SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Rhythmus im Ohr Wie sich der Hörsinn immer neu erfindet Autor: Jan Lublinski Redaktion: Detlef Clas Regie: Günter Maurer Sendung: Montag, 31. Oktober 2011, 8.30 Uhr, SWR2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Übersetzerin: Wenn du den Anfang dieses Stückes hörst, bist du schon aufgeregt: Du kennst die Melodie, und du weißt: Der Teil, den du besonders magst, kommt gleich. Und mit jeder Note näherst du dich dieser Stelle. Es baut sich langsam auf, und dann hörst du diesen besonderen Teil – und es fühlt sich einfach gut an. Sprecher: Valorie Salimpoor arbeitet als Hirnforscherin an der McGill-Universität in Montreal. Sie versucht der Gänsehaut durch Musik auf die Spur zu kommen – einem sehr individuellen Effekt. Bei ihrem eigenen Gänsehaut-Stück „Across the stars“ spüren die meisten anderen Leute gar nichts. Dafür könnte es sein, dass sich bei Ihnen etwas tut, wenn sie Led Zeppelin hören. MUSIK Led Zeppelin: „Moby Dick“ Sprecher: Oder sie geraten bei Beethoven in Wallungen. MUSIK Beethoven „Sturm“ Sprecher: Auf ihrer Computer-Festplatte hat Salimpoor inzwischen eine ganze Datenbank mit Gänsehaut-Musik zusammengetragen – von Tango bis Dudelsack-Musik. Unterstützt haben sie dabei 217 Testpersonen, die zu ihr ans Universitätsklinikum in Montreal gekommen sind. Bei Gänsehaut-Musikliebhabern besonders beliebt: Samuel Barbers „Adagio for Strings“: MUSIK Barber: “Adagio for Strings” Cut 2: Salimpoor This is certainly not a coincidence … feel very emotional. Übersetzerin: Das ist sicher kein Zufall. Diese Musik kommt in vielen Filmen und in der Werbung vor, sie wurde bei Beerdigungen gespielt. Sie bewegt die Menschen. Und genau danach suchen die Komponisten ja: nach Musik, die möglichst viele von uns emotional berührt. 2 Ansage: Rhythmus im Ohr – Wie sich der Hörsinn immer neu erfindet Eine Sendung von Jan Lublinski Sprecherin: Der Hörsinn. Das Ohr nimmt Schallwellen auf, leitet Signale an das Gehirn. Dort werden Geräusche und Klänge erkannt, körperliche Reaktionen vorbereitet, Hör-Erfahrungen gespeichert. Im Verlauf der Evolutions-Geschichte haben Menschen wie auch Tiere immer wieder neu gelernt zu hören: Sie achten auf akustische Reize, vergleichen Klang-Eindrücke mit bereits gemachten Erfahrungen. Anspruchsvolles Hören wie etwa Musikgenuss wird möglich, weil das Gehirn zwei Dinge verknüpft: einerseits komplexe kognitive Prozesse – und andererseits grundlegende, aus der Evolution vererbte Hörleistungen. Biologen und Hirnforscher können hier noch viel neues Lernen. Über Wahrnehmung, Orientierung, Kommunikation – und das Hören von Musik. Sprecher: Gottesanbeterinnen sind ungewöhnliche Insekten. Nicht nur wegen ihres langen Körpers, ihrer Fangarme und ihres kleinen, dreieckigen und sehr beweglichen Kopfes. Sie verfügen auch über ein recht unkonventionelles Hörsystem: Gottesanbeterinnen haben nur ein Ohr. Mitten auf ihrem Bauch, genau zwischen den beiden Hinterbeinen, befindet sich ein Schlitz. Dahinter sitzt ein kleiner Hohlraum mit zwei Trommelfellen, die direkt nebeneinander angeordnet sind. David Yager, Insektenforscher an der Universität von Maryland: Cut 3: Yager The reason it’s in the middle of the body is that in developing animals …And it’s only in the middle where the ear is solid and undistorted by the leg movement. Übersetzer: Für die Position des Ohrs in der Mitte des Körpers gibt es eine einfache Erklärung: Bei ganz kleinen, frisch geschlüpften Gottesanbeterinnen sind die beiden Strukturen, die später zu Trommelfellen werden, noch an beiden Seiten des Körpers zu finden. Aber wenn das Tier wächst, wandern sie schnell in die Mitte. Dort befindet sich der einzige Ort, wo das Ohr sich in Ruhe befindet und nicht von der Bewegung der Beine gestört wird. Sprecher: Mit ihrem Zyklopen-Ohr kann die Gottesanbeterin Ultraschallwellen wahrnehmen. Wenn ihr natürlicher Feind, die Fledermaus, im Anflug ist und sich die Gottesanbeterin schnappen will, setzt diese reflexartig zu einem Sturzflug an: In engen Spiralen kreist sie zu Boden – und die Fledermaus kann ihr nicht folgen. Diese sehr erfolgreiche Fluchtstrategie haben die Gottesanbeterinnen vermutlich vor etwa 70 Millionen Jahren entwickelt, nachdem die ersten Fledermäuse mit Ultraschall auf die Jagd gingen. Zugunsten dieses empfindlichen und geschützten Ohres verzichtete die Evolution bei der Gottesanbeterin auf das Richtungshören. ATMO Ventilator, Kühlschrank (nur evt.) Sprecher: Ein alter Ventilator kämpft sich durch die stickige Luft in David Yagers Labor. Überall hängen klebrige, gelbe Streifen, auf denen sich Hunderte von Fliegen verfangen haben. 3 An den Wänden: Regale mit großen Einmachgläsern; in jedem sitzt eine Gottesanbeterin. Die Tiere kommen aus der ganzen Welt, einige Exemplare sind deutlich größer als Yagers Hand. MUSIK Barber: ”Adagio for Strings“ (kurz) Sprecher: Unter den insgesamt 2000 verschiedenen Arten der Gottesanbeterin hat Yager eine ganze Reihe verschiedener Hörsysteme ausgemacht. Es gibt Gottesanbeterinnen, die ihr Ohr auf verhältnismäßig hohe Frequenzen spezialisiert haben und solche, die gar kein Ohr haben, weil die Hör-Evolution komplett an ihnen vorbei gegangen ist. Wieder andere verfügen sogar über ein zweites Zentral-Ohr: Es sitzt zwischen dem anderen Beinpaar und kann Schallwellen in einem zweiten Frequenzbereich wahrnehmen. Offenbar hat die Natur bei den Gottesanbeterinnen diverse Hörvarianten durchprobiert. Cut 4: Yager In vertebrates it looks like there may be 2 or 3 … see what the patterns and the rules are. Übersetzer: Bei den Wirbeltieren hat es vermutlich zwei oder drei unabhängige Evolutionen des Ohrs gegeben. Bei den Insekten sind es mindestens 20. 20-mal haben die Insekten neuartige Ohren entwickelt. Wir können diese Beispiele vergleichen und sehen, welches die unterscheidenden Muster und Regeln sind. MUSIK: Beethoven „Der Sturm“ Sprecherin: Der Hörsinn, mehrfach entwickelt im Verlauf der Evolution. Insekten müssen wissen, wie ihre Gliedmaßen ausgerichtet sind. Nervenbahnen melden die Positionen der Beine und der Flügel an das Gehirn. Nehmen auch andere Bewegungen auf: Rhythmus, schnelle Frequenzen, Schall von anderen Orten. Das Gehirn verarbeitet die zusätzlichen Reize, lernt im Laufe der Zeit neue Signale kennen und nutzen. Sprecher: Der Neurowissenschaftler Patrice Voss arbeitet mit blinden Personen. An der McGillUniversität in Montreal, Kanada, bittet er sie, sie sich in einen Tomographen zu legen und schaut ihnen mit bildgebenden Verfahren ins Gehirn. Cut 5: Voss Why study blind people? It allows us to study the limits … something drastically different going on in their brain than in normally sighted people. Übersetzer: Wir untersuchen Blinde, weil wir mit ihnen die Grenzen des Hörsinns ausloten können. So können wir etwa zeigen, dass Blinde bestimmte Aufgaben besser lösen als Sehende. Und es gibt noch einen zweiten Grund: Im Gehirn von Blinden geht etwas vor sich, was sie von sehenden Menschen in dramatischer Weise unterscheidet. 4 Sprecher: Bis in die 90er-Jahre war unter Experten umstritten, ob Blinde wirklich in der Lage sind, besser zu hören als Sehende. Zwar gibt es berühmte blinde Musiker mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, der Soulmusiker Stevie Wonder zum Beispiel oder der Tenor Andrea Bocelli. Aber viele Fachleute vertraten die Ansicht, dass den Blinden mit dem Sehen eine wesentliche Orientierungshilfe fehle und dass deshalb ihr Hören nicht zwangsläufig besser sein müsse. Andere aber waren der Meinung, dass die Blinden den fehlenden Seh-Sinn kompensieren müssten und dass sie deshalb besonders gut hören lernten. Letztere Fraktion lag richtig. Cut 6: Voss Nowadays we know that its more the compensation hypothesis that holds true ... than in normally sighted people. Übersetzer: Wir wissen heute, dass die Kompensations-Hypothese richtig ist: Insbesondere Menschen, die früh erblindet sind, entwickeln besondere Fähigkeiten beim Hören und auch beim Tastsinn. Wir untersuchen diese besonderen Fähigkeiten heute mit bildgebenden Verfahren um zu verstehen, was im Hirn von Blinden anders abläuft als bei Sehenden. Sprecher: In der Tat ist hier einiges anders: Bei Sehenden ist ein Drittel des Hirns damit beschäftigt, visuelle Information zu verarbeiten. Bei Menschen, die früh in ihrem Leben erblinden, bleiben diese Regionen aber nicht untätig: Sie beginnen damit, die anderen Sinne zu unterstützen. Es sind genau jene Bereiche, die eigentlich für räumliche Informationsverarbeitung im Sehzentrum zuständig sind, die jetzt dabei helfen, akustische Informationen zu verarbeiten. Dieser Umstand ermöglicht es den Blinden, außergewöhnlich gut zu hören. [CUT 7: Voss When someone has to cross a street he has to use every cue possible. … by blind individuals. Übersetzer: Wenn ein Blinder eine Straße überqueren muss, dann versucht er, alle Hinweise aufzunehmen und zu nutzen. Es existieren sehr feine akustische Hinweise, die sehr selten von Sehenden, aber regelmäßig von Blinden genutzt werden. Sprecher: Worin aber bestehen diese besonderen Hinweise?] Bei Experimenten, die Voss unternahm, stellte sich immer wieder heraus, dass die früh Erblindeten zwei herausragende Fähigkeiten haben: Sie können Tonhöhen besser unterscheiden, und sie sind imstande, genauer als sehende Testpersonen zu sagen, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Bemerkenswert war das folgende Experiment: Voss verschloss den Testpersonen ein Ohr, sodass sie nur noch mit dem anderen Ohr hören konnten. In dieser Lage waren die besonders Hörbegabten unter den Blinden immer noch dazu fähig, Töne zu orten. Sie konnten mit einem Ohr in stereo hören – ein bisschen zumindest. 5 Cut 8: Voss We believe that they hear better because they use auditory spectral cues. …where the sound came from. Übersetzer: Wir glauben, dass die begabten Blinden besser hören, weil sie versteckte Hinweise im Frequenzspektrum wahrnehmen: Es handelt sich um Verschiebungen bei bestimmten Schallfrequenzen, die von der Ohrmuschel hervorgerufen werden, je nachdem, woher der Schall kommt. MUSIK John Williams: „Across the Stars“ Sprecher: Es ist also die besondere Form unserer Ohren, die den Schall reflektiert und verändert. Je nach Frequenz und Richtung, aus der die Schallwellen kommen, ergeben sich Verschiebungen in den Wellen. Besonders hörbegabte Blinde können diese Verschiebungen wahrnehmen. Sprecherin: Der Hörsinn verändert sich. Nicht nur die Ohren haben sich im Verlauf der Evolution weiterentwickelt, auch die Wahrnehmung und die Verarbeitung im Gehirn. Sie lässt sich trainieren, sensibilisieren. Fein nuancierte Klänge werden plötzlich unterscheidbar. Verschiebungen in den Tonhöhen und Tonfolgen, wahrgenommen in verbesserter Qualität. Das Hören wird gelernt, immer wieder neu. MUSIK hoch (Gänsehaut-Stelle) Sprecher: Valorie Salimpoor, die Expertin für Gänsehaut-Musik, verbringt viel Zeit am Klinikum, in einem Labor mit einem Spezialtomographen: Hier bittet sie ihre Testpersonen, sich in eine Röhre zu legen. Sie setzt ihnen Kopfhörer auf – und spielt ihnen Musik vor. Von einem Nachbarraum aus überwacht sie an einem Computer die Bilder, die das Gerät von den Gehirnen der Probanden aufnimmt. Salimpoor untersucht, an welcher Stelle im Gehirn welche Stoffe ausgeschüttet werden. Ergebnis: Immer dann, wenn jemand besonders emotional auf Musik reagiert, ist das Glückshormon Dopamin im Spiel. – Ein Ergebnis, mit dem sie nicht unbedingt gerechnet hatte. Cut 9: Salimpoor Dopamin isn't the main feelgood chemical … And maybe music might be the key (Lachen). Übersetzerin: Dopamin ist nicht das wichtigste Glückshormon im Gehirn. Es gibt ja auch die Endorphine, Oxytocin und auch Serotonin. Das Dopamin ist eher ein verstärkender Stoff, der uns direkt veranlasst, etwas zu tun. Der Körper schüttet Dopamin aus, um zu sagen: Ich will diese Erfahrung noch einmal machen, zum Beispiel, wenn wir etwas zu Essen brauchen oder kurz davor sind, Sex zu haben. Und bei Drogenabhängigkeit spielt Dopamin eine entscheidende Rolle, etwa beim Kokain. Da stellt sich die Frage, ob wir nicht einen gesünderen Weg finden können, Dopamin auszuschütten. Und vielleicht ist ja Musik die Antwort. 6 MUSIK Tiesto: Adagio for Strings (Techno-Version) Sprecherin: Rhythmus, Bewegung, Tanz – tief verwurzelt in den Ursprüngen des Hörsinns. Dopamin, eine besondere Erfahrung. Wir wollen, wir brauchen mehr davon. Gänsehaut: eine alte Veranlagung des Menschen, vererbt aus der langen Geschichte der Evolution. Sie trifft zusammen mit einer anspruchsvollen Fähigkeit, die der Mensch erst viel später entwickelte: Töne und Melodien zu hören, zu erkennen, mitzuverfolgen und zu genießen. – Eine besondere, anspruchsvolle Spielart des Hörens, aber längst nicht die einzige. [Sprecher: Der Goldene Maulwurf ist ein ungewöhnliches Tier. Er ist blind und geht doch in der Namib-Wüste auf die Jagd. Jede Nacht legt er etwa 5 Kilometer im Sand zurück. Auf seinem Weg steckt er immer wieder seinen Kopf in den Sand. Er hat eine Art Geophon im Ohr, mit dem er seine Beute ortet: Termiten, die an kleinen Hügeln mit Gräsern leben. Sobald der Maulwurf sie erreicht, rennen sie in allen Richtungen davon. Einige von ihnen aber kann er schnappen. Peter Narins von der University of California in Los Angeles. Cut 10: Narins The golden mole middle ear is unusual among mammals ... studying this animal based on its middle ear anatomy. Übersetzer: Das Mittelohr des Goldenen Maulwurfs ist ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Säugetieren. Eines der drei Gehörknöchelchen, der Hammer, ist extrem groß. Er wiegt 45 Milligramm und ist damit schwerer als der Hammer beim Menschen – und das, obwohl das Tier nur 20 Gramm wiegt. Für uns ist die Anatomie seines Ohres darum sehr interessant. Sprecher: Peter Narins hat das Ohr des Maulwurfs und sein gigantisches Gehörknöchelchen genau untersucht. Mit Versuchen an gefangenen Tieren und physikalischen Modellrechnungen konnte er zeigen, dass der Goldene Maulwurf in der Lage ist, die Schallwellen zu orten – mit dem Kopf im Sand und seinen beiden Ohren, die wie Geophone Schwingungen aufnehmen. Die Termiten, die auf den Sand-Hügeln herumlaufen, produzieren charakteristische Kratzgeräusche mit einer Frequenz von etwa 120 Hertz. Diese Schwingungen, die sich im Sand ausbreiten, kann der Maulwurf aber nur über kurze Entfernungen hören. Zuvor macht er darum eine zweite Frequenz aus, 300 Hertz, die er auf eine Entfernung von etwa 20 Metern hören kann. Cut 11: Narins What we've shown actually quite well … localize the source of the seismic waves and that is where the food is. Übersetzer: Wir haben nachweisen können, dass diese zweiten Vibrationen dadurch verursacht werden, dass der Wind durch die Gräser weht, die auf den kleinen Hügeln wachsen. Die sich wiegenden Gräser erzeugen eine Resonanzschwingung im Hügel und eine 7 seismische Welle, die durch den Sand läuft. Der Maulwurf erkennt diese Frequenz und ortet dann, wo sich sein Fressen befindet. Sprecher: Erst wenn die Sonne über der Wüste aufgeht und es unerträglich heiß wird, ist der Goldene Maulwurf endlich satt und müde. Er vergräbt sich tief im Sand und schläft. MUSIK Rodriguez: “La Cumparsita” (Tango) Sprecherin: Ein Gedanke des dänischen Medizin-Nobelpreisträgers August Krogh aus den 1920erJahren, später als das Krogh-Prinzip bezeichnet: Für viele Probleme der Biologie existiert ein spezialisiertes Tier, an dem sich die jeweilige Fragestellung besonders gut untersuchen lässt. Tiere wie der Goldene Maulwurf oder die Gottesanbeterin haben im Verlauf der Evolution gelernt, mit extremen Anforderungen zurechtzukommen. Modellsysteme für die Entwicklung und die Vielfalt des Hörens.] Atmo Wellensittiche Sprecher: Wenn Wellensittiche aus ihren Eiern schlüpfen, reißen sie ihre Schnäbel nicht weit auf, wie viele andere Vögel es tun. Für das Betteln um Nahrung fehlt ihnen die Kraft. Die Vogelmutter dreht ihre Kinder darum auf den Rücken und stopft die Nahrung in ihre Schnäbel hinein. Die kleinen Wellensittiche haben keine Federn und auch noch keine Öffnungen am Kopf, mit denen sie Hören könnten. Dann aber durchlaufen sie eine rasante Entwicklung. Nach zwei Wochen sind ihre Ohren offen, nach acht Wochen sind sie flügge. Im Gegensatz zu vielen anderen Vögeln ist die Entwicklung von Wellensittichen aber nie ganz abgeschossen: Hören und Lernen liegen bei ihnen dicht beieinander. In freier Wildbahn fliegen sie in Schwärmen von etwa 200 Vögeln und kommunizieren dabei ständig. Ihr ganzes Leben lang produzieren sie neue Klänge. Atmo Vogel im Experiment Sprecher: Ein Wellensittich-Weibchen. Artemis heißt sie, obwohl sie sehr wenig mit der frei umherschweifenden griechischen Jagdgöttin gemein hat. Artemis lebt in einem Labor an der Universität von Maryland in College Park, USA. Sie ist eingesperrt in eine schalldichte Kammer, die etwa so groß ist wie ein Backofen. Jedes Mal, wenn sie piepst, fallen Körner aus einem kleinen Behälter und sie schnappt zu. Außerhalb der Kammer sitzt Michael Osmanski vor elektronischen Geräten, die ein wenig an ein Tonstudio erinnern. Cut 12: Osmanski We run them when they are hungry. So they are motivated to run a work for food. … And by differentially reinforcing him by using a specific vocalization we can tell him what to produce. Übersetzer: Wir experimentieren mit den Vögeln, wenn sie Hunger haben. Dann sind sie bereit, für die Nahrung zu arbeiten. Wir trainieren sie so, dass sie rufen, sobald ein kleines 8 Lämpchen aufleuchtet. Wir können den Tieren also genau sagen, wann sie rufen sollen. Und wir können auch kontrollieren, was die Tiere von sich geben, indem wir allmählich einen bestimmten Ruf besonders belohnen. Sprecher: Michael Osmanski hat einen winzigen Kopfhörer gebastelt, den er Artemis aufsetzt. Der Vogel hört nun seine eigene Stimme, die im selben Moment von einem Mikrofon aufgenommen wird. Bei diesem Experiment geht es um die Frage, ob Wellensittiche ihre Stimme verändern, je nachdem, wie sie sich selbst hören. Und in der Tat: Je lauter die Töne aus dem Kopfhörer werden, desto leiser wird Artemis. Das Gleiche gilt auch für die Tonhöhe ihres Rufs: Hört der Vogel eine leicht verschobene Frequenz, versucht er, diese zu korrigieren. Atmo kurz hoch Sprecher: Auditive Rückkopplung heißt der Effekt, über den Singvögel und verschiedene Papageienarten ihre Stimmen an das Gehörte anpassen können – ganz ähnlich wie Menschen es tun. Und auch bei einer anderen, viel extremeren Beanspruchung erweist sich das Ohr der Wellensittiche als erstaunlich flexibel: Wenn sie durch extremen Lärm oder durch bestimmte Medikamente taub werden, dann erholen sich ihre Ohren nach einer Weile wieder: Ihre Haarzellen, die im Innenohr für die Weiterleitung der Hörsignale an den Hörnerv zuständig sind, können nachwachsen. Der Mensch besitzt diese Fähigkeit nicht: Wer seine Haarzellen einmal verloren hat, der bleibt taub. Bob Dooling: Cut 13: Dooling If we could ever get a human to regrow haircells. Generate haircells would the ear be functional. And the answer is yes …. Is it going to make a difference. Übersetzer: Wenn es uns jemals gelänge, die Haarzellen von Menschen nachwachsen zu lassen, dann stellt sich als erstes die Frage, ob sie damit auch wieder hören würden. Unsere Untersuchungen an Vögeln haben ergeben, dass die Antwort „ja“ lautet: Vögel, bei denen die Haarzellen nachgewachsen sind, können wir kaum unterscheiden von Vögeln, die nie einen Hörverlust erlitten haben. Das ist ein Ergebnis, das für zukünftige Forschungsprojekte von entscheidender Bedeutung sein wird. Musik: Orff: Camina Burana Sprecherin: Der Hörsinn ermöglicht eine komplexe Wahrnehmung: Geräusche, Melodien im Raum. Ein Objekt, ein anderes Wesen. Ein Klang, schnell nachgeahmt. Was bedeutet er? Ein anderes Tier, ein anderer Mensch. Perfekt aufeinander abgestimmte Signale in Ohr. Das Gehirn nimmt sie auf, gleicht mit dem Gedächtnis ab, verarbeitet, ergänzt fehlende Information, lernt Neues kennen, wiederholt, variiert. Atmo Katzen 4 9 Sprecher: Es ist ein düsterer Keller an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, in dem ein gutes Dutzend Katzen leben, verteilt über mehrere Käfige. Sie alle haben ein weißes Fell – ohne jedes Muster. Diese strahlend weißen Katzen, die hier vor grauen Mauern herumschleichen, haben noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie alle sind von Geburt an taub. Was unter anderem dazu führt, dass sie ziemlich laut sind. Cut 14: Ryugo They are quite noisy even though they’re deaf. Sprecher: Der Biologe und Hirnforscher David Ryugo hat diese Katzen gesammelt und gezüchtet. Seine Experimente bestehen zunächst darin, dass er jungen, tauben Katzen CochleaImplantate einsetzt. Diese Hörhilfen bestehen aus sehr feinen Drähten oder genauer: Elektrodenbündeln, die er in die Windungen der Hörschnecke schiebt. An jene Stelle also, an der bei hörenden Tieren die Schallwellen ankommen, nachdem sie zunächst durch den Gehörgang, das Trommelfell und über die Gehörknöchelchen gelaufen sind. Normalerweise werden die Schallwellen in der Hörschnecke über die sogenannte Basilarmembran und die Haarzellen in Nervenimpulse umgewandelt. Das CochleaImplantat überspringt diese Signalkette. Es erzeugt elektrische Signale, die vom Hörnerv direkt verarbeitet werden. Damit dieses Wunder tatsächlich geschieht, muss David Ryugo die feinen Drähte des Implantats möglichst weit in die Hörschnecke hineinschieben. Cut 15: Ryugo You go in and you go through the ear canal and the timpanic membrane … and each electrode represents a different frequency. And the processor and the microphone the cat wears in a back-pack. Übersetzer: Man geht zuerst durch den Gehörgang und das Trommelfell hindurch, beide bleiben dabei intakt. Dann bohrt man ein wenig und schiebt das Cochlea-Implantat in die Schnecke. Das Mikrofon und den Sprachprozessor, der die Signale für die Elektroden aufbereitet, trägt die Katze in einer Art Rucksack. Sprecher: Ryugo erinnert sich noch genau an den Tag, als es ihm zum ersten Mal gelang, eine ehemals taube Katze mit einem bestimmten Geräusch zum Essen zu rufen. Cut 16: Ryugo It was amazing. (…) I remember thinking it works! This is incredible! (…) I have cats at home, and I have always known, if you rattle your catfood-box the cat will be right there. Übersetzer: Ich weiß noch genau, wie ich gedacht habe: Es funktioniert! Das ist unglaublich! Ich habe auch Katzen zu Hause, und mir war klar, dass sie immer sofort um die Ecke kommen, wenn man eine volle Katzenfutter-Schachtel schüttelt. Sprecher: Die elektrischen Signale der Elektroden im Innenohr wurden offenbar von den Haarzellen über den Hörnerv weitergeleitet. Das Gehirn hatte sich der neuen Situation 10 angepasst und den Weg ins Hörzentrum frei gemacht. Unter dem Mikroskop konnte Ryugo später erkennen, dass die Verbindungen des Hörnervs in den Hirnstamm genauso aussahen wie bei hörenden Tieren. Cut 17: Ryugo We looked at three different cell-types … the brain can’t make sense of the sound. Übersetzer: Wir haben drei unterschiedliche Zelltypen angeschaut, die Signale vom Hörnerv bekamen. Bei tauben Katzen lag jeweils eine Störung der Zellen vor: Die Signale konnten nicht richtig übertragen werden. Manche Zellen leiteten sie mit Verzögerung weiter, andere überhaupt nicht. Aber die Abfolge der Signale und die Präzision der zeitlichen Ereignisse ist entscheidend. Wenn die Synchronisation nicht stimmt, kann das Hirn mit den Klängen nichts anfangen. Sprecher: Die Verwandlung eines tauben Ohrs in ein hörendes gelang Ryugo allerdings nur bei jungen Katzen. Er geht davon aus, dass bei älteren Tieren die falschen und asynchronen Nerven-Verbindungen immer fester werden und sich nicht mehr verändern lassen. Für gehörlose Kleinkinder bedeutet das: Je früher sie mit einem, besser noch: mit zwei Cochlea-Implantaten versorgt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch gut hören lernen. Denn mit Signalen in zwei Ohren erhält das Gehirn sehr früh die Chance, die Klänge im Detail zu analysieren und zu ergänzen. Cut 18: Ryugo A lot of our ability to pull signals out of noise … cope with noisy environments than kids with only one implants. Übersetzer: Unsere Fähigkeit, Signale aus dem Rauschen herauszuziehen, sodass wir uns etwa in einem lauten Restaurant unterhalten können, hängt damit zusammen, dass wir die Klänge genau orten können. Kinder mit zwei Implantaten kommen deutlich besser mit einer lauten Umgebung zurecht als solche, die nur eines haben. Musik Led Zeppelin: Moby Dick Sprecherin: Der Cocktail-Party-Effekt: Laufen durch den lauten Raum, von allen Seiten: Lärm, Musikfetzen, verschiedene Sprachen, Akzente. Dann: die eine Stimme, sie wird festgehalten im Kopf. Beiden Ohren folgen ihr, ignorieren alle anderen Geräusche so weit es geht. – Eine erstaunliche Leistung, bis heute von der Wissenschaft nicht wirklich verstanden. Der Hörsinn: Wandelbare Wahrnehmung und Verarbeitung von akustischer Information. Synchronisiert, zielgerichtet, teilweise kognitiv kontrolliert und zugleich tief verankert in der Entwicklung der Tiere und des Menschen. Cut 19: Ryugo The thing about the brain is: it loves information. It loves change. It loves contrast. It loves activity. And it puts things together to change how the organism responds. (…) The information contained in sound is very rich. The spectral composition the starts and stops, location and significance. We have to be able to decipher the frequencies, 11 durations of sounds, the cadences of sound and then to determine what it means. Can we identify it – is it a friendly sound, is it a hostile sound. (…) Our eyes, our head moves to the sound (…) our face will change, our mood changes, (…) pretty soon memory and emotion comes in. Pretty soon the whole brain is involved with response to a very simple sound. Übersetzer: Das Gehirn liebt Information, es liebt den Wechsel, den Kontrast, die Aktivität. Kaum bringt es neue Dinge zusammen, ändern sich die Reaktionen des ganzen Organismus. Die Klänge, die wir wahrnehmen, sind sehr vielschichtig – die Komposition der Frequenzen, der Rhythmus, die Tonfolgen. Können wir ausmachen, ob es ein freundlicher oder bösartiger Klang ist? Was bedeutet er? Unsere Augen, unser Kopf folgt einem Klang; unser Gesicht bewegt sich, unsere Stimmung ändert sich. Emotionen und Erinnerungen werden wach. Sehr schnell ist das gesamte Gehirn beschäftigt – mit der Reaktion auf einen einzelnen einfachen Klang. Musik John Williams: „Across the Stars“ Sprecher: Valorie Salimpoor, die Expertin für Gänsehaut-Musik, hat mit ihren Tests an Probanden im Tomographen eine interessante Beobachtung gemacht: Beim Musik-Genuss wird das Dopamin bereits ausgeschüttet, bevor die entscheidende Stelle im Stück kommt. Das heißt: Unser Gehirn singt innerlich mit und bereitet sich auf die nächsten Töne vor – kognitiv wie auch emotional. Cut 20: Salimpoor Composers certainly know this. … until they finally give you that note that you need to hear. Übersetzerin: Komponisten wissen das genau. Sie erzeugen Spannung und verzögern die Auflösung, auf die wir warten. Sie nehmen uns mit auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Und schließlich geben sie uns dann den einen Ton, den wir unbedingt hören wollen. Sprecher: Möglich wird diese Kombination aus intellektuellem und emotionalem Erleben, weil zwei verschiedene Regionen im Gehirn beim Musikhören zusammenarbeiten: Zunächst wird das Dopamin in einem Bereich ausgeschüttet, der für das vorausschauende Denken verantwortlich ist. Und wenn der Höhepunkt der Musik erreicht ist – wird zusätzlich Dopamin in einer Hirnregion frei, die mit dem limbischen System verbunden ist, dem Gefühlszentrum. Valorie Salimpoor ist damit ein neurochemischer Beweis für das gelungen, was Komponisten schon immer wussten: Dass Musik sowohl den Intellekt als auch das Gefühl ansprechen muss. Musik Orff: „Camina Burana“ Sprecherin: Bewegung, Schwingung, Schall. Geräusche, die Orientierung bieten. Verarbeitung der Klänge im Gehirn: Wiederholung und Kommunikation. Sprache und Musik, Gefühl und Intellekt. Kombination alter, aus der Evolution übertragener Prozesse mit kognitiven 12 Leistungen des modernen Menschen: Erinnerung, Orientierung, Lernen, Genuss. Eine reiche Erlebniswelt. Der Hörsinn trotzt allen Beschränkungen und Störungen. Er nutzt diese sogar – und ist so immer wieder offen für neues Erleben. ***** 13