Zum Thema: Onkologische Psychosomatik

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Zum Thema
Onkologische Psychosomatik
D
ie Lebensqualität der onkologischen Patienten resultiert in jeder Krankheitsphase aus dem dynamischen Gleichgewicht zwischen den
medizinischen Fakten, dem psychischen Befinden und dem Maß der
sozialen
Unterstützung.
Dieses
Gleichgewicht ist immer dynamisch,
und Veränderung eines Bereiches
kann zu einer besseren oder schlechteren Lebensqualität in der Folge führen. Patienten, die in ihrer Persönlichkeit stabil sind, und die ein gutes, unterstützendes Netzwerk zu ihrer Verfügung haben, dazu auch noch in einem frühen Krankheitsstadium sind,
haben in der Regel weniger psychische Probleme zu erwarten. Umgekehrt haben Patienten mit geringen
individuellen und sozialen Ressourcen sehr wahrscheinlich Schwierigkeiten und brauchen psychosoziale
Hilfsangebote, auch wenn die Erkrankung noch in einem frühen Stadium
ist und damit nur minimale Einschränkungen verbunden sind. Weiterhin wird selbst der Betroffene mit
guter psychischer Konstitution und
einem guten sozialen Netzwerk bei einer fortgeschrittenen Erkrankung,
wenn die Aussicht auf Heilung aufgegeben werden muss, Hilfe brauchen, um den Prozess der Bewältigung
zu unterstützen. Daneben brauchen
Betroffene mit geringen Ressourcen
bei schwerwiegender Belastung mit
großer Wahrscheinlichkeit Hilfe und
sicher auch psychosoziale Interventionen bis hin zur Psychotherapie.
Diese Patienten sollten früh erkannt
werden, um Hilfsangebote zu machen
und damit einer psychischen Dekompensation vorzubeugen. In allen beschriebenen Situationen ist die somatische und psychische Behandlung der
Patienten durch das Behandlungsteam zentral für die Lebensqualität aller Patienten in allen Krankheitspha-
sen. Die Integration einer guten psychischen Betreuung im Kontext der
Behandlung der Erkrankung kann zu
einem wesentlichen Unterschied führen zum einen in der subjektiven Erfahrung des Patienten, und zum anderen in der Kooperation mit dem Behandlungsteam. Darüber hinaus beeinflusst die soziokulturelle Einstellung und die potenzielle soziale Unterstützung, da dies einen Einfluss hat
auf das Offenlegen der Diagnose und
die Reaktionen der anderen gegenüber Krebskranken.
Prof.
Mechthild
Neises,
Hannover
Autoren dieser Ausgabe
In diesem Schwerpunktheft vermitteln
die Beiträge ein Spektrum hinsichtlich
des Versorgungsbedarfs und der Versorgungsangebote sowohl in der Klinik, als auch in der Praxis für Patientinnen und Patienten nach Krebserkrankung. B. Hornemann et al. beschreiben in ihrem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der psychoonkologischen Versorgung im Universitätskrebszentrum Dresden. Mit diesen übergeordneten Zentren sollen
bundesweit einheitliche Strukturen
und Prozesse geschaffen werden, die
in der Versorgung allen Tumorpatienten zugänglich sind. Dabei wird ein
besonderer Schwerpunkt auf die Vernetzung dieser Zentren mit onkologischen Schwerpunktpraxen, niedergelassenen Fachärzten und regionalen
Krankenhäusern gelegt. Für den Patienten hat dies den Vorteil, dass ohne
Informationsverlust und Verunsicherung des Patienten ein Übergang aus
der stationären in die ambulante Versorgung möglich ist. Darüber hinaus
haben diese Zentren das Anliegen, im
Sinne einer präventiven Arbeit eine
starke Öffentlichkeitsarbeit zu leisten,
z. B. bezüglich Aufklärung über risikohaftes Gesundheitsverhalten, Vor-
Ärztliche Psychotherapie 2/2008
sorgemöglichkeiten und die Enttabuisierung von chronisch onkologischen
Erkrankungen im alltäglichen Leben.
Die psychische Belastung von onkologischen Patienten wird mit über
40% angegeben im Sinne somatopsychischer Folgereaktionen, die sich in
der Regel im klinischen Bild mit
Angststörungen und depressiven Erkrankungen zeigen. Andererseits wird
in zahlreichen Studien der Wunsch
nach Unterstützung von Betroffenen
mit über 80% angegeben, adressiert
an ihren behandelnden Arzt und in
20–30% adressiert an den psychotherapeutisch geschulten Arzt oder „Psychoonkologen“.
R. Schwarz und H. Götze beschreiben in ihrem Beitrag zur psychosozialen Behandlung und ambulanten Psychotherapie von Krebspatienten als
das primäre Ziel psychosozialer Interventionen, das Leben mit oder nach
einer Krebserkrankung lebenswert zu
gestalten, weiterführende Hilfen zu
vermitteln und Lebensprobleme lösen
zu helfen. Viele Autoren plädieren für
eine umfassende psychosoziale Betreuung, die es den Krebskranken ermöglichen soll, der Krankheit Bedeutung zu verleihen und einen zuver-
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Zum Thema
sichtlichen Zugang zum Leben wieder
zu gewinnen. Je nach den individuellen Erfordernissen haben sich verschiedene Verfahren bewährt: sowohl
die Begleitung des Kranken und seiner
Angehören durch Beratung, als auch
körperorientierte Entspannungsverfahren und Einzel- und Gruppenpsychotherapie, wobei eine ausreichende
Qualifikation der Mitarbeiter im onkologischen Bereich dringend erforderlich ist. Dies gilt sowohl für psychologische Psychotherapeuten hinsichtlich ihrer Kenntnisse über die somatischen Aspekte der Erkrankung,
als auch für behandelnde Fachärzte,
wie z. B. Gynäkologen, hinsichtlich
der psychischen Belastungen in Verbindung mit der Krebserkrankung.
M. Neises und D. Gadzicki beschreiben in ihrem Beitrag die speziellen Aspekte im Rahmen des erblichen
Brust- und Eierstockkrebses im Rahmen der genetischen Diagnostik. Diese Diagnostik ist mit dem Nachweis
der Gene BRCA 1 und 2 (breast cancer
gene) seit Mitte der 90er-Jahre möglich. Die Mutation in einem dieser Gene ist derzeit der wichtigste Risikofaktor für die Entstehung. Bei Brust- und
Eierstockkrebs sind in etwa 5 bis 10%
durch genetische Veranlagung bedingt. Die Möglichkeiten dieser prädiktiven Medizin können sowohl Entlastung, aber auch psychische Belastungen für die Ratsuchenden und ihre
Familien nach sich ziehen. Immer
wird mit der Kenntnis der eigenen
Prognose oder die anderer Familienmitglieder die Kommunikation innerhalb der Familie beeinflusst und nicht
selten die Familienbeziehungen dadurch auch belastet. Kommt eine gesunde Frau in die Beratung, wird sie
oft zum ersten Mal damit konfrontiert,
dass die Erkrankung potenziell alle
Familienmitglieder und auch sie selbst
im Laufe ihres Lebens betreffen kann.
Auf diese emotionale Belastung wird
im Beitrag in verschiedenen Facetten
eingegangen. Zu betonen bleibt für
alle Familienmitglieder deren Autonomie hinsichtlich eines Rechts auf
Wissen, aber auch ihr Recht auf Nichtwissen sicherzustellen.
W. Häuser gibt in seinem Beitrag
zur Pharmakotherapie in der Psychoonkologie sehr umfassend anhand
evidenzbasierter Kriterien eine Übersicht zu Empfehlungen pharmakologischer Therapieoptionen in der Psychoonkologie. Der Autor ergänzt diese
Ergebnisse anhand seiner klinischen
Erfahrungen, in die 20 Jahre der medizinischen, d. h. onkologischen,
schmerztherapeutischen und palliativmedizinischen sowie psychotherapeutischen Behandlung von onkologischen Patienten einfließen.
H. Kappauf setzt in seinem Beitrag
Schwerpunkte zu Praxiskonzepten in
der Psychoonkologie und deren Weiterentwicklung. Für deren Weiterentwicklung werden die folgenden
Aspekte hervorgehoben: zum einen
eine sensitive Diagnostik einer psychosozialen Belastung und Komorbidität sowie deren differenzierte und
zeitnahe therapeutische Berücksichtigung. Dazu wird eine Reduktion der
strukturell bedingten psychosozialen
Belastungen im onkologischen Behandlungsalltag gefordert, insbesondere aufgrund einer adäquaten ArztPatient-Kommunikation. Anhand von
Fallberichten werden psychotherapeutische Kurzzeitinterventionen beschrieben. Nach Einschätzung des Autors haben Langzeitpsychotherapien
für die alltägliche psychoonkologische Versorgungspraxis nur einen geringen Stellenwert.
Des Weiteren finden Sie in der Rubrik zur psychosomatischen Grundversorgung einen sehr kritischen und
anregenden Beitrag von G. Berberich,
verbunden mit der Frage: Erfolgsmodell oder Feigenblatt? Der Autor
Ärztliche Psychotherapie 2/2008
verweist auf die verzögerte Zuweisung
zur qualifizierten Therapie, die eine
Chronifizierung bei psychischen und
psychosomatischen Störungen begünstigt. Dabei sollte qualifizierte Therapie nicht ausschließlich im Sinne einer
ambulanten Psychotherapie oder stationär-psychosomatischen
Behandlung
betrachtet werden. Auch eine adäquate
psychosomatische Grundversorgung ist
qualifizierte Therapie, da oft im Rahmen
dieser Begleitung erst eine Motivation
zu psychotherapeutisch-psychosomatischen Behandlungen aufgebaut werden
muss. Der Autor zieht das Fazit, dass die
psychosomatische
Grundversorgung
seit ihrer Einführung in Anbetracht ihrer
empirischen Absicherung durchaus als
Erfolgsmodell zu bezeichnen ist, auch
wenn sie immer wieder in Gefahr ist,
auch vor dem Hintergrund derzeitiger
Abrechnungsmodi zu einem Feigenblatt
einer auf somatische Aspekte reduzierten Heilkunst zu „verkümmern“.
Darüber hinaus finden Sie wertvolle Hinweise zur Kodierung nach ICD10
für Fachärzte für psychosomatische
Medizin und Psychotherapie von H.
Albrecht.
W. Senf und Q. Shi geben einen interessanten Blick über den Tellerrand
zur Psychotherapie in China.
W. Bertram liefert mit seinem Beitrag zur Neurosozialpsychiatrie ein
Glanzlicht an unterhaltsamer Wissenschaft.
Last not least finden Sie Nachrichten aus den Fachgesellschaften und
Landesverbänden.
Ich wünsche Ihnen eine interessante
und anregende Lektüre.
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M. Neises
1. stellvertr. Vorsitzende der DGPM
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