Die ökonomische Dimension - Prof. Dr. Reinhard Rode

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MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG
PROFESSUR FÜR INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN UND
DEUTSCHE AUßENPOLITIK
Hallenser IB-Papier 3/2006
Reinhard Rode
Europäisches oder atlantisches Deutschland:
Die ökonomische Dimension
Erscheint in: Thomas Jäger u. a. (Hg.), Deutsche Außenpolitik,
VS Verlag, 2006.
e-mail: [email protected]
website: http://www.politik.uni-halle.de/rode
2
1
Traditionelle stabile transatlantische Beziehungen als
Grundmuster deutscher Politik
Die Nachkriegstradition deutscher Außenpolitik kannte stabile gute transatlantische
Beziehungen als ein Grundmuster ihres Selbstverständnisses. Die Westbindung galt
seit der Ära Adenauer als unangefochtene solide Säule der Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Sie hatte also von vornherein eine politische und eine wirtschaftliche
Logik. Nur Amerika konnte im Ost-West-Konflikt wirklich Schutz garantieren und
amerikanische Rezepte galten als unverzichtbarer Baustein des deutschen Wirtschaftswunders. In der Spannung zwischen der europäischen und der atlantischen Orientierung lag kein wirklich tiefgehendes politisches und wirtschaftliches Konfliktpotential. „Atlantiker“ und „Gaullisten“ bildeten keine divergenten außenpolitischen
Schulen. Sie vertraten keine Entweder-oder-Positionen, sondern setzten beim Sowohl-als-auch in der Tagespolitik die Akzente etwas mehr auf Washington oder Paris. Frankreich bot selbst für seine besten deutschen Freunde nie eine ernsthafte politische und schon gar keine wirtschaftliche Alternative zu den USA als Schutzmacht.
Es gab für die Bundesrepublik nie eine französische Trumpfkarte. Frankreich konnte
substantiell lediglich das deutsch-französische Tandem zur Führung im europäischen
Integrationsprozess bieten.
Auch wenn die europäische Perspektive betrachtet wird, bleibt die Logik der
Untrennbarkeit evident. Ludwig Erhard hatte von Anfang an der handelspolitischen
Beschränkung auf den Regionalismus eine Absage erteilt und auf die Notwendigkeit
einer Weltmarktorientierung für ein Exportland wie Deutschland verwiesen.1 Damit
war klar, dass Europa ohne Amerika für den deutschen Handelsstaat,2 um den jüngeren politikwissenschaftlichen Begriff zu verwenden, eine viel zu kleinräumige Perspektive böte. Das hieß aber auch, dass der wachsende europäische Regionalismus
aus deutscher Sicht nicht im Gegensatz zu Amerika, sondern mit dem Akzent auf der
Kooperation und dem Management wirtschaftlicher Konflikte bei unterschiedlichen
Interessenlagen auszugestalten wäre. Damit war schon in der Frühphase des westdeutschen Staates ein atlantischer Kooperationsvorrang etabliert worden, der trotz
aller Streitereien unter Freunden und Verbündeten bis zum Ende des Ost-WeltKonflikts vorhielt.
An Disharmonien zwischen den Staatsspitzen und an Interessengegensätzen hat
es im deutsch-amerikanischen Verhältnis dennoch nie gefehlt. Sie betrafen aber vor
allem die Oberfläche, nicht die Substanz des Atlantizismus. Adenauer verstand sich
mit Kennedy ebenso wenig wie Helmut Schmidt mit Jimmy Carter, Erhard wurde in
der Frage der multilateralen Atomstreitmacht von Johnson düpiert und die
Brandt’sche Ostpolitik wurde in Washington mit Misstrauen verfolgt. Bei der Vereinigung allerdings übernahmen die USA unter Bush senior schnell die Rolle des Förderers, während die westeuropäischen Partner noch auf Verzögerung setzten. Auch
wenn im Ost-West-Konflikt immer Zweifel an der amerikanischen Allianztreue im
hypothetischen Kriegsfall virulent waren, konnten allein die USA der glaubwürdige
Garant westdeutscher Sicherheit sein. Diese Rolle des Sicherheitsexporteurs hatte ihren wirtschaftlichen Preis für die Bundesrepublik. Der Preis hieß Burden Sharing
1
Ludwig Erhard, Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1953, S. 9 f.
Richard Rosecrance, Der neue Handelsstaat. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft,
Frankfurt am Main 1987
2
3
und mit dieser Lastenteilung3 war sowohl ein direkter materieller Beitrag zu den Stationierungskosten verbunden, als auch indirekte implizite Verknüpfungen außenwirtschaftlichen Wohlverhaltens. Frankreich leistete sich z. B. Ende der sechziger Jahre
Attacken auf die schwächelnde amerikanische Währung und tauschte eifrig EuroDollars der französischen Notenbank gegen amerikanisches Währungsgold und unterminierte damit das Bretton-Woods-System. Paris arbeitete damit gegen die Währungshegemonie der USA. Die Deutsche Bundesbank hingegen hielt wohlüberlegt
und politisch klug aus übergeordneten Sicherheitsinteressen wirtschaftlich still und
stützte den US-Dollar.
Beim Osthandel verhielt sich Westdeutschland jedoch mehrfach eigenständig
interessengeleitet. Das Röhrenembargo der sechziger Jahre hatte ein westdeutsches
Geschäftstrauma hinterlassen, bei dem sich Politik und Wirtschaft in Bonn hereingelegt gefühlt hatten. Beim Gas-Röhren-Geschäft in den achtziger Jahren leistete der
westdeutsche Handelsstaat der Administration Reagan offenen Widerstand. Auch bei
der Exportkontrolle durch das in Paris ansässige COCOM4 unterlief die deutsche Exportwirtschaft in Abstimmung mit der Politik immer wieder eine gar zu enge Handhabung und kurzfristig orientierte politische Instrumentierung, die die USA favorisierten. Auf dem Feld des Osthandels schuf sich die Bundesrepublik kleine Handlungsspielräume, die allerdings den Kern der Allianz und das dichte Muster transatlantischer Wirtschaftsverflechtung nicht wirklich untergruben. Diese politikfeldbezogene Verhaltensdifferenz erklärt sich schlicht und einfach aus der stark divergenten Machtposition der Bundesrepublik in den Sachbereichen Sicherheit und Wirtschaft. Der Wirtschaftsriese Bundesrepublik, der sich seit dem Wirtschaftswunder
der fünfziger Jahre sukzessive zum veritablen Partner der USA entwickelt hatte, befand sich in einer militärischen Zwergenrolle, weil die eigene Sicherheit nicht selbst
garantiert werden konnte und eine hohe Abhängigkeit von den USA bestand. Auf
dem Feld der Wirtschaft konnte Westdeutschland mit den USA auf gleicher Augenhöhe agieren, weil dieses Beziehungsmuster von relativ hoher Symmetrie gekennzeichnet war.
2
Zunehmende Europäisierung und Schwächung der deutschen
Weltwirtschaftsmachtposition
Die westdeutsche Republik war in den siebziger Jahren die dominante Ökonomie in
Westeuropa und damit auch die Haupttriebkraft bei der europäischen Integration geworden. Die Logik der deutschen Europapolitik hatte sich geändert. Der friedensund stabilitätspolitische Akzent der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte war mit dem
deutschen Interesse an regionaler Akzeptanz verknüpft gewesen. Dem folgte eine regionale kooperative Führungsphase im Tandem mit Frankreich. Die Bundesrepublik
war dabei einerseits der Hauptnutznießer der Marktintegration, andererseits auch der
3
Elke Thiel, Dollar-Dominanz, Lastenteilung und amerikanische Truppenpräsenz in Europa:
zur Frage kritischer Verknüpfungen währungs- und stationierungspolitischer Zielsetzungen
in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, Baden-Baden 1979
4
Das 1949 gegründete Coordinating Committee for Multilateral Export Control, COCOM
wurde 1995 durch das Wassenaar-Abkommen ersetzt, bei dem auch die früheren Ostblockstaaten mitarbeiteten.
4
europäische Zahlmeister. Die deutsche Nettozahlerposition war eine feste Größe
z. B. als Sponsor der kostenintensiven Süderweiterung. Die durch den Export reich
gewordene Wirtschaftswunderrepublik konnte sich das auch leisten. Für die USA
wurde sie damit auf diesem Feld zum europäischen Wirtschaftspartner Nummer 1
und zum Partner bei der Führung der Weltwirtschaft.
Die Verflechtung in den Sektoren Handel, Investitionen und Währung belegt
diese Rolle eindeutig. Damit wurde die Bundesrepublik ein stabiler Anker der Handelsliberalisierung im europäischen Integrationsgebilde, im globalen Handelsregime
des GATT und in der Nachfolgeorganisation WTO. Das Liberalisierungsinteresse
des westdeutschen Handelsstaats und zeitweiligen Exportweltmeisters wies im
Grundsätzlichen eine breite Interessenübereinstimmung mit den USA auf. Bei den
Überkreuzinvestitionen zwischen Deutschland und den USA traten in erster Linie
Wirtschaftsunternehmen als Akteure auf, die für Wachstum sorgten und die Grundlage für die wirtschaftspolitische Partnerschaft schufen. Ein eigenständiger politischer Rahmen in Form eines Investitionsregimes kam dafür nicht zustande, dies war
aber angesichts der florierenden Entwicklung auch nicht wirklich erforderlich. Auf
dem Währungsfeld steuerten die amerikanische und die deutsche Notenbank in den
achtziger Jahren praktisch das westliche Weltwährungssystem auf kooperative Weise. Hier war die Bundesrepublik in der Phase der Hochzeit der D-Mark neben den
USA bis zur Europäisierung der Notenbank und der Einführung des Euro eine veritable Weltwährungsmacht.5
Schaubild 1
Der deutsche Warenexport nach Westeuropa, die USA, Japan, MOE und GUS
1980-2003
Mrd. Euro
375
350
EU15
325
USA
300
J
275
MOE+GUS
250
225
200
*EU und MOE+GUS
vorläufige Werte
175
150
125
100
75
50
25
0
1980 85
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
00
Quelle: Statistisches Bundesamt lfd.; eigene Grafik
5
David Marsh, Die Bundesbank. Geschäfte mit der Macht, München 1995
01
02 2003*
5
Die Vereinigung und die Europäisierung bewirkten hier prozessual eine Veränderung
der Lage durch eine Intensivierung des Europaschwerpunkts der deutschen Außenwirtschaft. Wie Schaubild 1 aufzeigt, blieb der Europaschwerpunkt des deutschen
Exports eine recht stabil wachsende Größe. Der Osthandelsanteil lag in den achtziger
Jahren stets unter dem USA-Anteil. Erst nach 1989 übertraf der Ostexport den USAExport. Ein Großteil des Ostexports geht durch die Osterweiterung von der EU15 in
die EU25 in die Europakurve ein. Im Zeitraum davor zwischen 1992 und 2002 hatte
sich der Ostexport vervierfacht. Vor allem die drei Beitrittskandidaten Polen, Ungarn
und Tschechien zeigten eine rasante Steigerung. Eine Relativierung des US-Markts
für den deutschen Export könnte aus dieser Entwicklung herausgelesen werden. Allerdings blieb der US-Markt für den deutschen Export nach wie vor von großer Bedeutung. 2005 lagen die USA als zweitgrößter Absatzmarkt auf Rang 2 hinter Frankreich.
Schaubild 2
Der deutsche Ostexport 1985-2004
Polen
Mrd. €
MOE+GUS
Mrd. €
80
Ungarn
Tschechien**
18
Russland***
MOE + GUS****
15
60
12
40
9
6
20
3
0
0
85 86
87
88 89
90 91
92
93 94
95 96
97
98 99
00 01
*Ab 1990 gesamtdeutsche Daten. **Bis 1993 ehem. Tschechoslowakei. ***Bis 1993 ehem. Sowjetunion
02
03 04
04 vorläufige Daten
Quelle: Statistisches Bundesamt lfd.; eigene Grafik
Bei den deutschen Direktinvestitionen im Ausland liegt die EU25 als Anlage- wie als
Herkunftsregion deutlich vor den USA (vgl. Schaubild 3). Parallel zum Handel konnten die mittelosteuropäischen Beitrittsländer auch als Anlageregion nach 1990 enorm
zulegen, dennoch blieb die USA ein Schwerpunktland für die Anlagen deutscher Unternehmen. Auffällig war aber die Asymmetrisierung durch die geringeren amerikanischen Kapitalzuflüsse nach der Vereinigung. Deutschland und vor allem die neuen
Bundesländer waren kein Magnet für amerikanische Direktinvestitionen. Neben wenigen Leuchttürmen wie Dow Chemical im mitteldeutschen Chemiedreieck und dem
Engagement des Chipherstellers AMD in Dresden zeigte sich das amerikanische Kapital eher zurückhaltend beim Engagement im Standort Deutschland. Im nahen Mittelosteuropa der Beitrittsländer zur EU wurden die größeren Chancen gesehen.
Im Währungssektor ging die deutsche Geldmacht in das europäischen Konzert
des Euro und der Europäischen Zentralbank ein. Damit war das amerikanisch-
6
deutsche Währungsduopol in Form einer Quasi-G2 beim Dollarkursmanagement der
zweiten Hälfte der achtziger Jahre nur noch Geschichte.6 Die deutsche Stimme im
europäischen Konzert blieb zwar gewichtig, aber die bilaterale Führung war dahin
und Deutschland für die USA auf diesem Feld kein direkter zentraler Ansprechpartner mehr. Das Opfer der DM auf dem Altar der europäischen Integration hatte somit
zu einem unübersehbaren internationalen und vor allem auch transatlantischen Bedeutungsverlust Deutschlands geführt. Der Handelsstaat Deutschland hatte sich damit europäisch noch mehr eingereiht. Die Handelspolitik war schon lange europäisiert, jetzt traf dies auch auf die Währungs- und Geldpolitik zu. Weltmachtelemente
der deutschen Position waren damit in Europa verschwunden. Wichtige Symbole wie
die Ansiedlung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main und die
Kreation nach dem unabhängigen Notenbankmodell der Bundesbank änderten daran
wenig. Insofern war Deutschland damit ein weiteres Stück europäisch eingehegt
worden und verlor für die USA an Eigengewicht. Die deutsche politische Führungsklasse sah und sieht darin mehrheitlich eine politische Tugend, die eine gewünschte
Denationalisierung anzeigt.
Schaubild 3
Deutsche Direktinvestitionen USA und EU25 1989-2004
Mrd. Euro
500
Deutsche DI in den USA
450
US-Amerikanische DI in Deutschland
400
Deutsche DI in der EU25
350
EU25 DI in Deutschland
300
250
200
150
100
50
0
1989
92
95
98
01
2004
Quelle: Deutsche Bundesbank, Zeitreihen lfd.; eigene Grafik
Die Denationalisierung bestand in der Außenwirtschaftspolitik nach der Vereinigung
vor allem in der deutschen Rolle im Prozess der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union. Damit geriet Deutschland nicht in einen Gegensatz zu den USA,
weil die USA traditionell die europäische Integration unterstützt haben. Das hieß
freilich nicht, dass Handelsstreitigkeiten im Detail nicht mit harten politischen Bandagen ausgefochten wurden. Doch diese in Presseschlagzeilen hochstilisierten „Handelskriege“ waren tatsächlich politisch weitgehend verregelte transatlantische Verteilungskonflikte in einzelnen Sektoren, vor allem in der Landwirtschaft, bei denen die
6
Z. B. mit den Plaza- und Louvre-Abkommen von 1985 u. 1987. Beide Abkommen waren
nur auf der Oberfläche multilateral, substantiell aber bi- bzw. trilateral mit Japan.
7
Regierungen unter starkem Druck von heimischen Schutzforderungen standen. Auffällig war, dass die deutsche Politik trotz der Vereinigungslast und dem höheren
Schutzbedarf für die neuen Länder nur sehr wenig auf Protektion setzte. In der DohaRunde der WTO zeigte sich aber auch, dass die Zuständigkeit der EU und deren
komplexes Entscheidungssystem die deutsche Handschrift in der Handelspolitik
kaum mehr erkennen ließ. Der deutsche Politikanteil verschwand im Nebel kleiner
ministerieller und verbandspolitischer Expertenkreise und oszillierte im europäischen
Mehrebenensystem. So reisten z. B. deutsche Spitzenpolitiker und Verbandsvertreter
im Dezember 2005 zur WTO-Ministerkonferenz nach Hongkong ohne Zugang zu
den aktuellen Informationen des Verhandlungsverlaufs zu haben. Die Presse kolportierte das deutsche Auftreten folglich nicht grundlos spöttisch als „Klassenfahrt“.7
Noch viel mehr als der deutsche Handelsstaat mit seinem Sicherheitsmanko ist
die EU immer noch in erster Linie eine Wirtschaftsunion, allerdings mit zunehmenden außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen. Das letztere Profil ist aber immer
noch recht schwach und vor allem von interner Fragmentierung geprägt. Zwar gilt
das alte Diktum von Henry Kissinger nicht mehr, dass es keine Telefonnummer gibt,
wenn er Europa anrufen möchte, weil die Kommission mittlerweile dafür einen Hohen Beauftragten, Javier Solana, hat. Doch Solana ist nur der Repräsentant des
kleinsten gemeinsamen intergouvernementalen Nenners. Er muss immer noch an die
führenden Mitgliedsstaaten durchstellen oder dort rückfragen. Selbst für den Fall einer Inkraftsetzung des Verfassungsvertrags gäbe es nur einen titularen europäischen
Außenminister, der das Mehrebenensystem bereichert, aber die europäische Entscheidungs- und Handlungsschwäche kaum überwinden könnte.
Auch die Europäisierung der Felder Handel und Währung hat dazu geführt, dass
der deutsche Anteil an der europäischen Handels- und Währungspolitik immer
schwieriger zu bestimmen und die Fragmentierung im operativen Tagesgeschäft zum
vorherrschenden Muster geworden ist. Allgemein strategisch betrachtet war die deutsche Position in der Regel sehr deutlich. Die Währungsunion war zwar unpopulär,
aber für die führende politische Klasse ein notwendiges und erwünschtes Ziel. Das
historische Pathos Helmut Kohls in dieser Frage wurde nicht geteilt, das Ziel aber
sehr wohl. Die These, dass Kohl sich die Zustimmung zum Euro vom französischen
Präsidenten Mitterand als Quasi-Preis für die schnelle deutsche Einheit abhandeln
ließ, ist immer wieder vorgebracht worden, wurde aber von Kohl und dem damaligen
Außenminister Genscher bestritten. Die Vermutung eines solchen politischen
Tauschgeschäfts ist nahe liegend, doch das Interesse an einer gemeinsamen Währung
folgte ja durchaus der deutschen Handelslogik mit ihrem Europaschwerpunkt. Der
Euro erklärt sich also durch den Wegfall von Transaktionskosten strukturell für
Deutschland aus sich selbst heraus, auch wenn er die Weltgeltung der Deutschen
Bundesbank beendete, die danach keinen interessanten Partner für die amerikanische
Notenbank mehr darstellte.
Das zweite große deutsche Ziel für Europa war die Osterweiterung als historische Tat und als Marktchance. Hier gingen eine historisch-politische Mission und
das Handelsstaatsinteresse Hand in Hand und verstärkten sich im Sinne eines politischen Synergieeffekts. Der deutsche Osthandel konnte jetzt unter den Bedingungen
der Systemübereinstimmung seine quasi-natürliche nachbarschaftliche Funktion einnehmen. Dafür war der Beitritt der mittelosteuropäischen Nachbarn zur EU ein logi7
Der Spiegel 51, 19.12.2005, S. 36; Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.12.2005, S. 2
8
scher Schritt. Dazu trat die politische Zielsetzung einer Einigung Europas mit seinen
östlichen Teilen bis auf das qua Größe und Struktur unverdauliche Russland samt
anderer GUS-Staaten, die für längere Zeit noch den Demokratie- und den Marktwirtschaftstest für die EU nicht bestehen würden.
In der Osteuphorie der neunziger Jahre herrschte das rosarote Szenario eines
Beitrittsidylls als historische Verpflichtung vor. Die deutsche Politik trat eifrig für
die erste Runde der Neumitglieder ein und zog die skeptischen etablierten Subventionsempfänger im Süden, die um ihre Pfründe fürchteten, mit. Bei den Beitrittsverhandlungen wurden dann wie üblich mancherlei deutsche Finanzierungszusagen eingesetzt, um den Prozess zu beschleunigen. Die Standardkalkulation lautete, dass sich
diese Investitionen mit dem boomenden Ostgeschäft bezahlt machen würden. Die
deutsche Seite beförderte über ihren Beitrittskommissar Günter Verheugen (19992004)8 aktiv und mit großem Einsatz ihren schnellen Erweiterungskurs in der Kommission unter der Präsidentschaft des Italieners Romano Prodi. Mittlerweile sind
auch die Folgekosten ins Berliner Lagebild eingegangen. Produktionsverlagerungen
ins östliche Umfeld, zusätzliche Verzerrungen auf dem starren deutschen Arbeitsmarkt, die Anspruchshaltung der Neuen in Brüssel, Polen voran, und die zunehmende Fragmentierung der europäischen Entscheidungen haben die Begeisterung über
weitere Mitglieder auf dem Balkan gedämpft. Auch für Bulgarien, Rumänien usw.
wird zwar auf die Sogwirkung der EU und ihre Befriedungs- und Modernisierungseffekte vertraut. Die Gefahr der Überdehnung der EU bis hin zur Manövrierunfähigkeit
ist aber ins politische Bewusstsein gerückt und für die nächste Etappe der Osterweiterung werden neben den Exportchancen auch die finanziellen und politischen Lasten
für die deutsche Ökonomie als die Nummer 1 in Europa gesehen.
Neben der europäischen spielt Deutschland auch auf der weltwirtschaftspolitischen Bühne immer noch eine tragende Rolle, vor allem in der G8 und in der OECD.
Die OECD ist zwar die stärkste Ressourcenversammlung der Industriestaaten, sie
wurde aber nicht zum Führungszentrum ausgebaut, sondern blieb Integrationsraum,
Verhandlungsarena und Datensammelstelle mit Anregungscharakter.9 Die G7Staaten hingegen bildeten den Kern eines offenen Weltregierungsnetzwerks10 mit
Deutschland 2006 immer noch in zentraler Position. Allerdings ist die tragende deutsche Rolle der Frühphase, als Helmut Schmidt 1975 ein Hauptinitiator gewesen war,
mittlerweile einer wenig sichtbaren Nebenrolle gewichen. Auch darin drückt sich der
Rückgang der weltwirtschaftlichen Position Deutschlands aus. Allerdings ist dafür
auch der Strukturwandel von der alten G7 zur G8 mit Russland verantwortlich. Das
stets lockere Gipfelregime wurde auf der Chefebene von den Staatschefs selbst durch
den seit den Auftritten Ronald Reagans zunehmend übertriebenen Repräsentationsaufwand immer mehr ausgehöhlt. Dem Chefspektakel folgte dann das Anti-GipfelStraßenspektakel linksradikaler NGOs mit einem traurigen Höhepunkt 2001 in Genua. Der sachliche Gipfelbedarf wurde davon nicht tangiert, aber die polizeiliche Belastung für die Veranstaltungsorte als Anziehungspunkte für Krawalltourismus nahm
enorm zu.
8
Seit November 2004 Kommissar für Industrie- und Unternehmenspolitik
Reinhard Rode, Weltregieren durch internationale Wirtschaftsorganisationen, Münster
2002, S. 31 ff.
10
Ebd., S. 55 ff.
9
9
Die Aufnahme Russlands, die 1994 mit einer politischen G8 am zweiten Tagungstag begann und 1998 in die Vollmitgliedschaft der nunmehr G8 mündete, erwies sich ex post als voreilig. Dabei war die wirtschaftliche Führungslogik der Gipfel
der politischen Integrationslogik Russlands untergeordnet worden. Das westliche
Kalkül ging aber bis 2006 nicht auf, Russland blieb ein problematischer Mitspieler.
Bei diesem voreiligen Fehlkalkül war die deutsche Seite mit Bundeskanzler Kohl
führend beteiligt. Die Staatschefs mit ihrer symbolischen Politik und dem Hang zur
Vermarktung von Bildern der personalen Führung der höchsten Ebene, z. B. durch
die Männerfreundschaften zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin, später zwischen
Gerhard Schröder und Wladimir Putin, hatten in der Selbsteinschätzung und bei der
politischen Reklame überzogen und die Gipfelmöglichkeiten grandios überschätzt.
Der Erweiterungsbedarf ist angesichts aufstrebender Schwellenländer wie China und
Brasilien als Kandidaten gegeben. Der Fall Russland hat aber das Qualitätsproblem
dabei deutlich gemacht. Gefragt ist nicht politische Show, sondern reale Governancefähigkeiten auf der Grundlage von hinreichender Wirtschaftsleistung und gemeinsamen Wertorientierungen.
Unterhalb der schwächelnden Chefebene haben sich seit 1982 Ministerforen
entwickelt, um jenseits des Gipfelgetöses auch wieder reale Führungsleistungen zu
generieren. Darunter ist die auf dem Gipfel in Köln 1999 geschaffene, für das Finanzsystem zuständige G2011 der Finanzminister unbestreitbar das wirkungsvollste
Forum. Dieser Kreis der 20 dürfte mit Abstrichen bei einigen schwächeren und unzuverlässigen Teilnehmern die meisten Kandidaten für eine potentielle effiziente
globale Governancestruktur enthalten. Deutschland wird wohl darin auf absehbare
Zeit noch zum Führungskern zählen. Auf dem Ministerniveau waren die deutschen
Vertreter auch stets eifrig als Teamplayer bei der Sache. Die G2-Phantasien mit den
USA aus den achtziger Jahren, wenn sie denn je mehr als deutsches Wunschdenken
und amerikanische Verlockungen enthielten, wirken allerdings aus der Sicht des Jahres 2006 kaum mehr verständlich. Global mutierte Deutschland langsam aber sicher
zum relativen Absteiger. Transatlantisch herrschte auf diesen Feldern Grundkonsens
mit Interessendifferenzen im Detail vor, keine Kontinentaldrift, wo die amerikanische Seite machtbewusst auf Mars und die Europäer ohnmächtig auf Venus setzten.12
Merkur bot beiden Seiten hinreichend langfristige Gemeinsamkeiten.
3
Deutschland als globaler Absteiger mit regionaler
Überforderung
Wie aufgezeigt, wurde aus der dominanten europäischen Ökonomie langsam der
Problemfall Deutschland. Das zentrale Problem bestand im binnenwirtschaftlichen
Substanzverlust durch die Starrheiten des rheinischen Modells der sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung mit ihrem hohen Niveau der Arbeitsmarktregulation
11
Mitgliedsländer waren Argentinien, Australien, Brasilien, Kanada, China, Frankreich,
Deutschland, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Russland, Saudi Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei, Großbritannien, die USA. Von den regionalen Akteuren war nur
die EU vertreten. Hinzu kamen die Bretton-Woods-Zwillinge IWF und Weltbank.
12
Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung,
Berlin 2003
10
und der sozialen Absicherung. Die einst gute Wettbewerbsfähigkeitsposition dieses
Markt-Staat-Mischmodells gegenüber dem liberaleren angelsächsischen Konkurrenzmodell ging regional nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Auftreten
kostengünstigerer Wettbewerber in Mittelosteuropa und noch stärker weltweit im
Zuge der jüngsten Globalisierungswelle verloren. Der zentrale Vorteil des deutschen
Wohlfahrtsstaats, seine soziale Befriedungswirkung, die ein wichtiger Stabilitätsund Wachstumsfaktor gewesen ist, büßte im Zuge von Regionalisierungs- und Globalisierungsprozessen an Bedeutung ein. Der Wettbewerbsdruck von außen nahm erheblich zu. Gleichzeitig verlor die nationale Politik an Gestaltungsmacht. Mit dem
Anstieg des europäischen Integrationsniveaus wurde eigenständige deutsche Standortpolitik auf den noch nicht vergemeinschafteten Feldern immer mehr zum Resthandlungsspielraum. Da Handels- und Währungspolitik denationalisiert waren, trat
die Förderung der strukturellen Wettbewerbsfähigkeit als Optimierung von Staat,
Markt und Gesellschaft in den Vordergrund.
Die Debatte über die Leistungsfähigkeit und die Zukunftsperspektiven der deutschen Wirtschaft wurde zyklisch immer wieder im Hinblick auf zunehmende Globalisierungsprozesse geführt. Schwachpunkte des Industriestandorts Deutschland wurden bei den hohen Arbeitskosten, insbesondere den Lohnnebenkosten und der Unternehmensbesteuerung gesehen. Auch eine im Vergleich mit den USA und Japan geringere Technikakzeptanz, die sich z. B. in Widerständen gegen Bio- und Gentechniken ausdrückte, wurde moniert. Die Standortkritik aus der Wirtschaft war in der Rhetorik stark anti-interventionistisch und ging gewöhnlich nicht über das Credo der angebotsorientierten Vorstellungen hinaus. Das Weltspitzenniveau bei den Arbeitskosten, insbesondere bei den Lohnnebenkosten, wurde seit Mitte der neunziger Jahre
zunehmend im politischen System als Problem begriffen. Deshalb suchten die deutschen Regierungen nach 1990 im Interesse der Beschäftigung die Nebenkosten zu
senken. Sie verfingen sich damit aber immer wieder im Dickicht der etablierten
wohlfahrtsstaatlichen Verteilungskoalitionen. Der deutsche Reformtanker erwies sich
im Vergleich mit kleineren europäischen Ländern als nur schwer und langsam steuerbar. Gut gemeinte Versuche wie z. B. Hartz IV führten in noch mehr Bürokratismus und in die Kostenfalle. Arbeitsmarkt-, Steuer-, Renten- und Gesundheitssystemreformen kamen kaum voran oder brachten keine Durchbrüche.
Der Diskurs um die Unternehmensbesteuerung z. B. entsprach dem undurchsichtigen deutschen Steuerrecht. Die Nominalbelastung war im internationalen Vergleich recht hoch. Die umfangreichen Abschreibungsmöglichkeiten relativieren aber
dieses Bild der Hochbelastung. Globalisierungsgegner fürchteten um staatliche Verteilungsspielräume und erwarteten einen Steuerwettbewerb nach unten. In den neuen
Ländern wurden unter erheblichem politischem Handlungsdruck zudem oft weltmarktfremde Distributionsideen favorisiert. Wohlstandsteilung im Inneren rangierte
vor internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Auf Marktversagen wurde mit Politikversagen reagiert. Mezzogiornosymptome riefen linkspopulistische Verteilungskonzepte
und ostalgische Identitätsdebatten hervor, die Modernisierungsverweigerung und
Weltferne anzeigten.
Immer deutlicher wurde ein Widerspruch zwischen der Herausforderung Ost in
den neuen Ländern als nunmehr etablierte Dauersubvention und den Anforderungen
der Globalisierungstrends. Der Weg vom erfolgreichen Handels- und Sozialstaat zum
Wettbewerbsstaat erfordert gerade eine Rückführung der Staatsquote. Versuche, Ab-
11
striche am verkrusteten Sozialstaat mit seinen etablierten Verteilungskoalitionen zu
implementieren, standen jedoch unter dem Generalverdacht einer neuen sozialen
Kälte. Während in anderen westeuropäischen Ländern wie Großbritannien, Holland
und Dänemark längst pragmatisch mit der Modernisierung der Sozialsysteme experimentiert wurde, fanden in Deutschland immer wieder ideologisch aufgeladene Diskurse statt, die den Mangel an politischer Innovationsphantasie bei den etablierten
konservativen Verteilungskoalitionen anzeigten.
Die Regierung in der Spätphase der Kanzlerschaft Kohls verweigerte sich den
dringlichen Reformfragen weitgehend, weil der Chef sich lieber im Licht der großen
historischen Erfolge der Vereinigung und der europäischen Integration sonnte. Kanzler Schröder hingegen suchte ein Modernisierprofil und wollte z. B. mehr als korporatistische Wiederauflagen präsentieren, seine eigene Partei aber verweigerte sich
dem neuen Kurs immer mehr. Da das deutsche Problem in ziviler Fehlallokation und
Starrheiten bestand, wurden die Unternehmensbesteuerung, das Rentensystem und
die Zuwanderung von IT-Fachkräften immerhin angepackt. Die Agenda 2010 zielte
durchaus auf die richtigen Punkte wie Steuerreform, Unternehmensentlastung, Bürokratieabbau, Stärkung der Investitionen und Arbeitsmarktreformen. Die Reformfortschritte blieben aber freilich im Vergleich mit den genannten kleineren europäischen
Wohlfahrtsstaaten recht zaghaft. Die Große Koalition brachte in ihrem ersten Jahr
auch keinen Aufbruch zustande, sondern offenbarte Züge der institutionalisierten
Selbstblockade und fabrizierte eine Erhöhung der Staatsquote.
Ein einschneidender nachhaltiger Subventionsabbau würde in der Tat an die
Substanz der Deutschland AG mit ihrer hohen korporativen Verflechtung und ihrem
mittlerweile unbezahlbaren Wohlfahrtsniveau gehen. Die Stärken in den traditionellen Sparten wie Chemie, Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Elektrotechnik erlauben durchaus auch Fortschritt bei neuen Schlüsseltechnologien. Der Faktor Wissen
als Triebkraft für Wachstum und Strukturwandel befindet sich zwar nach wie vor auf
einem hohen Stand. Die Qualität der deutschen Ausbildungssysteme verlor im internationalen Vergleich jedoch an Ansehen. Ein Qualitätsverlust trotz hohem Finanzaufwand zeigte typische Leistungsschwächen einer verwöhnten Gesellschaft. Auffällig war die veränderte Fremdeinschätzung. Während Deutschland zum Zeitpunkt der
Wiedervereinigung als neues dynamisches Kraftzentrum überschätzt wurde, was
auch alte Ängste vor der deutschen Macht reaktivierte, überwogen seit Ende der
neunziger Jahre skeptische Bewertungen. Die größte Ökonomie in Europa galt längst
nicht mehr als europäische Modernisierungslokomotive. Sie erntete jetzt Häme mit
der Metapher der „deutschen Krankheit“.13
Bei den internationalen Wettbewerbsratings schnitt Deutschland regelmäßig nur
noch mäßig ab. Nach der Bewertung des Schweizer Institute for Management and
Development (IMD) in Lausanne z. B. rangierte Deutschland zwischen 1999 und
2002 auf Rang 4. 2003 fiel es auf Rang 5 und 2004 auf Rang 7 zurück. Die USA
hielten durchgängig Platz 1.14 Der Standort Deutschland war unübersehbar zum Problemfall geworden, das Modell Deutschland der siebziger Jahre längst Vergangenheit.
13
Hans-Werner Sinn, Der kranke Mann Europas. Diagnose und Therapie der deutschen
Krankheit, in: Internationale Politik 59 (5), S. 25
14
IMD, World Competitiveness Yearbook 2004, Lausanne 2004, http://www02.imd.ch/wcc/online
12
Die globale Rolle im Konzert der Weltwirtschaftsmächte verfiel angesichts der
Binnenschwäche bisher nicht dramatisch, mittelfristig steht hier freilich eine nachhaltige Schwächung zu erwarten. Deutschland agierte weiter zuverlässig kooperativ
im Rahmen des westlich-liberalen Weltwirtschaftsregierungssystems mit seinen etablierten internationalen Institutionen IWF, Weltbank, WTO und OECD (Rode 2002).15
Allerdings ging Deutschland im multilateralen Konzert nur selten interessengeleitet
aus der Deckung. Querelen wie z. B. bei der Besetzung des IWF-Chefpostens erstmals durch einen Deutschen gehörten zum üblichen Spiel der Einflusskonkurrenz.
Von 2000 bis 2004 wurde Horst Köhler der erste deutsche Geschäftsführende Direktor (managing director) als Nachfolger des Franzosen Michel Camdessus (19872000). Der ursprüngliche Kandidat der Bundesregierung, der Staatssekretär im Finanzministerium, Caio Koch-Weser, war am amerikanischen Widerstand gescheitert.
In der Doha-Runde der WTO z. B. fiel der amtierende Exportweltmeister Deutschland im Vergleich mit der letzten GATT-Runde, der Uruguay-Runde, politisch kaum
mehr auf. Die Liberalisierungsinteressen des deutschen Handelsstaats wurden sehr
still im Hintergrund verfochten, ohne dass ein nachhaltiges Engagement deutlich
wurde.
Das Schrumpfen des früheren deutschen Wirtschaftsriesen höhlte das außenwirtschaftspolitische Gewicht zunehmend aus, was nicht ohne Rückwirkung auf die Außenpolitik bleiben konnte. Ohne gedeckte Schecks mit großen Zahlen verlor die
Scheckbuchdiplomatie an Kraft. Bei der rot-grünen Bundesregierung passten zudem
die laute Menschrechtsrhetorik als Ausdruck überhöhter moralischer Ansprüche im
Außenministerium und die Reisediplomatie von Kanzler Gerhard Schröder zur Exportförderung wie z. B. im Fall Chinas häufig nicht zusammen. Für den Export der
Magnetschnellbahn Transrapid und den Bau der Strecke von Schanghai nach Hangzhou hatte Kanzler Schröder für den ersten Abschnitt einen deutschen Zuschuss von
100 Mio. Euro zugesagt. Die Kanzlerin Merkel versuchte dann im Mai 2006 bei ihrem Antrittsbesuch in Peking entsprechend hohe chinesische Forderungen für den
Weiterbau aus guten Gründen zu vermeiden. Auch bei der Ostseepipeline zwischen
Deutschland und Russland hatte Schröder interessengeleitet auf den Vorrang der
deutschen Energieversorgung gesetzt.
Die sukzessive Aufgabe außenwirtschaftlicher Souveränitäten zugunsten des europäischen Intergouvernementalismus war in der Phase der erfolgreichen deutschen
Wirtschaftsmacht und bis zur noch überschaubaren EU15 klug gewesen, weil wirtschaftliche Stärke in der Regel aus sich heraus überzeugt und Einflussmöglichkeiten
generiert, ohne dass diese ausdrücklich von den politischen Eliten betont und reklamiert werden müssten. Im Abstieg und in einer fragmentierten EU25 mit diffusen
Verteilungskoalitionen und heftigen Haushaltsfeilschereien wurde ein neues aufgeklärtes Austarieren nationaler, regionaler und globaler Interessen und eine bessere
Einbindung des rhetorischen Idealismus erforderlich. Mit dieser neuen Rollenbestimmung tat sich die deutsche politische Klasse überaus schwer. Sie liebäugelte allzu gern mit einer Weltmachtrolle des guten Deutschland und einer überhöht idealistischen Europarolle, zu der weder die Kraft noch die Vision ausreichten. Dabei fehlte
auch die zielorientierte Koordination, nur allzu gern betrieben die verschiedenen
Ressorts eifrig ihre eigene sektorale Europa- und Weltpolitik, was auf Widersprüche
und Fragmentierungen sowie Irritationen bei den Partnern hinauslief. Beim unver15
Rode a.a.O. (Anm. 9).
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meidlichen Feilschen in den europäischen politischen Verhandlungsarenen zeigte die
deutsche Seite notorische Schwächen.
In der wirtschaftlichen Schwächephase bedeutete dies einen Verlust an weicher
Macht, der unweigerlich in den Einflussverlust mündet, was weder durch empathische noch durch Machtworte weggeredet werden kann. Die emsigen Auftritte der
Kanzlerin Merkel als Vermittlerin in regionalen und internationalen Arenen wurden
zwar gut vermarktet und bei den Partnern gern gesehen, besonders wenn diese nach
alter Manier der Scheckbuchdiplomatie mit einer Kostenzusage untermauert wurden
wie z. B. bei den EU-Budgetverhandlungen im Jahr 2005. Der geringere Einfluss war
dennoch gegeben. Der Putz an der Erfolgsfassade des deutschen Handelstaats hat
viele Risse bekommen. Der Weg in die zweite Reihe der Weltwirtschaftsmächte war
vorgezeichnet und damit auch der Verlust an Gehör und Aufmerksamkeit in Washington. Deutschland blieb nach wie vor noch europäisch und atlantisch geprägt.
Bei der politischen Gestaltung der transatlantischen Beziehungen wanderten jedoch
immer mehr Kompetenzen und operatives Management von Berlin nach Brüssel ab.
Die deutsche Spitzenbürokratie war stets fleißig beteiligt, fand sich aber zusehends
öfter im Leerlauf von einflussarmen Routinen. Deutschland war damit bei den Wirtschaftsbeziehungen auf dem Weg zum zweitrangigen Atlantiker, dessen erlahmende
Wirtschaftsmacht dazu führte, dass es auch im europäischen Konzert nur noch mühsam die erste Wirtschaftsgeige spielen konnte. Global befand sich Deutschland im
Abstieg, regional war es überfordert und konnte seine frühere Lokomotivfunktion
nicht mehr erfüllen. Die intergouvernementale Integration der EU15 und dann noch
mehr der EU25 samt Aufwertungsprozessen der Funktionen der Kommission hatte
den deutschen Einfluss in Europa und im atlantischen Raum geschwächt. Die Einflussgewinner waren vor allem die europäischen Kleinstaaten in der EU25.
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