Bernd Stiegler · Sylwia Werner (Hg

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Bernd Stiegler · Sylwia Werner (Hg.)
Laboratorien der Moderne
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Bernd Stiegler · Sylwia Werner (Hg.)
Laboratorien der
Moderne
Orte und Räume des Wissens in
Mittel- und Osteuropa
Wilhelm Fink
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Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative
des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz
„Kulturelle Grundlagen von Integration“
Umschlagabbildung:
Montage von Eddy Decembrino, Konstanz
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-6013-4
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Inhaltsverzeichnis
Bernd Stiegler/Sylwia Werner
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Peter Stachel
Versuchsstationen des Weltuntergangs oder Laboratorien der Moderne?
Urbane Zentren der Habsburgermonarchie um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Moritz Csáky
Die Stadt in Zentraleuropa – ein hybrider Kommunikationsraum . . . . . . . 31
Claus Zittel
Poetik der Verschwommenheit. Philosophische, psychologische
und ästhetische Wahrnehmungskonzepte in der Prager Moderne . . . . . . . 61
Manfred Weinberg
Geteilte Kultur(en)? Prager Zwischenräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Andrei Corbea-Hoisie
Czernowitz. Modernisierung an der Schwelle zur Moderne . . . . . . . . . . . . 133
Bernd Stiegler
Ein Zentrum der Peripherie. Lajos Kassáks Zeitschrift Ma . . . . . . . . . . . . 151
Thomas Flierl
Neues Bauen in Breslau: Konstitutionsbedingungen,
Akteure, Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Sylwia Werner
Der Streit um die „Wirklichkeit“.
Kunsttheoretische und -philosophische Konzeptionen in der
Lemberger Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Schamma Schahadat
Die Warschauer und Vilnaer Polonistik in der Zwischenkriegszeit:
Der Eintritt ins europäische literaturtheoretische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Friedrich Cain
Moderne errichten.
Über Experimente in der Stadt Warschau (1918-1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Inhaltsverzeichnis
Tanja Zimmermann
Antimodernismus oder modernistische Retroavantgarde? . . . . . . . . . . . . . 289
Paradoxien der Moderne in Südosteuropa
Angaben zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
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Bernd Stiegler/Sylwia Werner
Einleitung
Die Geschichte der Moderne ist untrennbar mit westlichen Metropolen wie Wien,
Berlin oder auch London und Paris verknüpft. Der Entstehung der kulturellen
Moderne in Mittel- und Osteuropa wird hingegen kaum Interesse geschenkt.1
Dabei hatten sich auch dort Literaten, Künstler und Wissenschaftler zu Gruppen
formiert, die einen dynamischen Wandel der jeweiligen Kultur vorantrieben. Das
bisherige Gesamtbild der Moderne in Europa ist somit unvollständig und teils dramatisch unterkomplex. Die Fokussierung oder gar Reduzierung von Europa auf
ihren westlichen Teil und die damit einhergehende Vernachlässigung der mittelund osteuropäischen Zentren trug schließlich dazu bei, dass das Aufkommen der
Moderne weitgehend mit der Geschichte des Westens gleichgesetzt wird.2 Wenn
man von der europäischen Moderne spricht, so meint man ausschließlich die westeuropäischen Länder. Mittel- und Osteuropa erscheinen hingegen nicht auf der
Karte der europäischen Moderne und figurieren bestenfalls als Statisten in ihrer
Geschichte.
Die Ungleichheit in den historischen Rekonstruktionen der kulturellen Moderne
in Europa scheint ihre Begründung in einer stärkeren industriellen Entwicklung der
westeuropäischen Städte zu finden. Denn die am Rande der Habsburgermonarchie
oder des Königreichs Preußen gelegenen mittel- und osteuropäischen Städte galten
als wirtschaftlich rückständig.3 Zwar sind auch dort Prozesse der Modernisierung zu
verzeichnen, doch mit dem Takt der dynamischen Veränderungen in den westeuropäischen (in Wien oder Berlin vorgegebenen) Regionen konnten diese nicht Schritt
1 Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge gehen auf einen am 5.-6. Dezember 2014 an
der Universität Konstanz veranstalteten Workshop zum Thema „Laboratorien der Moderne. Orte
und Räume des Wissens in Zentraleuropa“ zurück. Für die finanzielle Unterstützung des Workshops sei an dieser Stelle dem Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der
Universität Konstanz gedankt.
2 Vgl. dazu z.B.: Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit
1850, München, 2013.
3 Moritz Csáky spricht hier von „Zentraleuropa“, verwendet aber diesen Begriff nur in Bezug auf
den kulturellen und wissenschaftlichen Raum innerhalb der ehemaligen Grenzen des Habsburgerreiches. Einzubeziehen sind aber auch diese mittel- und osteuropäischen Städte, die früher
zum Preußischen oder auch Russischen Gebiet zählten. Vgl. Moritz Csáky, Astrid Kury, Ulrich
Tragatsching (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck, 2004; Moritz Csáky, „Mitteleuropa/Zentraleuropa – ein komplexes kulturelles System“,
in: Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989, hg. v. Heinz Fassmann, Wolfgang Müller-Funk und Heidemarie Uhl, Wien, 2009, S. 21-28. Vgl. auch: Jacques Le
Rider, Der österreichische Begriff von Zentraleuropa: Habsburgischer Mythos oder Realität?, London,
2008; Peter Stachel, Cornelia Szabo-Knotik (Hg.), Urbane Kulturen in Zentraleuropa um 1900,
Wien, 2004.
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halten. Das Verständnis von der Moderne als Ergebnis von umfassenden Industrialisierungs- und gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen erweist sich jedoch als
einseitig und problematisch. Kulturelle und ökonomische Moderne sind distinkte
Phänomene. Gesteht man zu, dass die kulturelle Moderne sich eben nicht nur dort
herausgebildet hatte, wo ein rascher wirtschaftlicher Fortschritt einsetzte, wird man
auch in Mittel- und Osteuropa viele Orte entdecken, an denen kreative Milieus entstanden, die eine Vielzahl an wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen hervorbrachten, – Orte, die ein Sensorium für wissenschaftliche und ästhetische Krisen ausbildeten, Konflikte und Kontroversen austrugen und dergestalt
einen kulturellen Wandel einleiteten. Diesen Orten kommt daher keineswegs nur
eine marginale Rolle zu, sondern sie leisten etwas, was andernorts nur ungleich
schwerer zu realisieren war: Durch das enge Zusammenspiel von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Aktivitäten auf einem begrenzten
Raum sind sie regelrechte Experimentierfelder, auf denen neue epistemische Kon­
stellationen erprobt werden konnten. Wir nennen sie „Laboratorien der Moderne“,
um so ihre experimentelle Gemengelage sowie die bemerkenswerte wechselseitige
Durchlässigkeit von natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie künstle­
rischen Konzepten zu betonen. Anders aber als im Falle der Wiener oder Berliner
Moderne bedarf allerdings hier die Anwendung des Moderne-Begriffs einer Erläuterung oder sogar einer Rechtfertigung.
Der vorliegende Band macht sich zur Aufgabe, diese weitgehend blinden Flecken auf der Landkarte Europas zu erkunden und damit eine genauere Kartographierung der Landschaft der Wissenskulturen in der Moderne durchzuführen. Es
geht, mit anderen Worten, um eine Neukartierung der Moderne in Europa. An
Fallbeispielen wie Budapest, Czernowitz, Prag und Warschau, aber auch an weniger
offensichtlichen Zentren wie Breslau, Laibach und Lemberg führen die Beiträge
vor,4 welche spezifischen intellektuellen, künstlerischen und sozialen Entwicklungen es am jeweiligen Ort gab und inwiefern sie als modern zu bezeichnen sind. Die
kulturhistorische Rekonstruktion der mittel- und osteuropäischen Städte zeigt,
dass die dortigen kulturellen Bewegungen in verschiedenen Geschwindigkeiten
verliefen. Auch die Ursachen für die Entwicklung geistesgeschichtlicher Phänomene waren oft heterogen. Einerseits verdankten sich die lokalen kulturellen Modernen habsburgischen bzw. preußischen Traditionen und entwickelten sich im
Schatten der Wiener oder Berliner Moderne.5 Andererseits traten die dort betrie 4 Der Einfachheit halber verwenden wir hier nur die deutschsprachigen Namen der Städte. In einigen Fällen, wie Lemberg (poln. Lwów) oder Laibach (slow. Ljubljana) begann die Entwicklung
der kulturellen Moderne nach dem Zerfall der Großmächte und wurde als Ausdruck der Formierung des nationalen Bewußtseins verstanden.
5 Vgl. u.a.: Peter Berner, Emil Brix, Wolfgang Mantl (Hg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien, 1986; Emil Brix, Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu. Wien um 1900, München,
1993; Jürgen Nautz, Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien/Köln/Graz, 1996; Jürgen Schutte, Peter Sprengel (Hg.), Die Berliner Moderne. 1885-1914, Stuttgart, 1987; Peter Sprengel, Georg Streim (Hg.), Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater und Publizistik, Wien/Köln/Weimer,
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Einleitung
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bene Wissenschaft, Philosophie und Kunst erst nach dem Niedergang und Zerfall
der Großreiche in eine Phase intensiven Experimentierens und eines neuen Anfangs. Nicht zuletzt bildete auch das Russische Kaiserreich, das Gebiete annektiert
hatte, den machtpolitischen und kulturellen Kontext der Formierung der Moderne
vor Ort. Die Vorbildfunktionen übernahmen in diesen Fällen vor allem die Metropolen Moskau oder Petersburg.6 Die Verbindungen zwischen den jeweiligen Zen­
tren waren dabei oft eng. Einsichten, die z.B. in Wien oder Berlin aufkamen, verbreiteten sich rasch und wurden sehr bald auch in östlichen Regionen diskutiert.
So konnte das am jeweiligen „Wissensort“ versammelte intellektuelle Milieu an
kollektiven Denk- und Handlungsweisen partizipieren und dabei einen gemeinsamen, aber gleichwohl differentiellen „Wissensraum“ mit formieren.7 Die Verschiedenheit von Modellen der Modernität in Mittel- und Osteuropa war somit einerseits durch lokale (örtliche), andererseits aber durch transnationale (räumliche)
Dynamiken bestimmt.
Zu einigen dieser Städte liegen bereits aufschlussreiche Studien vor, die sich aber
zumeist auf einzelne Disziplinen beschränken.8 Hingegen fehlt eine umfassende
Untersuchung, die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Disziplinen und kulturellen Gebieten aufweist. Auch der Frage, welche Vorbildfunktionen die jeweiligen
kulturellen Phänomene in der Herausbildung benachbarter intellektueller Milieus
in Mittel- und Osteuropa übernahmen bzw. inwiefern sie in einen Austausch oder
Wettbewerb mit anderen Zentren traten, wurde bisher kaum verfolgt. Der vorliegende Band liefert hierzu einen Beitrag, auch wenn er sich auf erste Erkundungen
beschränkt und somit hoffentlich Impulse für eine weitergehende Untersuchung
der Bedingungen der Formierung der Moderne in Mittel- und Osteuropa geben
kann. Die Einbeziehung weiterer Städte im Hinblick auf die Ausprägung lokaler
Denk- und Schreibformen in der Moderne, wie etwa Dubrovnik, Tallin, Riga oder
Königsberg bleibt ein Desiderat der Forschung.
1998; Gotthard Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 18901910, Stuttgart, 1981.
6 Vgl. dazu: Karl Schlögel, Petersburg: Das Laboratorium der Moderne 1909-1921, München, 2002.
7 Mit Rheinberger, Wahrig-Schmidt und Hagner richten wir mit dem Terminus „Wissensort“ den
Fokus auf die lokal in einer Stadt verankerten epistemischen Praktiken, während der Begriff
„Wissensraum“ über den an einen Ort gebundenen Wirkungskreis hinausgeht und einen größeren Raum des Denkens und Handelns mit einschließt. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Bettina
Wahrig-Schmidt, Michael Hagner (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur,
Berlin, 1996, bes. S. 7-22.
8 Vgl. z.B.: Andrei Corbea-Hoisie, Alexander Rubel (Hg.), „Czernowitz bei Sadagora“. Identitäten
und kulturelles Gedächtnis im Mitteleuropäischen Raum, Konstanz 2006; Andrei Corbea-Hoisie,
Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimer, 2003;
Lucjan Puchalski, „Polnische und deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Lemberg im
intellektuellen Spannungsfeld der Moderne um 1900“, in: Urbane Kulturen in Zentraleuropa um
1900, hg. v. Peter Stachel und Cornelia Szabo-Knotik, Wien, 2004, S. 285-315; Ion Lihaciu,
Bukowinastudien I: Czernowitz 1848-1918. Das kulturelle Leben einer Provinzmetropolle, Kaiserslautern, 2012; Walter Schmitz, Ludger Udolph (Hg.), Tripolis Praga. Die Prager Moderne um
1900. Katalogbuch, Dresden, 2001; Larry Wolff, The Idea of Galicia. History and Fantasty in
Habsburg Political Culture, Stanford, 2010; Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of
Civilisation on the Mind oft he Enlightenment, Stanford, 1994.
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Die Beiträge dieses Bandes versuchen weiterhin, eine Methode zu entwickeln,
die es erlaubt, die lokal und transnational ablaufenden Zirkulations- und Transformationsprozesse differenzierter in den Blick zu nehmen bzw. die jeweiligen Verflechtungen und Wechselwirkungen im Übergang von lokaler Wissenskultur zu
überregionalen Wissensräumen einzufangen.9
Um diese beschreiben zu können, bedarf es einer Verschränkung von klassisch
ideengeschichtlichen Ansätzen mit wissens- und kultursoziologischen Perspektiven, aber auch eines close reading von Texten und Bildern. Viele der Theorien, die
bisher entwickelt wurden, um die Wissensproduktion innerhalb von Netzwerken
oder Schulen zu untersuchen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als zu allgemein und zu statisch. Will man die Wissenskulturen mit Konzepten der Diskursanalyse, des Paradigmenwechsels, spatial turns oder epistemischen Bruchs beschreiben, so verfehlt man gerade die jeweils vorherrschende spezifische Gemengelage.
Auch die Konstellations- und Institutionsforschung arbeitet zumeist mit allzu
grobschlächtigen Mustern und stellt dementsprechend einen sich allmählich vollziehenden Wandel in Gestalt von in großen Einheiten vor. 10 Dies führt dazu, dass
gerade die lokalen Besonderheiten der jeweiligen Moderne übersehen bzw. übergangen werden. Unser Anliegen ist daher, die filigranen Verschiebungen und Nuancen wissenschaftlicher und ästhetischer Konzeptionen polyzentrisch zu beschreiben, um so die verschiedenen Dynamiken und Bedingungen, die zur Formierung
der jeweiligen Wissenschaft und Kultur führten, besser in den Blick zu bekommen.
Die Schwierigkeit der Beschreibung der Wissensorte und -räume in Mittel- und
Osteuropa besteht hauptsächlich darin, dass ihre historisch sowie politisch begründete Heterogenität und damit auch die Komplexität nicht pauschal einer Deutungskategorie zugeordnet werden kann.11 Die soziokulturelle Gesellschaft eines
bestimmten Orts war nicht immer eine einheitliche Gruppe gleichgesinnter Theoretiker und Künstler, sondern speiste sich zumeist aus verschiedenen wissenschaftlichen und ästhetischen Traditionen und Schulen. Daher ist ein Vorgehen erforderlich, bei dem zum einen die Praktiken und Dynamiken der Wissensproduktion mit
erfasst werden, zum anderen aber auch die starke Fluktuation und die wechselseiti 9 Unter „Wissenskultur“ ist hier ein lokales Ensemble von geteilten Praktiken, Hintergrundüberzeugungen und Mechanismen der Tradierung zu verstehen. Vgl. dazu: Wolfgang Detel, „Wissenskulturen und epistemische Praktiken“, in: Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, hg. v. Johannes Fried und Thomas Kailer, Berlin, 2003, S. 119-132.
10 Vgl. dazu z.B.: Mary Douglas, Wie Institutionen denken, Frankfurt am Main, 1992; Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main, 2001; Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolution, Frankfurt am Main, 1973; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue
Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main, 2007; Martin Mulsow, Marcello Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main, 2005; Hans-Jörg
Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg, 2007.
11Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg, 2005;
Torsten Bonacker, Andreas Reckwitz (Hg.), Kulturen der Modernen. Soziologische Perspektive der
Gegenwart, Frankfurt am Main, New York, 2007; Emil Brix, „Pluralität. Die Erneuerung der
Moderne“, in: Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung, hg. v. Gotthard Wunberg und Dieter
A. Binder, Wien/Köln/Weimer 1996, S. 273-296.
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Einleitung
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gen Übernahmen und Adaptionen von Konzepten unterschiedlicher Provenienz
deutlich zum Vorschein kommen.
Ein solches differenziertes Beschreibungsmodell hat vor allem der aus Lemberg
stammende Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck ausgearbeitet. In seiner „Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“12 führte er am Beispiel der
Geschichte der Syphilis vor, wie die aktuelle serologische Erforschung einer Krankheit durch lang tradierte kulturelle und ethische Vorstellungen bestimmt wird. Es
ging ihm vor allem darum, aufzuzeigen, dass die Forschergruppen stets an den jeweils in ihrem Umfeld vorherrschenden Riten, Denk- und Beobachtungsweisen
teilhaben, und wie sich das auf die konkrete Laborpraxis und die Art des Experimentierens auswirkt. Damit brachte er ein heuristisches Modell in Anschlag, das
diachrone und synchrone Betrachtungsweisen miteinander verknüpft: Zum einen
ging er davon aus, dass das Wissen von Prä-Ideen, d.h. kulturellen Leitvorstellungen geprägt wird; Zum anderen nahm er an, dass die Prä-Ideen sich in bestimmten
Kontexten zu Denkkollektiven verdichten und via sozialer Praktiken spezifische
Denkstile ausbilden.13 Die Formierung und Fixierung eines bestimmten Wissens
ergibt sich somit durch eine Verflechtung von vielen historischen Ideengängen und
zwar jeweils an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt durch soziale Aktivitäten von Gruppen: „Die Ideengänge […] verknoten sich in ihrer aneinander anstoßenden Entwicklung und schaffen einen fixen Punkt. Dieser wird
zum Ausgangspunkt neuer Linien, die ringsherum sich entwickeln und wiederum
an andere anstoßen. Auch die alten Linien bleiben nicht unverändert: immer neue
Knoten entstehen und die alten Knoten verschieben sich gegenseitig. Ein Netzwerk
in fortwährender Fluktuation: es heißt Wirklichkeit oder Wahrheit.“14
Die Geschichte des Wissens präsentiert sich für Fleck nicht als Abfolge isolierter
Wissensbestände, die einer immanenten Logik folgen und von Zeit zu Zeit radikale Brüche oder Paradigmenwechsel erfahren. Viel mehr sei der Formierungs- und
Fixierungsprozess von Meinungen und Theorien durch kleine, fast unmerklich sich
vollziehende Verschiebungen bestimmt, die durch die Einführung von Metaphern
oder Vergleichen, aber auch durch die situativen Faktoren, wie Stimmungen, Rivalitäten, Austausch- und Ausgrenzungsprozesse verursacht werden. Das Wissen –
auch das vermeintlich objektive der Naturwissenschaften – erweise sich daher für
Fleck als kulturell und sozial vollständig determiniert. Die Theorie des Denkstils
und Denkkollektivs ist daher eine anschlussfähige Option für eine historische und
12 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die
Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am
Main, 1980. Vgl. dazu auch: Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und
Zeugnisse, hg. v. Sylwia Werner und Claus Zittel, Berlin, 2011. Ferner vgl. Aleida Assmann, „Geschichte findet Stadt“, in: Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem
„Spatial Turn“, hg. v. Moritz Csáky und Christoph Leitgeb, Bielefeld, 2009, S. 13-27; Randall
Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Harvard, 1998.
13 Vgl. Claus Zittel, „Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie“, in: Rivista Internazionale di Filosofia e Psicologia 1 (2014), S. 29-42.
14Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 12), S. 105.
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Bernd Stiegler/Sylwia Werner
systematische Untersuchung der Wissensproduktion. Sie erlaubt es, die komplexen
heterogenen, sich aus verschiedenen Traditionen und Stilen speisenden Entwicklungen geistesgeschichtlicher Phänomene minutiös zu beschreiben und dabei ihre
in verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufenden Formierungsprozesse in den Blick
zu bekommen.
Das Ziel dieses Bandes ist es, die in diversen mittel- und osteuropäischen Wissenskulturen entwickelten Konzeptionen auf ihre Modernität zu befragen und sie
dabei in den Kontext der sich dort jeweils überlagernden Stile zu stellen. So soll
beleuchtet werden, welche Themen, Motive, Begriffe und Wahrnehmungsweisen
in den lokalen Zirkeln jeweils zirkulierten, welche Einstellungen aus der Tradition
subkutan mit im Spiel waren und wie sie in verschiedenen Disziplinen und kulturellen Bereichen umgesetzt wurden. Zugleich aber sollen die kulturhistorischen
Rekonstruktionen der Wissenskultur einer Stadt auch die Wirkungen von externen
Mustern bzw. Konzepten für die am jeweiligen Ort geführten Debatten nachzeichnen.
Die leitenden Fragen der Beiträge dieses Bandes sind: Welche historischen Voraussetzungen und sozialen Bedingungen mussten erfüllt werden, damit ein Wandel
des Wissens am jeweiligen Ort möglich war? Welche Krisen traditioneller Erklärungsweisen wurden dabei diagnostiziert und welche neuen Spielräume für das
Experimentieren mit neuen Ideen und Wahrnehmungsweisen geschaffen? Welche
medialen Vermittlungsformen kamen dabei zum Einsatz? Gab es zwischen den jeweiligen Zentren Verbindungen personeller oder institutioneller Art? Wie wirkten
sie sich auf die ästhetische und wissenschaftliche Produktion aus? Kann man auch
im Hinblick auf die Naturwissenschaften von einer Moderne sprechen? Wie genau
verlief die wechselseitige Übernahme von Konzepten und Idealen zwischen den
Künsten und den Wissenschaften? Und schließlich: Welche neue Schlaglichter
wirft die Untersuchung der mittel- und osteuropäischen Modernen auch auf die
Wiener oder Berliner Moderne?
Die im vorliegenden Band präsentierten Aufsätze verbinden viele wissenschaftliche, ästhetische, politische und soziale Aspekte bzw. heben ihr enges, wechselseitiges, je spezifisches Zusammenspiel hervor. Zugleich zeigen sie auf, wie verschieden die jeweiligen Konzeptualisierungen der Modernen waren. So werden z.B. die
Rolle der Architektur in der Sozialpolitik (Friedrich Cain, Thomas Flierl), der
Kampf um die moderne Ästhetik in der Literaturwissenschaft (Schamma Schahadat, Manfred Weinberg), Kunst (Tanja Zimmermann) und Kunsttheorie und -philosophie (Sylwia Werner), der Transfer zwischen deskriptiver Psychologie und Literatur (Claus Zittel) oder auch die Funktion von Zeitschriften und Verlagen für die
Herausbildung von Avantgarden (Bernd Stiegler) exemplarisch beleuchtet. Ferner
wird ein Überblick über verschiedene Facetten der Modernität (Corbea-Hoisie)
sowie historische Traditionen im Formierungsprozess von Modernen in Mittelund Osteuropa (Moritz Csáky, Peter Stachel) gegeben. Dabei zeigt sich, dass die
Herausbildung von Konzepten nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern die in
einer Stadt verankerten epistemischen Praktiken immer auch in ihrem sozio-kulturellen Kontext zu verstehen sind.
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Peter Stachel
Versuchsstationen des Weltuntergangs
oder Laboratorien der Moderne?
Urbane Zentren der Habsburgermonarchie um 1900
Die Habsburgermonarchie galt im allgemeinen Verständnis und auch in der Sicht
der Geschichtswissenschaft lange Zeit als rückständiges Gebiet. Noch um 1900
lebte der weitaus überwiegende Anteil der Bevölkerung auf dem Land oder in Dörfern und Kleinstädten, die Landwirtschaft war der zahlenmäßig bei weitem bedeutendste Arbeitgeber. Freilich unterschied sich die Situation dabei nicht allzu sehr
von jener im benachbarten Deutschen Reich. Neuere Untersuchungen zur ökonomischen und industriellen Entwicklung der Habsburgermonarchie belegen zwar
ein gewisses Maß an „Rückständigkeit“ gegenüber Westeuropa, vor allem gegenüber den Mutterland der Industrialisierung, Großbritannien, dies lässt sich aber als
Teil eines generellen West-Ost-Gefälles in Europa erklären.1 Im kontinentalen Vergleich befand sich Österreich-Ungarn hinsichtlich der technischen Modernisierung
(Eisenbahnbau, Beleuchtung, Elektrifizierung, Industrialisierung, Kommunikationssystem) im guten Mittelfeld. Nachdem 1836 mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinien für dampfbetriebene Lokomotiven begonnen worden war, war bereits
zwei Jahrzehnte später – 1857 – eine Eisenbahnverbindung zwischen Wien und
der Hafenstadt Triest an der oberen Adria fertig gestellt; 1883 begann man mit der
Elektrifizierung des Eisenbahn- und in der Folge in den meisten Städten auch des
Straßenbahnsystems. Ähnlich rasch verlief die Errichtung der Telegraphen- und
später auch der Telefonverbindungen, sowie der Ausbau der Gastbeleuchtung:
1914 gab es in Wien nicht weniger als 45.000 öffentliche Gaslaternen, mit der Elektrifizierung der Straßenbeleuchtung wurde allerdings erst in der 1. Republik begonnen. Elektrische Raumbeleuchtung – erstmals bei der Pariser Weltausstellung
1878 vorgeführt – gab es in den „besseren“ Hotels um 1900 auch schon in den
Provinzstädten der Monarchie: Dass dieser Umstand in den Reiseführern der Zeit
meist eigens hervorgehoben wurde, kann allerdings als Hinweis gedeutet werden,
dass dies noch als Luxus und nicht unbedingt als Selbstverständlichkeit galt.2
Insgesamt präsentierte sich die Habsburgermonarchie um 1900 als ein in weiten
Teilen rural geprägtes Reich mit einigen großen und vielen kleinen urbanen Zentren. Moderne Kultur ist ihrer Genese nach aber wesentlich urbane Kultur: Die
1 Vgl. z.B.: David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750-1914, Wien/
Köln/Weimar, 1986.
2 Vgl. Roman Sandgruber, „The Electric Century. The Beginnings of Electricity Supply in Aus­
tria“, in: Fin de siècle and its Legacy, hg. v. Mikulaš Teich und Roy Porter, Cambridge, 1990,
S. 28-41; ders., Strom der Zeit. Das Jahrhundert der Elektrizität, Linz, 1992.
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Peter Stachel
Stadt ist der paradigmatische Ort sowohl der technisch-industriellen Modernisierung, als auch der intellektuellen und künstlerischen Moderne.3 Die Anfänge dessen, was unter dem Begriff „Technisierung der Lebenswelt“ zusammengefasst wird,
liegen im Entstehen der modernen technischen und städtebaulich-architektonischen urbanen Strukturen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.4 Es sind die
Städte oder deren näheres Umland in denen der überwiegende Teil der neuen Industriebetriebe entsteht, auch sind sie die Knotenpunkte des ökonomischen Austauschs, der Märkte, Börsen und Banken. Städte sind aber nicht nur technische
und architektonische, sondern vor allem auch soziale Strukturen. Unter urbaner
Kultur können die Wechselbeziehungen zwischen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen des sozialen Raumes „Stadt“ einerseits und konkret individuellen und gruppenspezifischen Sozialisations- und Lebensformen der städtischen
Ober- und Mittelschichten andererseits verstanden werden.5 „Kultur“ ist in diesem
Sinn keineswegs eine bloße „Ausdrucksform“ von Politik, vielmehr ein Feld, auf
dem gerade politische Konflikte ausgetragen und politische Territorien und Grenzen markiert werden können. Die intellektuelle und künstlerische „Moderne“ der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war im wesentlichen eine Hervorbringung
urbaner Netzwerke von Kunstproduzenten und -rezipienten: Die Städte sind der
Ort des intellektuellen und künstlerischen Austauschs und seiner Institutionen,
wie Theater, Zeitungen6, Verlage, Museen, auch Schulen und wissenschaftlicher
Einrichtungen.7 Mit der zunehmenden normativen Verbindlichkeit spezifisch moderner Lebensformen in den Ländern des westlichen und zentralen Europa (mit
den USA als Vorbild), der Ausdehnung der verkehrstechnischen Erschließung über
den städtischen Bereich hinaus, der quasi flächendeckenden Verbreitung des motorisierten Individualverkehrs und der elektronischen Massenmedien und Kommunikationsmittel, mag sich dieser einstmals eindeutige Zusammenhang mittlerweile
verwischt haben. Dennoch sind aus nachvollziehbaren Gründen die Städte bis
heute die Zentren der Repräsentativ- bzw. „Hochkultur“.
Die Ausprägung moderner urbaner Strukturen in Zentraleuropa8 ab der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts war von mehreren Motiven geleitet: Unzweifelhaft ging es
3 Vgl. u.a.: David Frisby, Cityscapes of Modernity, Cambridge, 2001; Friedrich Lenger, Metropolen
der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München, 2013.
4 Vgl. Sabine Haupt, Stefan Bodo Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart, 2008.
5Zum Begriff der „urbanen Leitkultur“ vgl.: Reinhard Kannonier, Helmut Konrad (Hg.), Urbane
Leitkulturen 1890-1914, Leipzig/Ljubljana/Linz/Bologna/Wien, 1995 (=Studien zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte 6); Christian Gerbel u.a. (Hg.), Urbane Eliten und kultureller Wandel, Bologna/Linz/Leipzig/Ljubljana/Wien, 1996 (=Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 9).
6 Für die urbanen Zentren der Habsburgermonarchie vgl. dazu: Vlado Obad (Hg.), Regionalpresse
Österreich-Ungarns und die urbane Kultur, Wien, 2007.
7 Vgl. Walter Prigge (Hg.), Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert, Frankfurt
am Main, 1992.
8 Vgl. zur Geschichte und Kultur der zentraleuropäischen Städte um 1900: Wilhelm Rausch (Hg.),
Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, Linz, 1983 (=Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 7); ders. (Hg.), Die Städte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert, Linz, 1984 (=Beiträge zur
Geschichte der Städte Mitteleuropas 8); Gerhard Melinz, Susan Zimmermann (Hg.), Wien – Prag
– Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche
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dabei zum einen um eine Reaktion auf neu entstandene oder auf technische Weise
neu und besser befriedigbare menschliche Bedürfnisse. Die konkreten Entwicklungsvoraussetzungen bestimmter Städte waren einerseits von der gegebenen städtebaulichen Struktur bestimmt (etwa von der Frage, ob es sich um eine Festungsstadt
handelte), andererseits von spezifischen regionalen Rahmenbedingungen, wie etwa
dem Vorhandensein überregionaler Institutionen oder der Anbindung an das Eisenbahnnetz, die wesentlich über die ökonomischen Entwicklungschancen einer Stadt
entschieden.
In der Regel stand hinter der Entstehung moderner urbaner Strukturen aber
auch ein bewusstes Konzept von Urbanität als soziokultureller Norm: Dieses äußerte
sich vor allem in der bewussten Anlehnung kleinerer Städte am Vorbild stilbildender Metropolen wie Paris oder London9, oder im Falle der Habsburgermonarchie,
der Haupt- und Residenzstadt Wien10, wobei die Zustimmung oder Ablehnung
bestimmter Vorbilder oftmals Einblicke in die politisch-mentale Lage einer Kommune gibt. So wurde etwa in vielen Städten der Monarchie das Wiener Konzept der
Stadterweiterung mit einer das historische Zentrum der Stadt umschließenden
Ringstraße und davon radial ausgehenden Verbindungsstraßen in die Vorstädte
nachgeahmt.11 Auch in der Wahl des architektonischen Stils für Repräsentativbauten diente oftmals Wien als Vorbild, insbesondere dann, wenn es sich um offizielle,
staatliche Bauprojekte handelte. Im Stadtbild vieler urbaner Zentren Zentraleuropas sind diese Gemeinsamkeiten bis heute in auffälliger Weise erhalten, sodass –
wenn auch mit Einschränkungen – durchaus von einem spezifisch zentraleuropäischen „Gesicht der Stadt“12 gesprochen werden kann. Andererseits konnte durch
die bewusste Ablehnung des Vorbildes Wien und die Orientierung an anderen internationalen Metropolen auch die politische Distanz zur Haupt- und Residenzstadt und damit zum politischen Zentrum des Vielvölkerstaates zum Ausdruck gebracht werden: Typisches Beispiel für eine solche Strategie ist das Budapester
Parlamentsgebäude (1884-1902), das nicht nur in seiner monumentalen baulichen
Größe (268 Meter lang, 100 Meter hoch, beinahe siebenhundert Räume) und der
bewussten städtebaulichen Gegenüberstellung zur königlichen Burg, sondern auch
Konflikte (1867-1918), Wien, 1996; Andrea R. Hofmann, Anna Veronika Wendland (Hg.), Stadt
und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900-1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallin und Triest, Stuttgart, 2002 (=Forschungen zur Kultur und Geschichte
des östlichen Mitteleuropa 14).
9 Vgl. Jonathan Schneer, London 1900. The Imperial Metropolis, New Haven/London, 2001.
10 Vgl. u.a.: Donald J. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt am Main/
New York, 1988.
11 Dazu ist anzumerken, dass die städtische Struktur Wiens sich von jener der Mehrzahl der zentraleuropäischen Städte in kennzeichnender Weise durch das Fehlen eines charakteristischen Burg­
berges und die weitgehende bautechnische Verdrängung des Flusses aus dem Stadtzentrum unterscheidet.
12 Vgl. dazu allgemein: Spiro Kostof, Das Gesicht der Stadt. Die Geschichte städtischer Vielfalt, Frankfurt am Main/New York, 1992; ders., Die Anatomie der Stadt. Geschichte städtischer Strukturen,
Frankfurt am Main/New York, 1993. Vgl. auch: Ákos Morvánszky, Die Erneuerung der Baukunst.
Wege zur Moderne in Mitteleuropa 1900-1940, Salzburg/Wien, 1988.
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in der stilistischen Anlehnung an das Parlamentsgebäude in London, den Anspruch
Budapests dokumentiert, als eigenständiges politisches Zentrum aufzutreten. Die
Orientierung am Vorbild London gerade bei der Errichtung des Parlamentsgebäudes erklärt sich dabei auch aus dem ungarischen Selbstverständnis, nach England
die zweitälteste Verfassung Europas zu besitzen. Umgekehrt orientierte sich etwa
Zagreb/Agram als Hauptstadt des zum Königreich Ungarn gehörenden Kronlandes
Kroatien und Slawonien städtebaulich ganz bewusst nicht am unmittelbar zuständigen politischen Zentrum Budapest, sondern gerade eben an Wien.13
Die Wahl eines architektonischen Stils für ein bestimmtes städtisches Gebäude
erfolgte im multinationalen Zentraleuropa also zumeist keineswegs primär aufgrund ästhetischer oder funktionaler Überlegungen, vielmehr wurde sie häufig als
Ausdruck der nationalen Identität der Stadt oder einer ganzen Region, als Instrument der Identitätspolitik und nationalpolitischen Markierung des öffentlichen
Raumes, aufgefasst.14 Das „Neobarock“, in seiner durch die Formensprache hergestellten historischen Verbindung zur Zeit der Türkenkriege und der Gegenreformation, galt als habsburgischer „Reichsstil“15, die „Neogotik“ war national deutsch,
die „Neorenaissance“ national tschechisch codiert. Auch die Verwendung von sogenannter „Volkskunst“ entnommener, ursprünglich textiler Ornamentik in der
Fassadengestaltung, wie sie insbesondere für bestimmte Richtungen der architektonischen Moderne in Zentraleuropa typisch ist, verweist auf den Zusammenhang
zwischen baulicher Gestaltung und nationalpolitischer „Reviermarkierung“.
Aus der Sicht des städtischen Bürgertums war es wichtig, nicht hinter einem
zunehmend als verbindlich anerkannten kulturellen Maßstab zurückzubleiben.
Kaum eine Stadt, die sich nicht um den Bau eines mehr oder weniger repräsentativen Stadttheaters oder Opernhauses bemühte, sodass das Architekturbüro Fellner
& Helmer16 recht gut davon leben konnte, halb Europa mit quasi standardisierten
Theatergebäuden zu überziehen. Auch das, in der Mehrzahl der Fälle allerdings
vergebliche Bemühen urbaner Zentren mittlerer und kleiner Größe, durch die
Neugründung einer Universität – als einem Signum weltoffener moderner Urbanität – eine Aufwertung zu erfahren und damit zugleich die Abwanderung der bildungswilligen und qualifizierten Jugend zu verhindern, bzw. umgekehrt die Zuwanderung zu fördern, fällt in diese Kategorie der „Städtekonkurrenz“, wobei
freilich in der spezifisch zentraleuropäischen Situation oftmals auch Überlegungen
nationaler Konkurrenz eine Rolle spielten und überdies wohl auch das Vorbild
Deutschlands wirkte, das aufgrund des historischen Erbes der Duodezfürsten 13 Vgl. u.a. Mirjana Gross, Die Anfänge des modernen Kroatien. Gesellschaft, Politik und Kultur in
Zivil-Kroatien und Slawonien in den ersten dreißig Jahren nach 1848, Wien/Köln/Weimar, 1993.
14 Vgl. insbes.: Anthony Alofsin, Architektur beim Wort nehmen. Die Sprache der Baukunst im Habsburgerreich und in seinen Nachfolgestaaten. 1867-1933, Salzburg, 2011.
15 Vgl. Peter Stachel, „Albert Ilg und die ‚Erfindung‘ des Barocks als österreichischer ‚Nationalstil‘“,
in: Barock – ein Ort des Gedächtnisses Interpretament der Moderne/Postmoderne, hg. v. Moritz
Csáky, Federico Celestini und Ulrich Tragatschnig, Wien/Köln/Weimar, 2007, S. 101-152.
16 Vgl. Gerhard M. Dienes (Hg.), Fellner & Helmer. Die Architekten der Illusion. Theaterbau und
Bühnenbild in Europa, Graz, 1999.
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tümer über eine vergleichsweise höhere Zahl an Hochschulen verfügte, als das seit
langem zentralisierte Bildungssystem der Habsburgermonarchie. Dieses Streben
nach politisch-kultureller Aufwertung konnte selbst auf den konfessionellen Bereich übergreifen, wo es sich etwa im Versuch der Etablierung der Stadt als Mittelpunkt einer eigenen Diözese äußerte; gerade die mit den politischen Grenzen zumeist nicht deckungsgleichen Grenzen der kirchlichen Territorien boten dafür
zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Wenn von städtischem Bürgertum die Rede ist, so muss betont werden, dass das
soziale Umfeld der künstlerischen und intellektuellen Moderne wie auch der ökonomisch-technischen Modernisierung im wesentlichen „bürgerlichen“ Ursprungs
ist, wobei die Übernahme dieser kulturellen Normen durch die politisch organisierte Arbeiterschaft eben nur die universale Verbindlichkeit dieser Wertvorstellungen belegt.17 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass der Begriff des städtischen Bürgertums zu dieser Zeit nur mehr wenig mit seiner mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Bedeutung als Bezeichnung einer genau umrissenen sozialen
Schicht von Besitzenden gemein hat, sondern im Grunde eine breites, vielfältig
differenziertes Spektrum abdeckt, das vom neuen Besitzadel einerseits, bis zum
Kleinbürgertum andererseits reicht und im Grunde nicht klar begrenzbar ist. Der
Begriff bürgerlich lässt sich in dieser Zeit vermutlich besser als ein Habitus, denn als
klar definierbare Klassenzugehörigkeit definieren, wobei nicht nur das Verfügen
über ökonomisches, sondern auch jenes über soziales und kulturelles Kapital („Besitz und Bildung“) zu berücksichtigen ist.18
Zunehmende soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft gilt, mindestens seit
den frühen Studien Georg Simmels (1858-1918), als ein wesentliches Element des
Modernisierungsprozesses und generell als ein Kennzeichen moderner Gesellschaften.19 Die horizontal verlaufenden Differenzierungsprozesse führten auch zu
veränderten Formen sozialer Wahrnehmung, die nicht zuletzt auch in der Kunst
der Moderne vielfältig vermittelten Ausdruck fanden – ohne dass sich diese freilich auf eine solche Art von „Ausdrucksfunktion“ reduzieren ließe. Was die spezifische Situation in Zentraleuropa besonders interessant macht, ist der Umstand,
dass die für den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess generell kennzeichnende Form horizontaler sozialer Differenzierungen durch eine auf regional gegebenen Bedingungen beruhende vertikale ethnisch-nationale Differenzierung in
ihrer Wirkung potenziert wurde. Deshalb wurden gerade in dieser europäischen
Großregion auch die Krisen und Defizite dieser Entwicklung früher wahrgenommen und analysiert als anderorts: Zentraleuropa wurde so gewissermaßen zu einem
17 Vgl. Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin, 1988.
18 Zu den Begriffen „Habitus“ und „kulturelles Kapital“ vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 7. Aufl., Frankfurt am Main,1994; ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main, 2000.
19 Vgl. Georg Simmel, „Über sociale Differenzierung“, in: ders., Aufsätze 1887-1890. Über sociale
Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main, 1989 [1892], S. 109295. Vgl. weiters: Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen, 1996.
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Laboratorium für die strukturellen, sozialen und kulturellen Probleme moderner
und in gewissem Sinne auch schon postmoderner Gesellschaften, in seinen Städten als Zentren dieser Entwicklungen wurden diese Versuchsanordnungen durchexerziert.20
Dies erklärt auch, warum in einer gegenüber dem Westen Europas vergleichsweise in einem permanenten „Nachholen“ von Entwicklungen begriffenen Region,
einige der Hauptorte der künstlerisch-wissenschaftlichen Moderne entstehen
konnten. Insbesondere der Haupt- und Residenzstadt Wien kam dabei eine führende Rolle zu, was sich mittlerweile in dem Topos „Wien um 1900“ zum Klischee
verfestigt hat. Ein erster Versuch einer Gesamtschau auf die politischen und künstlerisch-wissenschaftlichen Entwicklungen in Wien zur Zeit der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert wurde bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg von dem österreichischen Amateurhistoriker Albert Fuchs in seiner postum veröffentlichten Studie
Geistige Strömungen in Österreich 1867-191821 unternommen, blieb aber ohne Resonanz, wozu wohl auch der eher summarisch-aufzählende als problemorientierte
Zugang des Verfassers beigetragen haben dürfte. Auch eine erste Ausstellung Wien
um 1900 im Gebäude der Secession 1964 blieb ohne tiefergehende Wirkung. Die
heute in Wien auch touristisch vermarktete Trademark „Wien um 1900“ – mit der
sich, so die österreichische Tageszeitung Der Standard im Jahr 2012, ein „besitzerstolzer Blick auf Wien als beispielloses Laboratorium der Moderne“22 verbinde –
wurde freilich von externen Beobachtern erst in den 1970er Jahren geprägt, insbesondere von Autoren aus dem angelsächsischen Raum wie William McGrath23,
William M. Johnston24, Alan Janik und Stephen Toulmin25 und vor allem durch
den amerikanischen Historiker Carl Emil Schorske mit seiner bahnbrechenden
Studie Fin-de-siècle Vienna26 von 1980. Für ein breiteres, nicht wissenschaftliches
Publikum verfestigte sich der Topos insbesondere durch eine Reihe spektakulärer
Großausstellungen, unter anderem 1984 in Venedig27, unter dem Titel Traum und
Wirklichkeit. Wien 1870-1930 im Jahr 1985 in Wien28, in weiterer Folge 1986 im
20 Einige der bedeutendsten Innovatoren im Bereich moderner künstlerischer Ausdrucksformen in
Zentraleuropa waren nicht in den großen Metropolen, sondern in urbanen Zentren zweiter oder
dritter Ordnung tätig und in ihrem Schaffen wohl auch durch die jeweils spezifischen regionalen
Verhältnisse beeinflußt.
21 Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien, 1949.
22 Ronald Pohl, „Wien um 1900: Im Zweifel für die Klarheit“, in: Der Standard, 4.-5.02.2012, online: http://derstandard.at/1328162521851/Wien-um-1900-Im-Zweifel-fuer-die-Klarheit (letzter Zugriff: 10.02.2016).
23 William McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven, 1974.
24 Vgl. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im
Donauraum 1848 bis 1938, Wien/Köln/Graz, 1974 (=Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 1).
25 Vgl. Allan Janik, Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, 2. Aufl., München/Zürich, 1989.
26 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München, 1994 [engl. 1980].
27Vgl. Wien um 1900. Kunst und Kultur, Wien/München 1985.
28Vgl. Wien 1870-1930. Traum und Wirklichkeit, hg. v. Historischen Museum der Stadt Wien,
Wien, 1985.
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Centre Pompidou in Paris, 1987 im Museum of Modern Art in New York, danach
in Tokio und 1993 in Madrid.
Als erklärender Rahmen für die teilweise opulenten Darstellungen diente und
dient bis heute, ungeachtet einiger späterer Ergänzungen und Korrekturen29, die
Hypothese Schorskes, wonach sich die kulturelle Blüte des Wien um 1900 vor
allem aus der bewussten Ablehnung des robusten optimistischen Fortschrittsglaubens der liberalen Gründerzeit-Generation durch deren Söhne (und in einigen Fällen auch Töchter) interpretieren lässt. Während der Liberalismus als vorherrschende
politische Strömung zunehmend durch die verschiedenen, teilweise aggressiven
Nationalismen einerseits, sowie durch die aufkommende Sozialdemokratie andererseits abgelöst wurde, begannen die Exponenten der Jahrhundertwende-Generation die Grundlagen von Gesellschaft und Kultur mit wissenschaftlichen und
künstlerischen Mitteln kritisch zu analysieren und kamen dabei zu teilweise recht
pessimistischen Befunden.
Der klassizistische Dichter Friedrich Hebbel konnte in seinem am 26. Februar
1862 im Operntheater am Kärntnertor in Wien aufgeführten Prolog zur festlichen
Feier des Verfassungstages (1. Jahrestag des Februarpatents) noch zukunftsfroh dichten: „Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält, und
waltet erst bei uns das Gleichgewicht, so wird‘s auch in der andern wieder licht“30.
Der Hymnus auf die vermeintlich große Zukunft Österreichs, den der aus dem
damals zu Dänemark gehörenden Holstein nach Wien übersiedelte Hebbel formulierte, fiel beim Publikum auf fruchtbaren Boden, wenngleich Hebbel mit der Wirkung nicht gänzlich zufrieden war. In seinem Tagebuch notierte er, der Text habe
dem Publikum gefallen, bis auf jene Stellen, „wegen denen ich ihn allein geschrieben hatte“31 – nämlich jenen, in denen er seine Vision einer zukünftigen harmonischen Weltkultur beschworen hatte. Der eine Generation jüngere Karl Kraus sah
dagegen in Wien und Österreich eine „Versuchsstation des Weltuntergangs“32; formuliert wurde dieses Diktum wenige Tage vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, in Folge
dessen die Habsburgermonarchie zerfiel und Wien von der Haupt- und Residenzstadt eines Großreiches zur zu groß dimensionierten Hauptstadt eines Kleinstaates
wurde. Die Zitate von Hebbel und Kraus markieren gewissermaßen die beiden
Pole des von Schorske konstatierten Auseinanderfallens von zukunftsfrohem Fortschrittsoptimismus der Gründerzeit und pessimistisch-sezierendem Blick auf Krisenerscheinungen in der Zeit um 1900.
Die einschlägige Literatur zum Topos „Wien um 1900“ ist heute kaum mehr zu
überblicken; sie reicht von Überblicksdarstellungen in Monographien oder Sam-
29 Vgl. z.B. Hubert Ch. Ehalt u.a., Schorskes Wien. Eine Neuerfindung, Wien, 2013.
30Friedrich Hebbel, „Prolog zur festlichen Feier des Verfassungs-Tages“, in: ders., Sämmtliche
Werke, Historisch kritische Ausgabe 6, hg.v. Richard Maria Werner, Berlin, 1904-1907, S. 421.
31 Zit. nach Hayo Matthiesen, Hebbel, Reinbek, 1970, S. 113.
32 Karl Kraus, in: Die Fackel 400-403 (10. Juli 1914), S. 2.
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melbänden33, bis hin zu Einzelstudien zu Detailaspekten34, und umfasst auch eine
große Zahl von Zeitschriftenartikeln und akademischen Abschlussarbeiten. Auch
gibt es mittlerweile vergleichende Studien zu Wien und anderen Städten der Monarchie35, sowie auch beispielsweise zur Wiener und Berliner Fin-de-siècle-Kultur36
und es fehlt auch nicht an teilweise eher abwegigen Interpretationen des Phänomens „Wien um 1900“.37 Mittlerweile existieren auch Arbeiten zu anderen Metropolen der Habsburgermonarchie, wie etwa Budapest38 und auch Prag39, in denen
die Kultur des Fin de siècle im Überblick dargestellt wird, aber auch zu kleineren
regionalen Zentren sind vor allem seit 1989 entweder Studien zur Jahrhundertwendekultur oder allgemeine Überblicksdarstellungen, in denen auch im Detail
auf die Zeit um 1900 eingegangen wird, in deutscher oder englischer Sprache verfügbar gemacht worden.40
33 Vgl. als Auswahl: Alfred Pfabigan (Hg.), Ornament und Askese. Im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende, Wien, 1985; Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien, 1990; Hilde Spiel, Glanz und Untergang. Wien 1866 bis 1938, 2. Aufl.,
München, 1995; Massimo Cacciari, Dallo Steinhof. Prospettive viennesi del primo Novecento, Milano, 1980 (engl.: Posthumous People. Vienna at the Turning Point, Stanford, 1996); Jürgen
Nautz, Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse – Umwelt – Wirkungen, Wien/Köln/Weimar, 1996; Michael Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz,
1997; Roman Horak u.a., Metropole Wien. Texturen der Moderne, 2. Bde., Wien, 2000; Deborah
R. Coen, Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism and Private Life, Chicago/London,
2007. Vgl. auch die 24bändige Reihe: Studien zur Moderne des Grazer Spezialforschungsbereichs
Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, hg. v. Karl Acham, Moritz Csáky, Rudolf Flotzinger
u.a., Wien/Köln/Weimar (Bd. 1 und 2), Wien (Bd. 3 bis 24), 1996-2008.
34 Vgl. als ein Beispiel: Neda Bei (Hg.), Das lila Wien um 1900. Zur Ästhetik der Homosexualität,
Wien, 1986.
35 Vgl. z.B.: Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar, 2010.
36 Vgl. z.B. Peter Sprengel, Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien/Köln/Weimar, 1998.
37 Zu erwähnen ist hier beispielweise eine Studie des amerikanischen Historikers Robert W. Whalen, der „Wien um 1900“ wenig überzeugend als eine Art kollektives religiöses Erweckungserlebnis auffasst. Vgl. Robert Weldon Whalen, Sacred Spring. God and the Birth of Modernism in Fin de
siècle Vienna, Grand Rapids, 2007.
38 Vgl. John Lukacs, Budapest um 1900. Ungarn in Europa, Wien, 1990; Peter Hanák, Der Garten
und die Werkstadt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich Wien und Budapest um 1900, Wien/Köln/
Weimar, 1992; Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde,
Wien, 2003.
39 Vgl. Walter Schmitz, Ludger Udolf, Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900, Dresden, 2001;
Peter Demetz, Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt,
München, 2007, insbes. S. 467-539.
40 Vgl. in Auswahl z.B.: Claudio Magris, Angelo Ara, Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa, München, 1993; Renate Lunzer, Triest. Eine italienisch-österreichische Dialektik, Klagenfurt,
2002; Friedrich Bouvier, Helfried Valentinitsch (Hg.), Graz um 1900. Historisches Jahrbuch der
Stadt Graz 27/28, Graz, 1998; Eleonóra Babejová, Fin-de Siècle Pressburg. Conflict & Cultural
Coexistence in Bratislava 1897-1914, New York, 2003; Elena Mannová (Hg.), Bürgertum und
bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900-1939, Bratislava, 1997; zu Ossijek vgl. Vlado Obad,
Roda Roda und die deutschsprachige Literatur aus Slawonien, Wien/Köln/Weimar, 1996; Lutz
Henke, Grzegorz Rossolinski, Philipp Ther (Hg.), Eine neue Gesellschaft in einer alten Stadt. Erinnerung und Geschichtspolitik in Lemberg anhand der Oral History, Wrocław, 2007; Markian Pro-
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Viele der Städte der zentraleuropäischen Region waren pluri- oder multiethnische Gemeinschaften, beziehungsweise sie wurden es in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts aufgrund der ökonomisch bedingten, zahlenmäßig bedeutenden
Zuwanderung aus dem Umland oder auch der Großregion. Am stärksten fühlbar
war diese Entwicklung naturgemäß in den Großstädten, etwa in den beiden angehenden Millionenstädten Wien41 und Budapest, die zu dieser Zeit eine rasanten
Bevölkerungszuwachs verzeichneten; ähnliches gilt jedoch auch für Prag mit seinen
damals ungefähr 600.000 Einwohnern, für die Städte in der Größenordnung von
Graz, Lemberg, Triest, Ostrau, Brünn und Krakau mit jeweils ca. 200.000 Einwohnern und für kleinere regionale Zentren. In der Haupt- und Residenzstadt
Wien vergrößerte sich die Einwohnerzahl durch Zuwanderung und durch die ökonomisch und verkehrstechnisch begründete Anbindung der umliegenden Gemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von cirka 230.000 um 1800 auf cirka
470.000 im Jahr 1860, bei Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914 betrug sie bereits
über 2 Millionen; dies entspricht einer Verachtfachung der Bevölkerungszahl innerhalb von wenig mehr als einem Jahrhundert. Daraus folgt, dass die überwiegende Mehrzahl der um 1900 in Wien Ansässigen entweder in der ersten oder in
der zweiten Generation Zugewanderte waren, also entweder selbst von der „Perikopovych, Habsburg Lemberg. Architecture, Public Space, and Politics in the Galician Capital 17721914, Lafayette, 2009; Börries Kuzmany, Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar, 2011; Paulus Adelsgruber, Laurie Cohen, Börries Kuzmany (Hg.),
Getrennt und doch verbunden. Grenzstädte zwischen Österreich und Russland 1772-1918, Wien/
Köln/Weimar, 2011; Tamara Griessner-Pečar, Maribor/Marburg an der Drau. Eine kleine Stadtgeschichte, Wien/Köln/Weimar, 2011; Anna Lindner, Die werden lachen in Teplitz-Schönau. Die
wechselvolle Geschichte der berühmten k.u.k. Städte, St. Stefan im Lavanttal, 2013.
Insbesondere zur nachgerade mythologisierten Hauptstadt des Kronlandes Bukowina, Czernowitz, sind in den letzten Jahren zahlreiche wissenschaftliche und auch populärwissenschaftliche
Arbeiten erschienen: Otto Brusatti, Christoph Lingg (Hg.), Apropos Czernowitz, Wien/Köln/
Weimar, 1999; Harald Heppner (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt,
Köln/Weimar/Wien, 2000; Cecile Cordon, Helmut Kusdat (Hg.), An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte – Literatur – Verfolgung – Exil, Wien, 2002; Helmut Braun
(Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin, 2005; Zvi Yavetz, Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten, München, 2007; Ariane Afsari
(Hg.), Mythos Czernowitz. Eine Stadt im Spiegel ihrer Nationalitäten, Potsdam, 2008; Ion Lihaciu,
Czernowitz 1848-1918. Das kulturelle Leben einer Provinzmetropole, Kaiserslautern/Mehlingen,
2012; Noémi Kiss, Schräges Schmuckkästchen. Reisen in den Osten Europas: Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöllö – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina, Berlin/München/Wien, 2015.
Als nicht im Druck vorliegende akademische Abschlussarbeiten mit Überblicksdarstellungen zu
einzelnen Städten vgl.: Ulrike Tropper, Das kreative Milieu von Graz um 1900. Ein Beitrag zum
Kulturleben der Jahrhundertwende, Phil. Diss, Graz, 1994; Andrea Bäcker, Klagenfurt um 1900,
Phil. Dipl, Graz, 1999.
41 Vgl. Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien ein und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, 2. Aufl., Wien/Köln/Weimar, 1995; vgl. auch: Annemarie Steidl, „Ein attraktiver Anziehungspunkt für Zuwanderer aus ganz Europa. Wanderungsmuster nach Wien 1740-2010“, in: Sozialgeschichte Wiens 1740-2010, hg. v. Andreas Weigl, Peter
Eigner und Ernst Gerhard Eder, Innsbruck/Wien/Bozen, 2015, S. 375-434, für das 19. Jahrhundert insbes. S. 389-398; Walter Öhlinger, Wien im Aufbruch zur Moderne, Wien, 1999 (=Geschichte Wiens 5); Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert, Wien, 2000 (=Geschichte Wiens 6);
Jean-Paul Bled, Wien. Residenz – Metropole – Hauptstadt, Wien/Köln/Weimar, 2002.
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pherie“ der Monarchie in die Hauptstadt gezogen oder die erste in Wien geborene
Generation der Familie war. Zentren der Zuwanderung waren vorerst Böhmen
und Mähren, gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschob sich der Schwerpunkt der
Migrationsbewegung verstärkt in die östlichen Gebiete der Monarchie, wie Galizien und die Bukowina.
Zahlenmäßig bedeutend war neben der tschechischen besonders die jüdische Bevölkerungsgruppe, die sich in zwei mehr oder weniger deutlich voneinander abgrenzbare soziale Gruppen einteilen lässt. Einerseits ein „assimiliertes“ oder „assimilationswilliges“ Bürgertum, das sich vor allem kulturell aber teilweise auch politisch
als im nationalen Sinn „deutsch“ definierte. Gerade aus dieser Bevölkerungsgruppe
kamen auffallend viele künstlerische und wissenschaftliche Exponenten der Kultur
des „Wien um 1900“; andererseits die Gruppe der religiös-orthodox geprägten ostjüdischen Zuwanderer, deren Zahl insbesondere in den letzten Jahren der Monarchie, nicht zuletzt während des 1. Weltkrieges, als die östlichen Teile der Monarchie
Frontgebiet waren, zunahm. Um 1918 waren etwa 10% der Wiener Bevölkerung
jüdischer Herkunft, jedoch gehörte nur ein Teil davon der jüdischen Religionsgemeinschaft an.42
Die Bedeutung von bürgerlichen Intellektuellen und Künstlern „jüdischer Herkunft“ für die urbane Kultur Wiens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
verweist exemplarisch auf die oben angesprochene Pluralität und Inhomogenität von
sozialen Praktiken und „Identitäten“, die als wesentlicher Stimulus für künstlerische
und intellektuelle Innovationen betrachtet werden können. Dabei erscheint es wenig
sinnvoll, den Komplex „Wien um 1900“ retrospektiv als spezifisch „jüdisches“ Phänomen zu definieren, wie dies teilweise in der neueren Literatur versucht wurde43;
eine Behauptung, die etwa der Kunsthistoriker Ernst Gombrich (1909-2001), selbst
einer der letzten Repräsentanten des intellektuellen Klimas der Wiener Kultur der
Jahrhundertwende, massiv bestritten hat.44 Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade Intellektuelle jüdischer Abstammung in besonderem Maße von den für die
urbanen Kulturen der Region insgesamt kennzeichnenden Ambivalenzen und
Mehrdeutigkeiten existentiell betroffen waren. Formal waren den Juden in der
Habsburgermonarchie die bürgerlichen Rechte und die Möglichkeit zur vollen gesellschaftlichen Partizipation schon unter Joseph II. im ausgehenden 18. Jahrhun 42 Zur Geschichte der Juden Wiens, insbesondere vor und um 1900, vgl. u.a.: Hans Tietze, Die
Juden Wiens. Geschichte – Wirtschaft – Kultur, Wien/Leipzig, 1933 (Nachdruck: 1987); Marsha L.
Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien/Köln/Weimar, 1988;
Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak (Hg.), Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit
dem 19. Jahrhundert, Buchloe, 1990; Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser
Franz Josephs, Wien/Köln/Weimar, 1999. Zur Bedeutung „jüdischer“ Kulturschaffender für die
Kultur der Jahrhundertwende in Wien vgl. Leon Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur
Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938, Wien/Köln, 1991; Leon
Botstein, Werner Hanak (Hg.), quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien, Wien, 2003.
43 Vgl. z.B. Steven Beller, Wien und die Juden 1867-1938, Wien/Köln/Weimar, 1993.
44 Vgl. Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung,
Wien, 1997; vgl. auch die Zustimmung zu Gombrichs Ausführungen in: Eric J. Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München/Wien, 2003, S. 28, weiters S. 39-43.
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dert zugestanden worden. Das Tor für die von der Aufklärung versprochene und von
der überwiegenden Mehrzahl der bürgerlichen Juden angestrebte kulturelle Assimilation stand also scheinbar weit offen, real jedoch mussten gerade die jüngeren „jüdischen“ Intellektuellen erleben, dass diese „Zugeständnisse“ von Seiten der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung als nur bedingt gültig und jederzeit zurücknehmbar
interpretiert wurden. Dies äußerte sich etwa an den zwar zumeist unausgesprochenen, dabei jedoch prinzipiellen Hemmnissen, die einer Karriere jüdischer Intellektueller innerhalb der akademischen Institutionen entgegenstanden.
In der Tat entsprachen viele der „jüdischen“ Intellektuellen Zentraleuropas, dem
vom deutsch-jüdischen Soziologen Georg Simmel – wohl von vorne herein mit Blick
auf die Juden innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – formulierten sozialen Typus
des Fremden, der „heute kommt und morgen bleibt“45 und als Fremder dennoch ein
Element der Gruppe ist, und zwar eines, das „zugleich ein Außerhalb und ein
Gegenüber“46 einschließt. Ein so definierter Fremder sei nach Simmel in der Lage,
die unausgesprochenen Grundlagen der sozialen und kulturellen Ordnung mit besonderer Hellsichtigkeit zu analysieren, da er im Gegensatz zu dem fest und ausschließlich innerhalb einer Kultur Verankerten nicht dafür anfällig sei, die soziokulturellen Gegebenheiten als naturgegeben und damit unwandelbar aufzufassen.
Soziokulturelle „Fremdheit“ im Sinne Simmels zielt somit nicht auf die additive
Zugehörigkeit zu mehreren sozialen Gruppen ab, vielmehr auf eine prinzipielle Verunsicherung in Bezug auf die eigene „Gruppenzugehörigkeit“, eine Art von soziokultureller „Entfremdung“, die man auch als eine „verletzte Identität“47 definieren
könnte. Allerdings verweist gerade der Blick auf die „jüdischen“ Repräsentanten der
Wiener Jahrhundertwendekultur auf die Defizite eines kulturwissenschaftlichen
„Identitäts“-Begriffs als eines „great conceptual melting-pot“48, mit dem oftmals
nicht angemessen zwischen Selbst- und Fremddefinition, zwischen objektiven Kriterien und subjektiven Empfindungen und zwischen expliziten Bekenntnissen und
unbestimmt bleibenden, situationsabhängigen Gefühlen der Zugehörigkeit zu einer
soziokulturellen Gruppe unterschieden wird.49
Die Befindlichkeit einer prinzipiellen Nichtzugehörigkeit war einem großen Teil
der Intellektuellen Zentraleuropas gemeinsam. Dies resultierte aus der Erfahrung,
dass das zeitgenössische Vokabular soziokultureller Zuordnungen – sprachlichethnisch-national bestimmt – eine klare Selbstdefinition nur um den Preis der Unterdrückung von konstitutiven Merkmalen der eigenen Identität zuließ. Im Falle
45 Georg Simmel, „Der Fremde“, in: ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v.
Michael Landmann, Frankfurt am Main, 1987 [1908], S. 63-70, hier S. 63.
46 Ebd., S. 63f.
47 Vgl. Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität (wie Anm. 33). Vgl. auch: David A. Brenner, The
Invention of Jewish Ethnicity in „Ost und West“, Detroit, 1998, insbes. S. 15-53.
48Rogers Brubaker, Frederick Cooper, „Beyond ‚identity‘“, in: Theory and Society 29 (2000),
S. 1-47, hier S. 20.
49 Vgl. Peter Stachel, „Identität. Genese, Inflation und Probleme eines für die zeitgenössischen Sozial- und Kulturwissenschaften zentralen Begriffs“, in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005) 2,
S. 395-425.
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der „jüdischen“ Intellektuellen kam jedoch noch hinzu, dass sie selbst dort, wo sie
bereit waren diesen Preis zu zahlen, von jener Kultur, der sie sich als zugehörig definierten, auf ihr „Judentum“ verwiesen wurden, ja dass gerade der Versuch einer
möglichst virtuosen Beherrschung des identitätsbestimmenden kulturellen Vokabulars als ein kennzeichnender Ausdruck vermeintlich typisch „jüdischer Identität“
uminterpretiert wurde.50 Dass aber gerade die unmittelbar erlebte Erkenntnis der
Unsicherheit der eigenen soziokulturellen Identität besonders hellsichtig für die
Einsicht in die „Gemachtheit“ sozialer und kultureller Regeln und für kulturelle
Ambivalenzen machen kann, erscheint nachvollziehbar.51
Einer der prominentesten Repräsentanten der Kultur des Wien um 1900, Sigmund Freud (1856-1939), führte dazu im Jahr 1926 in einer Rede vor dem jüdischen Verein B’nai B’rith aus: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen
Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich
dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der
,kompakten Mehrheit‘ zu verzichten.“52 In diesem Sinn können gerade die Künstler und Intellektuellen „jüdischer Abstammung“ als typische Repräsentanten der
zentraleuropäischen urbanen und „modernen“ Kultur“ um 1900 verstanden werden: Nicht weil sie in einem wie auch immer definierten „essentiellen“ Sinn „jüdisch“ waren, sondern weil sie in idealtypischer Weise die kulturelle und ethnische
Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Region erlebten, erlitten und eben auch reflektierten.
Die demographische Entwicklung Budapests, der Hauptstadt des Königreichs
Ungarn, ab 1867 der „ungarischen Reichshälfte“, verlief noch dramatischer als jene
Wiens. Budapest war um 190053 eine der am schnellsten wachsenden Städte der
Welt: Lebten um 1800 auf dem Gebiet des späteren Budapest, also in den drei Gemeinden Buda (= Ofen), Obuda (= Altofen) und Pest(h), gerade etwa 50.000 Menschen, so hatte die 1873 entstandene neue Stadt Budapest zum Zeitpunkt ihrer
Gründung bereits 300.000 Einwohner, 1910 war die Bevölkerungszahl bereits auf
900.000 angewachsen, was einer Verachtzehnfachung (!) der Einwohnerzahl innerhalb von wenig mehr als einem Jahrhundert entspricht. In den folgenden sieben
Jahrzehnten sollte sich die Einwohnerzahl nochmals auf über 2 Millionen mehr als
verdoppeln. Um 1910 waren ziemlich genau zwei Drittel der in Budapest Ansässigen nicht in Budapest geboren, sondern zugewandert, und noch in der Volkszählung des Jahres 1870 gab eine absolute Mehrheit von 54% der Einwohner Budapests eine andere Sprache als Ungarisch als Muttersprache an. In den folgenden
Jahrzehnten verschoben sich diese Werte sukzessive, nicht zuletzt aufgrund des
50 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am
Main, 1995, insbes. S. 163-177.
51 Vgl. u.a. Jacques Le Rider, „Krisen der jüdischen Identität“, in: ders., Das Ende der Illusion (wie
Anm. 33), S. 259-408.
52 Sigmund Freud, „Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith“, in: ders., Gesammelte
Werke, Bd. 17, hg. v. Anna Freud u. Mit. v. Marie Bonaparte, London, 1941 [1926], S. 52.
53 Vgl. Thomas Bender, Carl E. Schorske (Hg.), Budapest and New York. Studies in Metropolitan
Transformation 1870-1930, New York, 1994, insbes. S. 1-28.
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starken, in der Hauptsache bildungspolitisch durchgesetzten Magyarisierungsdrucks: Dass dies nicht ohne massive politische Spannungen abgehen konnte, ist
evident. Für ungarische Nationalisten galt Budapest in der Regel als „nationalkultureller“ Fremdkörper, dem ein romantisiertes „Ungarntum“, das sich vermeintlich besonders in der Bevölkerung der Tiefebene ausdrückte, als normstiftendes
Ideal gegenübergestellt wurde. Genau entsprechend argumentierten deutschnationale Eiferer in Wien, dass die Stadt durch die massive Zuwanderung ihren vermeintlich „genuin deutschen“ Charakter zu verlieren drohe und die gebetsmühlenartig wiederholte Versicherung, dass Wien eben doch eine „deutsche Stadt“ sei,
lässt sich unschwer als Reflex auf dahinterstehende „Überfremdungsängste“ identifizieren. Die durch den rasanten ökonomischen und auch demographischen Wandel verursachten Verunsicherungen brachen sich in Form ausgrenzender und fremdenfeindlicher Strategien Bahn. Der aus den ökonomischen Veränderungen als
neue soziale Schicht hervorgegangene „neue Mittelstand“, der sich aus Vertretern
von Gewerbe, Handwerk und Kleinhandel rekrutierte, begegnete der Angst vor der
eigenen „Proletarisierung“, dem allgegenwärtig drohenden ökonomischen und sozialen Abstieg, einerseits durch eine scharfe soziale Abgrenzung gegenüber dem
zumeist in den tristen sozialen Verhältnissen der „Vorstädte“ lebenden Industrie­
proletariat, andererseits durch besondere Empfänglichkeit für radikale Parolen, die
„Sündenböcke“ für defizitär empfundene Auswirkungen des rasanten ökonomischen Wandels namhaft machten: So erwies sich zum Beispiel in Wien die antisemitische Propaganda der Christlichsozialen Partei des populären Bürgermeisters
Karl Lueger (1844-1910) als in fataler Weise langfristig wirksam.54
Die für die Entstehung moderner Gesellschaften allgemein üblichen soziokulturellen Differenzierungsprozesse wurden also, wie bereits erwähnt, in Wien und Budapest – und auch, wenn auch in teilweise verringertem Ausmaß, in vielen kleineren und regionalen urbanen Zentren der Monarchie – durch die in der Großregion
vorhandene ethnisch-kulturelle Heterogenität potenziert. In der zentraleuropäischen Region war man in der Tat bereits vor mehr als einem Jahrhundert mit
Problemen konfrontiert, die heute global sichtbar und spürbar sind: Migrationsbewegungen, daraus resultierend Multikulturalität und, als Reaktion darauf, Gegenbewegungen, wie kulturelle Ghettobildungen und (nationale) Parallelgesellschaften, Überfremdungsängste und daraus erwachsende Ausgrenzungsstrategien.
Gerade diese Ab- und Ausgrenzungsstrategien der Zeit um 1900 sollten sich als
besonders „fruchtbar“ erweisen: Das heutzutage so gerne tourismusfördernd präsentierte Bild der kulturellen Blüte des „Wien um 1900“ bleibt unvollständig,
wenn man nicht hinzufügt, dass „Wien um 1900“ eben nicht nur die Stadt Freuds,
Klimts, Mahlers und der Wiener Werkstätte war, sondern auch die Stadt des be-
54 Zu Lueger vgl. John Boyer, Karl Lueger (1844-1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien/
Köln/Weimar, 2010; Vgl. allgemein: Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien, 1993; Janek Wassermann, Black Vienna. The
Radical Right in den Red City, 1918-1938, Ithaca, 2014.
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wusst politisch instrumentalisierten Antisemitismus Luegers und auch jene Stadt,
in der der junge Adolf Hitler Teile seiner ideologischen Prägung erfuhr.55
Dieser Befund lässt sich verallgemeinern: Der das ganze Staatswesen der Habsburgermonarchie in fundamentaler Weise bestimmende „Nationalitätenkonflikt“
wurde vor allem in den Städten ausgetragen. Dies gilt in besonderer Weise für viele
Städte in den teilweise slawisch besiedelten Kronländern der Monarchie. Typisch
für zahlreiche urbane Kommunen der Habsburgermonarchie ist in der Zeit um
1900 der Konflikt zwischen konkurrierenden national definierten Modellen soziokultureller urbaner Identität. Das alteingesessene, politisch und kulturell dominante städtische Bürgertum definierte sich selbst zumeist als kulturell und national
„deutsch“ und in der ungarischen Reichshälfte zunehmend „magyarisch“; die kulturelle Superiorität der als durch diese Sprachen definiert gedachten „nationalen“
Kulturen gegenüber den Kulturen der tschechischen, slowakischen, slowenischen,
kroatischen und so weiter Mittel- und Unterschichten wurde als selbstverständlich
gegeben angesehen. In den Städten Galiziens wurde diese kulturelle Hegemonie
von der polnischen Oberschicht in analoger Weise gegenüber der ruthenischen (=
ukrainischen) Bevölkerung ausgeübt. Soziale Unterschiede wurden als kulturell
vorgegeben imaginiert und dadurch gerechtfertigt und – der Absicht nach – stabilisiert. Die slawischen Sprachen (mit Ausnahme des Polnischen in Galizien) wurden von der städtischen Ober- und Mittelschicht in hegemonialer Weise als minderwertige, für „höhere“ Kultur ungeeignete „Dienstbotensprachen“ abqualifiziert.
Die wirtschaftlichen Veränderungen und die damit einhergehenden Migrationsprozesse, insbesondere die stetige Zuwanderung der mehrheitlich slawischen Landbevölkerung in die Städte der Region, führte jedoch in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts sukzessive zu demographischen Verschiebungen und in weiterer
Folge in vielen Städten zur Entstehung eines slawischen städtischen Bürgertums,
das sich zunehmend national definierte und als kulturelle und auch politische Konkurrenz gegenüber den bislang vorherrschenden städtischen Eliten zu etablieren
suchte. In extremen Fällen – Prag56, die drittgrößte Stadt der Monarchie kann hier
als Beispiel dienen – konnte dies zu einer Aufspaltung des sozialen Netzwerks
„Stadt“ in zwei scharf voneinander abgegrenzte nationale Parallelgesellschaften
führen, doch auch in jenen Städten, wo diese Entwicklung nicht derart radikal
verlief, kam es zur Entstehung konkurrierender, jeweils national definierter sozialer
und kultureller Institutionen.
Zu den Hauptinstrumenten der Austragung nationaler Konkurrenz in den Städten gehörten, als juridisch zugelassene Institutionen staatsbürgerlicher Selbstorganisation, insbesondere die Vereine. Kulturvereine – wie etwa Theater- oder Gesangsvereine –, aber auch Turnvereine und ähnliche Organisationen organisierten
55 Vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, Wien, 1996.
56 Vgl. allgemein: Adolf Karger, „Prag und die nationale Identität“, in: Der Bürger im Staat 9 (1997)
2, S. 90-96; Monika Glettler, „Die böhmischen Länder und Österreich von 1848 bis 1914“, in:
Prag. Wien. Zwei europäische Metropolen im Lauf der Jahrhunderte, hg. v. d. Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, 2003, S. 35-71.
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sich durchwegs national und dokumentierten dies zumeist auch in der Namensgebung oder in der ausdrücklichen Selbstdefinition als einer bestimmten Nationalität
zugehörig. Auch wenn es dabei fallweise durchaus zu Kooperationen über die nationalen Grenzen hinwegkommen konnte – im Bereich der Kulturvereine so etwas
wie ein allgemein gültiger Kanons repräsentativer Werke, im Bereich wissenschaftlicher Vereine ein verbindliches Ideal wissenschaftlichen Arbeitens oder Sammelns
existierte – sahen diese Vereine ihre primäre Funktion doch zumeist darin, die als
national „eigene“ definierte „Hochkultur“ und das Schaffen repräsentativer nationaler „Kunstheroen“ zu pflegen, mithin nationales „Territorium“ innerhalb der
urbanen Kultur der jeweiligen Stadt und Region zu markieren: Augenfälligster
Ausdruck dieses Bestrebens sind die nationalen Vereinshäuser, die diesen Anspruch
auch optisch im Stadtbild dokumentierten.
Besondere nationalpolitische Bedeutung kam einerseits vor allem den überregional organisierten Schulvereinen, andererseits jenen Vereinen zu, die sich zum
Zweck der Gründung bestimmter kultureller Institutionen – wie etwa Theater und
Museen – oder der Errichtung von Denkmälern formierten. Die gesetzliche Festlegung der jeweiligen Unterrichtssprache in Schulen und Hochschulen wurde allgemein als ein primäres Definitionsmerkmal der nationalen Identität einer Stadt und
einer Region angesehen und war ein dementsprechend heftig umkämpftes Politikum; so wurde die Abspaltung einer eigenen tschechischen Universität (Klementinum) von der bis dahin deutschsprachigen Universität (Karolinum) in Prag im Jahr
1882 von der tschechischen Nationalbewegung als besonderer Erfolg gefeiert. Die
Ergebnisse der regelmäßig alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen, auf
denen diese Festlegungen basierten, waren ihrerseits bereits das Produkt politischer
Auseinandersetzungen. Dies hatte seine Ursache auch darin, dass der amtliche Begriff der „Umgangssprache“ nicht genau definiert wurde und daher unterschiedlich
ausdeutbar war: Zum einen konnte darunter die mehrheitlich im Alltag verwendete Sprache verstanden werden, was implizit auf eine sprachliche Majorisierung
von Minoritäten hinauslief, zum anderen konnte damit aber ebenso ein bewusstes
Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität verbunden werden (was im Extremfall darauf hinauslief, dass eine „Umgangssprache“ angegeben
werden konnte, die der Befragte gar nicht beherrschte). Wiewohl die Feststellung
der „Umgangssprache“ aus offizieller Sicht ausdrücklich nicht als Frage nach der
nationalen Zugehörigkeit definiert wurde – weswegen auch eine derart unscharfe
Begrifflichkeit gewählt wurde –, dienten die so gewonnen statistischen Werte dennoch als Grundlagen politischer Entscheidungen, wie eben der Festlegung der Unterrichtssprache in Schulen; überdies konnte auch nur eine einzige Sprache als jeweilige Umgangssprache angegeben werden, wodurch die soziale Praxis von
Mehrsprachigkeit von vorne herein aus der Erhebung ausgeschlossen wurde. Für
Verdächtigungen und Druckausübung, Manipulationen und Manipulationsvorwürfe, war aufgrund dieser Voraussetzungen breiter Raum gegeben.57
57 Vgl. Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die
Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Graz, 1982 (=Veröffentli-
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In dieser Situation verstanden sich die national organisierten Schulvereine als
Speerspitzen des Nationalitätenkampfes. Der „Gewinn“ oder „Verlust“ einer Schule
wurde als Gewinn oder Verlust nationalen Territoriums aufgefasst, wobei ursprünglich regionale Auseinandersetzungen keineswegs auf die regionale Ebene beschränkt
blieben, sondern durch ein Netzwerk von Unterstützern weite Kreise zogen. So
waren etwa die regionalen deutschen Schulvereine in der vom späteren sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten Engelbert Pernerstorfer (1850-1918) im Jahr
1880 gegründeten Dachorganisation des Deutschen Schulvereins organisiert, der
sich die Förderung der Errichtung und Erhaltung deutschsprachiger Schulen im
Bereich der „Sprachgrenzen“58 zur Aufgabe setzte und sich ab 1886 in mehrere
Teilorganisationen aufspaltete.
Ein exemplarisches Beispiel für die überregionale Bedeutsamkeit derartiger
Konflikte ist der sogenannte Cillier Schulstreit von 1895: Da bei den in der Untersteiermark für das Schuljahr 1895/96 neu angemeldeten Gymnasiasten eine deutliche Mehrheit von slowenischsprachigen Schulanfängern gegeben war, unterstütze
die Wiener Zentralregierung die Einrichtung einer slowenischen Parallelklasse am
Gymnasium von Cilli/Celje (heute Slowenien), einem von vier bis dahin rein
deutschsprachigen Gymnasien der Untersteiermark. Der massive Widerstand des
in der Untersteiermark tätigen Deutschen Schulvereins Südmark konnte bis in den
Wiener Reichsrat getragen werden, wo eine Koalition aus Deutschliberalen, Deutschnationalen und Christlichsozialen das Projekt und damit zugleich die Regierung zu
Fall brachte. Dass der Streit um Slowenisch als zweite Unterrichtssprache am Gymnasium einer unbedeutenden Kleinstadt wie Cilli derart weitreichende Folgen nach
sich ziehen konnte, belegt nachdrücklich die politische Brisanz derartiger regionaler Konflikte.
Nicht minder konfliktträchtig war die Rolle von Vereinen, die sich die augenfällige repräsentative Markierung von nationalem Territorium im öffentlichen Raum
der Städte zum Ziel setzte: Im Besonderen sind hier jene Organisationen zu nennen, die sich der Errichtung von Denkmälern widmeten. Gerade Denkmäler59 und
chungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 72); Adam Wandruschka, Peter Urbanitsch (Hg.), Die Völker des Reiches, 2 Bde., Wien, 1980 (dies., Die Habsburgermonarchie 18481918, Wien, seit 1973); Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien, 1985; Flemming Talbo Stubkjaer,
„Nationalitätenkonflikte in der Monarchie als Kampf um die Sprache“, in: Österreich. Kultur
und Identität – heute und vor hundert Jahren, hg. v. dems., Odense, 2000 (=Schriften der Österreichischen Abteilung der Süddänischen Universität 1), S. 85-106.
58 Zum Begriff der Sprachgrenze vgl. Pieter M. Judson, „Versuche um 1900 die Sprachgrenze sichtbar zu machen“, in: Die Verortung von Gedächtnis, hg. v. Moritz Csáky und Peter Stachel, Wien,
2001, S. 163-173.
59 Vgl. Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationalsymbole in Frankreich und Deutschland
im 19. Jahrhundert, Göttingen, 1995; Jürgen Trimborn, Denkmale als Inszenierungen im öffentlichen Raum, Köln, 1997; Stefan Riesenfellner (Hg.), Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien/Köln/Weimar, 1998; Biljana Menkovic, Politische Gedenkkultur. Denkmäler – die Visualisierung politischer
Macht im öffentlichen Raum, Wien, 1999; Rudolf Jaworski, „Denkmäler als Gedächtnisorte und
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Denkmalensembles, aber auch national codierte Plätze und Straßennamen60 können als bewusst gesetzte Zeichen im öffentlichen Raum verstanden werden, denen
zumeist ein auf ein Kollektiv bezogenes Narrativ eingeschrieben ist.61 Sie sind
somit als absichtsvolle Visualisierungen einer erwünschten oder verordneten kollektiven Identität, als visuelle Instrumente öffentlicher Identitätspolitik, analysierbar.62
Politische Repräsentationen und Inszenierungen im öffentlichen Raum gehörten
in ganz Europa traditionellerweise zum bewährten Repertoire medialer Vermittlung
weltlicher und geistlicher Macht. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieben derartige
Strategien symbolischer Repräsentation jedoch von gesellschaftlich und temporär
begrenzter Reichweite. Dies änderte sich grundlegend mit der Entstehung der modernen Gesellschaft, mit der Herausbildung einer dauerhaft etablierten politischen
Öffentlichkeit in Verbindung mit beschleunigten Urbanisierungsprozessen, zunehmender Demokratisierung und Bürgerkultur sowie der einsetzenden Nationalisierung der Massen seit Ausgang des 18., verstärkt seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der
öffentliche Raum, in besonderer Weise der städtische öffentliche Raum, diente
fortan nicht nur der Repräsentation von Herrschaft, sondern wurde in zunehmendem Maße für Manifestationen kollektiver Identifikationsprogramme genutzt63
und so zu einem gerade in Zentraleuropa kontrovers beanspruchten Forum und
Austragungsort politischer, insbesondere nationalpolitischer Ideologien.
Viele der Denkmäler, die in den zentraleuropäischen Städten in der Zeit um
1900 errichtet wurden, sind später – nach 1918, nach 1945 – abgetragen worden64;
einige wenige davon sind mittlerweile – insbesondere nach 1989 – auch wiederaufgestellt worden. Straßen und Plätze haben in den vergangenen eineinhalb Jahrhunals Gegenstand der Forschung. Regionale und vergleichende Aspekte“, in: ders., Witold Molik
(Hg.), Denkmäler in Kiel und Posen, Kiel, 2002, S. 10-22.
60 Vgl. Dietz Bering, „Das Gedächtnis der Stadt. Neue Perspektiven der Straßennamenforschung“,
in: Onomastik 1: Chronik, Namenetymologie und Namengeschichte, Forschungsprojekte, hg. v. Dieter Kremer, Tübingen, 2002, S. 209-225; ders., Klaus Grosssteinbeck, „Die Kulturgeschichte von
Straßennamen. Neue Perspektiven auf altem Terrain, gewonnen am Beispiel Köln“, in: Muttersprache (1994), S. 97-117; ders., Marion Werner, „Wegbeschreibungen. Entwurf eines Kategorienrasters zur Erforschung synchroner und diachroner Straßennamenkorpora“, in: Zeitschrift für
germanistische Linguistik 27 (1999), S. 135-166.
61 Zur „Lesbarkeit“ der Stadt vgl.: Karlheinz Stierle, „Die Lesbarkeit der Stadt. Annäherungen an
eine Sehweise“, in: ders., Der Mythos von Paris, München, 1993, S. 12-50; David Frisby, „The
Metropolis as Text: Otto Wagner and Vienna’s ‚Second Renaissance‘“, in: Renaissance and Modern
Studies 40 (1998), S. 1-16; Karl Schlögel, Moskau lesen. Die Stadt als Buch, Berlin, 2000; Peter
Glasner, Die Lesbarkeit der Stadt. Kulturgeschichte und Lexikon der mittelalterlichen Straßennamen
Kölns, 2 Bde., Köln, 2002. Vgl. auch methodisch: Jurij M. Lotman, „Über die Semiosphäre“, in:
Zeitschrift für Semiotik 12 (1990) 4, S. 287-305.
62 Vgl. Catarina Chietti, „Identitäten im Stadtbild“, in: Die alte Stadt 29 (2002) 4, S. 275-289; vgl.
auch: Wolfgang Sonne, „Die Stadt und die Erinnerung“, in: Daidalos (Dezember 1995), S. 90100.
63 Vgl. Rudolf Jaworski, Peter Stachel (Hg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze,
Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin, 2007.
64 Vgl. Winfried Speitkamp (Hg.), Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, Göttingen, 1997.
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derten in den urbanen Zentren Zentraleuropas nicht selten ihre Namen gewechselt
und auch in der weniger flexiblen Struktur der Städte, nämlich der verkehrstechnischen und architektonischen, ist es zu mannigfaltigen Veränderungen gekommen.
Dass viele Städte Zentraleuropas sich aber über die Zeiträume nationaler Gegensätze, Konflikte und Kriege hinweg ein erkennbar ähnliches „Gesicht“ erhalten
haben, verweist auf gemeinsame oder zumindest vergleichbare historische Erfahrungen spezifisch moderner Urbanisierungsprozesse in dieser Region.
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