U D - analog - in bezug auf die Funktion der Signalangst verarbeitet hat. 6. Diese Tendenz der modernen psychoanalytischen Theorie, auch gewisse positive Aspekte der depressiven Reaktion hervorzuheben, entspricht i n etwa auch der Linie von E M M Y G U T ( 1 9 8 9 ) i n ihrer Monographie m i t dem Titel »Produktive und unproduktive Depression«: Die psychobiologische Reaktion könne den Anreiz zu einer positiven Entwicklung geben, die den Betreffenden aus dem depressiv machenden Dilemma herausführe. M a n wisse nicht, i n welchem Ausmaß und m i t welcher Häufigkeit eine solche positive Wendung realisiert werde. A u f jeden Fall, so ihre Theorie, komme es i n allen Fällen, i n denen eine solche produktive Wendung nicht möglich geworden ist, zu Komplizierungen, die dann unaufhaltsam zur Manifestation einer klinischen Depression führen. 7. E D I T H J A C O B S O N ( 1 9 7 1 ) stellt wiederum die Herabset- zung des Selbstwertgefühls ins Zentrum ihrer Betrachtung der -2-5 - © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8