SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
Rhythmus im Ohr
Wie sich der Hörsinn immer neu erfindet
Autor: Jan Lublinski
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Günter Maurer
Sendung: Montag, 31. Oktober 2011, 8.30 Uhr, SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in
der ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden.
MANUSKRIPT
MUSIK John Williams: „Across the Stars“
Sprecher:
Es ist Valorie Salimpoors ganz persönliche Gänsehaut-Musik: „Across the Stars“, der
Soundtrack aus Krieg der Sterne, Teil 2. Nach etwas mehr als anderthalb Minuten
kommt sie. Die entscheidende Stelle. Ein Schauer läuft ihr über den Nacken. An den
Armen stellen sich Haare auf, es kribbelt.
Cut 1: Salimpoor
If you start piece of music from the beginning and then … all of a sudden you hear that
part and it just feels really good.
Übersetzerin:
Wenn du den Anfang dieses Stückes hörst, bist du schon aufgeregt: Du kennst die
Melodie, und du weißt: Der Teil, den du besonders magst, kommt gleich. Und mit jeder
Note näherst du dich dieser Stelle. Es baut sich langsam auf, und dann hörst du diesen
besonderen Teil – und es fühlt sich einfach gut an.
Sprecher:
Valorie Salimpoor arbeitet als Hirnforscherin an der McGill-Universität in Montreal. Sie
versucht der Gänsehaut durch Musik auf die Spur zu kommen – einem sehr
individuellen Effekt. Bei ihrem eigenen Gänsehaut-Stück „Across the stars“ spüren die
meisten anderen Leute gar nichts. Dafür könnte es sein, dass sich bei Ihnen etwas tut,
wenn sie Led Zeppelin hören.
MUSIK Led Zeppelin: „Moby Dick“
Sprecher:
Oder sie geraten bei Beethoven in Wallungen.
MUSIK Beethoven „Sturm“
Sprecher:
Auf ihrer Computer-Festplatte hat Salimpoor inzwischen eine ganze Datenbank mit
Gänsehaut-Musik zusammengetragen – von Tango bis Dudelsack-Musik. Unterstützt
haben sie dabei 217 Testpersonen, die zu ihr ans Universitätsklinikum in Montreal
gekommen sind. Bei Gänsehaut-Musikliebhabern besonders beliebt: Samuel Barbers
„Adagio for Strings“:
MUSIK Barber: “Adagio for Strings”
Cut 2: Salimpoor
This is certainly not a coincidence … feel very emotional.
Übersetzerin:
Das ist sicher kein Zufall. Diese Musik kommt in vielen Filmen und in der Werbung vor,
sie wurde bei Beerdigungen gespielt. Sie bewegt die Menschen. Und genau danach
suchen die Komponisten ja: nach Musik, die möglichst viele von uns emotional berührt.
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Ansage:
Rhythmus im Ohr – Wie sich der Hörsinn immer neu erfindet
Eine Sendung von Jan Lublinski
Sprecherin:
Der Hörsinn. Das Ohr nimmt Schallwellen auf, leitet Signale an das Gehirn. Dort werden
Geräusche und Klänge erkannt, körperliche Reaktionen vorbereitet, Hör-Erfahrungen
gespeichert. Im Verlauf der Evolutions-Geschichte haben Menschen wie auch Tiere
immer wieder neu gelernt zu hören: Sie achten auf akustische Reize, vergleichen
Klang-Eindrücke mit bereits gemachten Erfahrungen. Anspruchsvolles Hören wie etwa
Musikgenuss wird möglich, weil das Gehirn zwei Dinge verknüpft: einerseits komplexe
kognitive Prozesse – und andererseits grundlegende, aus der Evolution vererbte
Hörleistungen. Biologen und Hirnforscher können hier noch viel neues Lernen. Über
Wahrnehmung, Orientierung, Kommunikation – und das Hören von Musik.
Sprecher:
Gottesanbeterinnen sind ungewöhnliche Insekten. Nicht nur wegen ihres langen
Körpers, ihrer Fangarme und ihres kleinen, dreieckigen und sehr beweglichen Kopfes.
Sie verfügen auch über ein recht unkonventionelles Hörsystem: Gottesanbeterinnen
haben nur ein Ohr. Mitten auf ihrem Bauch, genau zwischen den beiden Hinterbeinen,
befindet sich ein Schlitz. Dahinter sitzt ein kleiner Hohlraum mit zwei Trommelfellen, die
direkt nebeneinander angeordnet sind.
David Yager, Insektenforscher an der Universität von Maryland:
Cut 3: Yager
The reason it’s in the middle of the body is that in developing animals …And it’s only in
the middle where the ear is solid and undistorted by the leg movement.
Übersetzer:
Für die Position des Ohrs in der Mitte des Körpers gibt es eine einfache Erklärung: Bei
ganz kleinen, frisch geschlüpften Gottesanbeterinnen sind die beiden Strukturen, die
später zu Trommelfellen werden, noch an beiden Seiten des Körpers zu finden. Aber
wenn das Tier wächst, wandern sie schnell in die Mitte. Dort befindet sich der einzige
Ort, wo das Ohr sich in Ruhe befindet und nicht von der Bewegung der Beine gestört
wird.
Sprecher:
Mit ihrem Zyklopen-Ohr kann die Gottesanbeterin Ultraschallwellen wahrnehmen. Wenn
ihr natürlicher Feind, die Fledermaus, im Anflug ist und sich die Gottesanbeterin
schnappen will, setzt diese reflexartig zu einem Sturzflug an: In engen Spiralen kreist
sie zu Boden – und die Fledermaus kann ihr nicht folgen. Diese sehr erfolgreiche
Fluchtstrategie haben die Gottesanbeterinnen vermutlich vor etwa 70 Millionen Jahren
entwickelt, nachdem die ersten Fledermäuse mit Ultraschall auf die Jagd gingen.
Zugunsten dieses empfindlichen und geschützten Ohres verzichtete die Evolution bei
der Gottesanbeterin auf das Richtungshören.
ATMO Ventilator, Kühlschrank (nur evt.)
Sprecher:
Ein alter Ventilator kämpft sich durch die stickige Luft in David Yagers Labor. Überall
hängen klebrige, gelbe Streifen, auf denen sich Hunderte von Fliegen verfangen haben.
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An den Wänden: Regale mit großen Einmachgläsern; in jedem sitzt eine
Gottesanbeterin. Die Tiere kommen aus der ganzen Welt, einige Exemplare sind
deutlich größer als Yagers Hand.
MUSIK Barber: ”Adagio for Strings“ (kurz)
Sprecher:
Unter den insgesamt 2000 verschiedenen Arten der Gottesanbeterin hat Yager eine
ganze Reihe verschiedener Hörsysteme ausgemacht. Es gibt Gottesanbeterinnen, die
ihr Ohr auf verhältnismäßig hohe Frequenzen spezialisiert haben und solche, die gar
kein Ohr haben, weil die Hör-Evolution komplett an ihnen vorbei gegangen ist. Wieder
andere verfügen sogar über ein zweites Zentral-Ohr: Es sitzt zwischen dem anderen
Beinpaar und kann Schallwellen in einem zweiten Frequenzbereich wahrnehmen.
Offenbar hat die Natur bei den Gottesanbeterinnen diverse Hörvarianten durchprobiert.
Cut 4: Yager
In vertebrates it looks like there may be 2 or 3 … see what the patterns and the rules
are.
Übersetzer:
Bei den Wirbeltieren hat es vermutlich zwei oder drei unabhängige Evolutionen des
Ohrs gegeben. Bei den Insekten sind es mindestens 20. 20-mal haben die Insekten
neuartige Ohren entwickelt. Wir können diese Beispiele vergleichen und sehen,
welches die unterscheidenden Muster und Regeln sind.
MUSIK: Beethoven „Der Sturm“
Sprecherin:
Der Hörsinn, mehrfach entwickelt im Verlauf der Evolution. Insekten müssen wissen,
wie ihre Gliedmaßen ausgerichtet sind. Nervenbahnen melden die Positionen der Beine
und der Flügel an das Gehirn. Nehmen auch andere Bewegungen auf: Rhythmus,
schnelle Frequenzen, Schall von anderen Orten. Das Gehirn verarbeitet die
zusätzlichen Reize, lernt im Laufe der Zeit neue Signale kennen und nutzen.
Sprecher:
Der Neurowissenschaftler Patrice Voss arbeitet mit blinden Personen. An der McGillUniversität in Montreal, Kanada, bittet er sie, sie sich in einen Tomographen zu legen
und schaut ihnen mit bildgebenden Verfahren ins Gehirn.
Cut 5: Voss
Why study blind people? It allows us to study the limits … something drastically different
going on in their brain than in normally sighted people.
Übersetzer:
Wir untersuchen Blinde, weil wir mit ihnen die Grenzen des Hörsinns ausloten können.
So können wir etwa zeigen, dass Blinde bestimmte Aufgaben besser lösen als
Sehende. Und es gibt noch einen zweiten Grund: Im Gehirn von Blinden geht etwas vor
sich, was sie von sehenden Menschen in dramatischer Weise unterscheidet.
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Sprecher:
Bis in die 90er-Jahre war unter Experten umstritten, ob Blinde wirklich in der Lage sind,
besser zu hören als Sehende. Zwar gibt es berühmte blinde Musiker mit
außergewöhnlichen Fähigkeiten, der Soulmusiker Stevie Wonder zum Beispiel oder der
Tenor Andrea Bocelli. Aber viele Fachleute vertraten die Ansicht, dass den Blinden mit
dem Sehen eine wesentliche Orientierungshilfe fehle und dass deshalb ihr Hören nicht
zwangsläufig besser sein müsse. Andere aber waren der Meinung, dass die Blinden
den fehlenden Seh-Sinn kompensieren müssten und dass sie deshalb besonders gut
hören lernten. Letztere Fraktion lag richtig.
Cut 6: Voss
Nowadays we know that its more the compensation hypothesis that holds true ... than in
normally sighted people.
Übersetzer:
Wir wissen heute, dass die Kompensations-Hypothese richtig ist: Insbesondere
Menschen, die früh erblindet sind, entwickeln besondere Fähigkeiten beim Hören und
auch beim Tastsinn. Wir untersuchen diese besonderen Fähigkeiten heute mit
bildgebenden Verfahren um zu verstehen, was im Hirn von Blinden anders abläuft als
bei Sehenden.
Sprecher:
In der Tat ist hier einiges anders: Bei Sehenden ist ein Drittel des Hirns damit
beschäftigt, visuelle Information zu verarbeiten. Bei Menschen, die früh in ihrem Leben
erblinden, bleiben diese Regionen aber nicht untätig: Sie beginnen damit, die anderen
Sinne zu unterstützen. Es sind genau jene Bereiche, die eigentlich für räumliche
Informationsverarbeitung im Sehzentrum zuständig sind, die jetzt dabei helfen,
akustische Informationen zu verarbeiten. Dieser Umstand ermöglicht es den Blinden,
außergewöhnlich gut zu hören.
[CUT 7: Voss
When someone has to cross a street he has to use every cue possible. … by blind
individuals.
Übersetzer:
Wenn ein Blinder eine Straße überqueren muss, dann versucht er, alle Hinweise
aufzunehmen und zu nutzen. Es existieren sehr feine akustische Hinweise, die sehr
selten von Sehenden, aber regelmäßig von Blinden genutzt werden.
Sprecher:
Worin aber bestehen diese besonderen Hinweise?] Bei Experimenten, die Voss
unternahm, stellte sich immer wieder heraus, dass die früh Erblindeten zwei
herausragende Fähigkeiten haben: Sie können Tonhöhen besser unterscheiden, und
sie sind imstande, genauer als sehende Testpersonen zu sagen, aus welcher Richtung
ein Geräusch kommt.
Bemerkenswert war das folgende Experiment: Voss verschloss den Testpersonen ein
Ohr, sodass sie nur noch mit dem anderen Ohr hören konnten. In dieser Lage waren
die besonders Hörbegabten unter den Blinden immer noch dazu fähig, Töne zu orten.
Sie konnten mit einem Ohr in stereo hören – ein bisschen zumindest.
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Cut 8: Voss
We believe that they hear better because they use auditory spectral cues. …where the
sound came from.
Übersetzer:
Wir glauben, dass die begabten Blinden besser hören, weil sie versteckte Hinweise im
Frequenzspektrum wahrnehmen: Es handelt sich um Verschiebungen bei bestimmten
Schallfrequenzen, die von der Ohrmuschel hervorgerufen werden, je nachdem, woher
der Schall kommt.
MUSIK John Williams: „Across the Stars“
Sprecher:
Es ist also die besondere Form unserer Ohren, die den Schall reflektiert und verändert.
Je nach Frequenz und Richtung, aus der die Schallwellen kommen, ergeben sich
Verschiebungen in den Wellen. Besonders hörbegabte Blinde können diese
Verschiebungen wahrnehmen.
Sprecherin:
Der Hörsinn verändert sich. Nicht nur die Ohren haben sich im Verlauf der Evolution
weiterentwickelt, auch die Wahrnehmung und die Verarbeitung im Gehirn. Sie lässt sich
trainieren, sensibilisieren. Fein nuancierte Klänge werden plötzlich unterscheidbar.
Verschiebungen in den Tonhöhen und Tonfolgen, wahrgenommen in verbesserter
Qualität. Das Hören wird gelernt, immer wieder neu.
MUSIK hoch (Gänsehaut-Stelle)
Sprecher:
Valorie Salimpoor, die Expertin für Gänsehaut-Musik, verbringt viel Zeit am Klinikum, in
einem Labor mit einem Spezialtomographen: Hier bittet sie ihre Testpersonen, sich in
eine Röhre zu legen. Sie setzt ihnen Kopfhörer auf – und spielt ihnen Musik vor. Von
einem Nachbarraum aus überwacht sie an einem Computer die Bilder, die das Gerät
von den Gehirnen der Probanden aufnimmt. Salimpoor untersucht, an welcher Stelle im
Gehirn welche Stoffe ausgeschüttet werden. Ergebnis: Immer dann, wenn jemand
besonders emotional auf Musik reagiert, ist das Glückshormon Dopamin im Spiel. – Ein
Ergebnis, mit dem sie nicht unbedingt gerechnet hatte.
Cut 9: Salimpoor
Dopamin isn't the main feelgood chemical … And maybe music might be the key
(Lachen).
Übersetzerin:
Dopamin ist nicht das wichtigste Glückshormon im Gehirn. Es gibt ja auch die
Endorphine, Oxytocin und auch Serotonin. Das Dopamin ist eher ein verstärkender
Stoff, der uns direkt veranlasst, etwas zu tun. Der Körper schüttet Dopamin aus, um zu
sagen: Ich will diese Erfahrung noch einmal machen, zum Beispiel, wenn wir etwas zu
Essen brauchen oder kurz davor sind, Sex zu haben. Und bei Drogenabhängigkeit
spielt Dopamin eine entscheidende Rolle, etwa beim Kokain. Da stellt sich die Frage, ob
wir nicht einen gesünderen Weg finden können, Dopamin auszuschütten. Und vielleicht
ist ja Musik die Antwort.
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MUSIK Tiesto: Adagio for Strings (Techno-Version)
Sprecherin:
Rhythmus, Bewegung, Tanz – tief verwurzelt in den Ursprüngen des Hörsinns.
Dopamin, eine besondere Erfahrung. Wir wollen, wir brauchen mehr davon. Gänsehaut:
eine alte Veranlagung des Menschen, vererbt aus der langen Geschichte der Evolution.
Sie trifft zusammen mit einer anspruchsvollen Fähigkeit, die der Mensch erst viel später
entwickelte: Töne und Melodien zu hören, zu erkennen, mitzuverfolgen und zu
genießen. – Eine besondere, anspruchsvolle Spielart des Hörens, aber längst nicht die
einzige.
[Sprecher:
Der Goldene Maulwurf ist ein ungewöhnliches Tier. Er ist blind und geht doch in der
Namib-Wüste auf die Jagd. Jede Nacht legt er etwa 5 Kilometer im Sand zurück. Auf
seinem Weg steckt er immer wieder seinen Kopf in den Sand. Er hat eine Art Geophon
im Ohr, mit dem er seine Beute ortet: Termiten, die an kleinen Hügeln mit Gräsern
leben. Sobald der Maulwurf sie erreicht, rennen sie in allen Richtungen davon. Einige
von ihnen aber kann er schnappen. Peter Narins von der University of California in Los
Angeles.
Cut 10: Narins
The golden mole middle ear is unusual among mammals ... studying this animal based
on its middle ear anatomy.
Übersetzer:
Das Mittelohr des Goldenen Maulwurfs ist ungewöhnlich im Vergleich zu anderen
Säugetieren. Eines der drei Gehörknöchelchen, der Hammer, ist extrem groß. Er wiegt
45 Milligramm und ist damit schwerer als der Hammer beim Menschen – und das,
obwohl das Tier nur 20 Gramm wiegt. Für uns ist die Anatomie seines Ohres darum
sehr interessant.
Sprecher:
Peter Narins hat das Ohr des Maulwurfs und sein gigantisches Gehörknöchelchen
genau untersucht. Mit Versuchen an gefangenen Tieren und physikalischen
Modellrechnungen konnte er zeigen, dass der Goldene Maulwurf in der Lage ist, die
Schallwellen zu orten – mit dem Kopf im Sand und seinen beiden Ohren, die wie
Geophone Schwingungen aufnehmen.
Die Termiten, die auf den Sand-Hügeln herumlaufen, produzieren charakteristische
Kratzgeräusche mit einer Frequenz von etwa 120 Hertz. Diese Schwingungen, die sich
im Sand ausbreiten, kann der Maulwurf aber nur über kurze Entfernungen hören. Zuvor
macht er darum eine zweite Frequenz aus, 300 Hertz, die er auf eine Entfernung von
etwa 20 Metern hören kann.
Cut 11: Narins
What we've shown actually quite well … localize the source of the seismic waves and
that is where the food is.
Übersetzer:
Wir haben nachweisen können, dass diese zweiten Vibrationen dadurch verursacht
werden, dass der Wind durch die Gräser weht, die auf den kleinen Hügeln wachsen.
Die sich wiegenden Gräser erzeugen eine Resonanzschwingung im Hügel und eine
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seismische Welle, die durch den Sand läuft. Der Maulwurf erkennt diese Frequenz und
ortet dann, wo sich sein Fressen befindet.
Sprecher:
Erst wenn die Sonne über der Wüste aufgeht und es unerträglich heiß wird, ist der
Goldene Maulwurf endlich satt und müde. Er vergräbt sich tief im Sand und schläft.
MUSIK Rodriguez: “La Cumparsita” (Tango)
Sprecherin:
Ein Gedanke des dänischen Medizin-Nobelpreisträgers August Krogh aus den 1920erJahren, später als das Krogh-Prinzip bezeichnet: Für viele Probleme der Biologie
existiert ein spezialisiertes Tier, an dem sich die jeweilige Fragestellung besonders gut
untersuchen lässt. Tiere wie der Goldene Maulwurf oder die Gottesanbeterin haben im
Verlauf der Evolution gelernt, mit extremen Anforderungen zurechtzukommen.
Modellsysteme für die Entwicklung und die Vielfalt des Hörens.]
Atmo Wellensittiche
Sprecher:
Wenn Wellensittiche aus ihren Eiern schlüpfen, reißen sie ihre Schnäbel nicht weit auf,
wie viele andere Vögel es tun. Für das Betteln um Nahrung fehlt ihnen die Kraft. Die
Vogelmutter dreht ihre Kinder darum auf den Rücken und stopft die Nahrung in ihre
Schnäbel hinein. Die kleinen Wellensittiche haben keine Federn und auch noch keine
Öffnungen am Kopf, mit denen sie Hören könnten.
Dann aber durchlaufen sie eine rasante Entwicklung. Nach zwei Wochen sind ihre
Ohren offen, nach acht Wochen sind sie flügge. Im Gegensatz zu vielen anderen
Vögeln ist die Entwicklung von Wellensittichen aber nie ganz abgeschossen: Hören und
Lernen liegen bei ihnen dicht beieinander. In freier Wildbahn fliegen sie in Schwärmen
von etwa 200 Vögeln und kommunizieren dabei ständig. Ihr ganzes Leben lang
produzieren sie neue Klänge.
Atmo Vogel im Experiment
Sprecher:
Ein Wellensittich-Weibchen. Artemis heißt sie, obwohl sie sehr wenig mit der frei
umherschweifenden griechischen Jagdgöttin gemein hat. Artemis lebt in einem Labor
an der Universität von Maryland in College Park, USA. Sie ist eingesperrt in eine
schalldichte Kammer, die etwa so groß ist wie ein Backofen. Jedes Mal, wenn sie
piepst, fallen Körner aus einem kleinen Behälter und sie schnappt zu. Außerhalb der
Kammer sitzt Michael Osmanski vor elektronischen Geräten, die ein wenig an ein
Tonstudio erinnern.
Cut 12: Osmanski
We run them when they are hungry. So they are motivated to run a work for food. …
And by differentially reinforcing him by using a specific vocalization we can tell him what
to produce.
Übersetzer:
Wir experimentieren mit den Vögeln, wenn sie Hunger haben. Dann sind sie bereit, für
die Nahrung zu arbeiten. Wir trainieren sie so, dass sie rufen, sobald ein kleines
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Lämpchen aufleuchtet. Wir können den Tieren also genau sagen, wann sie rufen sollen.
Und wir können auch kontrollieren, was die Tiere von sich geben, indem wir allmählich
einen bestimmten Ruf besonders belohnen.
Sprecher:
Michael Osmanski hat einen winzigen Kopfhörer gebastelt, den er Artemis aufsetzt. Der
Vogel hört nun seine eigene Stimme, die im selben Moment von einem Mikrofon
aufgenommen wird. Bei diesem Experiment geht es um die Frage, ob Wellensittiche
ihre Stimme verändern, je nachdem, wie sie sich selbst hören. Und in der Tat: Je lauter
die Töne aus dem Kopfhörer werden, desto leiser wird Artemis. Das Gleiche gilt auch
für die Tonhöhe ihres Rufs: Hört der Vogel eine leicht verschobene Frequenz, versucht
er, diese zu korrigieren.
Atmo kurz hoch
Sprecher:
Auditive Rückkopplung heißt der Effekt, über den Singvögel und verschiedene
Papageienarten ihre Stimmen an das Gehörte anpassen können – ganz ähnlich wie
Menschen es tun.
Und auch bei einer anderen, viel extremeren Beanspruchung erweist sich das Ohr der
Wellensittiche als erstaunlich flexibel: Wenn sie durch extremen Lärm oder durch
bestimmte Medikamente taub werden, dann erholen sich ihre Ohren nach einer Weile
wieder: Ihre Haarzellen, die im Innenohr für die Weiterleitung der Hörsignale an den
Hörnerv zuständig sind, können nachwachsen. Der Mensch besitzt diese Fähigkeit
nicht: Wer seine Haarzellen einmal verloren hat, der bleibt taub. Bob Dooling:
Cut 13: Dooling
If we could ever get a human to regrow haircells. Generate haircells would the ear be
functional. And the answer is yes …. Is it going to make a difference.
Übersetzer:
Wenn es uns jemals gelänge, die Haarzellen von Menschen nachwachsen zu lassen,
dann stellt sich als erstes die Frage, ob sie damit auch wieder hören würden. Unsere
Untersuchungen an Vögeln haben ergeben, dass die Antwort „ja“ lautet: Vögel, bei
denen die Haarzellen nachgewachsen sind, können wir kaum unterscheiden von
Vögeln, die nie einen Hörverlust erlitten haben. Das ist ein Ergebnis, das für zukünftige
Forschungsprojekte von entscheidender Bedeutung sein wird.
Musik: Orff: Camina Burana
Sprecherin:
Der Hörsinn ermöglicht eine komplexe Wahrnehmung: Geräusche, Melodien im Raum.
Ein Objekt, ein anderes Wesen. Ein Klang, schnell nachgeahmt. Was bedeutet er? Ein
anderes Tier, ein anderer Mensch. Perfekt aufeinander abgestimmte Signale in Ohr.
Das Gehirn nimmt sie auf, gleicht mit dem Gedächtnis ab, verarbeitet, ergänzt fehlende
Information, lernt Neues kennen, wiederholt, variiert.
Atmo Katzen 4
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Sprecher:
Es ist ein düsterer Keller an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, in dem ein
gutes Dutzend Katzen leben, verteilt über mehrere Käfige. Sie alle haben ein weißes
Fell – ohne jedes Muster. Diese strahlend weißen Katzen, die hier vor grauen Mauern
herumschleichen, haben noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie alle sind von Geburt an
taub. Was unter anderem dazu führt, dass sie ziemlich laut sind.
Cut 14: Ryugo
They are quite noisy even though they’re deaf.
Sprecher:
Der Biologe und Hirnforscher David Ryugo hat diese Katzen gesammelt und gezüchtet.
Seine Experimente bestehen zunächst darin, dass er jungen, tauben Katzen CochleaImplantate einsetzt. Diese Hörhilfen bestehen aus sehr feinen Drähten oder genauer:
Elektrodenbündeln, die er in die Windungen der Hörschnecke schiebt. An jene Stelle
also, an der bei hörenden Tieren die Schallwellen ankommen, nachdem sie zunächst
durch den Gehörgang, das Trommelfell und über die Gehörknöchelchen gelaufen sind.
Normalerweise werden die Schallwellen in der Hörschnecke über die sogenannte
Basilarmembran und die Haarzellen in Nervenimpulse umgewandelt. Das CochleaImplantat überspringt diese Signalkette. Es erzeugt elektrische Signale, die vom
Hörnerv direkt verarbeitet werden.
Damit dieses Wunder tatsächlich geschieht, muss David Ryugo die feinen Drähte des
Implantats möglichst weit in die Hörschnecke hineinschieben.
Cut 15: Ryugo
You go in and you go through the ear canal and the timpanic membrane … and each
electrode represents a different frequency. And the processor and the microphone the
cat wears in a back-pack.
Übersetzer:
Man geht zuerst durch den Gehörgang und das Trommelfell hindurch, beide bleiben
dabei intakt. Dann bohrt man ein wenig und schiebt das Cochlea-Implantat in die
Schnecke. Das Mikrofon und den Sprachprozessor, der die Signale für die Elektroden
aufbereitet, trägt die Katze in einer Art Rucksack.
Sprecher:
Ryugo erinnert sich noch genau an den Tag, als es ihm zum ersten Mal gelang, eine
ehemals taube Katze mit einem bestimmten Geräusch zum Essen zu rufen.
Cut 16: Ryugo
It was amazing. (…) I remember thinking it works! This is incredible! (…) I have cats at
home, and I have always known, if you rattle your catfood-box the cat will be right there.
Übersetzer:
Ich weiß noch genau, wie ich gedacht habe: Es funktioniert! Das ist unglaublich! Ich
habe auch Katzen zu Hause, und mir war klar, dass sie immer sofort um die Ecke
kommen, wenn man eine volle Katzenfutter-Schachtel schüttelt.
Sprecher:
Die elektrischen Signale der Elektroden im Innenohr wurden offenbar von den
Haarzellen über den Hörnerv weitergeleitet. Das Gehirn hatte sich der neuen Situation
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angepasst und den Weg ins Hörzentrum frei gemacht. Unter dem Mikroskop konnte
Ryugo später erkennen, dass die Verbindungen des Hörnervs in den Hirnstamm
genauso aussahen wie bei hörenden Tieren.
Cut 17: Ryugo
We looked at three different cell-types … the brain can’t make sense of the sound.
Übersetzer:
Wir haben drei unterschiedliche Zelltypen angeschaut, die Signale vom Hörnerv
bekamen. Bei tauben Katzen lag jeweils eine Störung der Zellen vor: Die Signale
konnten nicht richtig übertragen werden. Manche Zellen leiteten sie mit Verzögerung
weiter, andere überhaupt nicht. Aber die Abfolge der Signale und die Präzision der
zeitlichen Ereignisse ist entscheidend. Wenn die Synchronisation nicht stimmt, kann
das Hirn mit den Klängen nichts anfangen.
Sprecher:
Die Verwandlung eines tauben Ohrs in ein hörendes gelang Ryugo allerdings nur bei
jungen Katzen. Er geht davon aus, dass bei älteren Tieren die falschen und
asynchronen Nerven-Verbindungen immer fester werden und sich nicht mehr verändern
lassen.
Für gehörlose Kleinkinder bedeutet das: Je früher sie mit einem, besser noch: mit zwei
Cochlea-Implantaten versorgt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie
noch gut hören lernen. Denn mit Signalen in zwei Ohren erhält das Gehirn sehr früh die
Chance, die Klänge im Detail zu analysieren und zu ergänzen.
Cut 18: Ryugo
A lot of our ability to pull signals out of noise … cope with noisy environments than kids
with only one implants.
Übersetzer:
Unsere Fähigkeit, Signale aus dem Rauschen herauszuziehen, sodass wir uns etwa in
einem lauten Restaurant unterhalten können, hängt damit zusammen, dass wir die
Klänge genau orten können. Kinder mit zwei Implantaten kommen deutlich besser mit
einer lauten Umgebung zurecht als solche, die nur eines haben.
Musik Led Zeppelin: Moby Dick
Sprecherin:
Der Cocktail-Party-Effekt: Laufen durch den lauten Raum, von allen Seiten: Lärm,
Musikfetzen, verschiedene Sprachen, Akzente. Dann: die eine Stimme, sie wird
festgehalten im Kopf. Beiden Ohren folgen ihr, ignorieren alle anderen Geräusche so
weit es geht. – Eine erstaunliche Leistung, bis heute von der Wissenschaft nicht wirklich
verstanden. Der Hörsinn: Wandelbare Wahrnehmung und Verarbeitung von akustischer
Information. Synchronisiert, zielgerichtet, teilweise kognitiv kontrolliert und zugleich tief
verankert in der Entwicklung der Tiere und des Menschen.
Cut 19: Ryugo
The thing about the brain is: it loves information. It loves change. It loves contrast. It
loves activity. And it puts things together to change how the organism responds. (…)
The information contained in sound is very rich. The spectral composition the starts and
stops, location and significance. We have to be able to decipher the frequencies,
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durations of sounds, the cadences of sound and then to determine what it means. Can
we identify it – is it a friendly sound, is it a hostile sound. (…) Our eyes, our head moves
to the sound (…) our face will change, our mood changes, (…) pretty soon memory and
emotion comes in. Pretty soon the whole brain is involved with response to a very
simple sound.
Übersetzer:
Das Gehirn liebt Information, es liebt den Wechsel, den Kontrast, die Aktivität. Kaum
bringt es neue Dinge zusammen, ändern sich die Reaktionen des ganzen Organismus.
Die Klänge, die wir wahrnehmen, sind sehr vielschichtig – die Komposition der
Frequenzen, der Rhythmus, die Tonfolgen. Können wir ausmachen, ob es ein
freundlicher oder bösartiger Klang ist? Was bedeutet er? Unsere Augen, unser Kopf
folgt einem Klang; unser Gesicht bewegt sich, unsere Stimmung ändert sich. Emotionen
und Erinnerungen werden wach. Sehr schnell ist das gesamte Gehirn beschäftigt – mit
der Reaktion auf einen einzelnen einfachen Klang.
Musik John Williams: „Across the Stars“
Sprecher:
Valorie Salimpoor, die Expertin für Gänsehaut-Musik, hat mit ihren Tests an Probanden
im Tomographen eine interessante Beobachtung gemacht: Beim Musik-Genuss wird
das Dopamin bereits ausgeschüttet, bevor die entscheidende Stelle im Stück kommt.
Das heißt: Unser Gehirn singt innerlich mit und bereitet sich auf die nächsten Töne vor
– kognitiv wie auch emotional.
Cut 20: Salimpoor
Composers certainly know this. … until they finally give you that note that you need to
hear.
Übersetzerin:
Komponisten wissen das genau. Sie erzeugen Spannung und verzögern die Auflösung,
auf die wir warten. Sie nehmen uns mit auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Und
schließlich geben sie uns dann den einen Ton, den wir unbedingt hören wollen.
Sprecher:
Möglich wird diese Kombination aus intellektuellem und emotionalem Erleben, weil zwei
verschiedene Regionen im Gehirn beim Musikhören zusammenarbeiten: Zunächst wird
das Dopamin in einem Bereich ausgeschüttet, der für das vorausschauende Denken
verantwortlich ist. Und wenn der Höhepunkt der Musik erreicht ist – wird zusätzlich
Dopamin in einer Hirnregion frei, die mit dem limbischen System verbunden ist, dem
Gefühlszentrum.
Valorie Salimpoor ist damit ein neurochemischer Beweis für das gelungen, was
Komponisten schon immer wussten: Dass Musik sowohl den Intellekt als auch das
Gefühl ansprechen muss.
Musik Orff: „Camina Burana“
Sprecherin:
Bewegung, Schwingung, Schall. Geräusche, die Orientierung bieten. Verarbeitung der
Klänge im Gehirn: Wiederholung und Kommunikation. Sprache und Musik, Gefühl und
Intellekt. Kombination alter, aus der Evolution übertragener Prozesse mit kognitiven
12
Leistungen des modernen Menschen: Erinnerung, Orientierung, Lernen, Genuss. Eine
reiche Erlebniswelt. Der Hörsinn trotzt allen Beschränkungen und Störungen. Er nutzt
diese sogar – und ist so immer wieder offen für neues Erleben.
*****
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