Mesopotamien Wiege der Zivilisation und aktueller Krisenherd von Wolfgang Korn 1. Auflage Mesopotamien – Korn schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Theiss Verlag, Stuttgart 2013 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 8062 2535 8 Mesopotamien heute – eine Bestandsaufnahme Bedrohtes Volk, bedrohte Kultur, bedrohte Antiken Bilder vom Chaos im Irakischen Nationalmuseum in Bagdad während des Dritten Golfkriegs gingen um die Welt. Unklar blieb, wie viele Kunstschätze von unermesslichem Wert den Plünderungen im April 2003 zum Opfer fielen. Mesopotamien.indd 8-9 09.01.13 09:34 Vom Gotthelden Gilgamesch zum Gesetzgeber Urnammu Stadtstaaten und erste Reiche in Sumer und Akkad (ca. 2700–2000 v. Chr.) Ausgefallenes Detail – der Stierkopf aus Bronze an der rekonstruierten Leier aus den Königsgräbern von Ur. Mesopotamien.indd 72-73 09.01.13 09:34 nicht der treue Freund, sondern ein Diener von Gilgamesch. Diese ersten Epen entstanden in der Ur-III-Dynastie (2100 v. Chr.) und hatten eine klare politische Funktion. Mit ihnen wollte die neue Dynastie nach der Fremdherrschaft der Gutäer wieder an die gute alte sumerische Zeit anknüpfen. Das eigentliche einheitliche Epos Gilgamesch entstand in einer ähnlichen Aufbruchsituation, im frühen Babylonien (1750 v. Chr.). Sumerisch war zu dieser Zeit als Sprache ausgestorben, fungierte wie Latein im Mittelalter jedoch als Schrift weiter. Auch in dieser Situation wird bewusst an die sumerische Kulturtradition angeschlossen, denn Hammurapi gelang es, zum dritten Mal in der Geschichte, das Land zu einen. Gleichzeitig wurden neue Teile in das Epos integriert. Doch so weit der Glanz Gilgameschs von Uruk auch in die Geschichte hineinstrahlte, die tatsächliche sicher ist, ob in den Gräbern tatsächlich königliche Herr- löste – laut Königslisten – Mesanepada von Ur die Königs- scher bestattet waren – das Areal wurde von 2600 bis 2000 Mit der aus den Königsgräbern stammenden sogenannten residenzen von Kisch und Uruk ab. v. Chr. von den Dynastien als Friedhof genutzt. Und die li, Kalkstein und Muscheln auf Holz) ihren Höhepunkt – der Entdeckung der Gräber war eine riesige Sensation, denn hier abgebildete untere Teil des Mosaiks zeigt einen Quer- die freigelegten Grabbeigaben machten mit einem Schlage schnitt durch die Gesellschaft vom König bis zum Bauern. Standarte von Ur erreichten die Einlegearbeiten (Lapislazu- Luxus bis ins Grab – frühdynastisches Ur deutlich, über welch eine Hochkultur die bis dahin weitge- Die mehrtausendjährige Geschichte der Stadt, die sich eine anschauliche Verbindung zu den vor 4500 Jahren le- ihrem König oder ihrer Königin ins Jenseits zu folgen. Un- dem Mondgott Nanna geweiht hatte, quillt über von his- benden Menschen her. So lassen die Details des Königin- ter den Grabbeigaben befand sich auch ein Kunstwerk, das torischen und legendären Fakten und Geschehnissen. So nengrabes noch heute die Zuneigung, die ihr auch bis in einen unvergleichlichen Einblick in die Gesellschaft und soll Ur nicht nur Schauplatz der Sintflut gewesen sein, son- den Tod hinein entgegengebracht wurde, erahnen. „An den Alltag der Sumerer in der Mitte des 3. Jtsd. v. Chr. bie- dern war auch nach der alttestamentlichen Genesis die dem einen Ende lag auf den Resten einer Holzbahre die tet: die sogenannte Standarte von Ur. Verziert mit Perl- Heimat des jüdischen Stammvaters Abraham: „Da nahm Leiche der Königin, neben ihrer Hand ein goldener Be- mutt- und Lapislazulisteinchen sind auf der 45 cm breiten Tharah seinen Sohn Abram und Lot, seines Sohnes Haran cher. Ihr Oberkörper war gänzlich unter einer Menge Per- Holztafel auf sechs Ebenen Sumerer aller Gesellschafts- Sohn, und seine Schwiegertochter Sarai, seines Sohnes Ab- len aus Gold, Silber, Lapislazuli, Karneol, Achat und Chal- schichten abgebildet. Die obere Hälfte zeigt einen Kriegs- rams Weib und führte sie aus Ur in Chaldäa, dass er ins zedon verborgen [...]. Über dem eingedrückten Schädel zug, die untere eine Prozession zum Hof. Zwar sind alle Land Kanaan zöge“ (Genesis 11,31). Geologische Unter- lagen die Reste eines Kopfputzes, der ein sorgfältiger gear- Menschen vereinfacht schematisch dargestellt und unter- suchungen im Rahmen der Ausgrabungen bestätigten, beitetes Gegenstück zu dem der Hofdamen war. Als Un- scheiden sich nur in der Größe: Adlige sind etwas größer dass Ur äußerst verkehrsgünstig am Unterlauf des Euphrat terlage diente ihm ein Goldband, das mehrfach um das als die Diener, alle werden vom König überragt. Doch die lag und über zwei Häfen verfügte. Das im 3. Jtsd. v. Chr. Haar geschlungen war. Die Abmessungen dieser Windun- Prozession gibt einige Tätigkeiten der Sumerer wieder: befestigte Stadtgebiet selbst hatte die Form eines Ovals gen zeigen, dass es sich nicht nur um das natürliche Haar, Bauern führen ihr Vieh mit (Schafe, Rinder, Ziegen); an- und maß der Länge nach 1300 m, in seiner Mitte erhob sondern um eine zu fast grotesker Größe aufgepolsterte dere schleppen Kornsäcke und gefangenen Fisch heran. sich das große Heiligtum. Perücke gehandelt haben musste“, schrieb Woolley über Männer mit gefüllten Traggestellen verweisen auf den Zu dieser Zeit war das Land um Ur so fruchtbar und seine Entdeckung. Gleichzeitig waren die Gräber aber Handel, den die Sumerer mit ihren Nachbarn führten, um hend unbekannten Sumerer verfügten. Die Gräber stellten ein Großteil des Handels in Südmesopotamien so fest in auch Dokumente des Grauens. So fand Woolley in einer Rohstoffe einführen zu können. Der König und seine Be- Die Geschichten über Gilgameschs Abenteuer wurden stän- der Hand der Händler aus Ur, dass die privilegierte Klasse bereits geplünderten und von ihm „Großer Totenschacht“ amten lauschen mit einem Becher Wein in der Hand sit- dig erweitert und ausgeschmückt, besonders in babylonischer der Stadt in wahrem Luxus leben und sterben konnte. Da- genannten Grabanlage Skelettreste von 68 Frauen und zend einem Harfenspieler und einer Sängerin. Unter den und assyrischer Zeit – davon zeugt auch die 4,45 m hohe von zeugen vor allem die sogenannten Königsgräber des sechs Männern. Weil die Archäologen neben allen Leichen Soldaten des Kriegszugs befinden sich sowohl Kämpfer mit Kolossalstatue aus dem Palast in Khorsabad, die vermutlich frühdynastischen Ur, die Woolley keine 50 m südöstlich Schalen aus Ton, Stein oder Metall fanden, gingen sie da- Kurzspeeren und Kupferhelmen als auch solche mit Gilgamesch als Löwenbezwinger darstellt. der Zikkurat von Ur freilegen ließ. Auch wenn gar nicht von aus, dass die Betreffenden Gift genommen hatten, um Langspeeren sowie eine ganze Reihe von Kriegswagen, die 76 Herrschaft über Sumer ging auf Ur über. Um 2475 v. Chr. Vom Gotthelden Gilgamesch zum Gesetzgeber Urnammu Mesopotamien.indd 76-77 Luxus bis ins Grab – frühdynastisches Ur 77 09.01.13 09:34 die ihr Herrschaftsgebiet über Mesopotamien und Syrien wurden (in diesem Fall Karum Kanesch, modern Kültepe). Streitäxte und Lanzen mit Spitzen aus Bronze sowie der ausbreiteten. Gleichzeitig jedoch blieb Babylon für mehr Wie schon die Sumerer wurden auch die Hethiter bei- Kompositbogen, der sandwichartig aus Lagen mehrerer als zwei Jahrtausende das bedeutendste kulturelle Zen­ nahe aus dem Erinnerungsschatz der Menschheit gelöscht; Materialien zusammengesetzt wurde und so eine größere trum Mesopotamiens. nur die Bibel überlieferte ihren Namen. Kein Geringerer Spannkraft erhielt. Mit diesem neuen Heerestyp konnte Ob es sich um die Herrschaftszeit von Hammurapi als König David wurde von der Versuchung in Gestalt des um 1650 v. Chr. König Hattuschili, der auch Hattusa neu oder die der Hethiter- und Mittanikönige handelt – die „Weibes des Hethiters Urias“ heimgesucht. Er erlag der besiedeln ließ, sein Reich erheblich ausdehnen. Hauptziel Wer waren die Hethiter? Sünde und ließ Urias bei einem Angriff auf verlorenen Pos- waren die durch Handel und Landwirtschaft reichen syri- ten stellen. Gut 20-mal erscheint ihr Volksname (hebräisch schen Stadtstaaten. Lediglich die Belagerung von Halab, verlässigen Chroniken gibt. Wenn möglich, wird durch Es handelt sich um einen indogermanischen Volksstamm, „Chittim“, griechisch „Chetaios“, römisch „Hettaeus“) in dem heutigen Aleppo, musste er erfolglos abbrechen. Die Dokumente wie Briefe eine Verbindung zum ägypti- der vermutlich im Laufe des 3. Jtsd. v. Chr. in das zen­tral­ den Völkerlisten der Bibel. Beutezüge seines Nachfolgers Murschili gingen bis nach schen Reich gesucht und als Zeitmaß genutzt, denn die anatolische Hochland einwanderte und dabei die alteinge- 3000 Jahre waren die Hethiter vergessen, als der Brite Babylon, wo er nach dem Fall der Stadt die Statue des Abfolge der Pharaonen ist lückenlos bekannt. sessenen Hatti allmählich verdrängte, einen Teil des Wort- Charles Texier 1834 auf einer Forschungsreise durch Ana- Marduk entführte. Da Murschili bei seiner Heimkehr von schatzes jedoch übernahm. Schriftlichen Quellen zufolge tolien die Stadtruine von Hattusa fand und durch seinen seinem Schwager Hantili ermordet wurde, sahen die Baby- starb das Hattische Mitte des 2. Jtsd. v. Chr. aus und wurde Reisebericht bekannt machte. Doch erst sein Landsmann lonier darin die Rache ihres Gottes. Tatsache ist jedoch, durch das Hethitische ersetzt. Das älteste Dokument für Archibald H. Sayce stellte die Verknüpfung dieser Stadt dass mit dieser Tat eine Reihe blutiger Thronfolgestreite Vom zentralanatolischen Hattusa aus eroberten die Hethi- das Hethitische ist eine Urkunde aus dem 18. Jh. v. Chr. – mit den Hethitern her, deren Reichszentrum man damals begann und das Reich in eine vorübergehende Ohnmacht verfasst von assyrischen Kaufleuten aus einer ihrer zahlrei- in Syrien vermutete. fiel, aus der es rund 150 Jahre später umso heftiger wieder Schwankende Chronologie Zeitangaben über das vorderasiatische 2. Jtsd. v. Chr. schwanken mitunter bis zu 20 Jahre, weil es keine zu- ter weite Teile Mesopotamiens. chen anatolischen Niederlassungen, die Karum genannt Erforscht wurde Hattusa erst seit Anfang des 20. Jh., erwachen sollte. dabei entdeckten die Ausgräber ein umfangreiches Archiv mit über 10 000 Schrifttafeln – eine beispiellose Ressource des Wissens. An der Entzifferung dieser Tafeln wird bis heute gearbeitet. Die Hethiter hatten die Keilschrift zwar 94 Vom Schmelztiegel zum Spielball fremder Staaten Mesopotamien.indd 94-95 Wer waren die Kassiten? von den Assyrern erlernt und lediglich abgewandelt, doch Eigentliche Nutznießer der Angriffe der Hethiter wurden hatten sie damit etwas Neues geschaffen: eine echte Ge- die Kassiten. Sie stammten aus dem östlich angrenzenden schichtsschreibung. Während sich sumerische und akkadi- Zagrosgebirge, bleiben jedoch ethnisch nicht bestimmbar. sche Herrscher in ihren Inschriften nur selbst verherrlichen Zu wenig einzelne Kassiten-Worte sind überliefert, als dass ließen, legten die Hethiter Geschichtsberichte an, die die sie in die Sprachfamilie eingeordnet werden könnten. Taten der Vorgänger und die Verdienste anderer mit ein- Bereits während der Herrscherzeit Hammurapis wur- schlossen. Demnach soll Mitte des 18. Jh. v. Chr. Anitta, den die Kassiten erwähnt, als sie sich mit ihrem kleinen, Fürst der Stadt Kussar, das von den Hatti bewohnte Hat- aber selbstständigen Reich Chana am mittleren Euphrat tusa erobert sowie die übrigen anatolischen Stadtstaaten etablierten. 1741 v. Chr. stießen sie mit Hammurapis unterworfen und die Dynastie der Hethiterkönige gegrün- Nachfolger Samsuiluna zusammen, der sogar einen Wall an det haben. Von den Quellen, die über die Taten Anittas der nordöstlichen Grenze Babyloniens gegen die Angreifer berichten, ist besonders eine aussagekräftig; ihr zufolge errichten ließ. belagerte der Hethiter Anitta den Ort Salatiuara mit 1400 Während des folgenden 17. Jh. v. Chr. tauchen schließ- Mann und „40 Pferdegespannen“. „Dieses Zeugnis aus lich doch einige ihrer Namen in babylonischen Handelsdo- dem 18. Jh. v. Chr. ist das älteste für den Kampfeinsatz von kumenten auf – ein Teil von ihnen siedelte demnach fried- Streitwagenpferden im Alten Orient“, erklärt der Hethito- lich im babylonischen Hoheitsgebiet. loge Frank Starke. Unklar ist, ob die Hethiter diese Fertig- Die Zerschlagung der babylonischen Zentralgewalt keit von den benachbarten Hurritern übernommen hatten, durch die Hethiter – vermutlich hatten sie sich sogar mit jedenfalls boten die Steppen südostlich von Anatolien ein den Hethitern verbündet – nutzten die Kassiten, um sich ideales Biotop für Pferde. selbst als neue Herrschermacht in Babylonien zu etablie- Mit Einführung des Streitwagens wurde die gesamte ren. Der erste Kassitenkönig, der aus eigenen Inschriften Kriegsführung modernisiert: Es entstanden straff organi- bekannt ist, ist Karaindasch Ende des 15. Jh. v. Chr. – sein sierte Einheiten mit von Offizieren geführten Fußtruppen Name taucht als Stifter auf Steinen des Inanna-Tempels in und Streitwagen. Dazu gehörten auch neue Waffen wie Uruk auf. Dabei wurde eine neue Technik angewandt, Wer waren die Kassiten? 95 09.01.13 09:34 Krieg der Kulturen? Die Zukunft des Irak und das Schicksal unseres mesopotamischen Erbes Ein US-Marinesoldat patrouilliert im Frühjahr 2004 vor der großen Moschee von Ramadi – wenige Tage später geriet diese Einheit in schwere Gefechte mit Aufständischen. Es gab hohe Verluste auf beiden Seiten. Mesopotamien.indd 154-155 09.01.13 09:35 W ie konnte es zu den Anschlägen vom 11. Septem- truppen an. Ein Großteil der irakischen Armee wurde da- Zehn Jahre lang litt die Bevölkerung, während der Dik- mierte englische Orientalist Bernd Lewis fest überzeugt, ber 2001 kommen? Liegen die Gründe in der gut bei zerstört, doch die Angreifer besetzten nicht das Land tator – wenn auch mit begrenzten Mitteln – weiter schal- der in seinem Lebenswerk die Begegnung zwischen Chris- 100-jährigen Dominanz des christlichen Westens über den und seine Hauptstadt Bagdad. Die vom Westen zum Wi- ten und walten konnte. Und der Westen sah tatenlos zu, ten und Muslimen im Laufe der Jahrhunderte faktenreich islamischen Orient? Oder liegen sie näher, in einer in den derstand ermutigten Schiiten im Süden und Kurden im bis ihn die Ereignisse von 9/11 einholten. und souverän rekonstruiert hat. Seiner Meinung nach lie- letzten Jahrzehnten gewachsenen Entfremdung zwischen Norden wurden allein gelassen im so aussichtslosen Kampf gen die Ursachen für den Hass in den Gemeinsamkeiten westlicher und islamischer Kultur, die durch unsensibles gegen Saddams Truppen. der beiden Religionen. Christentum und Islam sind die politisches Handeln genährt wurde? Denn nach dem Ende Auch der restliche Teil der nichtprivilegierten Bevölke- des Kalten Krieges hätte die USA eigentlich ihr Engage- rung des Irak geriet durch Krieg und Embargo in so große ment im Nahen Osten herunterfahren können. wirtschaftliche Not, dass die Menschen trotz der harten beiden einzigen Religionen mit Absolutheitsanspruch: Sie deren zu bekehren. wähnen sich im Besitz der einzigen Wahrheit für die gesamte Menschheit und glauben sich in der Pflicht, die an- „Die USA hätten ihre militärischen und diplomati- Denkmalschutzgesetze (die auch die Todesstrafe vorsehen) Stehen sich nach den Anschlägen auf das World Trade schen Investitionen im Nahen Osten nun drastisch senken nicht vor Plünderungen und Raubgrabungen zurück- Center in New York und den Kriegen in Afghanistan und Darüber hinaus verbindet Europäer und Muslime eine und es den arabischen Ländern überlassen können, ihre schreckten. So sollen allein aus den irakischen Regional- dem Irak Islam und Christentum unversöhnlicher denn je 1400-jährige Konkurrenz um das gleiche Territorium, den inneren Angelegenheiten nach Gutdünken selbst zur re- museen nach dem Zweiten Golfkrieg über 4000 Artefakte gegenüber? Das jedenfalls behauptet der Politikwissen- Mittelmeerraum. Hier sehen beide Glaubensgemeinschaf- geln“, urteilt der Militärhistoriker Gwynne Dyer, „und sie gestohlen worden sein. schaftler Samuel P. Huntington mit seiner Theorie vom ten ihren angestammten Lebensraum, hier haben beide hätten Israel die bedingungslose militärische Sicherheitsga- „Kampf der Kulturen“: In einer Welt, in der der Westen ihre heiligen Stätten, mitunter am gleichen Ort wie bei- rantie entziehen sollen.“ Dadurch wären dann sicherlich die militärische wie ökonomische Vormacht einbüßt, ak- spielsweise in Jerusalem. Diese ununterbrochenen Kontak- „Ground Zero” – auch noch einen Monat nach den An- zeptieren die anderen sechs Kulturen – die chinesische, ja- te nährten den gegenseitigen Hass – urteilt Lewis: „Euro- nen Not leidenden Bevölkerung gestürzt worden, und Is- schlägen rauchen die Ruinen des World Trade Centers in panische, hinduistische, lateinamerikanische, islamische pa und der Islam waren alte Bekannte, Intimfeinde, ihr rael hätte sich entscheiden müssen zwischen einem aggres- New York. Wie kein anderen Anschlag steht 9/11 für einen und afrikanische – nicht länger die universelle Geltung Dauerkonflikt bezog seine Virulenz gerade aus den ge- siven Vorgehen (Ausweitung seines Siedlungsgebietes und Wendepunkt in der Weltgeschichte. westlicher Werte wie Freiheit, Individualismus und Waren- meinsamen Ursprüngen und den gemeinsamen Zielen.“ einige arabische Regime eher früher als später von der eige- 156 Warum Christen und Muslime einander wirklich hassen militärische Sanktionen) oder einer Stabilisierung seiner verkehr. Doch während sich der japanische, der chinesische Zudem gründen sich beide Religionen im Wesentlichen Nachbarschaftsbeziehungen. und der hinduistische Kulturkreis zunehmend mit dem auf jüdische Vorstellungen von Monotheismus, Prophetie Genau das Gegenteil jedoch geschah: Die USA stütz- westlichen arrangieren, stehen sich islamische Welt und und Heiliger Schrift, die wiederum einen Großteil ihrer ten weiter korrupte diktatorische Regime in der Region christlicher Westen unversöhnlich gegenüber. Dabei sieht Vorstellungen aus der mesopotamischen Religion entlehnt wie dasjenige Mubaraks in Ägypten und gaben den Israelis sich der Westen als gerechter Anwalt der friedliebenden haben – von den Erzählungen über die Vertreibung aus vollkommen freie Hand im Verhalten gegenüber ihren Staatengemeinschaft, während die islamischen Länder mit dem Paradies und der Sintflut bis zur Darstellung der Che- Nachbarn, dem Libanon und den Palästinensergebieten. ihren fundamentalistischen Keimzellen den Aggressor bil- burime. Das gemeinsame Erbe der mesopotamischen Göt- Und der Iran wurde weiter zum „Reich des Bösen“ dämo- den; aus Sicht der islamischen Welt jedoch verkehren sich ter und des israelischen Jahwe ist auch eine selbstgerechte nisiert. Nur in einem Punkt änderte die US-amerikanische diese Rollen. Gegenseitige Vorwürfe begleiten die Ge- Unerbittlichkeit. Diese Götter zürnen und strafen oft – die Führung ihre Meinung: Aus dem Verbündeten Saddam schichte der beiden Religionen seit mehr als einem Jahr- mesopotamischen Götter häufig auch aus reiner Willkür, Hussein wurde ebenfalls ein „satanischer Herrscher“, denn tausend. So werfen Christen dem islamischen Religions- Jahwe bei den geringsten Verfehlungen der von ihm ge- der hatte nach zwei Jahren der scheinbaren Friedfertigkeit gründer Mohammed noch heute beispielsweise in ihren schaffenen Wesen. Wohlwollen, wie es ägyptischen und ein neues Ziel gefunden: Seine Soldaten überfielen im Au- Schulbüchern vor, er habe das Christentum lediglich ko- fernöstlichen Göttern zu eigen ist, ist ihnen fremd. gust 1990 völlig überraschend Kuwait und besetzten es. piert und verfälscht. Letztlich sei der Islam mit seinen en- Zuvor hatte der Irak dem kleinen Golfstaat vorgeworfen, gen Vorschriften für die heutige Welt viel zu rückschritt- die OPEC-Förderquoten zu überschreiten und bei der Öl- lich. Genau diesen Vorwurf – rückschrittlich zu sein – haben gewinnung die irakischen Grenzen zu verletzen. die Muslime während ihrer Glanzzeit vom 7. bis zum Pax Americana – verschleierte Kriegs­gründe Dieses Vorgehen des irakischen Diktators verstieß ge- 13. Jh. n. Chr. den Christen gemacht. Heute hingegen gen die Bedürfnisse der westlichen Nationen, deren ener- werfen sie dem Westen vor, längst verweltlicht und unreli- Willkür sollte der zum damaligen Zeitpunkt letzten Super- gieintensiver Lebensstil eine zuverlässige und reibungslose giös geworden zu sein und einen dekadenten Kapitalismus macht dieses Planeten eigentlich fremd sein, doch alle Welt Ölförderung am Persischen Golf erfordert. Saddams Vor- zu praktizieren. Die militärische Schwäche der islamischen fragt sich immer noch: Warum griffen die USA im Früh- gehen wurde von den Vereinten Nationen gerügt und Welt im 19. und 20. Jh. habe er schonungslos zu seinem jahr 2003 noch einmal den Irak an und marschierten dieses nachdem der Irak nicht einlenkte, machte der UN-Sicher- eigenen Vorteil ausgenutzt. Mal auch ein? heitsrat den Weg frei für eine gewaltsame Lösung. Eine Die Wurzeln dieses Konfliktes liegen jedoch nicht in Völlig klar ist: Die damals vorgebrachten Gründe – Allianz von Armeetruppen aus aller Welt unter Führung den jahrhundertelang gegenseitig zugefügten Wunden Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen und seine der USA griff zunächst aus der Luft und dann mit Boden- oder den kulturellen Unterschieden. Davon ist der renom- Kontakte zu Al-Qaida – waren schlichtweg eine Lüge. Krieg der Kulturen? Mesopotamien.indd 156-157 pax americana – verschleierte kriegsgründe 157 09.01.13 09:35