Anne F. Bayefsky: The Human Rights Treaty System: Universality at the Crossroads (Das System der Menschenrechtsverträge: Universalität am Scheideweg) Zusammenfassung Die Menschenrechtsverträge sind das Herzstück des internationalen Systems zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte. Jeder Mitgliedstaat der Vereinten Nationen (VN) ist Vertragspartei mindestens eines der sechs großen Menschenrechtsverträge. 80% der Staaten haben vier oder mehr dieser Übereinkommen ratifiziert. Das System der Menschenrechtsverträge ist universell und findet nahezu auf alle Kinder, Frauen und Männer auf der Welt Anwendung – mehr als sechs Milliarden Menschen. Nichtsdestoweniger grassieren Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen daher sicherstellen, dass die Menschenrechtsverträge im Alltag aller Menschen wirksam werden. Das Problem dabei ist, dass das Umsetzungssystem für die grundlegendsten Menschenrechtsnormen in einer Zeit konzipiert wurde, in der eine wirksame internationale Überwachung weder vorgesehen noch erreichbar war. Die Beteiligung am System der Menschenrechtsverträge ist enorm angestiegen, sowohl was die Ratifikationen, die Akzeptanz von Individualbeschwerdeverfahren, die Zahl der erstellten und geprüften Berichte, die Zahl der entschiedenen Fälle als auch die Häufigkeit und Dauer der Sitzungen der sechs verschiedenen Vertragsorgane betrifft. Die Beteiligung, ebenso wie die Übernahme der entsprechenden rechtlichen Verpflichtungen durch die Staaten, ist freiwillig. Die Verträge gewähren den staatlichen Akteuren nicht nur Rechte, sondern erlegen ihnen auch entsprechende rechtliche Verpflichtungen auf, vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, sie zu verhüten und ihnen abzuhelfen. Das Vertragssystem legt die Schranken der Souveränität, die Gültigkeit der internationalen Überwachung und die Pflicht, Rechenschaft abzulegen, eindeutig fest. Die Vertragsnormen bilden den Maßstab, nach dem die Einhaltung bewertet wird, und die Grundlage, auf der diesbezügliche Besorgnisse geäußert werden können. Darüber hinaus haben die Verträge auf nationaler Ebene eine Vielzahl innerstaatlicher Rechtsordnungen und politischer Systeme positiv beeinflusst. 1 Dennoch ist die Lücke, die zwischen der Existenz universeller Rechte und tatsächlichem Rechtsschutz klafft, unleugbar und durch nichts zu entschuldigen, und droht die Integrität des internationalen Rechts auf dem Gebiet der Menschenrechte zu untergraben. Es gibt eine enorme Zahl überfälliger Berichte und unhaltbare Rückstände in der Berichterstattung. Trotz der großen Zahl potenzieller Opfer geht nur eine verschwindend geringe Zahl von Individualbeschwerden ein, und viele Staaten weigern sich, Abhilfe zu schaffen, wenn Verletzungen der individuellen Rechte festgestellt wurden. Das Amt eines Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte wurde erst Jahrzehnte nach der Annahme der meisten Menschenrechtsverträge eingerichtet. Ein Vertragsorgan nach dem anderen wurde geschaffen, ohne jede Beziehung zu einem Hohen Kommissar oder zu den anderen Vertragsorganen. Das Ergebnis waren eine immer drückendere Berichtslast, die Überschneidung von Verfahren, nur geringe Bemühungen um eine Synchronisierung der konkreten Ergebnisse und lediglich rudimentäre Folgeprozesse und Verantwortlichkeiten für die Weiterverfolgung. Gleichzeitig müssen die Mitglieder der Vertragsorgane kämpfen, um ihren Status als unabhängige Sachverständige zu bewahren, da ihre Reihen auf Grund der hochgradigen Politisierung des VN-Umfelds immer mehr mit Quasi-Regierungsvertretern durchsetzt werden und die Mittelausstattung für ihre Tätigkeit völlig unzureichend ist. Eine Grundüberlegung bei den in diesem Bericht anvisierten Reformen ist, dass Verbesserungen, die keine förmlichen Vertragsänderungen erfordern, leichter zu verwirklichen sein werden. Daher wird in den Empfehlungen im Allgemeinen von einem aus sechs Vertragsorganen bestehenden Regime ausgegangen, und der Schwerpunkt liegt auf konkreten Vorschlägen für Verbesserungen bei den Arbeitsmethoden der Vertragsorgane und bei den Verfahren des Amtes des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR). Auch die Vorschläge betreffend die Stärkung von Partnerschaften auf einzelstaatlicher Ebene erfolgen im Kontext der derzeitigen Bedingungen, die von Überschneidungen und vom Vorhandensein mehrerer Vertragsorgane gekennzeichnet sind. Die wichtigste fehlende Komponente des Umsetzungsregimes ist die Kontrolle, weshalb die diesbezüglichen Empfehlungen besonders ausführlich behandelt werden. Letztlich wird nur eine größere Reform, die eine Vertragsänderung erfordert, empfohlen; die meisten konkreten Empfehlungen 2 betreffend die Arbeitsmethoden und Verfahren des OHCHR bleiben auch für ein neu strukturiertes Vertragsregime relevant. Das System der Menschenrechtsverträge wird ohne eine Konsolidierung der Vertragsorgane letzten Endes ineffizient und unzulänglich bleiben. Eine maßvolle Änderung der Verträge ist daher unvermeidlich. Die Vertragsorgane sind nicht in der Lage, die Anzahl der Berichte, die nach dem derzeitigen System erforderlich sind oder generiert werden, in einer angemessenen Zeit zu bewältigen, selbst wenn es eine Generalamnestie gäbe – was derzeit praktisch der Fall ist. Die durchschnittliche Zeit, die jedes Vertragsorgan mit der Erörterung eines Staates verbringt – alle fünf Jahre sechs oder sieben Stunden– hat nicht gerade konstruktive Interaktionen zugelassen. Sechs unterschiedliche Arbeitsmethoden, Dokumente, Praktiken, Verfahrensordnungen und Berichterstattungsleitlinien sind nicht nutzerfreundlich. Es bestehen erhebliche Überkappungen bei den Rechten und Freiheiten, die Gegenstand der Verträge sind, und unvermeidbare Überschneidungen bei der Berichterstattung und beim Dialog. Die Prüfung eines einzelnen Staates im Lichte aller Menschenrechtsinformationen fördert ein ganzheitliches Verständnis der Probleme und Bedürfnisse. Sie ist die konkrete Anwendung des Grundsatzes, dass die Menschenrechte "allgemeingültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft" sind. Sie fasst die programmatischen Ratschläge, die von internationaler Seite erteilt werden, zusammen und trägt dem Querschnittscharakter Rechnung, der den Menschenrechten auf nationaler Ebene für die operativen Einrichtungen oder Organe zukommt. Eine Konsolidierung würde dem Gesamtziel einer zeitgemäßen VN-Reform entsprechen, nämlich einen globalen Ansatz für die Bedürfnisse jedes einzelnen Landes zu verfolgen. Gleichzeitig ist die Konsolidierung kein Allheilmittel. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit einer Selbstverpflichtung der Staaten einhergeht, die ebenso grundlegende Notwendigkeit zu akzeptieren, dass sich die Überwachungsorgane aus unabhängigen Sachverständigen zusammensetzen und dass sie mit angemessenen Mitteln ausgestattet werden müssen. 3