73 Zum Thema Onkologische Psychosomatik D ie Lebensqualität der onkologischen Patienten resultiert in jeder Krankheitsphase aus dem dynamischen Gleichgewicht zwischen den medizinischen Fakten, dem psychischen Befinden und dem Maß der sozialen Unterstützung. Dieses Gleichgewicht ist immer dynamisch, und Veränderung eines Bereiches kann zu einer besseren oder schlechteren Lebensqualität in der Folge führen. Patienten, die in ihrer Persönlichkeit stabil sind, und die ein gutes, unterstützendes Netzwerk zu ihrer Verfügung haben, dazu auch noch in einem frühen Krankheitsstadium sind, haben in der Regel weniger psychische Probleme zu erwarten. Umgekehrt haben Patienten mit geringen individuellen und sozialen Ressourcen sehr wahrscheinlich Schwierigkeiten und brauchen psychosoziale Hilfsangebote, auch wenn die Erkrankung noch in einem frühen Stadium ist und damit nur minimale Einschränkungen verbunden sind. Weiterhin wird selbst der Betroffene mit guter psychischer Konstitution und einem guten sozialen Netzwerk bei einer fortgeschrittenen Erkrankung, wenn die Aussicht auf Heilung aufgegeben werden muss, Hilfe brauchen, um den Prozess der Bewältigung zu unterstützen. Daneben brauchen Betroffene mit geringen Ressourcen bei schwerwiegender Belastung mit großer Wahrscheinlichkeit Hilfe und sicher auch psychosoziale Interventionen bis hin zur Psychotherapie. Diese Patienten sollten früh erkannt werden, um Hilfsangebote zu machen und damit einer psychischen Dekompensation vorzubeugen. In allen beschriebenen Situationen ist die somatische und psychische Behandlung der Patienten durch das Behandlungsteam zentral für die Lebensqualität aller Patienten in allen Krankheitspha- sen. Die Integration einer guten psychischen Betreuung im Kontext der Behandlung der Erkrankung kann zu einem wesentlichen Unterschied führen zum einen in der subjektiven Erfahrung des Patienten, und zum anderen in der Kooperation mit dem Behandlungsteam. Darüber hinaus beeinflusst die soziokulturelle Einstellung und die potenzielle soziale Unterstützung, da dies einen Einfluss hat auf das Offenlegen der Diagnose und die Reaktionen der anderen gegenüber Krebskranken. Prof. Mechthild Neises, Hannover Autoren dieser Ausgabe In diesem Schwerpunktheft vermitteln die Beiträge ein Spektrum hinsichtlich des Versorgungsbedarfs und der Versorgungsangebote sowohl in der Klinik, als auch in der Praxis für Patientinnen und Patienten nach Krebserkrankung. B. Hornemann et al. beschreiben in ihrem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der psychoonkologischen Versorgung im Universitätskrebszentrum Dresden. Mit diesen übergeordneten Zentren sollen bundesweit einheitliche Strukturen und Prozesse geschaffen werden, die in der Versorgung allen Tumorpatienten zugänglich sind. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Vernetzung dieser Zentren mit onkologischen Schwerpunktpraxen, niedergelassenen Fachärzten und regionalen Krankenhäusern gelegt. Für den Patienten hat dies den Vorteil, dass ohne Informationsverlust und Verunsicherung des Patienten ein Übergang aus der stationären in die ambulante Versorgung möglich ist. Darüber hinaus haben diese Zentren das Anliegen, im Sinne einer präventiven Arbeit eine starke Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, z. B. bezüglich Aufklärung über risikohaftes Gesundheitsverhalten, Vor- Ärztliche Psychotherapie 2/2008 sorgemöglichkeiten und die Enttabuisierung von chronisch onkologischen Erkrankungen im alltäglichen Leben. Die psychische Belastung von onkologischen Patienten wird mit über 40% angegeben im Sinne somatopsychischer Folgereaktionen, die sich in der Regel im klinischen Bild mit Angststörungen und depressiven Erkrankungen zeigen. Andererseits wird in zahlreichen Studien der Wunsch nach Unterstützung von Betroffenen mit über 80% angegeben, adressiert an ihren behandelnden Arzt und in 20–30% adressiert an den psychotherapeutisch geschulten Arzt oder „Psychoonkologen“. R. Schwarz und H. Götze beschreiben in ihrem Beitrag zur psychosozialen Behandlung und ambulanten Psychotherapie von Krebspatienten als das primäre Ziel psychosozialer Interventionen, das Leben mit oder nach einer Krebserkrankung lebenswert zu gestalten, weiterführende Hilfen zu vermitteln und Lebensprobleme lösen zu helfen. Viele Autoren plädieren für eine umfassende psychosoziale Betreuung, die es den Krebskranken ermöglichen soll, der Krankheit Bedeutung zu verleihen und einen zuver- © Schattauer GmbH Downloaded from www.aerztliche-psychotherapie.de on 2017-10-28 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 74 Zum Thema sichtlichen Zugang zum Leben wieder zu gewinnen. Je nach den individuellen Erfordernissen haben sich verschiedene Verfahren bewährt: sowohl die Begleitung des Kranken und seiner Angehören durch Beratung, als auch körperorientierte Entspannungsverfahren und Einzel- und Gruppenpsychotherapie, wobei eine ausreichende Qualifikation der Mitarbeiter im onkologischen Bereich dringend erforderlich ist. Dies gilt sowohl für psychologische Psychotherapeuten hinsichtlich ihrer Kenntnisse über die somatischen Aspekte der Erkrankung, als auch für behandelnde Fachärzte, wie z. B. Gynäkologen, hinsichtlich der psychischen Belastungen in Verbindung mit der Krebserkrankung. M. Neises und D. Gadzicki beschreiben in ihrem Beitrag die speziellen Aspekte im Rahmen des erblichen Brust- und Eierstockkrebses im Rahmen der genetischen Diagnostik. Diese Diagnostik ist mit dem Nachweis der Gene BRCA 1 und 2 (breast cancer gene) seit Mitte der 90er-Jahre möglich. Die Mutation in einem dieser Gene ist derzeit der wichtigste Risikofaktor für die Entstehung. Bei Brust- und Eierstockkrebs sind in etwa 5 bis 10% durch genetische Veranlagung bedingt. Die Möglichkeiten dieser prädiktiven Medizin können sowohl Entlastung, aber auch psychische Belastungen für die Ratsuchenden und ihre Familien nach sich ziehen. Immer wird mit der Kenntnis der eigenen Prognose oder die anderer Familienmitglieder die Kommunikation innerhalb der Familie beeinflusst und nicht selten die Familienbeziehungen dadurch auch belastet. Kommt eine gesunde Frau in die Beratung, wird sie oft zum ersten Mal damit konfrontiert, dass die Erkrankung potenziell alle Familienmitglieder und auch sie selbst im Laufe ihres Lebens betreffen kann. Auf diese emotionale Belastung wird im Beitrag in verschiedenen Facetten eingegangen. Zu betonen bleibt für alle Familienmitglieder deren Autonomie hinsichtlich eines Rechts auf Wissen, aber auch ihr Recht auf Nichtwissen sicherzustellen. W. Häuser gibt in seinem Beitrag zur Pharmakotherapie in der Psychoonkologie sehr umfassend anhand evidenzbasierter Kriterien eine Übersicht zu Empfehlungen pharmakologischer Therapieoptionen in der Psychoonkologie. Der Autor ergänzt diese Ergebnisse anhand seiner klinischen Erfahrungen, in die 20 Jahre der medizinischen, d. h. onkologischen, schmerztherapeutischen und palliativmedizinischen sowie psychotherapeutischen Behandlung von onkologischen Patienten einfließen. H. Kappauf setzt in seinem Beitrag Schwerpunkte zu Praxiskonzepten in der Psychoonkologie und deren Weiterentwicklung. Für deren Weiterentwicklung werden die folgenden Aspekte hervorgehoben: zum einen eine sensitive Diagnostik einer psychosozialen Belastung und Komorbidität sowie deren differenzierte und zeitnahe therapeutische Berücksichtigung. Dazu wird eine Reduktion der strukturell bedingten psychosozialen Belastungen im onkologischen Behandlungsalltag gefordert, insbesondere aufgrund einer adäquaten ArztPatient-Kommunikation. Anhand von Fallberichten werden psychotherapeutische Kurzzeitinterventionen beschrieben. Nach Einschätzung des Autors haben Langzeitpsychotherapien für die alltägliche psychoonkologische Versorgungspraxis nur einen geringen Stellenwert. Des Weiteren finden Sie in der Rubrik zur psychosomatischen Grundversorgung einen sehr kritischen und anregenden Beitrag von G. Berberich, verbunden mit der Frage: Erfolgsmodell oder Feigenblatt? Der Autor Ärztliche Psychotherapie 2/2008 verweist auf die verzögerte Zuweisung zur qualifizierten Therapie, die eine Chronifizierung bei psychischen und psychosomatischen Störungen begünstigt. Dabei sollte qualifizierte Therapie nicht ausschließlich im Sinne einer ambulanten Psychotherapie oder stationär-psychosomatischen Behandlung betrachtet werden. Auch eine adäquate psychosomatische Grundversorgung ist qualifizierte Therapie, da oft im Rahmen dieser Begleitung erst eine Motivation zu psychotherapeutisch-psychosomatischen Behandlungen aufgebaut werden muss. Der Autor zieht das Fazit, dass die psychosomatische Grundversorgung seit ihrer Einführung in Anbetracht ihrer empirischen Absicherung durchaus als Erfolgsmodell zu bezeichnen ist, auch wenn sie immer wieder in Gefahr ist, auch vor dem Hintergrund derzeitiger Abrechnungsmodi zu einem Feigenblatt einer auf somatische Aspekte reduzierten Heilkunst zu „verkümmern“. Darüber hinaus finden Sie wertvolle Hinweise zur Kodierung nach ICD10 für Fachärzte für psychosomatische Medizin und Psychotherapie von H. Albrecht. W. Senf und Q. Shi geben einen interessanten Blick über den Tellerrand zur Psychotherapie in China. W. Bertram liefert mit seinem Beitrag zur Neurosozialpsychiatrie ein Glanzlicht an unterhaltsamer Wissenschaft. Last not least finden Sie Nachrichten aus den Fachgesellschaften und Landesverbänden. Ich wünsche Ihnen eine interessante und anregende Lektüre. © Schattauer GmbH Downloaded from www.aerztliche-psychotherapie.de on 2017-10-28 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. M. Neises 1. stellvertr. Vorsitzende der DGPM