Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich für Mediziner und Zahnmediziner Bearbeitet von Arneborg Ernst, Wolfgang B. Freesmeyer 1. Auflage 2007. Buch. 157 S. Hardcover ISBN 978 3 13 141441 0 Format (B x L): 27 x 19500 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Sonstige Medizinische Fachgebiete > Pathologie, Cytopathologie, Histopathologie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Leitsymptome 3 Funktionelle Störungen im Kopf-Hals-Bereich 32 Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System 34 Kopfschmerzen Okklusopathien 32 Hör- und Gleichgewichtsstörungen 33 Dysphagie und Dysphonie 34 Dysfunktionelle Veränderungen am Zahnhalteapparat (Parodontien) 37 33 Myopathien 38 Arthropathien 39 Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 32 3 Leitsymptome Funktionelle Störungen im Kopf-Hals-Bereich • Myogelosen und muskulärer Hypertonus können primär Folge einer Traumatisierung sein oder sekundär auf die Gelenkdysfunktion zurückgehen. Arne Ernst Symptomatik Da es keine isolierten pathognomonischen Zeichen einer vertebragenen Störung gibt, entscheidet der manualdiagnostische Befund – nach der fachärztlichen Diagnostik – über die Art der Behandlung. Einige charakteristische gemeinsame Merkmale vertebragener Erkrankungen sollen jedoch hervorgehoben werden: • chronisch intermittierender Verlauf, • paroxysmales Auftreten, • Einseitigkeit des Befundes, • Abhängigkeit von Körperlage und -haltung, • anamnestisches Trauma (insbesondere Beschleunigunsgverletzung der HWS), • pseudoradikuläre Schmerzen mit dermatomübergreifenden Dysästhesien, • Myogelosen und Hartspann der Muskulatur (ohne neurologische Ausfälle) Das häufigste Leitsymptom für funktionelle Störungen ist der Kopfschmerz, der sich manifestiert als • Myogelose („akuter Schiefhals“), • migräneartiger Hinterhauptkopfschmerz (Zervikalmigräne), • neuralgiforme Schmerzzustände (Okzipitalneuralgie), • Otalgien, • pseudosinugener Kopfschmerz. MERKE Die Abgrenzung (echter) vertebragener Kopfschmerzen gegen andere Formen des Kopfschmerzes kann sich im Einzelfall schwierig gestalten (kombiniert häufig mit akuten Gelenkblockierungen als Auslöser für Migräne). Kopfschmerzen Pathogenese • Vertebragene (Synonym: zervikogene) Kopfschmerzen können durch eine hypomobile Dysfunktion der HWSGelenke, aber auch myogen ausgelöst werden (seltener: ligamentär – z. B. posttraumatische Irritation des hinteren Längsbandes). Diagnostik Palpation der Hals- und Nackenmuskulatur mit Suche nach Triggerpunkten (myofasziale, ligamentäre und Nervenaustrittspunkte). Bei rezidivierendem Auftreten der Beschwerden sollte orientierend die Gesamtstatik (ge- Tabelle 3.1 Unterschiedliche Formen vertebragener Kopfschmerzen Kopfschmerz Symptomatik Ursache Therapie Zervikalmigräne (Migraine cervicale) Migränekopfschmerz mit klarer Halbseitenbetonung häufig durch Kopfgelenksblockierung spricht gut auf Manipulation bzw. TLA an (Stodolny und Chmielewski 1991) Posttraumatischer Kopfschmerz dumpfer, Intensitätsschwankungen unterworfener Kopfschmerz nach knöchernen oder Weichgewebeverletzungen bzw. nach Wirbelsäulenchirurgie. Zumeist muskulär bedingt spricht gut auf TLA, medikamentöse Therapie oder Muskelenergietechniken an Spannungskopfschmerz (häufig als Oberbegriff missbrauchter Terminus) durch reflektorische Verspannung der Nackenmuskulatur ausgelöster Kopfschmerz. gehäuft bei Patienten (typisch: jungen Frauen), die am Schreibtisch arbeiten, unter Stress stehen (muskuläre Verspannung!) bzw. hypermobil und muskulär unterentwickelt sind akut TLA, medikamentöse Therapie mit Antiphlogistika/Myotonolytika, lokale Wärmeapplikation oder Münzmassage, mittelfristig krankengymnastische Übungen und optimale Ergonomie des Arbeitsplatzes durch Vorbeugen bei zu niedriger Schulbank (atlantodentale Differenz über 5 mm) im Kinder- und Jugendalter bzw. nach sportlicher Betätigung (Rolle vorwärts). Kopfgelenksblockierungen, ligamentäre Ursachen (Überdehnung des Lig. transversum atlantis) sind möglich. Auslösbar durch Provokationsprobe (Kopf auf die Brust) akut Manipulation (C0/C1) und langfristige, ergonomische Arbeitsplatzgestaltung sowie gezielte muskuläre Stabilisierung Anteflexionskopfschmerz (Schülerkopfschmerz) Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG Funktionelle Störungen im Kopf-Hals-Bereich samte Wirbelsäule) überprüft werden, um ein komplexes Störungsmuster (Verkettungen) zu erkennen (z. B. Beckenschiefstand, Skoliose mit Kopfschiefhaltung, Rundrücken mit kompensatorischer zervikaler Hyperlordosierung). Wichtige Differenzialdiagnosen des vertebragenen Kopfschmerzes • Costen-Syndrom (Kiefergelenksmyarthropathie) siehe „akute und chronische funktionelle Störungen im kraniomandibulären System“. • Vasomotorischer Kopfschmerz („Spannungskopfschmerz“, „klassische Migräne“). Entsteht durch Gefäßfehlregulation und ist in der Regel halbseitig (oder auf eine Kopfregion beschränkt). Die Intensität und der anfallsartige Beginn ermöglichen eine deutliche Abgrenzung zum vertebragenen Kopfschmerz. Die Therapie ist u. a. medikamentös mit einem Prophylaxeziel (z. B. Betablocker) und einem Akutbehandlungsziel (z. B. Triptane). • Akuter Schiefhals (traumatisch, DD: SAB, Glaukomanfall). Der akute Schiefhals lässt sich anamnestisch (zeitnahes Trauma!) und durch Ausschlussdiagnostik (Neurologe, Augenarzt) eingrenzen. • Strukturelle HWS-Veränderungen (z. B. foraminale Stenose bei retrospondylotischer Abstützung eines „alten“ Bandscheibenvorfalls C5/C6) lassen sich durch bildgebende Verfahren erkennen. • Zervikale Bandscheibenvorfälle (siehe oben). Hör- und Gleichgewichtsstörungen Die diagnostische Sicherung der Hör- und Gleichgewichtsstörung erfolgt durch HNO-ärztliche Funktionsdiagnostik. Man unterscheidet folgende klinische Ausprägungen: • Akute, einseitige Innenohrschwerhörigkeit im Tieftonbereich (Abb. 3.1) verschwindet zumeist sofort nach Manipulationsbehandlung der Kopfgelenke (und/ oder der HWS). • Akuter, einseitiger Tinnitus (fluktuierend, beeinflussbar durch Kopf- oder Lagewechsel, im Tieftonbereich) – dieser verschwindet zumeist, gelegentlich langsam abklingend durch Manipulationsbehandlung der Kopfgelenke (und/oder der HWS). • Schwindel: akut: häufig als Drehschwindel nach Fehlbelastung oder als lageabhängigen Schwindel; chronisch: posturale Instabilität. Die Gleichgewichtsdiagnostik muss als Ausschlussdiagnostik erfolgen, um mit speziellen Testverfahren (Otolithenfunktionstests, posturografische Verfahren) andere Störungen auszuschließen. Die Therapie erfolgt über eine Manipulationsbehandlung (akut) bzw. über ein Gleichgewichtstraining mit einer begleitenden medizinischen Trainingstherapie zur Muskelkräftigung (chronisch). Frequenz in kHz 0,125 0,25 0,5 1 1,5 2 3 4 6 8 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 Abb. 3.1 Typisches Bild einer einseitigen Innenohrschwerhörigkeit im Tieftonbereich (Reintonaudiogramm). Dysphagie und Dysphonie Schluckstörungen (Dysphagie, Globusgefühl, Räusperzwang) und Stimmstörungen (Dysphonie) können Ausdruck funktioneller Störungen sein. Nach HNO-ärztlicher Diagnostik (indirekte/direkte Laryngoskopie, Stroboskopie des Kehlkopfes, Schluckuntersuchung) zum Ausschluss anderer Erkrankungen können folgende vertebragene Störungen differenziert werden: • Chronische Pharyngitis (häufig als unspezifisches Brennen, Druckgefühl, Räusperzwang). Die chronische Pharyngitis bedarf der Abgrenzung zur streptokokkeninduzierten Pharyngotonsillits (Laborchemie: CRP/ASL) und zum laryngopharyngealen Reflux (pH-Metrie). Bei der vertebragenen Pharyngitis findet sich ein unauffälliger Schleimhautbefund. • Schluckstörung (Dysphagie). Die vertebragene Dysphagie bedarf einer systematischen Abgrenzung zu anderen Dysphagieformen mittels Videofluoroskopie als Ausschlussdiagnostik. • Globusgefühl (siehe oben) • Hyoidtendinopathie (siehe oben), • Dysphonie (häufig mit Globusgefühl und starkem Würgereiz). Die vertebragene Dysphonie bedarf einer laryngoskopischen, ggf. stroboskopischen Ausschlussdiagnostik, um organische oder psychogene Formen abzugrenzen. Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 33 34 3 Leitsymptome Tab. 3.2 Differenzialdiagnosen verschiedener Leitsymptome funktioneller Störungen Leitsymptom Differenzialdiagnosen Schmerzen im Kopf/Hals-Gebiet • akute Entzündungen der Nase und NNH, • NNH-Tumoren, • akute Entzündungen des äußeren und mittleren Ohres, • Neuralgien im Kopf-Hals-Bereich, • Tonsillitis und tonsillogene Erkrankungen, • dentogene Erkrankungen, • Migräne, • intrazerebrale Erkrankungen. Hör- und Gleichgewichtsstörungen • akute traumatische IOS (Explosion, Lärm, Barotrauma, SHT), • infektiös-toxische IOS, • medikamentös-toxische IOS, • retrokochleäre Hörstörung, • Neuropathia vestibularis. Dysphagie und Globusgefühl • entzündliche Mund-, Rachen- und Kehlkopferkrankungen (z. B. Tonsillitis), • nichtentzündliche Erkrankungen (z. B. Zenker-Divertikel, Laryngozele), • neurogene Schluckstörung (z. B. Hirnnervenparesen nach Apoplex), • myogene Schluckstörung (z. B. Myasthenia gravis), • anatomische HWS-Veränderungen (z. B. Spondylosis hyperostotica), • Hyoidtendinopathie, • sonstige Störungen (z. B. Sklerodermie, Globus nervosum). Stimmstörung • angeborene Dysphonie (z. B. Kehlkopfanomalien), • funktionelle Dysphonie (z. B. spastische Dysphonie), • entwicklungsbedingte Dysphonie (z. B. Mutationsfistelstimme), • hormonelle Dysphonie (z. B. Hyperthyreose), • myogene und neurogene Dysphonie (z. B. Rekurrensparese), • organische Kehlkopfveränderungen (z. B. Malignom, Stimmlippenpolyp). NNH = Nasennebenhöhlen, IOS = Innenohrschwerhörigkeit, SHT = Schädel-Hirn-Trauma (nach Ernst et al. 1997) Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System Wolfgang B. Freesmeyer Leitsymptome funktioneller Störungen im kraniomandibulären System werden den entsprechenden Determinanten (Zähnen, Muskulatur und Kiefergelenk) zugeordnet und unterliegen damit einer gewebsspezifischen Symptomvielfalt. Übergeordnet ist für alle betroffenen Strukturen der Schmerz (als Zahnschmerz, Muskelschmerz, Kiefergelenkschmerz, Gesichtsschmerz, Kopfschmerz usw.). Okklusopathien Durch kraniomandibuläre Dysfunktionen (Knirschen und Pressen) können an den Zähnen und dem Zahnhalteapparat verschiedenste Veränderungen nachgewiesen werden, die auf ein dysfunktionelles Geschehen hinweisen. An den Zähnen können dabei folgende strukturelle und funktionelle Schäden auftreten: Attritionen / Abrasionen Verlust der Zahnhartsubstanz durch Knirsch- und Pressmechanismen. Epidemiologie Attritionen an Front- und Seitenzähnen sind bei etwa 90 % der erwachsenen Bevölkerung zu finden. Ätiopathogenese Ursache ist die Gebrauchsperiode der Zähne und zurückliegende Knirsch- und Pressmechanismen: • Attritionen, die auf zurückliegende Knirsch- und Pressphänomene zurückzuführen sind, sind matt (stille, stumme Schlifffläche) (Abb. 3.2). • Attritionen, die momentan dysfunktionell genutzt werden, sind glänzend und in Schlüssel-Schloss-Beziehung zu bringen (lebende Schlifffläche) (Abb. 3.3). Symptomatik Attritionen an Zähnen weisen somit auf eine hohe parafunktionelle Tätigkeit hin und können somit Überbelastungsreaktionen an den Zähnen, den Parodontien, der Muskulatur und den Kiefergelenken bis hin zum Schmerzgeschehen verursachen (siehe unten). Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System Abb. 3.2 Attritionen an den Zähnen 43 und 44 und im zervikalen Bereich keilförmige Defekte im Schmelz. Abb. 3.3 Schlüssel-Schloss-Stellung der Zähne 23 zu 33 bei linkslateralem Bruxismus. Abb. 3.4 Keilförmiger Defekt an den Zähnen 25 und 26 durch Laterotrusionsstörungen. Keilförmige Defekte Keilförmige Defekte gehören zu den Erkrankungen der Zahnhartsubstanz. Abb. 3.5 REM-Aufnahme eines keilförmigen Defektes, es ist deutlich die Aussprengung des Schmelzes im zervikalen Bereich zu erkennen. Ätiopathogenese Ursache sind Aussprengungen von Schmelzprismen, durch Knirsch- und Pressphänomene bei Torquierung des Zahnes oder einer Zahngruppe (Abb. 3.4). Diese Aussprengungen entstehen durch die hohe Zug- und Druckbelastung im Bereich der Schmelzzementgrenze. Hier ist der Schmelz viel dünner und in einem höheren Prozentsatz mit Schmelzlamellen bzw. Schmelzbüscheln durchsetzt. Daher treten in diesem Bereich viel schneller Schmelzsprünge und Aussprengungen (Abb. 3.5) auf als im koronalen Teil des Schmelzmantels. Die zervikalen Schmelzanteile befinden sich auch im Bereich der größten Biegebelastung bei Knirschphänomenen (Abb. 3.6). Zudem können keilförmige Defekte auf Putzschäden durch falschen Gebrauch der Zahnbürste und den Einsatz schleifkörperhaltiger Zahnpasten zurückgeführt werden. Sie treten dann am Übergang von Schmelz zum Dentin auf (Abb. 3.7). Abb. 3.6 REM-Aufnahme an der Bruchlinie eines keilförmigen Defektes mit deutlichen Längssprüngen. Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 35 36 3 Leitsymptome namischer Okklusion an diesen Zähnen zu überprüfen. Dies gilt besonders, wenn die keilförmigen Defekte versorgt werden sollen. Symptomatik Die Hauptsymptomatik von keilförmigen Defekten ist die Sensibilitätssteigerung auf Süß, Sauer, Kalt, seltener Warm und durch den Zahnhartsubstanzverlust ausgelöste Zahnschmerzen. Bei hoher parafunktioneller Tätigkeit können auch Muskel- und Kiefergelenkprobleme hinzukommen. Abb. 3.7 Keilförmige Defekte an der Schmelz-Zement-Grenze, die mehr auf Putzschäden zurückzuführen sind, der Schmelz ist weitgehend nicht betroffen. Sprünge Ätiopathogenese Vertikale Sprünge im Schmelz treten durch Knirsch- und Pressmechanismen auf, wobei der Zahn unter starke Druckbelastungen kommt. Da das Dentin elastischere Eigenschaften hat als der Schmelz, setzt er diesen unter eine hohe Zugbelastung, wodurch es entlang der Schmelzprismen zur Rissbildung in vertikaler Richtung kommt (Abb. 3.8). Vertikale Sprünge im Schmelz weisen somit auf bestehende Knirsch- und Pressmechanismen hin und damit auf einen dysfunktionellen Zustand. Symptomatik Schmelzsprünge zeigen keine weitere Symptomatik, weisen aber auf eine hohe parafunktionelle Tätigkeit hin und damit auf eine mögliche Ursache für Symptome in anderen Bereichen des Systems. Abb. 3.8 Parafunktionsstellung zwischen den Incisivi, es sind deutliche Aussprengungen im Schmelz und leichte Längssprünge zu erkennen. Längsfrakturen Ätiopathogenese In gleicher Weise, wie Schmelzsprünge, können bei Zunahme der Druckbelastung des Zahnes Längsfrakturen von Zähnen durch Knirsch- und Pressmechanismen entstehen (Abb. 3.9). Betroffen sind meist die Prämolaren, da sie einen niedrigeren Querschnitt aufweisen als Molaren, aber auch bei diesen können Längsfrakturen besonders der bukkalen Höcker angetroffen werden. Differenzialdiagnostisch sollte immer erfragt werden, ob auf einen harten Gegenstand (Steinchen im Müsli) gebissen wurde. Längsfrakturen der Zähne sind bei einer Druckbelastung von 800–1200 N zu erwarten. Symptomatik Abb. 3.9 Längsfraktur des zweiten Prämolaren nach nächtlichem Knirschen. Treten keilförmige Defekte bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf, ist eher an ein dysfunktionelles Geschehen zu denken. In diesen Fällen ist immer die Zahnkontaktbeziehung auf vorzeitige Kontakte in statischer Okklusion und Medio- und Laterotrusionsstörungen in dy- Längsfrakturen von Zähnen gehen bei Mitbeteiligung der Pulpa mit starken Zahnschmerzen einher, oft ist die Längsfraktur nicht leicht zu erkennen und kann übersehen werden, da der Zahn äußerlich als intakt erscheint. Temperaturempfindlichkeit Ätiopathogenese Temperaturempfindlichkeit nach dysfunktioneller Belastung der Zähne tritt durch Torquierung (Verwindung, Durchbiegung) des Zahnes, durch vorzeitige Kontakte Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System oder durch Knirschen und Pressen auf. Es überwiegt die Kaltempfindlichkeit. An den Prämolaren sind besonders dynamische Störungen beim Knirschen und an den Frontzähnen vorzeitige Kontakte für das Entstehen dieser Symptome verantwortlich. In gleicher Weise können auch hypersensible Zahnhälse erklärt werden. Durch eine horizontale Überlastung werden die Dentinkanälchen eröffnet (Abb. 3.10), sodass eine Überempfindlichkeit über die Odontoblastenfortsätze auf kalt, seltener auf Warm, Süß, Sauer sowie auf Berührung eintritt. Symptomatik Siehe keilförmiger Defekt. Schmerzen (unspezifisch) Abb. 3.10 Rezessionen der marginalen Gingiva im 3. Quadranten mit McCall-Girlanden. Der Schmerz ist im primären Stadium dumpf bis ziehend und kann in andere Gebiete ausstrahlen. Zeichen einer primär entzündlichen Erkrankung (Pulpitis, Parodontitis) liegen nicht vor. Im sekundären Stadium wird dieser Schmerz als „unerträglich“ geschildert und oft auf einen Zahn projiziert, dessen Extraktion vom Patienten gewünscht wird, welche jedoch zu keinem bzw. einem nur vorübergehenden Erfolg führt. Ätiopathogenese • Überlastungsschmerz durch Press- und Knirschphänomene oder • Projektionsschmerz aus anderen Gebieten des kraniomandibulären-kraniozervikalen Systems, insbesondere aus den Mm. temporalis und masseter (Travell/Simons, 1984). Daher setzt der unspezifische Zahnschmerz eine genaue Diagnostik voraus, um die Ursache eindeutig zu erkennen und keine unüberlegten Therapieschritte einzuleiten. Diagnostik Differenzialdiagnostische Hilfsmittel wie die Heilanästhesie (therapeutische Lokalanästhesie, TLA) können herangezogen werden, um zwischen primärer und sekundärer Erkrankungsform zu unterscheiden. Wird der Schmerz durch eine Heilanästhesie (Novocain oder Bupivacain 0,5–2,0 ml) ausgeschaltet, ist mehr an ein primär dentogenes oder dysfunktionelles Geschehen zu denken als an einen Projektionsschmerz und umgekehrt. Dysfunktionelle Veränderungen am Zahnhalteapparat (Parodontien) Zahnlockerung Zahnlockerungen von einzelnen Zähnen oder Zahngruppen können dysfunktionell durch Vorkontakte auf Schrägflächen des Zahnes entstehen, die diesen horizontal auslenken, oder durch Knirschen, wobei der Zahn horizontal bewegt wird. Besonders Prämolaren und Schnei- Abb. 3.11 Rezession der marginalen Gingiva am Zahn 16 durch frühere Laterotrusionsstörung (siehe Abb. 3.12). dezähne sind davon betroffen. Der Grad der Lockerung hängt immer vom parodontalen Zustand des Zahnes oder der Zahngruppe ab. Daher bedürfen Zahnlockerungen einer genauen parodontalen, okklusalen und dysfunktionellen Diagnostik, um die ursachenspezifische Therapie einzuleiten. Rezessionen Rezessionen, der Rückgang des Zahnfleisches (marginale Gingiva), kann unterschiedliche Ursachen haben, wie entzündliche Einflüsse (Parodontitis, Parodontose), dysfunktionelle Einflüsse und altersbedingte Veränderungen. Rezessionen sind immer mit einem Abbau des marginalen Knochens und damit der marginalen Gingiva verbunden. Dysfunktionell kann durch Knirschen und Pressen ein Knochenabbau entstehen, sodass der Zahn in seiner Alveole ausgelenkt wird und der marginale Knochen unter Druckspannung gerät. Dadurch werden die Osteoklasten aktiviert und es kommt zum Knochenabbau (Abb. 3.11). Sehr häufig ist bei bestehenden Rezessionen zu beobachten, dass auf der kontralateralen Seite, der Zugseite des Zahnes, durch Traumatisierung der Sharpey-Fasern eine Zahnfleischtasche entsteht (Abb. 3.12). Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 37 38 3 Leitsymptome Myopathien An der Kaumuskulatur können folgende Symptome auf ein dysfunktionelles Geschehen hinweisen: Muskelatrophie Ätiopathogenese Abb. 3.12 Palatinal am gleichen Zahn Zahnfleischtasche mit kariöser Läsion (Amalgamfüllung), (Stuart-Diagonalgesetz = bukkal Rezession – lingual Zahnfleischtasche). Quer gestreifte Muskeln bedürfen der reflektorischen Steuerung. Ist diese Steuerung durch unterschiedlichste Ursachen, zentrale oder periphere, nicht mehr vorhanden, wird der Muskel nicht innerviert und es tritt in kürzester Zeit eine Atrophie ein (Debrunner, 1985). Eine Atrophie der kraniomandibulären Muskulatur, wie eingefallene Schläfen (M. temporalis) und Wangen (M. masseter), kann damit ein Hinweis auf eine funktionelle Störung sein (Abb. 3.13) und so auf eine okklusale Veränderung reflektorisch über die Propriozeptoren zu einer Unterbrechung der Innervation der Kaumuskeln führen, die zur Muskelatrophie beiträgt. Symptomatik Die Angabe eines Patienten, er habe das Gefühl, „seine Schläfen oder Wangen seien in der letzten Zeit eingefallen“, kann ein wichtiger diagnostischer Anhaltspunkt sein, besonders wenn diese Empfindung zeitlich mit zahnärztlichen oder anderen Maßnahmen oder mit psychoemotionalen Ereignissen in Zusammenhang gebracht werden kann. Muskelhypertrophie Die Zunahme der Muskelmasse eines Muskels bzw. Kaumuskels kann zwei Ursachen haben: • die Erhöhung reflektorischer Impulse zur Kontraktion und • eine Zunahme an isometrischer Muskelarbeit. Ätiopathogenese Abb. 3.13 Muskelatrophie der linken Seite (Masseter, Temporalis) nach Zahnverlust auf dieser Seite, Patientin beklagte eingefallene Wangen und Schläfen. Durch isometrische Muskelarbeit, wie sie beim Knirschen und Pressen vorliegt, und physiologischen Wechsel von aktiven (Arbeit) und passiven (Erholung) Phasen nimmt der Muskelumfang auch der Kaumuskulatur zu. Deutlich sichtbar wird dies bei der Masseterhypertrophie (Abb. 3.14), aber auch der M. temporalis kann betroffen sein. Sind Aktivphasen (Knirschen, Pressen) und Erholungsphasen (Ruhe oder Bewegung) ausgeglichen, kommt es nur zur Muskelhypertrophie, nie zur Ischämie und damit nicht zum Muskelschmerz. Eine Muskelhypertrophie, wie die Masseterhypertrophie, weist somit immer auf eine hohe muskuläre Arbeit hin, die auch dysfunktionelle Hintergründe, wie Knirschen und Pressen, haben kann. Außerdem weist sie darauf hin, dass eine hohe Kraftentfaltung möglich ist, die zu dysfunktionellen Reaktionen an anderen Strukturen, wie Zähnen oder Kiefergelenk, führen und somit ursächlich mit der Muskelhypertrophie in Verbindung gebracht wer- Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System den können, obwohl der oder die Muskeln keine Symptome einer Erkrankung zeigen. Differenzialdiagnostisch sollte eine bestehende Muskelhypertrophie immer in das Beschwerdegeschehen anderer Strukturen im Kopf-Hals-Bereich mit einbezogen werden. Symptomatik Eine Muskelhypertrophie (z. B. Masseterhypertrophie) kann symptomfrei vorliegen. Sofern sie mit Verspannungen, Druckempfindlichkeit und meist dumpfen Schmerzen einhergeht, die in andere Bereiche ausstrahlen (Seitenzahngebiet des Ober- oder Unterkiefers), ist sie immer behandlungsbedürftig. Muskelverspannungen Ätiopathogenese Die Ursache liegt in der enormen Erhöhung der Grundund Maximalaktivität, die zu einem hohen Energiebedarf, einem hohen ATP-Bedarf des Muskels führt. Da die ATPNeubildung über den Weg der oxidativen Phosphorylierung (anaerobe oder aerobe Kreatinphosphatspaltung) geschieht, kommt es zur „Sauerstoffschuld“ (relative Ischämie) und zur Anreicherung von Milchsäure, Phosphorsäure, Kreatin u. a. im Muskel. Außerdem werden durch die isometrischen Kontraktionsphasen die Gefäße komprimiert, was die Ischämie im Muskel noch verstärkt und den Abtransport der Stoffwechselprodukte verhindert. Die relative Ischämie und die Anreicherung von Stoffwechselprodukten führen zur metabolischen Azidose und damit zur Einschränkung der Leistungsfähigkeit und Schädigung des Muskelgewebes und zur Muskelverspannung. Dieser Ablauf ist in allen Muskeln gleich! MERKE Je länger die Aktivitätsphase gegenüber der Ruhephase ist, umso größer wird die Gewebeschädigung und führt über die Myalgie zur Myositis bis hin zur Muskelnekrose (Myogelose). Muskelverspannungen der Kaumuskulatur sind somit immer ein Hinweis auf eine unphysiologische Belastung des oder der Muskeln und weisen auf dysfunktionelle Bewegungsmuster, wie Knirschen und Pressen hin. Symptomatik Hohe Belastung der Kaumuskeln während der fast „isometrischen“ parafunktionellen Knirsch- und Pressphasen führen zu Verspannungen der beteiligten Muskeln, zum Muskelschmerz bis hin zur abakteriellen Muskelnekrose. Abb. 3.14 Masseterhypertrophie (besonders links) bei starkem Bruxismus mit Kopf- und Muskelschmerzen. Muskelschmerz Ätiopathogenese Muskelschmerzen können auf zwei unterschiedliche Mechanismen zurückgeführt werden: • Akuten Muskelschmerz aufgrund plötzlicher hoher Belastung des oder der Muskel, auch als Myalgie (Muskelkater) bezeichnet. • Lang anhaltende chronische Muskeltätigkeit mit nachfolgender abakterieller Entzündung im Muskel (Myositis oder Tendomyositis). Eine Myalgie, also hohe Muskelaktivität über den Trainingszustand der Muskeln hinaus führt zur Traumatisierung der Z-Streifen (Verbindungsstelle zwischen den Sarkomeren) und zum Einfluss von Gewebsflüssigkeit in die Sarkomere. Dadurch wird der Muskel in seiner Funktion gestört und es treten Verspannungen und Schmerzen auf. Symptomatik Da sich eine Myositis eines Muskels in seiner Druckempfindlichkeit ausdrückt, ist die Bestimmung der Druckempfindlichkeit der Kaumuskulatur ein diagnostischer Hinweis auf Bestehen eines dysfunktionellen Zustands und hat darüber hinaus therapeutische Konsequenzen. Therapie Eine Myalgie ist durch Ruhe, Wärme, Bewegungsübungen und Massagen meist binnen drei bis acht Tagen reversibel. Arthropathien Sekundäre Arthropathien sind auf funktionelle Ursachen im kraniomandibulären System zurückzuführen, die zu pathologischen Veränderungen am Kiefergelenk führen. Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 39 40 3 Leitsymptome Ursächlich kommen Änderungen in der Beziehung der Zahnreihen (Okklusion), ihrem funktionellen Zusammenspiel (Okklusionsstörungen) und daraus folgend in der Muskelfunktion (Knirschen und Pressen) in Betracht. Daher hat es sich als sinnvoll erwiesen, funktionelle Erkrankungen der Kiefergelenke in Belastungs- und Stellungsänderungen zu unterteilen. Belastungs- und Stellungsänderungen im Kiefergelenk führen wie in anderen Gelenken zu regenerativen oder degenerativen Gewebereaktionen, welche in der Folge meist zu Strukturveränderungen führen. Im Gegensatz zu den meisten Gelenken des menschlichen Körpers ist das Kiefergelenk durch den Discus articularis zweigeteilt, wodurch sich Änderungen in der Belastung und der Stellung des Kondylus zur Fossa glenoidalis auf den Discus articularis auswirken. Veränderungen in Stellung und Struktur des Diskus werden als Diskopathien zusammengefasst. Belastungsänderungen Belastungsänderungen, die zu einer Kiefergelenkerkrankung führen, sind unphysiologische Druck- oder Zugkräfte, die durch die Funktion der Zahnreihen oder durch die Muskulatur auf die Gelenkstruktur wirken. Somit unterscheidet man in Anlehnung an Gerber (Abb. 3.15): • Kiefergelenkkompression (Arthritis microtraumatica): Die artikulierenden Strukturen sind belastet, die ligamentären Kapselstrukturen entlastet. • Kiefergelenkdistraktion: Die ligamentären Strukturen sind belastet. Daraus wird verständlich, dass auch die Symptome dieser Erkrankungsformen unterschiedlich sind. Kiefergelenkkompression Ursache einer Kiefergelenkkompression ist der Verlust der seitlichen Abstützung der Zähne durch Zahnverlust, Seitenzahnabrasion, in Nonokklusion stehende prothetische Versorgungen und durch Intrusion der Seitenzähne, die jeweils iatrogen oder anderweitig erworben sind. Die ersten drei genannten Ursachen sind in ihrer Wirkung auf die Kiefergelenke gleich zu bewerten. Sobald die posteriore Abstützung verloren geht, steigt bei Einnahme der Zahnkontaktbeziehung (statischen Okklusion) die Druckbelastung für die Kiefergelenke an. Kommen parafunktionelle Knirsch- und Pressmechanismen hinzu, ist die traumatische Wirkung auf das Gelenk hoch. Die Intrusion der Seitenzähne ist durch parafunktionelles Pressen zu erklären und bei Jugendlichen mit natürlichen kariesfreien Gebissen als mögliche Ursache für eine Kiefergelenkkompression anzusehen. Distraktion Kompression Zentrik (IKP) ventral retral nach Gerber Abb. 3.15 Schematische Darstellung der verschiedenen Verlagerungen im Kiefergelenk. MERKE Wirken hohe Druckbelastungen in habitueller Okklusion und/oder bei Parafunktionen, so führen sie zur Degenerationserscheinung am Diskus bis hin zur Diskusperforation und an den artikulierenden Flächen des Kondylus und der Eminentia articularis bis zur Osteoarthritis/Osteoarthrose. Symptome einer Kiefergelenkkompression sind eine schleichend einsetzende, im Primärstadium oft auch nur zeitweise auftretende Beeinträchtigung der Gelenkbewegung mit eingeschränkter maximaler Kieferöffnung. Die Kieferöffnung geht bei Exazerbation der Erkrankung kontinuierlich zurück. Die Patienten haben das Gefühl der Steifigkeit im Gelenk. Die Bewegungen im Gelenk sind verlangsamt, im späteren Stadium limitiert. Als auskultatorischer Befund treten oft reibende Gelenkgeräusche (Krepitation) besonders im fortgeschrittenen Stadium auf. Im Initialstadium einer Kiefergelenkkompression werden keine Schmerzen angegeben. Erst im fortgeschrittenen Stadium mit Fibrosierungen und Sklerosierungen treten stechende Gelenkschmerzen auf, welche bei Bewegung und unter Belastung, wie Kauen oder Pressen, zunehmen. Die Therapie einer Kiefergelenkkompression besteht in einer gezielten Gelenkentlastung (Dekompression) und einer physiotherapeutischen Anregung zur Regeneration der veränderten Gewebe durch Wärme, Kurzwelle und Bewegungsübungen. Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG Funktionelle Störungen im kraniomandibulären System Kiefergelenkdistraktion (Hypermobilität der Kiefergelenke) Ursache der Kiefergelenkdistraktion sind Hyperkontakte im Molarengebiet in statischer Okklusion und bei Unterkieferbewegungen (Abb. 3.16). Dadurch kommt es zwar zu einer Entlastung der artikulierenden Flächen, aber zu einer Zugbelastung der ligamentären Strukturen. Erreicht die Zugbelastungen Werte, die zu einer Dehnung über 10 % führen, ist mit einer dauernden Schädigung im Sinne einer Überdehnung zu rechnen. Die Folge einer Distraktion ist somit eine Überdehnung des Band- und Kapselsystems, was sich auf die Führung und damit die Mobilität des Kiefergelenks auswirkt. Symptome der Hypermobilität sind eine maximale Kieferöffnung über 50 mm SKD und diskoordinierte Bewegungen. Eine weitere Folge der Kiefergelenkdistraktion ist, dass der Diskus in der Bewegung nicht mehr vom Kondylus zentriert wird, was zu diskoordinierten Bewegungsmustern und einer Diskusverlagerung führen kann. Vom Patienten werden bei Kapselüberdehnung ziehende Schmerzen oder Spannungsschmerzen im Gelenkbereich angegeben. Therapeutisches Ziel bei einer bestehenden Kiefergelenkdistraktion ist die Zentrierung des Kiefergelenks. Patienten, die an Hypermobilität und einer Kondylusluxation leiden, sollten weite Kieferöffnungen vermeiden und beim Gähnen die Kieferöffnung durch Handunterstützung begrenzen. Zudem sollten sie nur kleinere Bissen zu sich nehmen. Als Übung kann empfohlen werden, die Zunge an die Gaumenfalte zu führen und den Mund dabei mehrmals zu öffnen. Durch diese Übungen werden die Retraktoren aktiviert, und im Kiefergelenk wird eine Rotationsbewegung ausgeführt, was zu einer Kapselstraffung führen kann. Stellungsänderungen Stellungsänderungen im Kiefergelenk können nach ventral, lateral und retral vorliegen, bezogen auf eine ideale Kondylus-Diskus-Fossa-Relation. Sie entstehen durch okklusale Zwangsführungen, die iatrogen bedingt, durch Wanderungen, Kippungen und Elongationen von Zähnen entstanden oder während des Wachstums erworben sein können. Da durch die räumliche Stellungsänderung des Kondylus in der Fossa glenoidalis unterschiedliche Gewebe mehr oder weniger traumatisiert werden können, ist auch das Beschwerde- bzw. Befundbild bei den einzelnen Verlagerungsarten nicht gleich. Hinzu kommt, dass die funktionelle Beziehung zwischen beiden Gelenken dazu führt, dass sich eine Stellungsänderung in einem Gelenk immer auch auf das andere Gelenk auswirkt. Ventralverlagerung Die ventrale Verlagerung des Kiefergelenks entsteht durch vorzeitige Kontakte auf „Retrusionsfacetten“, die den Unterkiefer und damit das Kiefergelenk in eine anteriore Stellung führen. Da diese Zwangsführung entlang der ar- Abb. 3.16 Anatomisches Präparat einer kompensierten Kiefergelenkdistraktion. Es ist deutlich zu erkennen, dass der Kondylus nicht mehr in der Fossa steht und der Diskus und die bilaminäre Zone hyperplastisch sind. tikulierenden Flächen (Kondylus-Diskus-Eminentia) läuft, kommt es nur selten zu pathologischen Einflüssen auf die Kiefergelenkbewegungen. Kommen jedoch andere Effekte hinzu, wie Kiefergelenkkompression bzw. -distraktion, sind auch bei einer Ventralverlagerung Gewebeschädigungen zu erwarten. Klinisch ist eine große RKP-IKP-Differenz über 1 mm oft mit lateralem Gleiten zwischen retraler Kondylenposition (RKP) und habitueller Interkuspidation (IKP) ein Hinweis für eine Ventralverlagerung. Therapeutisch steht die Zentrierung der Kondylus-Diskus-Einheit in der Fossa articularis über eine Äquilibrierungsschiene im Vordergrund der zahnärztlichen Behandlung mit dem Ziel der anschließenden Korrektur der okklusalen Kontaktbeziehung. Lateralverlagerungen Die Lateralverlagerung der Kiefergelenke wird durch vorzeitige Kontakte auf Laterotrusions- oder Mediotrusionsfacetten, die den Unterkiefer transversal verschieben, hervorgerufen. Eine transversale Zwangsführung des Unterkiefers in habitueller Interkuspidation ist immer an eine Lateralverschiebung des einen und an eine Medialverschiebung des anderen Gelenkes gebunden. Sie tritt alleine und in Kombination zu anderen Stellungs- und Belastungsänderungen der Kiefergelenke auf. Da die Symptomatik im lateral verlagerten Gelenk größer ist als die im medial versetzten, bezieht man das Krankheitsbild auf das laterale Gelenk. Durch eine transversale Verschiebung der Kiefergelenke werden die lateralen Gewebeabschnitte, Ligamentum laterale, Kapselbereiche und Diskusansatz überdehnt und damit traumatisiert, wodurch eine Kapsulitis entstehen kann. Die Patienten klagen oft über einen ziehenden Spannungsschmerz am lateralen Gelenkpol, der sich bei Bewegung des Unterkiefers zur gleichen Seite noch verstärken kann. Das Gelenk zeigt einen präaurikulären Druckschmerz, und klinisch kann ein intermediäres ligamentäres Knacken bei Öffnungsbewegungen auftreten. Dieses Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG 41 42 3 Leitsymptome Zur Behandlung einer Lateralverlagerung ist in jedem Fall eine Äquilibrierungsschiene zu empfehlen, um eine Zentrierung des Gelenkes zu erreichen. Definitive Maßnahmen, je nach Gebisszustand und Lückentopographie, schließen die zahnärztliche Behandlung ab. Retralverlagerung Abb. 3.17 MRT des linken Kiefergelenks bei bestehenden vorzeitigen Kontakten im Frontzahngebiet, es ist deutlich die retrokraniale Stellung des Kondylus zu erkennen. Die Retralverlagerung des Kondylus wird verursacht durch vorzeitige Kontakte auf Protrusionsfacetten, die eine retrusive Zwangsführung der Mandibula in habitueller Interkuspidation darstellen. Vorzeitige Kontakte im Molaren-, Prämolaren- und Frontzahnbereich können eine Retrallage verursachen. Vorzeitige Molarenkontakte führen zu einer retrokaudalen, Frontzahnkontakte zu einer retrokranialen Verlagerung (Abb. 3.17). Im Gegensatz zur Ventralverlagerung wird bei einer Retralverlagerung der Kondylus in die bilaminäre Zone gedrückt. Außerdem kann über die Druck-, Spannungs- und Schmerzrezeptoren eine muskuläre Hyperaktivität der Protraktoren (Pterygoideus lateralis und medialis, Masseter superficialis) ausgelöst werden. Diese Hyperaktivität der Protraktoren, aber auch Retraktoren kann neben der Kiefergelenksymptomatik zu einer Myopathie dieser Muskelgruppe führen. Durch die Traumatisierung des posterioren Kapselapparates und der bilaminären Zone können vom Patienten Schmerzen angegeben werden, die bei Einnahme der habituellen Interkuspidation und beim Kauen zunehmen. Diese Schmerzen können in den Ohr-, Schläfen- und Oberkieferbereich ausstrahlen. MERKE Nach Steinhardt und Pullinger ist die Retralverlagerung die häufigste Ursache degenerativer Gelenkveränderungen. Abb. 3.18 MRT eines Kiefergelenks mit retrokranialer Stellung des Kondylus; der posteriore Gelenkspalt ist schmaler als der anteriore. Knacken entsteht, indem der laterale Pol bei Öffnungsbewegungen das Ligamentum laterale kreuzt, anreißt und damit in Schwingung bringt. Verschiebt man das Gelenk durch leichten manuellen Druck am Kieferwinkel nach medial, so ist das ligamentäre Knacken nicht mehr zu hören bzw. zu fühlen. Eine intraaurikuläre Druckempfindlichkeit und palpatorisch eine Verengung des Porus acusticus bei Einnahme der habituellen Okklusion sind wichtige diagnostische Zeichen einer Retrallage. Mit bildgebenden Verfahren (CT, MRT) ist eine Verengung des posterioren Gelenkspaltes im Verhältnis zur anterioren Gelenkspaltbreite nachzuweisen (Abb. 3.18). Therapeutisch ist bei einer Retralverlagerung ein Okklusionsausgleich über eine Äquilibrierungsschiene oder eine Positionierungsschiene möglich. Liegt eine starke Retralverlagerung bei unzureichender okklusaler Beziehung vor, die später restaurativer Maßnahmen bedarf, ist bei gleichzeitiger Diskusverlagerung der Einsatz einer Positionierungsschiene gerechtfertigt. Ernst, Freesmeyer, Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich (ISBN 9783131414410), © 2008 Georg Thieme Verlag KG