Jahrbuch 2010/2011 | Sommer, Ralf J. | Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie Integrative approaches to evolutionary biology Sommer, Ralf J. Max-Planck-Institut für Entw icklungsbiologie, Tübingen Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Die moderne Entw icklungsbiologie hat das Verständnis evolutionsbiologischer Zusammenhänge grundlegend erw eitert. Entw icklungskontrollgene sind im Tierreich hochkonserviert. W ie sich dennoch im Laufe der Evolution die uns bekannte hohe Arten- und Formenvielfalt herausbilden konnte, ist Gegenstand aktueller Forschungsansätze der Evolutionsbiologie. Dabei sind integrative Ansätze zw ischen Entw icklungsbiologie, Ökologie und Populationsgenetik von essenzieller Bedeutung. Summary Modern approaches and discoveries in developmental biology have a major influence on the understanding of evolutionary patterns and processes. Developmental control genes are highly conserved throughout the animal kingdom. How , nevertheless, biological diversity w as generated despite the conservation of developmental control genes is subject of research in the area of evolutionary developmental biology (evodevo). Recent studies in evo-devo aim for an integrative approach involving population genetics and ecology. Einleitung Der gemeinsame Ausgangspunkt des Evolutionsgedankens ist die Beobachtung, dass die biologische Welt nicht konstant ist. Biologische Systeme und alle darin lebenden Organismen unterliegen einer stetigen Veränderung. Die Akzeptanz des Evolutionsgedankens begründet sich im vorgeschlagenen Mechanismus, der natürlichen Selektion. Darw in und Wallace haben die natürliche Selektion aus Naturbeobachtungen abgeleitet, der vererbbaren individuellen Variabilität und der Überproduktion von Nachkommen unter gleichzeitiger Konstanz der Populationsdichte. Aus heutiger Sicht ist die Rezeption von Darw in dahingehend unglücklich, dass seine Argumentationskette häufig auf die natürliche Selektion reduziert w ird. Dabei w ird man seinem vielschichtigen Gedankengebäude nicht im Geringsten gerecht. Darw in hat vier Haupttheorien der Evolution aufgestellt, i.) die Selektionstheorie, ii.) gemeinsame Abstammung aller Organismen von einer Urform des Lebens, iii.) Gradualismus, die Entstehung neuer Strukturen über längere evolutionäre Zeiträume und iv.) die Theorie der Speziation. Letztere prognostiziert, dass durch Isolation Populationen einer Art dauerhaft so getrennt w erden, dass es zur Aufspaltung der Arten kommt. © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/5 Jahrbuch 2010/2011 | Sommer, Ralf J. | Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie Die Unterscheidung dieser vier Evolutionstheorien im W erk Darw ins ist auch für die moderne Evolutionsbiologie von entscheidender Bedeutung. So w erden diese vier Theorien in der aktuellen Evolutionsforschung von verschiedenen Disziplinen mit jew eils unterschiedlichen Forschungsansätzen untersucht, die jew eils in einem eng begrenzten Gedankengebäude agieren und dabei zum Teil unabhängig von den Erkenntnissen in anderen Disziplinen arbeiten. Im Folgenden soll die Notw endigkeit interdisziplinärer Forschungsansätze in der modernen Evolutionsbiologie deutlich gemacht w erden. Evolutionäre Entwicklungsbiologie Die Theorie der gemeinsamen Abstammung w irft die Frage auf, w ie über evolutionäre Zeiträume hinw eg Unterschiede in morphologischen Strukturen entstehen. Diese Frage kann nur durch einen vergleichenden (evolutionären) Ansatz der Entw icklungsbiologie analysiert w erden da alle morphologischen Strukturen das Endprodukt entw icklungsbiologischer Prozesse sind. Zahlreiche Entw icklungsprozesse sind bei ausgesuchten Modellorganismen genetisch und molekularbiologisch intensiv untersucht w orden. Ohne hier auf Detailergebnisse moderner entw icklungsbiologischer Forschungen einzugehen, besteht die überraschendste Erkenntnis der Entw icklungsbiologie darin, dass Entw icklungskontrollgene im Tierreich hoch konserviert sind. Diejenigen W irbeltieren Gene, die und die allen Frühentw icklung anderen bisher von Drosophila steuern, sind bei Fadenw ürmern, Seeigeln, untersuchten Tiergruppen ebenfalls vorhanden. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist die Konservierung der Entw icklungskontrollgene ein w eiterer w ichtiger Bew eis für die Evolution und die gemeinsame Abstammung der Organismen. Populationsgenetik Ohne Zw eifel stellt der Nachw eis der Konservierung von Entw icklungskontrollgenen eine der w ichtigsten Erkenntnisse der biologischen Grundlagenforschung der letzten Jahrzehnte dar. Gleichzeitig zieht diese Beobachtung aber zahlreiche neue Fragen aus evolutionsbiologischer Sicht nach sich. Warum sind Organismen morphologisch so unterschiedlich, w enn die Gene, die ihre Entw icklung steuern, hoch konserviert sind? Unterliegen Entw icklungskontrollgene der natürlichen Variation, so w ie dies populationsgenetische Studien für andere Klassen von Genen belegt haben? Um derartigen Fragen nachgehen zu können, müssen die Forschungsansätze der Entw icklungsbiologie und der Populationsgenetik kombiniert w erden. Bislang ist dies nur in geringem Umfang geschehen, sodass es zw ischen beiden Forschungsrichtungen nur w enig interdisziplinäre Ansätze gibt. Die Populationsgenetik selbst hat in den vergangenen Jahrezehnten bedeutende Veränderungen durchlaufen. Vor allem in den letzten 10 Jahren haben große technische Fortschritte zur Sequenzierung der Erbsubstanz zahlreicher Tier– und Pflanzenarten geführt. Die genomischen Sequenzierungsprojekte des Fadenw urms Caenorhabditis elegans, der Fruchtfliege und zahlreicher W irbeltiere bis hin zum Menschen haben dabei einen enormen Datensatz generiert. Ein Blick auf die genomischen Kennziffern macht dies deutlich (Tab. 1). So hat zum Beispiel das Genom des Menschen etw a 3 000 000 000 Positionen und kodiert rund 25.000 Gene. Diese Zahlen sind für den Schimpansen und die Maus sehr ähnlich. Über das Genom unterscheiden sich Mensch und Schimpanse nur in etw a 1% der Sequenz. Neuere Studien zeigen, dass einzelne menschliche Individuen sich bis zu 0.1% voneinander unterscheiden können. Die meisten dieser Unterschiede liegen in nicht-kodierenden Regionen und viele von ihnen sind w ohl selektiv neutral. © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/5 Jahrbuch 2010/2011 | Sommer, Ralf J. | Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie Tabelle 1: Übe rblick übe r vollstä ndig se que nzie rte und cha ra k te risie rte Ge nom e © Ma x -P la nck -Institut für Entwick lungsbiologie /Som m e r Derartige innerartliche Variabilität ist von großer Bedeutung, da sie das Rohmaterial für morphologische Veränderungen in der Evolution darstellt. Die Populationsgenetik beschäftigt sich mit der innerartlichen natürlichen Variabilität. Dem w eiter oben beschriebenen entw icklungsbiologischen Ansatz ist eine solche Arbeits- und Denkw eise allerdings größtenteils fremd, sodass es bisher nur w enige Arbeiten zur populationsgenetischen Analyse von Entw icklungsprozessen und deren Bedeutung für die Ausbildung neuartiger Strukturen gibt. Dennoch ist eine Synthese zw ischen diesen Forschungsrichtungen sinnvoll und könnte neue w ichtige Einblicke zur Evolution liefern [1]. Evolutionäre Ökologie Ein w eiterer w ichtiger Aspekt biologischer Systeme und ihrer Veränderungen über historische Zeiträume ist der Einfluss der Umw elt. Die evolutionäre Ökologie untersucht die verschiedenen Facetten dieser Prozesse. Dabei ergeben sich auch zahlreiche Überlappungen mit anderen Teildisziplinen der Evolutionsbiologie, insbesondere der evolutionären Entw icklungsbiologie. Es ist seit langem bekannt, dass die Ausbildung bestimmter Strukturen von Organismen von Umw eltbedingungen abhängig ist. In Abhängigkeit von Temperatur oder Nahrungsbedingungen können manche Organismen dabei unterschiedliche Formen (Morphe) ausbilden. Ein Beispiel dafür ist der Lebenszyklus freilebender Fadenw ürmer (Abb. 1) . Pristionchus pacificus kann im Labor unter optimalen Futterbedingungen in einem direkten Zyklus gehalten w erden mit einer Generationsdauer von drei bis vier Tagen. Unter w idrigen Umw eltbedingungen, w ie zum Beispiel bei hoher Temperatur, Futtermangel oder hoher Individuendichte, treten die Tiere in einen alternativen Lebenszyklus ein und bilden eine so genannte Dauerlarve [2]. Diese Dauerlarven sind sehr langlebig und können unter schw ierigen Bedingungen lange überleben. Interessanterw eise findet man in der Natur bevorzugt diese Dauerstadien, bei P. pacificus meist assoziiert mit Blatthornkäfern [3]. © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/5 Jahrbuch 2010/2011 | Sommer, Ralf J. | Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie A bb. 1: Le be nszyk lus de s Fa de nwurm e s Pristionchus pacificus. Lichtm ik rosk opische Aufna hm e n ve rschie de ne r Em bryona lsta die n und e ine r frühe n La rve k urz vor de m Schlüpfe n (link e Spa lte , Ba lk e n = 20 μm ) sowie de r fre ile be nde n La rve nsta die n (J2 - J4) und e ine s e rwa chse ne n Zwitte rs (Adultus) m it gut e rk e nnba re m Ei (Ba lk e n = 100 μm ). De r Kopf lie gt je we ils obe n, die Ba uchse ite link s. © Ma x -P la nck -Institut für Entwick lungsbiologie /R ie be se ll, Som m e r Dieses Phänomen, die umw eltabhängige Ausbildung unterschiedlicher Morphotypen, ist seit langem als phänotypische Plastizität bekannt. In den letzten Jahren w urde phänotypische Plastizität als w ichtiger Prozess für die Herausbildung neuer Strukturen w ährend der Evolution diskutiert [4]. Mittlerw eile untersuchen W issenschaftler intensiv, w ie w echselnde Umw eltbedingungen auf die Kontrolle von Entw icklungsprozessen w irken und dabei zur Bildung von unterschiedlichen Morphen führen [5]. Im Sinne einer interdisziplinären Erforschung evolutionsbiologischer Phänomene muss also eine ökologische Betrachtungsw eise angestrebt w erden, die auf die potenzielle Bedeutung der Umw elt ausgerichtet ist [1]. Integration von Forschungsfeldern Die Integration der Evolutionsökologie, Populationsgenetik und der evolutionären Entw icklungsbiologie und dabei dieselben Prozesse aus jew eils anderen Blickw inkeln zu analysieren, kann helfen, einer ganzheitlichen Beschreibung evolutionärer Phänomene näher zu kommen [1]. Die Arbeiten am Fadenw urm P. pacificus in der Abteilung Evolutionsbiologie am Max-Planck Institut für Entw icklungsbiologie sind im Begriff, mechanistische © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/5 Jahrbuch 2010/2011 | Sommer, Ralf J. | Integrative Forschungsansätze der modernen Evolutionsbiologie Ansätze der molekularen Entw icklungsbiologie mit Feldstudien zu verknüpfen. [1] R. J. Sommer: The future of evo-devo: model systems and evolutionary theory. Nature Review s Genetics 10, 416 – 422 (2009). [2] A. Ogawa, A. Streit, A. Antebi, R. J. Sommer: A conserved endocrine mechanism controls the formation of dauer and infective larvae in nematodes. Current Biology 19, 67 - 71 (2009). [3] A. Weller, W. Mayer, R. Rae, R. J. Sommer: Quantitative assessment of the nematode fauna present on Geotrupes dung beetles reveals species-rich communities with a heterogenous distribution. Journal of Parasitology 96, 525 - 531 (2010). [4] M. West-Eberhard: Developmental plasticity and evolution. Oxford University Press, Oxford (2003). [5] G. Bento, A. Ogawa, R. J. Sommer: (2010): Co-option of the endocrine signaling module Dafachronic Acid-DAF-12 in nematode evolution. Nature 466, 494 - 497 (2010). © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/5