7. DGA Jahrestagung 2004 Skalierungsverfahren in der Audiometrie J. Kießling Funktionsbereich Audiologie, HNO-Klinik der Justus-Liebig Universität Gießen Skalierungsverfahren kommen in der Audiologie hauptsächlich in zwei Anwendungsformen zum Einsatz. Zum einen im Rahmen der Selbstbeurteilung mittels Fragebögen, wobei der Patient die Aufgabe hat, eine abgefragte Eigenschaft oder einen Zustand auf einer n-stufigen Kategorialskala zu bewerten. Dies geschieht entweder zur Erfassung eines Patientenprofils im Hinblick auf die weitere Therapieplanung oder zur Quantifizierung des Erfolgs einer medikamentösen, operativen, apparativen oder rehabilitativen Therapie bzw. Intervention. Diese Form der Skalierung soll im weiteren ausgeklammert werden und es soll ausschließlich ein Überblick über den Nutzungsstand der Lautheitsskalierung vermittelt werden. Im Mittelpunkt stehen soll dabei die kategoriale Lautheitsskalierung wegen ihrer besonderen Eignung und ihrer Verbreitung, obwohl es daneben eine Vielzahl anderer Skalierungsverfahren gibt (Hellbrück 1992), wobei zwischen direkten Skalierungsverfahren und Partitionsverfahren zu unterscheiden ist. Ein typischer Vertreter direkter Skalierungsverfahren ist die Verhältnisskalierung, die zu den Standardmethoden der klassischen Psychoakustik gehört, während das graphische Rating mit visuellen Analogskalen, also die Markierung einer Größe (Schmerz, Tinnitus etc) auf einer graphisch vorgegebenen Strecke, eine Zwischenstellung einnimmt und eher den Partitionsverfahren zuzuordnen ist. Die kategoriale Lautheitsskalierung, auch unter den Begriffen Hörfeld-/Hörflächenskalierung oder Hörfeldaudiometrie bekannt, ist dagegen ein typischer Repräsentant der Partitionsmethoden (Hellbrück & Moser, 1986, Moser, 1987, Moser, 1996, Kollmeier 1997). Methodik Während die kategoriale Lautheitsskalierung in audiologischer Forschung und Hörgeräteakustik bereits weite Verbreitung gefunden hat, ist deren Anwendung in der audiometrischen Praxis bisher nur sehr limitiert - obwohl das Verfahren eine ideale Ergänzung der verfügbaren diagnostischen Möglichkeiten (objektive audiometrische und bildgebende Verfahren) darstellt. Hauptgrund dafür dürfte die Tatsache sein, dass die Methodik der kategorialen Lautheitsskalierung noch nicht genormt ist, was Audiometerhersteller bisher abgehalten haben mag, das Verfahren in Audiometern für Klinik und Praxis zu implementieren. Lediglich mit Produkten, die primär für den Einsatz in der Hörgeräteakustik konzipiert sind, ist die kategoriale Lautheitsskalierung bereits heute häufig möglich. Seit 2003 existiert allerdings der Entwurf einer internationalen Norm unter der Bezeichnung „Acoustics – Loudness scaling by means of categories ISO/DIS 16832“, der in seinen Grundzügen erfahrungsgemäß Gegenstand der endgültigen Normung werden dürfte. Der aktuelle Normentwurf schreibt nicht ein spezielles Vorgehen vor, sondern spezifiziert die Methodik der Lautheitsskalierung für audiologische Anwendungen in grundlegender Form. Dabei bezieht sich der Normentwurf soweit möglich auf bereits genormte audiometrische Verfahren und Skalierungsverfahren in der Audiometrie definiert eingangs die relevanten Größen und Begriffe. Aufsetzend darauf wird die Vorgehensweise im Grundsatz vorgeschrieben: Vorbereitung und Einweisung der Testperson, Trainings- und Orientierungsphase, Testdurchführung (pegelrandomisierte Darbietung der Testsignale im gesamten, individuellen Dynamikbereich), Beschreibung der Testsignale (für frequenzspezifische Untersuchungen höchstens terzbreite Rausch-Bursts von mindestens 1 s Dauer), Eigenschaften des Untersuchungsraums (ISO 8253-2) und des Audiometers (ISO 60645-1), Anforderungen an Referenzwerte und schließlich die numerische und graphische Darstellung der Ergebnisse (Überführung der (mindestens 11) Antwortkategorien in eine 51-stufige Numeralskala und Berechnung einer Regressionskurve). Im Anhang des Normentwurfs wird eine zweiphasige Referenzmethode beschrieben, in deren erster Phase eine adaptive Abschätzung der individuellen Restdynamik erfolgt bevor in der zweiten Phase der eigentliche Skalierungsprozess durchgeführt wird (Brand und Hohmann 2002). Ferner gibt der Anhang Beispiele für Antwortskalen (mindestens 11 Lautheitskategorien von „nicht gehört“ bis „extrem laut“) und für mögliche Pegelfolgen. Mit diesen Festlegungen steht einer kommerziellen Umsetzung des Verfahrens in größerem Stil eigentlich nichts mehr im Wege. Klinische Erfahrungen und Studien Langjährige klinische Erfahrungen mit der kategorialen Lautheitsskalierung zeigen, dass das Verfahren von mindestens 95 % der Patienten, insbesondere auch von ungeübten älteren Personen, problemlos beherrscht wird (Kießling et al. 1993). Die Wiederholungsgenauigkeit der Skalierungen ist erstaunlich gut: die Test-Retest-Streuung liegt in der Größenordnung von 3-6 dB (Brand und Hohmann 2002) und die langzeitliche Streuung ist nur unwesentlich größer als die Varianz innerhalb einer Sitzung (Kießling et al. 1993). Ferner haben vergleichende Untersuchungen gezeigt, dass sich Pegel-Lautheitsfunktionen, die mit verschiedenen Skalierungsverfahren ermittelt werden, unter dem Aspekt der diagnostischen Interpretation nicht gravierend unterscheiden (Kießling et al. 1993, Kießling et al. 1997). Für die Beschallung mit schmalbandigen Rausch-Bursts ergeben sich im relevanten Frequenzbereich (0,25 bis 6 kHz) im Rahmen der Messgenauigkeit gleich verlaufende Pegel-Lautheitsfunktionen für Normalhörende, so dass für Vergleiche mit Schwerhörigen bei HL-Kalibrierung eine frequenzunabhängige Referenz verwendet werden kann (Kießling et al. 1993). Das Haupteinsatzgebiet der kategorialen Lautheitsskalierung liegt im Nachweis und der Quantifizierung des Recruitments (Kießling et al. 1994) und allen darauf aufsetzenden topodiagnostischen und gutachterlichen Fragestellungen. So zeigt die Abbildung 1 exemplarisch, dass die Steigung der Pegel-Lautheitsfunktion in Relation zur Norm (grau unterlegt) eine Aussage zum Vorliegen eines Recruitments liefert. 1 7. DGA Jahrestagung 2004 Abb. 1: Antworteinheit mit 11 Lautheitskategorien (links), die auf eine 51-stufige Numeralskala abgebildet werden (rechts). Als Funktion des Darbietungspegels ist (rechts) der Referenzbereich normaler Lautheit (grau unterlegt), sowie exemplarische PegelLautheitsfunktionen für eine Hörstörung ohne (durchgezogene Linie) bzw. mit Recruitment (gestichelte Linie) dargestellt. In Abbildung 2 ist die Steigung der PegelLautheitsfunktion in Abhängigkeit vom tonaudiometrischen Hörverlust der betreffenden Frequenz für 189 Schwerhörige und Normalhörende aufgetragen. Das Scattergramm belegt, dass zwar ein tendenzieller, nicht aber ein enger funktioneller Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen besteht (Kießling 1995). Das heißt, die Steilheit der Wachstumsfunktion und damit der Grad des Recruitments kann nicht aus dem Hörverlust bestimmt oder wenigstens abgeschätzt werden. Daraus ergibt sich für die Topodiagnostik wie auch die Hörgeräteanpassung die Notwendigkeit, die PegelLautheitsfunktionen in jedem Einzelfall individuell bestimmen zu müssen. Abb. 2: Scattergramm des Lautheitsanstiegs als Funktion des Hörverlusts für 550 Skalierungen bei 0,5 kHz (Rauten), 1,5 kHz (Kreise), und 4 kHz (Quadrate). Mit zunehmendem Hörverlust werden die Pegel-Lautheitsfunktionen tendenziell steiler, ein funktioneller Zusammenhang beider Größen existiert jedoch nicht. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie korreliert die Lautheitsskalierung mit den Befunden der klassischen überschwelligen Tests, die zum direkten oder indirekten Recruitmentnachweis genutzt werden, und welcher diagnostischer Stellenwert lässt sich für die Lautheitsskalierung daraus ableiten. Wir sind dieser Fragestellung in einer umfangreichen Studie nachgegangen (Kießling et al. 1996) und haben an 51 Probanden mit einseitigen Schallempfindungsstörungen, neben Anamnese, Otoskopie und Tonschwellenaudiogramm, folgende recruitmentspezifischen Untersuchungen bei jeweils 500 und 2000 Hz auf dem schlechter hörenden Ohr durchgeführt und verglichen: kategoriale Lautheitsskalierung, FowlerTest, Lüscher-Test, SISI-Test, Festfrequenz-BékésyAudiometrie sowie die kontralaterale Bestimmung der StapeSkalierungsverfahren in der Audiometrie diusreflexschwelle. Legt man die Befunde des Fowler-Tests, der als zuverlässiger Recruitmentindikator (hohe Sensitivität) bekannt ist, als Referenz für den Vergleich mit den anderen Tests zugrunde, so zeigt sich eine sehr enge Korrelation des Lautheitswachstums, ermittelt aus dem interauralen Lautheitsabgleich nach Fowler, mit dem Lautheitsanstieg, der sich aus der kategorialen Skalierung ergibt. Der Grad des MetzRecruitments, also die Differenz zwischen Hör- und Stapediusreflexschwelle, korreliert sehr eng sowohl mit dem Lautheitsanstieg nach Fowler als auch mit dem Lautheitswachstum auf der Basis der Lautheitsskalierung. Diese wechselseitigen funktionellen Zusammenhänge belegen die hohe Sensitivität der kategorialen Lautheitsskalierung und des Metz-Tests, also der Bestimmung der Dynamik zwischen Hörschwelle und Stapediusreflexschwelle, als Recruitmentindikator. Der Lüscher-Test, der das Intensitätsunterscheidungsvermögen quantitativ erfasst, was allgemein als ein Recruitmentäquivalent aufgefasst wird, offenbart allenfalls eine mäßige Sensitivität für den Nachweis einer niedrigen Intensitätsunterschiedsschwelle bei Vorliegen eines Recruitments, denn mit zunehmendem Lautheitsanstieg im Fowler-Test und der Lautheitsskalierung nimmt die Intensitätsunterschiedsschwelle nur unwesentlich ab. Eine noch geringere Sensitivität als Recruitmentindikator ergibt sich für den SISI-Test und die Festfrequenz-Békésy-Audiometrie, bei der das Verhältnis der Schreibamplituden von Dauer- zu Pulston als recuitmentäquivalente Größe herangezogen wurde. Die Befunde beider Tests bezüglich des Intensitätsunterscheidungsvermögens zeigen keinerlei Korrelation mit dem Grad des Lautheitswachstums nach Fowler bzw. Skalierung. Die Resultate dieser Studie bezüglich der Sensitivität für die Erkennung eines Recruitments bzw. Recruitmentäquivalents sind in Abbildung 3 zusammengefasst. Abb. 3: Sensitivität und Durchführbarkeitseinschränkungen von überschwelligen Tests, die zum direkten oder indirekten Recruitmentnachweis genutzt werden. Schlussfolgerungen Die kategoriale Lautheitsskalierung hat sich in langjähriger Praxis gut bewährt. Sie ist von den meisten Patienten problemlos durchführbar und zeichnet sich durch eine Genauigkeit aus, die in der Größenordnung der Hörschwellenbestimmung liegt (3-6 dB). Da inzwischen ein internationaler Normungsentwurf vorliegt und die endgültige Normung abzusehen ist, ist zu erwarten, dass die Herstellerfirmen ihre Zurückhaltung bei der Implementation der Skalierung in Klinikund Praxisaudiometer aufgeben, und das Verfahren verstärkt realisieren und anbieten werden. Als Recruitmentindikator steht die kategoriale Lautheitsskalierung bezüglich ihrer Sen3 7. DGA Jahrestagung 2004 sitivität auf der gleichen Stufe wie der Fowler-Test und der Recruitmentnachweis auf der Basis der Stapediusreflexschwelle, ist aber in der Durchführbarkeit - anders als diese Tests (vg. Abb. 3.) - durch keinerlei Einschränkungen limitiert. Damit liegt die Skalierung in puncto Sensitivität und Durchführbarkeit deutlich vor dem SISI- und Lüscher-Test wie auch der Festfrequenz-Békésy-Audiometrie, die ohnehin keine praktische Bedeutung mehr hat. Kießling J, Schubert M, Wagner I (1994) Lautheitsskalierung - Ein Verfahren zum quantitativen Recruitmentnachweis. HNO 42: 350-357. Auch wenn heute objektive audiometrische Untersuchungsmethoden (OAE, BERA) und bildgebende Verfahren (MRT) die auditorische Topodiagnostik dominieren, würde man sich wünschen, dass die kategoriale Lautheitsskalierung auch in gängigen Praxisaudiometern verfügbar wird, um sie besonders in der Begutachtung beruflicher Lärmschwerhörigkeiten und der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung routinemäßig anwenden zu können. Insbesondere für den Recruitmentnachweis bei symmetrischen Hörstörungen darf die kategoriale Lautheitsskalierung als eine willkommene Ergänzung des herkömmlichen Testinventars angesehen werden. Zusammen mit dem Fowler-Test und der Stapediusreflexaudiometrie ist der kategorialen Lautheitsskalierung bei der Testauswahl höchste Priorität einzuräumen. Dagegen sollte auf den Einsatz des SISI-Tests möglichst verzichtet werden. Dementsprechend ist eine Überarbeitung des „Königsteiner Merkblatts“ (http://www-ifam.med.unirostock.de/bkvo/m2301.htm#35) , das den SISI-Test als differenzialdiagnostisches Verfahren an erster Stelle nennt, wie auch der Richtlinien für die Ergänzungsuntersuchung im Rahmen der Gehörvorsorge (G20 Lärm), die sich topodiagnostisch ausschließlich auf den SISI-Test stützt (HVBG 1998), dringend in Erwägung zu ziehen. Kießling J, Pfreimer C, Schubert M (1996) Rekruitmentnachweis - Kategorial-Lautheitsskalierung und klassische überschwellige Audiometrie im Vergleich. LaryngoRhino-Otol 75: L10-17. Kießling J (1995) Zum überschwelligen Lautheitsanstieg bei Schallempfindungsschwerhörigen - Konsequenzen für die Hörgeräte-Entwicklung und -Anpassung. Audiol Akust 34: 82- 89. Kießling J, Pfreimer C, Dyrlund O (1997) Clinical evaluation of three different loudness scaling protocols. Scand Audiol 26: 117-121. Kollmeier B (Hrsg.) (1997) Hörflächenskalierung - Grundlagen und Anwendung der kategorialen Lautheitsskalierung für die Hördiagnostik und Hörgeräte-Versorgung. Median-Verlag, Heidelberg Moser LM (1987) Das Würzburger Hörfeld - ein Test für prothetische Audiometrie. HNO 35: 318-321. Moser LM (1996) Das Würzburger Hörfeld - kategoriale Lautheitsskalierung. HNO 44: 556-558. Literatur Brand T, Hohmann V (2002) An adaptive procedure for categorical loudness scaling. J Acoust Soc Am 112: 15971604. Hellbrück J, Moser LM (1986) Psychophysical measurements of inner ear processes with category scaling of loudness. ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec 48: 135-136. Hellbrück J (1993) Hören Physiologie, Psychologie und Pathologie. Hogrefe Verlag, Göttingen HVBG: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (1996) Königsteiner Merkblatt: Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit. 4. Auflage HVBG: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (1998) Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. G 20 Lärm. Gentner Verlag, Stuttgart, 2. Auflage, S. 281-294. ISO/DIS 16832 (draft international standard): Acoustics – Loudness scaling by means of categories. Kießling J, Steffens T, Wagner I (1993) Untersuchungen zur praktischen Anwendbarkeit der Lautheitsskalierung. Audiol Akust 32: 100-115. Skalierungsverfahren in der Audiometrie 4