3 FORSCHEN & HEILEN MIT STOSSWELLEN BRÜCHE HEILEN Knochen sind faul. Wenn sie nicht belastet werden, bauen sie sich ab. Heilt ein Bruch nach sechs Monaten trotz OP nicht aus, muss man dem Knochen daher signalisieren: Tu was, bau neue Zellen auf! Dafür kann er mit einem Reiz stimuliert werden, wie es Chirurgen am UKM bei Patient Robin Koch getan haben – mit Hilfe der Stoßwellentherapie. Patient Robin Koch (r.) lässt sich von Oberarzt Dr. Patric Garcia, Dr. Jens Everding und Dr. Josef Stolberg-Stolberg (v.l.) das Stoßwellengerät erklären.Foto: Wilfried Gerharz Von Julia Gottschick I n den letzten Momenten seines Unfalls war Robin Koch schon nicht mehr bei Bewusstsein. Heute weiß er nur noch, wie er als Erster seiner Motorradgruppe durch eine Kurve in Nienberge fuhr. „Da lag Dreck auf der Straße, den ein Landwirt verloren hatte“, schildert der 21-Jährige das Geschehen an jenem Apriltag 2014. Bei 70 Stundenkilometern rutschte dem Studenten das Hinterrad weg. Später erzählte man ihm, er sei samt Maschine erst auf einem Feld und dann im Graben gelandet. Mit dem Notarztwagen kam der junge Mann in den Schockraum der Uniklinik Münster, wo ihn ein großes Ärzteteam interdisziplinär untersuchte. „Von Kopf bis Fuß, das ist das Standardprozedere“, beschreibt Dr. Jens Everding von der Klinik und Poliklinik für Unfall-, Handund Wiederherstellungschirurgie am UKM. „Ich kann nur sagen: Der Patient hatte für diese Art von Unfall gro- ßes Glück.“ Die Bilanz der Mediziner: eine leichte Lungenverletzung sowie eine gebrochene Elle und Speiche am linken Arm. Die Ärzte richteten die Knochen wieder ein und stabilisierten sie mit Metallplatten. „Pro Knochen eine“, wie Everding sagt. Bis zu diesem Zeitpunkt alles Routine. Als nach zwei Wochen die Wundnähte gezogen wurden, war die Wunde gut verheilt. Doch nach sechs Wochen in der Röntgenkontrolle stellte sich heraus: In Sa- SCHON GEWUSST? 5-10 Prozent aller Knochenbrüche heilen verzögert oder überhaupt nicht. Zwei Patienten pro Woche werden am UKM mit Stoßwellentherapie behandelt. 4 FORSCHEN & HEILEN chen Knochenbruchheilung hatte sich nichts getan. „Normalerweise erkennt man vier bis sechs Wochen danach neues Knochengewebe rund um die Fraktur, nach drei Monaten wäre die Heilung im Idealfall abgeschlossen“, erläutert Everding. Nicht so in Robin Kochs Fall, wo die Bilder auch nach einem halben Jahr zeigten, dass sich der Bruch-Spalt eher noch vergrößert hatte. „Sechs Monate sind eine entscheidende Zeitspanne“, betont Oberarzt Dr. Patric Garcia. Gilt doch nach sechs Monaten in Europa per Definition, dass ein Bruch dann nicht mehr von alleine heilt. Robin Koch für seinen Teil steht mit dem Befund einer sogenannten Pseudarthrose nicht allein da. Statistiken besagen, dass sich fünf bis zehn Prozent aller Brüche nicht regenerieren. Ursachen können genetische Faktoren sein, eine starke Quetschung der umliegenden Muskulatur – oder die Art und Stelle der Fraktur. Raucht ein Patient, leidet an Diabetes oder ist hochbetagt, kann dies den Prozess ebenfalls beeinträchtigen. „All das ist bei Herrn Koch aber nicht der Fall“, streicht Jens Everding heraus. Für die ihn behandelnden Ärzte gab es nun mehrere Optionen. Die erste: eine erneute OP – „die 98 Prozent aller Krankenhäuser gewählt hätten“, schätzt Patric Garcia. Die Chirurgen räumen das Narbengewebe rund um die Fraktur aus, borgen sich Knochen vom Beckenkamm aus, um Einsatzbereit für die nächste OP: Ähnlich wie bei einer Zündkerze hohe Spannung abgebaut wird, entlädt sich auch bei der Stoßwellentherapie mit einem Knall ein Funke. Foto: Wilfried Gerharz den Bruch-Spalt zu überbrücken, und reichern ihn mit Spongiosa aus dem Becken an, die knochenbildende Zellen birgt. „Dies ist derzeit der Goldstandard“, so Garcia. Natürlich gibt es dabei die üblichen Risiken eines Eingriffs wie Blutverlust, Schmerz oder Wundinfektion. Eine zweite Möglichkeit wäre der Einsatz von Wachstumsfaktoren – einer Proteingruppe mit der Bezeichnung BMP (so genannte bone morphogenetic proteins) –, die mittels Trägersubstanz an die Bruchstelle transportiert werden und die Knochenentwicklung stimulieren. Allerdings sind diese bislang nur im Rahmen einer Studie für den Unterschenkel zugelassen und bergen Risiken wie eine Entzündungsreaktion. Für Robin Koch wählte Patric Garcia die dritte Option, „um dem Körper zu sagen, dass er neuen Knochen bilden soll“, wie der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erläutert. Denn Knochen reagieren auf Reize – und werden faul, wenn sie nicht gebraucht werden. „Ein Astronaut im All hat nach zwölf Wochen Schwerelosigkeit Knochen wie ein 80jähriger Opa“, verdeutlicht Garcia. „Er baut sich schlicht ab.“ Die Gegenmaßnahme besteht darin, den Knochen zu reizen, um seinen Zellen zu signalisieren: Ihr müsst etwas tun. Da es dafür keine Tabletten gibt, und Belastung für Robin Koch ausschied, wandten die Mediziner die sogenannte Stoßwellentherapie an. „Die Technik stammt ursprünglich aus der Zertrümmerung von Nierensteinen“, »Ein Astronaut im All hat nach zwölf Wochen Schwerelosigkeit Knochen wie ein 80-jähriger Opa.« Oberarzt Dr. Patric Garcia Die Elektroden im Stoßwellengerät erzeugen einen Funken, der wiederum eine Druckwelle hervorruft. Diese Welle dringt komplett durchs Gewebe bis auf den Knochen – der dadurch eine Stimulation erfährt. Foto: Wilfried Gerharz 5 FORSCHEN & HEILEN WEITERE ANWENDUNG Nicht allein zur Be handlung von verzögert heilenden Knochenbrüchen werden Stoßwellen genutzt. Mit geringerer Energie können auch Sehnenansatzbeschwerden wie beim sogenannten Tennisellenbogen, Fersensporn oder bei der Kalkschulter therapiert werden. Anders als in Deutschland, wo eine Infektion das Ausschlusskriterium darstellt, werden in Österreich etwa Brüche mit positivem Keimnachweis behandelt oder gelockerte Hüftprothesen befestigt. Ärzte haben festgestellt, dass Stoßwellen die Durchblutung verbessern und sogar eine Art Schmerztherapie darstellen. So verschwindet der Schmerz meist bevor erste Heilungsanzeichen auf den Röntgenbildern zu erkennen sind. In einem Graphen skizziert Patric Garcia den Aufbau und anschließenden Abbau der Spannung. erklärt Patric Garcia. In einer elektrohydraulischen Apparatur wird wie in einer Zündkerze hohe Spannung aufgebaut: Eine Elektrode erzeugt Funken, die eine Druckwelle mit einer Frequenz von vier Hertz hervorrufen. Entscheidend daran ist der steile Druckanstieg, während die Welle durchs Gewebe und bis auf den Knochen geschickt wird, der dadurch eine Stimulation erfährt. Die Druck- »Wir haben in der Familie die Alternativen ausgelotet und dann die 950 Euro gemeinsam gestemmt.« Bruch-Patient Jens Koch wellen werden hierbei fokussiert und damit konzentriert. Die genaue Berechnung aller Faktoren ist das A und O: „Der Erfolg“, so Garcia, „hängt von der Energie ab, die im Knochen platziert wird.“ 20 Minuten lang werden drei Mal 1000 Impulse aus verschiedenen Richtungen auf die Stelle geschossen, die zuvor mit Hilfe eines Röntgengeräts genau mar- kiert worden ist. Die Prozedur ist schmerzhaft wie ein starker Stromschlag für den Patienten, daher wird sie entweder unter Vollnarkose oder regionaler Betäubung durchgeführt. Die Heilungsquote liegt nach sechs Monaten bei 75 Prozent; „drei Monate danach hat sich bei Zweidrittel der Patienten neuer Knochen gebildet“, weiß der Oberarzt aus Erfahrung. Reicht das nicht aus, gibt es auch schon mal eine zweite Sitzung. Bei Robin Koch hat alles geklappt. Eine Woche nach der Stoßwelle war er bereits schmerzfrei. Die Reduktion der Schmerzen ist, so Garcia, „ein angenehmer Nebeneffekt, von dem wir nicht wissen, wie er zustande kommt.“ Nach drei Monaten konnte der Student Liegestützen machen und plant fürs kommende Jahr, wieder aufs Motorrad zu steigen. „Aber ich werde vorsichtig fahren und genau darauf achten, wo Dreck auf der Straße liegt“, verspricht er grinsend. 950 Euro hat ihn diese Heilung gekostet, die in Deutschland im Einzelfall zwar von den Berufsgenossenschaften, nicht jedoch von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Schade – wie Oberarzt Patric Garcia findet. Ist doch die Durchführung einer Stoßwellentherapie lange nicht so kostspielig wie die einer erneuten Operation. Für Robin Koch stand seine Entscheidung schnell fest: „Wir haben uns in der Familie zusammengesetzt, die Alternativen ausgelotet und dann die Kosten gemeinsam gestemmt“. Das Stoßwellengerät, das bundesweit an Krankenhäusern seinesgleichen sucht, ist von der Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie im Februar 2014 für rund 150 000 Euro angeschafft worden. Für das UKM eine sinnvolle Investition: Sammeln sich hier doch aus dem Umland diejenigen Patienten, bei denen nach Operationen ähnliche Komplikationen aufgetreten sind. Voraussetzungen für den Einsatz des neuartigen Verfahrens zählt Patric Garcia an zwei Händen auf. Zum Einen muss ein Bruch gege- Foto: Wilfried Gerharz ben sein – jedoch ohne mechanische Probleme. „Der Spalt darf nicht größer als fünf Millimeter und kein Lungengewebe oder Rückenmark in unmittelbarer Nähe sein.“ Ausgeschlossen von der Behandlung sind Kinder mit offenen Wachstumsfugen. Auch werden in Deutschland keine Infektionen mit Stoßwellentherapie behandelt. „In der Regel muss eine Knocheninfektion operiert werden“, so der Mediziner, der zwei Patienten pro Woche mit Stoßwellen behandelt. SCHON GEWUSST? 75 Prozent der Patienten mit einem Bruch sind sechs Monate nach einer einmaligen Stoßwellentherapie erfolgreich ausgeheilt.