bushs kriege, die wahlen von 2004 und die

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INTERNATIONALE
PRESSEKORRESPONDENZ
USA: Bushs Kriege, die Wahlen von 2004
und die amerikanische Linke
USA Die Nader-Kampagne zu den US-Wahlen • IV. Internationale
Livio Maitan hat uns verlassen – Ciao compagno! • Jakob Moneta
Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen • Brasilien Die Parteifrage in
Zeiten der Lula-Regierung • Antikriegsbewegung Thesen über die
gegenwärtige Periode, den Krieg und die Antikriegsbewegung •
Sozialforum • Die Internationale
NR. 396/397
November/Dezember 2004
€ 4,50
IMPRESSUM
Inprekorr ist das Organ der IV. Internationale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der
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E-Mail Redaktion:
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Satz: Grafikkollektiv Sputnik
USA
Bushs Kriege, die Wahlen von 2004 und die amerikanische Linke –
eine Broschüre der Solidarity ......................................................................... 3
Die Nader-Kampagne zu den US-Wahlen 2004, Ann Menasche .................... 12
IV. Internationale
Livio Maitan hat uns verlassen – Ciao compagno! Alain Krivine ................... 14
Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen, Jakob Moneta .......................................... 16
Brasilien
Die Parteifrage in Zeiten der Lula-Regierung:
Dissidenten sammeln sich in der PSoL
Maurício Hashizume ...................................................................................... 35
Die Linke in der Stunde der Wahrheit, Valter Pomar ...................................... 37
Eine neue sozialistische Partei, Correio da Cidadania ..................................... 39
Die neue Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL),
Jornal Democracia Socialista ....................................................................... 40
Antikriegsbewegung
Thesen über die gegenwärtige Periode, den Krieg und
die Antikriegsbewegung, Gilbert Achcar ...................................................... 41
Nachruf
Gérard de Verbizier (1942–2004) – Vergeat, Friedrich Dorn .......................... 45
Pierre Le Grève (1916–2004), Georges Dobbeleer .......................................... 46
Sozialforum
Der Aufruf der Versammlung sozialer Bewegungen auf dem
Europäischen Sozialforum London, 17. Oktober 2004 ................................. 48
Die Internationale
Gegen die Barbarei – Kampf an allen Fronten, Wolfgang Alles ....................... 19
Hartz und der Irrtum von Marx, Werner Abel ................................................... 26
Aktuelles aus längst vergangener Zeit, Manfred Behrend ................................ 28
Thierry Jouvet – Michel Rovère, François Sabado .......................................... 30
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der Nichtaushändigung umgehend
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2
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Am 11. November diesen Jahres wird unser Genosse Jakob Moneta 90 Jahre
alt. Seit mehr als 55 Jahren Mitglied der IV. Internationale ist er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unsrer Bewegung. Die Redaktion wünscht ihm
von dieser Stelle aus alles Gute und noch möglichst viele Jahre freudigen
Schaffens, denn nichts ist ihm ganz offensichtlich so wichtig wie – mit der
Feder bewaffnet – für die Sache der Unterdrückten zu streiten.
Wir wissen nicht, ob er vorhat, seine gesammelten Erinnerungen zu Papier zu
bringen. Aber aus Anlass seines Geburtstages bringen wir in diesem Heft einen Aufsatz, in dem er 1978 anlässlich einer Debatte über die „Gewaltfrage“
Grundsätzliches zur notwendigen politischen und militärischen „Bewaffnung“ der Ohnmächtigen ausführt und dabei ein sehr erhellendes Licht auf einige seiner Lebensabschnitte wirft.
Wir entnehmen den Aufsatz der Sammlung Jakob Moneta: Mehr Macht für
die Ohnmächtigen. Reden und Aufsätze (isp-Verlag, 1991).
Wir können noch lange nicht auf Eure finanzielle Unterstützung verzichten.
Darum bitten wir auch diesmal wieder darum, reichlich auf folgendes Konto
zu spenden:
Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507
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INPREKORR 396/397
USA
Bushs Kriege, die Wahlen von 2004
und die amerikanische Linke –
eine Broschüre der Solidarity
IV. Geschichtlicher Rückblick: Die Demokratische Partei und die sozialen Bewegungen
Von der Industriearbeiterbewegung der
1930er Jahre über die Bürgerrechtsund Black-Power-Kämpfe der 1950er
und 1960er Jahre bis zur Anti-Vietnamkriegsbewegung und den Protesten
gegen den „Reaganismus“ in den 80ern
zeigt die historische Bestandsaufnahme der sozialen Bewegungen in den
Vereinigten Staaten ein gleich bleibendes Muster. Die Bewegungen flauen ab
oder verschwinden gar, sobald ihre
Schlüsselfiguren sich entschließen,
„pragmatisch“ zu werden, militantes
Vorgehen als zweitrangig anzusehen,
und sich in der traditionellen Wahlpolitik der Demokraten engagieren.
DIE DEMOKRATEN UND DER
NIEDERGANG DES CIO
Der CIO (Congress of Industrial Organisations), der Zusammenschluss der
Industriegewerkschaften, entstand aus
Kämpfen heraus. Seit dem Anfang der
wirtschaftlichen Depression (Great Depression) im Jahr 1929 hatten die ArbeiterInnen unter Arbeitslosigkeit,
Lohnreduktionen und Rationalisierungen zu leiden. Anfang der 1930er Jahre
hatten Radikale, Sozialisten und Kommunisten den Grundstein zur Organisierung der Beschäftigungslosen gelegt.
Die Bewegung der arbeitslosen Arbeiterschaft nahm teil an Großdemonstrationen, Sit-ins in Unterstützungsbüros und Kampfmaßnahmen zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Trotz
starker Repressionen durch die lokalen
Polizeiorgane und die Gemeindebehörden (viele mit Demokratischen Bürgermeistern an der Spitze), errang die Arbeitslosenbewegung wichtige Erfolge,
und viele ArbeiterInnen machten dabei
INPREKORR 396/397
die Erfahrung, dass sie nicht nur kämpfen, sondern auch gewinnen konnten.
Viele Veteranen der Arbeitslosenbewegung begannen – nachdem sie
wieder Arbeit gefunden hatten – mit
dem Aufbau von Industriegewerkschaften. Dabei taten sie sich mit den
Radikalen, Sozialisten und Kommunisten der großen Industriestandorte zusammen. 1934 erlebte es die arbeitende
Bevölkerung in einer Reihe von Massenstreiks, die durch Radikale angeführt wurden – es streikten die Lastwagenfahrer in Minneapolis, die AutomobilarbeiterInnen in Toledo und die
Dockarbeiter in San Francisco –, dass
sie auch gewinnen konnte.
In allen diesen Auseinandersetzungen waren gemeinsames Vorgehen, die
Organisation von demokratischen,
durch die Basis geführten Gewerkschaften, die Abstützung auf die eigene
Kampfkraft auf der Straße statt auf Politiker oder behördliche Vermittler sowie Allianzen mit den Arbeitslosen
und Farmern der Schlüssel zum Erfolg.
Der Erfolg der Streiks von 1934
entfachte eine Debatte in der „alten“
American Federation of Labor (AFL),
deren angeschlossene Gewerkschaften
nach Berufsständen organisiert waren.
Die Organisatoren von der Basis der
Automobil-, Gummi-, Stahl-, Maschinenbau- und anderen Industrien mit
Fließbandproduktion setzten sich gemeinsam mit den Führern der Bergarbeiter- und TextilarbeiterInnengewerkschaften für eine Industrie-Gewerkschaftsorganisation ein, die sämtliche
im industriellen Bereich tätige Personen, unabhängig von ihrer Aufgabe
oder Stellung, umfassen sollte.
Nachdem die AFL einen Zusammenschluss abgelehnt hatte, lancierte
der CIO eine Reihe von Mitgliederwer-
beaktionen. Der eigentliche Test für
das Industriegewerkschaftswesen war
der Blockade-Streik bei General Motors in Flint (Michigan) in den Jahren
1936/37. Der Sieg der Vereinigten AutomobilarbeiterInnen in Flint löste eine
Welle von Blockaden in anderen Industrien aus und spielte eine entscheidende Rolle beim Aufbau der CIO-Gewerkschaften.
Dass der CIO überhaupt entstand
und Erfolg hatte, hatte zu einem geringen Teil damit zu tun, wer gerade im
Weißen Haus saß. Franklin Roosevelt,
der erste Demokratische Präsident in
zwanzig Jahren, war mit einem eher
konservativen Programm zu den Wahlen angetreten; er wollte mit einem ausgeglichenen Bundesbudget das Vertrauen in die Wirtschaft wieder herstellen.
Obwohl es Unruhen unter den Arbeitslosen waren, die Roosevelt 1933
und 1934 dazu bewegten, öffentliche
Arbeitsprogramme zu lancieren, hatte
der so genannte „erste New Deal“ wenig Wirkung bezüglich einer Neuverteilung des Einkommens oder der Organisation der Arbeiterschaft in Gewerkschaften. Das hauptsächliche Ziel
des National Industrial Recovery Acts
– der vom Obersten Gerichtshof für
verfassungswidrig erklärt wurde – war,
den von Roosevelt als schädlich erachteten Wettbewerb unter den Produzenten einzuschränken, indem Preise und
Produktionsquoten festgesetzt wurden.
Der berühmte Paragraf 7A, der das
Recht der ArbeiterInnen auf die Bildung von Gewerkschaften nach ihren
Vorstellungen anerkannte, sah keine
Maßnahmen vor, die es erlaubt hätten, diese Recht gegen den Widerstand des Arbeitgebers durchzusetzen. Die CIO-Gewerkschaften nahmen sich das „Recht sich zu organisieren“ eher selbst, durch groß angelegte Arbeitskampfmaßnahmen, als
3
USA
dass es ihnen durch den Gesetzgeber
gewährt wurde. Die Roosevelt-Administration schwenkte erst 1935 auf eine mehr reformorientierte Linie ein –
nach den Streiks in Toledo, Minneapolis und San Francisco, mitten in einer andauernden Streikwelle.
Der „zweite New Deal“ bedeutete
einen scharfen Linksrutsch von Seiten
Roosevelts und der Demokratischen
Partei. Die Verabschiedung des Social
Security Acts (der eine Arbeitslosenversicherung, Renten sowie Unterstützungsgelder für Witwen mit Kindern
einführte), des Fair Labor Standards
Acts (der die Vierzig-Stunden-Woche
und einen Minimallohn vorschrieb)
und des National Labor Relations Acts
(der gesetzliche Grundlagen zur Anerkennung der Gewerkschaften schuf)
war eine Reaktion auf die Streikwelle,
die die amerikanische Industrie zwischen 1934 und 1937 erschütterte.
Die Demokraten unter der Führung
Roosevelts reagierten auf die Spannungen in der Industrie mit Reformen.
Aber um zwei ihrer Hauptwählergruppen – die mächtigen Interessensgruppen des Nordens, die städtischen Immobilienhandel betrieben und die südlichen Demokraten, meist reiche Plantagenbesitzer, die für die Rassentrennung eintraten („Dixiecrats“) – bei der
Stange zu halten, mussten sich die New
Deal-Reformer innerhalb bestimmter,
eng gesteckter Grenzen bewegen.
Die Regierungen der Bundesstaaten
sollten für die Arbeitslosenversicherung und die Bargeldunterstützungen
von allein stehenden Müttern (Aid for
Dependent Children, AFDC) zuständig
sein, um den Bedarf der lokalen Arbeitgeber an billigen Arbeitskräften sicher
zu stellen. Noch bedeutsamer war indessen, dass LandarbeiterInnen und
Heimwerkerinnen – die überwiegend
Schwarze oder Mischlinge waren – von
der Arbeitslosenversicherung, den Altersrenten und dem gesetzlichen Recht,
sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, ausgeschlossen wurden.
Die Durchsetzungskraft und die Radikalität, die vom Aktivismus der einfachen ArbeiterInnen ausging und die
den Aufstieg des CIO in Schwung
brachten, erschreckten nicht nur die
Firmenbosse und die Roosevelt-Administration, sondern auch einen Teil der
AFL-Offiziellen. Unter der Führung
von John L. Lewis von den „United
Mine Workers“ versuchten dissidente
4
Bürokraten der Industriegewerkschaft
die wachsenden Aktivitäten des CIO
vom militanten Arbeitskampf weg und
zu alltäglicheren und harmloseren Vorgehensweisen hin zu lenken, wie dem
Führen von Verhandlungen und dem
Vertrauen in bundesstaatliche Vermittlung.
In der Folge der Sitzblockade bei
General Motors, gelang es der neuen
CIO-Bürokratie die Ausweitung der
Sitzstreiks zu Chrysler und anderen
Autoherstellern zu verhindern. Sie
sorgten auch für eine Kontrolle von
oben beim – letztlich erfolglosen –
Aufbau einer Gewerkschaft in den
„Little Steel“-Fabriken im Jahre 1937.
Ein zentraler Punkt des Programms der
neuen CIO-Bürokratie, dessen Ziel die
Zähmung der militanten Industriearbeiterschaft war, war eine Allianz mit
der Demokratischen Partei und der
Roosevelt-Administration.
Dass die meisten Demokratischen
Politiker, einschließlich etlicher Gouverneure und Bürgermeister, die Bosse
unterstützten und versuchten, die Gewerkschaften in ihren Mitgliederwerbekampagnen zu behindern, führte zu
heftigen Diskussionen innerhalb des
CIO über die Frage, ob eine ArbeiterInnenpartei gegründet werden sollte.
Die örtlichen Büros von CIO-Gewerkschaften verabschiedeten eine ganze
Anzahl Resolutionen, in denen eine unabhängige, auf den neuen Industriegewerkschaften basierende Partei gefordert wurde und selbst an internationalen Treffen der „United Auto Workers“
wurde diese Forderung erhoben.
Die Ergebenheit der CIO-Führung
gegenüber Roosevelt und der Demokratischen Partei machte jedoch jegliche ernsthafte Erwägung einer unabhängigen Partei zunichte, die die
Standpunkte der arbeitenden Bevölkerung auf der politischen Bühne hätte
vertreten können. Die Unterstützung,
die Roosevelt in der hart umkämpften
Wahl von 1936 durch Labor erhielt,
war entscheidend für seine Wiederwahl.
Die Demokraten „belohnten“ die
CIO-Führung 1937, als der Demokratische Bürgermeister von Chicago die
Polizei losschickte, um auf unbewaffnete „Little Steel“-Streikende zu schießen, die an einem Memorial Day-Picknick teilnahmen. Roosevelts „Gegenleistung“ bestand darin, „Euren beiden
Sippen die Pest“ an den Hals zu wün-
schen (gemeint waren die Stahlunternehmen und die Gewerkschaften).
Das Bündnis, das Labor mit den
Demokraten geschlossen hatte, führte –
zusammen mit dem Wunsch, nicht „unpatriotisch“ erscheinen zu wollen – dazu, dass sowohl die AFL- wie auch die
CIO-Spitzen während des Zweiten
Weltkriegs auf das Streikrecht verzichteten. Mit Unterstützung der Roosevelt-Administration sorgten die LaborFunktionäre für ein Verschwinden der
Tradition von Kurzstreiks wegen Angelegenheiten am Arbeitsplatz und
setzten eine bürokratische Prozedur
von Beschwerden zur Lösung von Arbeitsplatzkonflikten durch.
Am Ende des Kriegs waren die
CIO-Gewerkschaften handzahm geworden. Die Funktionäre hielten die
Streikwelle der Nachkriegszeit unter
strikter Kontrolle und die Inflation
brachte die während der Streiks gewonnenen Lohnaufbesserungen rasch
wieder zum Verschwinden. Die Unternehmen waren nach dem Krieg so
selbstbewusst, dass sie 1947 den TaftHartley erfolgreich durchdrückten, der
dem Aufbau von Gewerkschaften gesetzliche Hindernisse in den Weg legte
(vor allem in den Südstaaten) und der
Bundesregierung das Recht gab, nationale Streiks zu stoppen.
Obwohl die Gewerkschaften bei der
Wahl von Roosevelts Nachfolger, Harry Truman, und einer Demokratischen
Mehrheit im Kongress, eine entscheidende Rolle spielten, haben die Demokraten den Taft-Hartley Act niemals
aufgehoben.
Im Bestreben, ihr Bündnis mit der
Demokratischen Partei einzuhalten,
passte die AFL-CIO-Führung ihre Politik den Firmeninteressen an, die auch
die Demokraten während der 1950er
und 1960er Jahre beherrschten. Die
Gewerkschaften akzeptierten das Argument der Unternehmer, dass Überseeinvestitionen und -handel sehr
wichtig für die wirtschaftliche Expansion und den anhaltenden Wohlstand
der amerikanischen Arbeiterschaft wären.
Deswegen unterstützte der Großteil
der AFL-CIO-Führung auch die interventionistische Außenpolitik der Demokraten während des Kalten Kriegs
und die Bemühungen der CIA, militante Arbeiterbewegungen ebenso wie
linksgerichtete Regierungen in der
Dritten Welt zu schwächen. Die AFLINPREKORR 396/397
USA
CIO gab auch ihre Forderungen nach
einer nationalen Krankenversicherung
und nach Sozialwohnungen auf, und
sie gab dem konservativen Drängen der
Demokraten nach.
Als die Bürgerrechtsbewegung anfing, die amerikanische Variante von
Apartheid in den Südstaaten in Frage
zu stellen, weigerte sich die AFL-CIO
die rassistischen „Dixiecrats“ herauszufordern. Sie unterstützte auch den
Marsch nach Washington von 1963
nicht, der von Martin Luther King organisiert wurde, und entfernte A. Philip
Randolph aus ihrem Vorstand, weil er
ihre Untätigkeit kritisiert hatte.
Die Politik der AFL-CIO-Bürokraten war letzten Endes selbstzerstörerisch. Während der 1950er und 1960er
Jahre wurde die fundamentale Schwäche der Arbeiterbewegung durch die
Größe der Gewerkschaften und deren
Allianz mit der Demokratischen Partei
verdeckt. Solange die Gewinne hoch
waren und die Arbeitgeber Lohnerhöhungen gewährten – als Gegenleistung
verzichteten die Gewerkschaften auf
jeglichen Versuch, das Tempo und die
Art der Arbeit unter Kontrolle zu halten
– schienen die Gewerkschaften gute
Arbeit zu leisten. Als jedoch die amerikanische und weltweite kapitalistische
Wirtschaft in den späten 1960er Jahren
in eine länger andauernde Krise rutschte, und die Konzernbosse anfingen, die
Gewerkschaften anzugreifen, wurden
ihre Schwächen offensichtlich.
Die Feindseligkeit der AFL-CIO
gegenüber der Bürgerrechts-, der Frauen- wie auch der Antikriegsbewegung
isolierte sie von wichtigen potentiellen
Verbündeten, während ihre fortgesetzte Abhängigkeit von der Demokratischen Partei den Arbeitskampf gegen
die Arbeitgeber und deren Regierung
ersetzte. Die vom Schreibtisch aus geführten und mit den Demokraten verbandelten Gewerkschaften waren nicht
in der Lage, sich zur Wehr zu setzen,
als Mitte der siebziger Jahre Politiker
beider Parteien begannen, für Steuerreduktionen und Deregulierung einzutreten, und Großkonzerne anfingen neue,
„effizientere“ Produktionsmethoden
einzuführen.
Die „unfruchtbare Ehe“ zwischen
der Arbeiterschaft und der Demokratischen Partei führte dazu, dass die Gewerkschaftsbewegung, der in den
1960er Jahren einmal fast 35 Prozent
der Werktätigen angehört hatten, heute
INPREKORR 396/397
noch über weniger als 15 Prozent von
ihnen umfasst. Die Demokraten, die
sich immer mehr nach rechts bewegen,
wissen, dass es für sie kaum einen
Grund gibt, der Arbeiterbewegung gegenüber größere Konzessionen zu machen. Die AFL-CIO hat bei Wahlen
keine Alternative zu den Demokraten
und die Militanz am Arbeitsplatz und
sende wanderten zusätzlich in die Städte im Süden und Westen ab. Eine weitere Million der ländlichen schwarzen
Bevölkerung übersiedelte während der
1920er Jahre in städtische Gebiete. Obwohl die Schwarzen auch in den Großstädten des Nordens diskriminiert wurden, gelang es ihnen, eine Gemeinschaft zu bilden, ihre eigenen Organi-
Antikriegsaktivistin
in den USA
im sozialen Bereich als Mittel zum
Aufbau von Macht für die arbeitende
Bevölkerung ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden.
DER KAMPF DER AFROAMERIKANISCHEN
BEVÖLKERUNG
Am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten
gegen drei Viertel der afro-amerikanischen Bevölkerung in den ländlichen
Gebieten des Südens. Sie arbeiteten vor
allem als Sharecropper1, Pächter, oder
Hausangestellte. Die Vorherrschaft der
Weißen, die auf dem Plantagensystem
des Südens aufbaute, war auch in den
Gesetzen und der gesellschaftlichen
Praxis der Rassentrennung und der
Verweigerung des Wahlrechts festgelegt. Der Wandel in der Landwirtschaft
des Südens und das Wachstum der Industrien im Norden ebneten im frühen
20. Jahrhundert den Weg für eine starke Wanderbewegung unter den
Schwarzen und für eine Infragestellung
des brutalen „Jim-Crow-Systems“.2
Zwischen 1915 und 1920 emigrierte eine Million Afro-Amerikaner in die
urbanen Zentren des Nordens; zehntau1 Pächter einer kleinen Farm, der einen Teil der
Pacht in Naturalien entrichtet.
2 System der Rassendiskriminierung, u.a. auch
durch entsprechende Gesetze.
sationen aufzubauen und erste Anstrengungen zu unternehmen, der Diskriminierung und der Rassentrennung entgegen zu treten.
Die Depression der frühen dreißiger
Jahre brachte die Migration beinahe
ganz zum Erliegen, da schwarze ArbeiterInnen in unverhältnismässigem Ausmaß entlassen wurden. Im Laufe der
dreißiger Jahre traten jedoch immer
mehr schwarze ArbeiterInnen den gemischtrassigen Arbeitslosen-Vereinigungen bei und nach der Gründung des
CIO auch den Gewerkschaften, die aktiv bemüht waren, sie einzubeziehen.
Die große Wanderbewegung nach
Norden setzte während des Zweiten
Weltkriegs wieder ein, als durch die
Ausweitung der Kriegsindustrie Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden.
In den Industriezentren des Nordens
verschwand die Arbeitslosigkeit dadurch praktisch vollständig. Viele Industriezweige weigerten sich anfänglich, Schwarze anzustellen. Aber 1944
belief sich der Anteil an afro-amerikanischen ArbeiterInnen in der Kriegsproduktion trotz einer weitverbreiteten
Benachteiligung am Arbeitsplatz auf
über acht Prozent.
Zu Beginn des Kriegs initiierte A.
Philip Randolph von der Bruderschaft
der Schlafwagenschaffner eine „Double-V-Kampagne“: Sieg (victory) gegen
den Faschismus im Ausland und Sieg
5
USA
gegen den Rassismus in Amerika. Angesichts des Drucks durch Bürgerrechtsorganisationen und der CIO-Gewerkschaften sprach Roosevelt ein
Verbot von Rassendiskriminierung in
der Verteidigungsindustrie und in der
Bundesverwaltung aus.
Die Afro-Amerikaner sahen sich
aber weiterhin mit rassistischem Widerstand konfrontiert. Allein im Sommer 1943 gab es 250 gegen die
Schwarzen gerichtete Rassenunruhen
in 47 Städten, Es gab auch eine Welle
von „Hass-Streiks“, als Weiße ArbeiterInnen ihre Arbeitsplätze verließen, um
gegen die Einstellung oder Beförderung von Afro-Amerikanern in Jobs
der Kriegswirtschaft zu protestieren,
die bisher als „Weiß“ gegolten hatten.
Drei Millionen afro-amerikanische
Männer und Frauen dienten in den
Streitkräften, wobei die Hälfte von ihnen in Übersee eingesetzt wurden. Sie
waren in rein „Schwarzen Einheiten“
zusammengefasst und wurden von
häufig rassistischen weißen Offizieren
und Militärpolizisten kommandiert.
Schwarze Offiziere und auch einfache
Soldaten kämpften gegen die Rassentrennung im Militär an. Als Reaktion
darauf begann die Bundesregierung,
kleine Schritte in Richtung Aufhebung
der Segregation zu unternehmen.
Als dann eine gesetzliche Anordnung erlassen worden war, kämpften
afro-amerikanische Soldaten dafür, sie
Wirklichkeit werden zu lassen. Leutnant Jackie Robinson (der nach dem
Krieg die Trennlinie zwischen Schwarz
und Weiß im Profi-Baseball3 durchbrechen sollte) weigerte sich, im hinteren
Teil eines Busses zu sitzen, nachdem
das Verteidigungsministerium 1944 eine Direktive erlassen hatte, die eine
Diskriminierung in den Transportmitteln und Freizeiteinrichtungen sämtlicher Militärbasen verbot. Robinson
wurde verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt, das ihn rehabilitierte. Er
ist nur einer von zahlreichen ähnlichen
Fällen.
Während des ganzen Kriegs bekämpfte die afro-amerikanische Gemeinschaft die Rassentrennung und die
Verweigerung der Bürgerrechte mit
Kampfmaßnahmen wie auch mit gesetzlichen Mitteln. Ortsgruppen der
NAACP führten lokale Aktionen ge3 Die Schwarzen spielten ebenso in einer eigenen Liga wie die Weißen.
6
gen restriktive Vertragsklauseln (Chicago), Diskriminierung an der Kantinentheke (Newton, Kansas) und Theater mit Rassentrennung (Council
Bluffs, Iowa) durch. Sie sorgten für
Eintragungen ins Wählerverzeichnis
(Roosevelt, Alabama) und inszenierten
die ersten Kantinen-Sit-ins des Landes
(Topeka, Kansas).
Die Ortsgruppen erhielten Unterstützung durch die NAACP-Direktorin
Ella Baker, die, nachdem sie 1943
Zweigstellenleiterin geworden war,
zehn Führungsseminare für Aktivisten
und Aktivistinnen der schwarzen Gemeinden auf die Beine stellte.
1946, im Anschluss an die massive
Nachkriegs-Streikwelle, lancierte der
CIO die „Operation Dixie“, ein ambitiöses Programm, um im Süden Gewerkschaften ins Leben zu rufen. Die „Operation Dixie“ hätte, um erfolgreich sein
zu können, als Vorbedingung zur Vereinigung von schwarzen und weißen
ArbeiterInnen in Industriegewerkschaften, die Rassentrennung und die
Aberkennung der Bürgerrechte der
Schwarzen bekämpfen müssen.
Eine solche, von der Arbeiterschaft
geführte, Bürgerrechtsbewegung hätte
den CIO auf Kollisionskurs mit der Demokratischen Partei geführt. Diese
zählte auf die Unterstützung der Südstaaten-Großgrundbesitzer und auf die
Entmündigung der afro-amerikanischen Bevölkerung als Grundlage ihrer
regionalen und nationalen Vorherrschaft. Die CIO-Funktionäre schreckten jedoch vor der Aussicht auf eine
Auseinandersetzung mit den Demokratischen „Freunden der Arbeit“ zurück,
mit denen zusammen sie sich auch dem
anti-kommunistischen Kreuzzug jener
Epoche anzuschließen gedachten. Daher wurde die „Operation Dixie“ wieder aufgegeben.
Das Scheitern der „Operation Dixie“ bedeutete jedoch nicht das Ende
des Kampfes der afro-amerikanischen
Gemeinschaft gegen das „Jim-CrowSystem“. Die sinkende Bedeutung der
landbesitzenden Klasse in den Südstaaten – von ihr ging ja hauptsächlich die
Befürwortung einer gesetzlich festgelegten Trennung der Rassen und der
politischen Rechtlosigkeit der Schwarzen aus – eröffnete erst die Aussicht
auf einen erfolgreichen Kampf gegen
die Vorherrschaft der Weißen.
Gleichzeitig wuchs im Süden der
USA eine schwarze städtische Arbei-
ter- und Mittelklasse heran. Dieser
Wandel in den sozialen Strukturen und
die Erfahrungen, die viele Schwarze
aus dem Krieg oder von der Arbeit in
den Städten des Nordens zurück in den
Süden gebracht hatten, bildete den Humus für das Aufkeimen der großen
Bürgerrechtsbewegung der fünfziger
und sechziger Jahre.
Diese Bewegung ihrerseits ging aus
lokalen Auseinandersetzungen hervor,
die die etablierten Machtstrukturen im
Süden dazu zwangen, Rassentrennung
und politische Rechtlosigkeit auf gesetzlicher Ebene aufzugeben. Es war
eine Bewegung, die die Durchschlagskraft hatte, die Bundesregierung – unabhängig davon, ob gerade die Demokraten oder die Republikaner im Weißen Haus saßen – zu zwingen, gegen
die „Jim-Crow-Gesetze“ vorzugehen,
trotz der Unentschlossenheit beider
Parteien.
Im Frühjahr 1951 protestierten
Schülerinnen und Schüler einer
schwarzen High School in Farmville,
Virginia gegen die unzumutbaren Verhältnisse an ihrer Schule. Unter der
Führung von Barbara Johns entschlossen sie sich zu streiken. Die resolute
16-Jährige appellierte an Anwälte der
NAACP, die zusagten, zu einer Besprechung nach Farmville zu kommen
– ohne zu realisieren, dass es „Kinder“
gewesen waren, die sie kontaktiert hatten.
Die Anwälte erklärten, sie hätten
kein Mandat, um eine Klage für bessere schwarze Schulen einzureichen, sie
könnten nur gemischte Schulen fordern. An einer Großversammlung votierte die Gemeinde – überwältigt von
der Kühnheit der Schülerinnen und
Schüler – dafür, ein Verfahren auf
Bundesebene anzustrengen und „getrennte, aber gleichwertige“ Schulen zu
verlangen. Dieser Fall wurde zusammen mit vier weiteren (aus Delaware,
Kansas, South Carolina und dem District of Columbia) ein Teil des Urteils
des Obersten Gerichtshofs im Fall
Brown gegen die Erziehungsbehörde
von Topeka. Am 17. Mai 1954 erklärte
der Supreme Court die Rassentrennung
in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig.
Im Dezember 1955 wurde Rosa
Parks, eine NAACP-Aktivistin aus
Montgomery, Alabama verhaftet, weil
sie sich geweigert hatte, ihren Platz im
Bus einer weißen Passagierin zu überINPREKORR 396/397
USA
lassen. In der Folge wurde für den Tag
des Prozesses gegen Parks ein eintägiger Busboykott ausgerufen. Der Boykott ging vom politischen Beirat der
Frauen unter der Führung von JoAnn
Robinson aus, der mehr als 52 000
Flugblätter unter der schwarzen Bevölkerung von Montgomery verteilte.
Die Busse fuhren an diesem Tag
leer durch die Stadt und mehrere tausend Menschen kamen am Abend zu
einer Zusammenkunft, an der die
Montgomery Improvement Association gegründet wurde. Was ein eintägiger Boykott hätte werden sollen, dauerte schließlich 381 Tage. Daran beteiligt
waren 42 000 Protestierende, die zu
Fuß gingen oder Fahrgemeinschaften
bildeten, bis der Bundes-Bezirksgerichtshof zugunsten der NAACP entschied, der gegen die Aufteilung nach
Rassen in öffentlichen Verkehrsmitteln
Klage eingereicht hatte.
Obwohl Montgomery nicht der erste
erfolgreiche Busboykott war, bedeutete
die anhaltende starke Unterstützung
durch die Gemeinde für Ella Baker von
der NAACP, dass die Möglichkeit bestand, eine Bürgerrechtsbewegung auf
breiter Basis aufzubauen. Zurück in
New York City arbeitete Baker zusammen mit Bayard Rustin und Stanley Levinson daran, ein Treffen zu organisieren, das die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) lancierte. Danach kehrte Baker nach Atlanta zurück
und leitete die Kampagne der SCLC zur
Registrierung von Stimmberechtigten.
Baker sah die SCLC als mögliches Mittel an, um eine Massenbewegung auf
der Basis von lokal organisierten Gruppierungen auszulösen.
Am 1. Februar 1960 organisierten
vier Studenten ein Sit-in gegen die Rassentrennung in der Verpflegungsecke
eines Woolworth-Warenhauses in
Greensboro, North Carolina. Bis zum
April desselben Jahres fanden in 125
Städten Sit-ins gegen die Rassentrennung statt. Im gleichen Frühling wirkte
Baker bei der Organisation einer Zusammenkunft von führenden studentischen Aktivisten der Südstaaten mit.
Die SCLC sorgte für die Finanzierung
des Treffens, doch Baker riet den Studierenden ihre Unabhängigkeit zu wahren und nicht zur Jugendorganisation
der SCLC zu werden.
Die Bildung des Student Nonviolent
Coordinating Committee (SNCC) sorgte für neue Impulse in der BürgerrechtsINPREKORR 396/397
bewegung. Das SNCC engagierte sich
aktiv im Sozialkampf und bei Eintragungen ins Wählerverzeichnis, sowohl
in städtischen wie auch in ländlichen
Gegenden des Südens. Da es im Stande
war, sich blitzschnell neuen Gegebenheiten anzupassen, wurde das SNCC
zum Wegbereiter der Bewegung.
Die Aktivisten, die den Kampf um
nach Little Rock, Arkansas, um Entscheidungen des Bundes zur Aufhebung der Rassentrennung in Schulen
durchzusetzen. Eisenhower bestand
darauf, dass dem Gesetz Folge geleistet
würde, strebte aber einen Kompromiss
mit Orval Faubus, dem Gouverneur
von Arkansas, an und bemerkte wiederholt, er könne sich kaum Schlimme-
Antikriegsdemonstration in Washington
die Bürgerrechte auslösten, waren –
wie diejenigen, die in den Anfangszeiten den Aufstieg des CIO angeführt
hatten – nicht darauf aus, die Gunst von
Politikern zu gewinnen. Ihr Ziel war
vielmehr, eine politische Kraft aufzubauen, die tatsächlich Veränderungen
fordern würde.
Zu ihnen gehörten langjährige Aktivisten im Arbeitskampf wie E.D. Nixon, ein führender Funktionär der
NAACP von Montgomery und Mitglied der „Bruderschaft der Schlafwagenschaffner“, Geistliche wie James
Lawson, Martin Luther King und Fred
Shuttlesworth, studentische Aktivistinnen und Aktivisten wie Ruby Doris Robinson, Charles Sherrod, John Lewis,
Diana Bevel Nash, James Bevel, Gloria
Richardson und Bernice Reagon, Leute
aus dem einfachen Volk wie Fanny
Lou Hamer und erfahrene Aktivisten
wie Medgar Evers und Amzie Moore.
Sie fanden Unterstützung bei Gemeindeerziehern wie Septima Clark.
Die Militanz und Entschlossenheit
der Bürgerrechtsbewegung zwang sowohl Republikanische wie auch Demokratische Administrationen in Washington etwas gegen rassistische Gewalt und für die Aufhebung der Rassentrennung und die Rechte der AfroAmerikaner zu tun.
Die Republikanische EisenhowerAdministration entsandte Truppen
res als den Einsatz von Regierungstruppen vorstellen.
Die Kennedy-Administration versuchte den Bürgerrechtsaktivismus auf
Kampagnen zur Registrierung im
Wählerverzeichnis
einzuschränken.
Aber auch sie wurde dazu genötigt, gewaltsamen weißen Widerstand gegen
den afro-amerikanischen Freiheitskampf im Süden aufzuhalten. Der ansonsten liberale Kennedy bewilligte
dem FBI auch die Telefonüberwachungen von Martin Luther King und anderen führenden Bürgerrechtlern.
Im Zentrum der Bürgerrechtspolitik
der Kennedy-Administration stand das
Taktieren und Suchen von Kompromissen; man hoffte, die Südstaaten-Demokraten so dazu zu bringen, die notwendigen minimalen Konzessionen zu
machen und gleichzeitig die politische
Vorherrschaft im „verlässlichen Süden“ behalten zu können. Dr. King
schrieb, dass die Verhandlungen zwischen Ross Barnett, dem Gouverneur
von Mississippi, und Kennedy über die
vom Gericht angeordnete Zulassung
von James Meredith zur Universität
von Mississippi „den Negern das Gefühl gab, Schachfiguren im politischen
Spiel des weißen Mannes zu sein.“
(Taylor Branch, Parting the Waters,
America in the King Years, 1954-63,
S.672)
7
USA
Schließlich war es Lyndon Johnson, ein weißer Texaner, der bei der
Annahme des Civil Rights Acts von
1964 und des Voting Right Acts von
1965 den Vorsitz hatte. Diese beiden
Gesetze schafften die gesetzlich vorgeschriebene Rassentrennung im Süden
ab und gab den Schwarzen ihr Stimmrecht zurück.
Im Februar 1964 beschlossen aktive
Mitglieder des SNCC, eine großangelegte Kampagne zur Registrierung von
schwarzen Wahlberechtigten zu starten. Die SNCC-Aktivisten kombinierten „Freiheits-Registrierung“ von
Stimmberechtigten bei der Mississippi
Freedom Democratic Party (MFDP)
mit der Eintragung von Afro-Amerikanern ins Wahlregister der offiziellen
Demokratischen Partei.
In den Wochen nach der Gründung
der MFDP versuchten ihre Mitglieder
an regionalen Versammlungen der regulären Partei teilzunehmen, wurden
aber nicht zugelassen. Sie organisierten
daher unabhängige regionale MFDPVersammlungen, um die Legitimität
ihrer Partei zu demonstrieren und um
sich darauf vorzubereiten, gegen die reguläre Delegation im August des gleichen Jahres am nationalen Parteikonvent der Demokraten in Atlantic City
anzutreten.
Victoria Gray, eine Bürgerrechtsaktivistin aus Hattiesburg, wurde dazu
bestimmt, Senator John Stennis herauszufordern und die SNCC-Frau Fanny
Lou Hamer sollte für den Kongress
kandidieren. Achthundert Delegierte
nahmen am bundesstaatlichen Konvent
der MDFP teil; sie wählten achtundsechzig Delegierte, die sie in Atlantic
City vertreten sollten.
Präsident Johnson war entschlossen, jegliche Aktion zu verhindern, die
seine Unterstützung durch die weißen
Südstaatler schwächen könnte und beauftragte das FBI mit der Beobachtung
der MDFP. Deren Delegation erkannte,
dass es ihr kaum gelingen würde, den
regulären Abgeordneten den Rang abzulaufen, rechnete aber mit einem
Kompromiss und der Zulassung beider
Delegationen.
Stattdessen bot Johnson, nachdem
er das Zulassungskomitee stark unter
Druck gesetzt hatte, Aaron Henry und
Edwin King je einen Sondersitz am
Konvent an, währenddessen die anderen den Status von „Gästen“ erhalten
sollten. Zusätzlich wurde das Verspre8
chen abgegeben, dass 1968 alle staatlichen Delegationen, die die Schwarzen
diskriminierten, vom Konvent ausgeschlossen würden. Trotz intensiven
Lobbyings durch Anhänger der liberalen Linie wie Walter Reuther von der
UAW, wiesen die MFDP-Delegierten
den Kompromissvorschlag deutlich zurück.
Einige der führenden MFDP-Leute
und vor allem SNCC-Aktivisten sahen
den nationalen Parteikonvent der Demokraten von 1964 als Test an für ihre
Strategie, an die Bundesregierung zu
appellieren. Sie zogen nun [aus den Ereignissen] den Schluss, dass ihre liberalen Verbündeten – besonders die etablierten Bürgerrechts- und Arbeitskampfaktivisten – die MFDP im Stich
gelassen hatten, weil ihre Verbindungen zur nationalen Demokratischen
Partei Vorrang hatten.
Diese Leute entfernten sich immer
mehr von der MFDP und suchten nach
radikaleren politischen Alternativen.
Viele von ihnen fühlten sich von den
Ideen von Malcolm X angezogen, der
im letzten Jahr vor seinem Tod eine
Strategie befürwortete, die eine Verbindung des afro-amerikanischen Freiheitskampfes sowohl zu den Demokraten wie auch zu den Republikanern ablehnte.
Der Erfolg des Bürgerrechtskampfes im Süden bewies einerseits die
Macht von kollektiven Aktionen und
zeigte andererseits die Grenzen von
Gleichheit nach dem Gesetz auf. Während das Ende der Jim-Crow-Gesetze
und der politischen Entmündigung für
die afro-amerikanische Bevölkerung
und andere Farbige ein enormer Schritt
nach vorne bedeutete, konnte weder
der Civil Rights Act noch der Voting
Rights Act etwas gegen den systematischen und institutionalisierten Rassismus ausrichten, der in den Städten des
Nordens deutlich erkennbar war.
Das unverhältnismäßige Ausmaß
von Arbeitslosigkeit und Armut, die
Diskriminierung am Arbeitsplatz, die
getrennten Wohngebiete und ungleiche
Ausbildung – all das blieb trotz rechtlicher Gleichstellung bestehen. Die
Ghetto-Aufstände von 1965 bis 1968
sorgten dafür, dass eine ganze Generation von afro-amerikanischen Aktivisten im Norden nach radikaleren Lösungen für die Probleme Rassimus, Armut
und Ausbeutung strebte.
Organisationen wie die Black-Panther-Bewegung und die Liga der revolutionären schwarzen Arbeiterschaft
nahmen die Forderung nach „Black
Power“ auf, die zuerst von SNCCFührern wie Stokely Carmichael und
H. Rap Brown erhoben worden war.
„Black Power“ war ein Aufruf zur
Selbstorganisation der Afroamerikaner und zu einer Massenbewegung, die
den Verbindungen zwischen institutionalisiertem Rassismus und dem kapitalistischen System entgegen treten
würde. „Black Power“ fand Widerhall
bei vielen jungen afro-amerikanischen
Aktivisten, die sich im Süden organsiert hatten und die Erfahrung mit der
MFDP gemacht hatten.
Gegen das Ende seines Lebens
trachtete Martin Luther King danach,
diese Verknüpfungen durch seine Kampagne für arme Leute herzustellen. Das
Ziel dieser Kampagne war, die Bundesregierung dazu zu zwingen, die Arbeitsbeschaffungsprogramme für die „Working Poor“ massiv auszubauen und eine
Krankenkasse ins Leben zu rufen. Für
King war es klar, dass, solange „Profitdenken und Eigentumsrechte für wichtiger angesehen werden als die Menschen, das dreifache Übel – Rassismus,
Militarismus und wirtschaftliche Ausbeutung – nicht besiegt werden kann.“
(Manning Marable, Black American
Politics, S.105).
Die neue Welle von Militanz unter
den Afro-Amerikanern und anderen
Farbigen zwangen sowohl die Demokratische Johnson-Administration wie
auch die Republikanische unter Nixon
dazu, die Sozialmaßnahmen auf ein nie
da gewesenes Ausmaß auszubauen. Die
Programme von Johnsons „Krieg gegen
die Armut“ konzentrierten sich auf Bildung und Berufsausbildung, trugen
aber wenig dazu bei, das Einkommen
durch die Schaffung neuer Stellen, einen höheren Minimallohn oder neue
Sozialleistungen umzuverteilen.
Vielleicht die wichtigste Langzeitwirkung aller Maßnahmen Johnsons
hatte die Schaffung des „Community
Action Programs“, durch das arme Leute und ihre Fürsprecher in die Verwaltung der neuen Bildungs- und Ausbildungsprogramme integriert werden
sollten. Aus den Reihen der Verwaltungsbeamten von Bundesagenturen
gegen Armut rekrutierte sich eine neue
Schicht von afro-amerikanischen Demokratischen Aktivisten, von denen in
INPREKORR 396/397
USA
den späten sechziger und frühen siebziger Jahren viele zu Funktionären auf lokaler oder bundesstaatlicher Ebene gewählt wurden.
Es ist ein Zeugnis von der Durchsetzungskraft der schwarzen Bewegung,
dass sie es fertig brachte, Richard Nixon, den am weitesten rechts stehenden
Präsidenten seit einer Generation, dazu
zu zwingen, eine soziale Wohlstandspolitik einzuführen, die viel radikaler
war als die des Demokraten Johnson.
Unter Nixon wurden nicht nur aktive
Förderungsmaßnahmen des Bundes in
den Sektoren Beschäftigung und Bildung eingeführt, sondern auch der Minimallohn erhöht, neue Unterstützungsund Jobprogramme geschaffen, neue
Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz in Kraft gesetzt und
es wurde sogar eine nationale Diskussion über die mögliche Einführung eines
staatlich garantierten jährlichen Mindesteinkommens geführt.
Afroamerikaner und andere Farbige
waren allein nicht in der Lage, erfolgreich eine Herausforderung der systemimmanenten kapitalistischen Wurzeln
des Rassismus in Gang zu setzen. Die
logische Verbündete in einem solchen
Kampf, die Arbeiterbewegung, war
durch den Nachkriegswohlstand „gezähmt“ worden. Die AFL-CIO-Bürokratie war durchdrungen von Gewerkschaftspolitik in den Betrieben, Konservatismus und dem Vertrauen in das
Wählen von Demokratischen „Freunden der Arbeit“.
Abgeschnitten von der organisierten
Arbeiterklasse, wurden afroamerikanische und andere farbige Radikale effektiv an den Rand gedrängt und konnten
nur allzu leicht unterdrückt werden.
Das FBI und andere bundesstaatliche
sowie regionale Polizeibehörden infiltrierten systematisch die Bürgerrechtsund die Black-Power-Bewegung und
höhlten sie aus.
Ende der sechziger Jahre schafften
staatliche Operationen, wie zum Beispiel COINTELPRO des FBI (1967
während der Amtszeit Johnsons lanciert), radikale schwarze Führer buchstäblich aus der Welt und rissen Organisationen wie die Black Panther Party
auf brutale Weise auseinander. Bis zum
Ende der siebziger Jahre waren 28
„Panter“ tot und viele andere im Gefängnis oder sie hatten das Land verlassen, um einer Verhaftung zu entgehen.
INPREKORR 396/397
Mit dem Niedergang der radikalen
Linken begann eine neue Schicht die
politische Führung innerhalb der
schwarzen und anderen farbigen Gemeinschaften zu übernehmen. Viele
dieser neuen schwarzen Demokraten
stammten aus den Reihen der „Great
Society“-Programme gegen die Armut.
Diese neuen Kräfte waren schon weit
wählten Schwarzen in kleinen Ortschaften und Städten sowie Schulbehörden Ämter bekleideten, standen
schwarze Bürgermeister an der Spitze
einer ganzen Reihe von großen urbanen
Zentren wie Los Angeles, Chicago, Detroit, Atlanta, Philadelphia, Boston und
New York.
Die Schwarzen haben proportional
Abgeschnitten
von der organisierten Arbeiterklasse, blieben
afroamerikanische und andere
farbige Radikaleim Kampf
gegen den
Rassismus
weg von den Schauplätzen militanten
sozialen Protests und stützten sich auf
die nationale und regionale Maschinerie der Demokraten, um ihre Positionen
in den neuen Sozialdiensten und dem
Bildungssystem zu erlangen.
Für diese moderaten schwarzen
Führungspersönlichkeiten war die
Wahl von mehr Leuten ihres Schlags in
die Ämter als Angehörige der Demokratischen Partei die natürliche Strategie, um die Interessen der afroamerikanischen Gemeinschaft zu fördern. In
den frühen siebziger Jahren wurde die
Debatte unter den Schwarzen zur Frage
„Protest“ oder „Politik“ zugunsten eines neu entstehenden schwarzen und
städtischen Demokratischen Apparats
entschieden.
Gemäß seinen eigenen Vorstellungen war der neue Apparat der schwarzen Demokraten sehr erfolgreich. Vor
1965 wurden in den USA weniger als
500 Schwarze zu Funktionären gewählt. Heute sind es allein im Süden
mehr als 5000. Zwischen 1901 und
1955 saßen nur vier Afro-Amerikaner
im Repräsentantenhaus. Heute umfasst
der schwarze Parlamentsausschuss im
Kongress stolze 38 Mitglieder.
Die Zahl der Schwarzen im nationalen Parlament und in den Legislativen
der Bundesstaaten ist von unter 200 im
Jahr 1970 auf heute über 600 angewachsen. Obwohl die meisten der ge-
immer noch weniger Ämter inne als ihrem Anteil an der US-Bevölkerung entsprechen würde. Schwarze Wahlerfolge
haben jedoch den schwarzen Gemeinden einige Verbesserungen gebracht.
Gewählte afroamerikanische Beamte
haben es fertig gebracht, dass Regierungsaufträge auf Firmen von Angehörigen einer Minorität ausgedehnt wurden und auch, dass Verwaltungsbeamte
und Fachleute aus ihren Kreisen verpflichtet wurden. Es gab auch einige
Verbesserungen bei der Versorgung der
schwarzen Gemeinschaft mit wichtigen
Dienstleistungen wie Kehrrichtabfuhr,
Reparaturen an öffentlichen Gebäuden,
Schulen und Gemeindezentren.
Die meisten Polizeiabteilungen der
Großstädte werden heutzutage nicht
mehr von notorischen Rassisten geleitet, auch wenn Polizeibrutalität beim
besten Willen nicht verschwunden ist.
Bedeutungsvoller ist jedoch, dass
die gewählten schwarzen Beamten –
vor allem diejenigen, die Dörfer und
Städte verwalteten – gezwungen waren,
Sparsamkeit walten zu lassen. Wie ihre
weißen Amtskollegen, mussten auch
die farbigen Bürgermeister und andere
gewählte Beamte die staatlichen Unterstützungsbeiträge kürzen, auf die die
Angehörigen der Arbeiterklasse und
der Minderheiten am meisten angewiesen sind. Sie lehnten die Forderungen
von Lehrpersonen und anderen öffentli9
USA
chen Angestellten ab (die in vielen Gemeinden mehrheitlich Farbige sind).
Gleichzeitig versuchten lokale Beamte – Schwarze und Weiße – in ihren
Gebieten durch vorübergehende Steuerbefreiungen und andere Vergünstigungen für Unternehmen Investitionen
anzuregen. Die „städtischen Wiederbelebungsprogramme“ schwarzer Bürger-
Anstelle eines antikapitalistischen
Radikalismus, befürwortet das neue
schwarze Demokratische Establishment, zusammen mit dem Rest der Partei, marktwirtschaftliche Lösungen für
die Armut und die Verzweiflung im
Schwarzen Amerika. Charles Rangel,
schwarzes Demokratisches Kongressmitglied aus New York geht dabei vor-
wehrkampf engagiert, um wenigstens
zu retten, was von den Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten noch
übrig geblieben ist. Die schwarzen Demokraten hingegen haben den Kampf
für echte Verbesserungen in der staatlichen Wohlfahrt und entwicklungsfähige Beschäftigung im öffentlichen Sektor praktisch aufgegeben.
DIE ANTI-VIETNAMKRIEGSBEWEGUNG UND DIE
DEMOKRATEN
Campusdemo
gegen den
Vietnamkrieg
meister in den Großstädten haben Arbeiter- und Armenviertel ruiniert, während sie die Innenstädte mittels neue
Bürohochhäuser und Einkaufszentren
für die Mittelklasse „revitalisierten“.
Alles in allem hat die große Mehrheit von arbeitenden und armen Farbigen die sinkende Zahl von gewerkschaftlich organisierten Jobs im öffentlichen wie im privaten Sektor, das Ansteigen von Niedriglohnstellen in den
städtischen Diensten und Sparmaßnahmen bei den staatlichen Unterstützungen am meisten zu spüren bekommen.
Die neue afroamerikanische Mittelklasse hingegen, die Kleinunternehmer,
Fachleute und Manager, haben vom
Aufkommen von Demokratischen
Stadtregierungen unter Führung von
Angehörigen einer Minderheit profitiert.
Auf Bundesebene werden die staatlichen Unterstützungsbeiträge wie die
AFDC weiterhin demontiert und Förderungsmaßnahmen zugunsten von Minderheiten zurückgefahren, sogar unter
der Clinton-Administration. Dies geschieht der Loyalität der schwarzen und
anderen farbigen Wählerinnen und
Wählern gegenüber der Demokratischen Partei und der Zunahme von
schwarzen und Latino-Abgeordneten
im Kongress zum Trotz.
10
neweg: Rangel ist ein hochrangiges
Mitglied im „House Ways and Means“Komitee, Vorsitzender des Demokratischen Wahlkampfkomitees für den
Kongress und Gründungsmitglied des
schwarzen
Kongressausschusses.
(http://rangel.gov/Iez_vision.shtml)
Rangel ist einer der Hauptbefürworter von „Unternehmenszonen“ in heruntergekommenen städtischen Gegenden. In diesen „Unternehmenszonen“ –
häufig als „nordamerikanische Maquiladoras“ bezeichnet – erhalten Firmen,
die gewillt sind zu investieren, riesige
Subventionen und zeitlich begrenzte
Steuerbefreiungen. Zudem wird das öffentliche Bildungssystem den Bedürfnissen der neuen lokalen Arbeitgeber
angepasst. Die „Unternehmenszone“
im Heimdistrikt Rangels in Harlem verwandelte die 125. Straße in eine Einkaufsmeile für die Mittelklasse von
Harlem, brachte aber der ArbeiterInnenklasse und den armen Bewohnern des Stadtteils hauptsächlich
schlecht bezahlte Teilzeit- oder Saisonstellen.
Einmal mehr verebbte die Bewegung, als „Protest“ durch „Politik“
(sprich: politische Unterstützung der
Demokraten), ersetzt wurde und die Errungenschaften früherer Zeiten gerieten
in Gefahr. Heute sind die antirassistischen Aktivisten in einem harten Ab-
Ab 1965 begannen Tausende von Studierenden, BürgerrechtsaktivistInnen
und Radikalen eine Bewegung gegen
den barbarischen Krieg der USA gegen
das vietnamesische Volk aufzubauen.
Innerhalb der nächsten acht Jahre gingen Millionen von Menschen auf die
Straße um die Einstellung der brutalen
Bombardierungen und den Rückzug der
beinahe 500 000 Mann starken Bodentruppen zu fordern.
Obwohl die Antikriegsbewegung
um die Opposition gegen den Krieg organisiert war, konnte das Marschieren
in Gruppen weitgehend selbst auf die
Beine gestellt werden. Schwarze Demonstranten trugen Transparente mit
Slogans wie „Noch nie hat mich ein Vietnamese Nigger genannt“. Amerikaner
asiatischer Herkunft und feministische
Gruppierungen verknüpften ihre Anliegen mit dem Krieg. Indianische Aktivisten, die „Fish-ins“ und „Wiederbesetzungen“ ihrer historischen Lebensräume organisierten, wiesen darauf hin,
dass die US-Außenpolitik der Indianerpolitik der Regierung glich, durch die
sie ausgerottet, deportiert und bevormundet worden waren und zum Teil
immer noch wurden. Ab 1968 wurden
die Protestmärsche häufig von Veteranen – auch solche des Vietnamkriegs –
und GIs, die den Krieg ablehnten, angeführt.
Die Antikriegsbewegung benützte
eine Vielzahl von Taktiken: Von Sit-ins
an Colleges und Universitäten quer
durch die Vereinigten Staaten zu Großdemonstrationen von bis zu einer Million Menschen in Washington und San
Francisco, von Widerstand gegen die
Einberufung ins Militär zur Mobilisierung von GIs im Aktivdienst und Vietnamveteranen gegen den Krieg der
USA. Die Fähigkeit der Antikriegsbewegung den „Business as usual“ wähINPREKORR 396/397
USA
rend acht Jahren zum Erliegen zu bringen, war der Ursprung ihrer Stärke und
ihres Radikalismus.
Die Antikriegsbewegung brachte
eine Generation von Aktivistinnen
und Aktivisten hervor, die den Vietnamkrieg nicht als einen „Fehler“ ansahen, – wie es Gemäßigte und Liberale taten – sondern als etwas, das untrennbar verbunden war mit der imperialistischen amerikanischen Strategie
die Welt zu beherrschen. Angewidert
von der Unverbrämtheit der amerikanischen Aggression und beeindruckt vom
entschlossenen Widerstand der Vietnamesen, der Revolte der Schwarzen und
der wachsenden Unruhe unter der Arbeiterschaft in Amerika selber, wandten
sich tausende von jungen Leuten in den
1960er und frühen 1970er Jahren einer
radikalen, antikapitalistischen Politik
zu. Wie es Max Elbaum in seinem Buch
mit dem selben Namen ausführt, lag
nach 1968 eine „Revolution in der
Luft“.
Die Antikriegsbewegung hatte einen riesigen Einfluss: Zusammen mit
dem entschlossenen militärischen Widerstand der Vietnamesen sorgte sie dafür, dass die USA den Krieg zuerst entschärften und schließlich ihre geschlagenen Truppen aus Indochina abzogen.
Nachdem er 1964 mit der größten
Mehrheit der amerikanischen Geschichte zum Präsidenten gewählt worden war, zwang der Protest gegen den
Krieg Lyndon Johnson, sich von der
Wahlkampagne für 1968 zurückzuziehen.
Sogar noch wichtiger war, dass
Johnson die Bombardierung von Nordvietnam vorübergehend stoppte und
Verhandlungen mit der vietnamesischen Widerstandsbewegung in die
Wege leitete. Die Antikriegsbewegung
wuchs unter der Republikanischen
Rechtsaußenregierung von Richard Nixon weiter an. Nixon, der nicht gerade
als „Taube“ bezeichnet werden kann,
sah sich 1969 gezwungen, mit dem
Rückzug der US-Truppen aus Vietnam
zu beginnen. Er schrieb später, dass „all
die Proteste“ die Regierung davon abgehalten hatte, in Vietnam Nuklearwaffen einzusetzen.
Gegen Ende 1969 schickte einer
von Nixons Beratern ein streng geheimes Memorandum an Henry Kissinger,
in dem er davor warnte, dass „die Nation in großen Aufruhr geraten könnte“,
INPREKORR 396/397
der die „brutale“ Unterdrückung von
„Meinungsverschiedenheiten“ erfordern würde, wenn die USA nukleare
Waffen einsetzen würde. Man fürchtete
sich also nicht vor den oppositionellen
Demokraten im Kongress oder den
nächsten Wahlen, sondern vor der Mobilisierung der Massen.
Nachdem Nixon ohne Erfolg versucht hatte, Vietnam „zur Unterwerfung zu bombardieren“, musste er
1973 den endgültigen Abzug der USTruppen aus Indochina arrangieren.
Trotz Nixons gegenteiligen Behauptungen – und der fortdauernden Unterstützung des Marionettenregimes in
Südvietnam –, kam der Rückzug der
USA einer Kapitulation gleich. 1975
übernahm dann die vietnamesische
Widerstandsbewegung die Macht.
Von Beginn der Antikriegsbewegung an, versuchten gemäßigte und liberale Kräfte, die Aktivisten dazu zu
bringen, dass sie ihre Energie in die
Wahlkampagnen von Demokraten investieren sollten, die angeblich gegen
den Krieg waren. 1968 beteiligten sich
viele junge Kriegsgegnerinnen und
Kriegsgegner an den Kampagnen für
Eugene McCarthy und Robert Kennedy. Die Ermordung Kennedys machte
den Weg frei für die Nominierung Hubert Humphreys. Humphrey wurde als
Belohnung dafür, dass er die MFDPDelegation dazu überredet hatte, den
Parteikonvent von 1964 nicht zu „stören“ zu Johnsons Vizepräsident und er
wurde einer der „Baumeister“ der Eskalation des Vietnamkriegs.
Das kriegsbefürwortende Establishment der Demokraten drängte die
McCarthy-Fraktion nicht bloß innerhalb der Partei auf die Seite (sie erhielt nämlich keine Möglichkeit, sich
öffentlich zu äußern und wurden von
den wichtigen Funktionen fern gehalten): Am Parteikonvent von 1968 in
Chicago ließ der Demokratische Bürgermeister Richard Daley seine berüchtigten rassistischen und gewalttätigen Polizeikräfte gegen AntikriegsDemonstranten los, von denen viele
McCarthy-Anhänger waren.
Die Wahlkampagne McCarthys bedeutete eine Ablenkung für die Antikriegsbewegung. Es gab jedoch einen
starken Flügel der Bewegung, der es ablehnte, sich mit den Demokraten zu verbünden. Ein Teil dieses linken Flügels
arbeitete auch an der Präsidentschaft-
kampagne von Black Panther-Führer
Eldridge Cleaver, der für die Peace &
Freedom Party antrat und eine kleine,
aber bedeutungsvolle Alternative zum
Morast der Politik der Demokraten bot.
Andere Aktivisten der Antikriegsbewegung unterstützten jedoch Kennedy
oder McCarthy.
Nach 1968 gab es einen bedeutenden Kern unter den AktivistInnen, der
darauf drängte, weiterhin Demonstrationen und andere Protestaktionen zu organisieren. Da der Krieg weiterging
und Zehntausende von GIs, darunter ein
unproportional hoher Anteil Angehörige der Arbeiterklasse und von Minderheiten, starben, gelang es dem aktivistischen Kern, eine Antikriegsbewegung
am Leben zu erhalten, deren Stärke sowohl der Demokratisch kontrollierte
Kongress wie auch Nixon, der Rechtsaußen-Republikaner anerkennen mussten.
1972 gelang dem liberalen und gemäßigten Flügel der Antikriegsbewegung, was ihm zuvor nicht gelungen
war: Er errang die Mehrheit auf dem
Demokratischen Konvent und nominierte George McGovern zum Präsidentschaftskandidaten. Die Kapitalisten und Gewerkschaftsfunktionäre, die
das wahre Machtzentrum der Partei bildeten und sie finanzierten, weigerten
sich jedoch ganz einfach, sich für
McGovern einzusetzen. Zudem flossen
Millionen von Dollars, die normalerweise einem Demokraten zugute gekommen wären, in die Wahlkasse von
Richard Nixon. Das Ergebnis war die
„erdrutschartige“ Wiederwahl Nixons
im Jahre 1972.
In der Hoffnung, nie wieder die finanzkräftigen Unterstützer der Partei
vor den Kopf zu stoßen und angewidert von der Rolle der AFL-CIO, die
„Spezialinteressen“ vertrat, wurden
viele frühere McGovern-Anhänger zu
zentralen Figuren beim Rechtsrutsch
der Demokraten in den achtziger und
neunziger Jahren. Sowohl Bill Clinton
als auch John Kerry waren gemäßigte
Gegner des Vietnamkriegs, enthusiastische Anhänger George McGoverns
und entscheidend daran beteiligt, dass
sich die Demokratische Partei die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten zwei Jahrzehnte zu ihrer eigenen
machte.
Übersetzung: Hans Peter Frey
11
USA
Die Nader-Kampagne zu den
US-Wahlen 2004
Interview mit Vize-Präsidentschaftskandidaten Peter Camejo
Von Ann Menasche für Against the Current
Against the Current (ATC): Was ist die
Bedeutung der Nader-Camejo-Kampagne von 2004?
Peter Camejo (PC): Diese Kampagne
steht für eine breite Meinungsströmung
in den USA: Gegen den Einmarsch in
und die Besetzung des Iraks und gegen
das Heimatschutzgesetz. Aber es gibt
kein Entkommen. Das Wahlsystem erlaubt es den Menschen nicht, für das zu
stimmen, was sie wollen. Sie sind in
der Zwei-Parteien-Falle gefangen.
Die besondere Bedeutung der NaderKampagne liegt vor allem darin, dass
die überwältigende Zahl der KerryWählerInnen nicht mit Kerrys Meinung übereinstimmt. In Wirklichkeit
stehen sie in vielen Fragen viel näher
bei Nader. Somit zeigt die Nader-Kandidatur den undemokratischen Charakter der US-amerikanischen Gesellschaft, dass wir in Wahrheit keine freien Wahlen in den USA haben, sondern
ein System, das ein gewünschtes Ergebnis garantiert, aber den Menschen
gleichzeitig die Illusion verschafft, sie
hätten entschieden.
ATC: So weit ich weiß, hat Nader in
Kalifornien nicht genügend Unterschriften zusammen bekommen, um
zur Wahl zugelassen zu werden. Wie
konnte dies passieren und was hat dies
für Folgen für die Wahlkampagne in
Kalifornien?
PC: Die Demokratische Partei führt
mit gewaltigem Aufwand eine umfassende Offensive, um die Menschen in
den USA, die mit Ralph Naders Friedenspositionen und seiner Politik für
die Interessen der Arbeiterklasse einverstanden sind, davon abzuhalten,
auch für Nader zu stimmen. Einigen
dieser Kräfte gelang es, den Parteitag
der Grünen zu manipulieren, so dass ei12
ne sehr merkwürdige Sache passieren
konnte: Ein Kandidat, der bei den Vorwahlen lediglich 12,2 Prozent der
Stimmen gewinnen konnte, wurde letzten Endes der nationale Kandidat. Mittlerweile beginnen wir dahinter zu kommen, dass dies deshalb gelang, weil die
Versammlungen der Grünen Partei mit
Leuten überfüllt wurden, die für Kerry
sind. (In einigen Staaten, wie in Kalifornien, wurden Vorwahlen der Grünen Partei durchgeführt, bei denen die
Delegierten für den Nationalen Parteikongress gewählt wurden. In anderen
Staaten geschah dies nicht. – Anm. von
ATC).
In Kalifornien wählten die Grünen mit
86 Prozent Kandidaten, die Nader unterstützten und lediglich mit 11,8 Prozent David Cobb. Trotzdem wurde
Cobb für Kalifornien als Kandidat der
Grünen nominiert. Nader-Camejo wurden noch nicht einmal als Unabhängige
zugelassen. Wir werden eine Einschreib-Kampagne benötigen, aber das
wird unseren Wahlkampf nicht stoppen.
ATC: Und wie sieht es in den anderen
Staaten aus?
PC: Das nationale Büro der NaderKampagne geht nach wie vor davon
aus, dass wir in rund 40 Staaten antreten können. Aber es ist schwierig, dies
genau vorherzusehen; denn überall
dort, wo wir die Voraussetzungen erfüllt haben, versuchen die Demokraten,
formale Dinge zu finden, um uns wieder rauszudrängen.
Im Staat Oregon gab es eine Versammlung, um zu den Wahlen zugelassen zu werden, zu der 1000 TeilnehmerInnen erforderlich waren. Wir mussten Hunderte wieder zurückweisen.
Doch als wir dann die Leute aufforderten, die Formulare für Nader zu unter-
zeichnen, entdeckten wir eine Gruppe
von 200 Demokraten. Sie zogen ihre
Hemden aus und darunter trugen sie
welche mit der Aufschrift „Kerry“.
(Zuvor hatten die Demokraten zugegeben, dass sie bewusst eine Nader-Nominierungs-Versammlung gestört hätten, indem sie massiv in die Versammlung drängten, um dann später die
Wahlpetition nicht zu unterschreiben.
Dadurch wurden andere Leute von der
Teilnahme an der Versammlung abgehalten, weil die Behörden die Türen
verschlossen, wenn mehr als 1000 BesucherInnen anwesend waren, und die
Zahl der Unterzeichner wurde erfolgreich unter die notwendigen 1000 Unterschriften gedrückt, die Nader für die
Registrierung zur Wahl benötigte. –
Anm. von ATC)
So sehen die Haltung und meiner
Meinung nach illegalen Aktionen der
Demokraten aus. Die andere Masche
ist, zu behaupten, dass wir von den Republikanern finanziert würden, was eine komplett erfundene Lüge ist. Und
sie wissen sehr wohl, dass dies keineswegs der Fall ist. Aber wir erwarten ungefähr 25 Prozent unserer Wählerstimmen von Republikanern, die gegen Bush, aber nicht bereit sind, für
Kerry zu stimmen. Unsere Wahlkampfspenden von registrierten Republikanern betragen etwa fünf Prozent.
Die meisten davon sind US-BürgerInnen arabischen Ursprungs, die gegen
das Heimatschutz-Gesetz sind.
ATC: Warum, glauben Sie, hat Cobb
die Nominierung der Grünen Partei gewonnen, und was bedeutet dies für die
Zukunft der Grünen?
PC: Ich denke, Cobb ist ein Ergebnis
des Druckes der Demokraten innerhalb
der Grünen Partei. Er möchte die Unabhängigkeit der Grünen Partei von den
INPREKORR 396/397
USA
Demokraten beenden. Seine wesentliche Aussage ist: „Wählt die Grünen, solange Kerry eure Stimmen nicht benötigt. In diesen Fällen wählt Kerry.“
Cobb wird von einer ganzen Gruppe aus der Führung der Grünen Partei
unterstützt. Der Anfang war die Liste
der 17, die erklärte, dass die Taktik des
kleineren Übels bei den Wahlen richtig
wäre. Grüne Führer wie John Rensenbrink aus Maine oder Medea Benjamin
vom Global Exchange in San Francisco
sind allesamt für ein Bündnis mit der
Demokratischen Partei, was die Grünen in eine zahme Pressure-Group verwandelt, die lokale Kandidaten unterstützt und in Einzelfragen Druck auf
die Demokraten ausübt.
Das ist etwas völlig anderes, als die
ursprüngliche Vision der Grünen Partei, eine Kraft aufzubauen, die unabhängige politische Aktionen durchführt
und eine alternative Stimme und Plattform stärkt.
Cobb ist es gelungen, den Parteitag
mit seinen Leuten zu beschicken und
die Nominierung zu gewinnen. Ein
schönes Beispiel ist Maine, wo Cobb
fast Zweidrittel zu Eindrittel gegen Nader verloren hatte. Lorna Salzman, eine
langjährige Führerin der Grünen Partei
aus dem Staat New York, die in den
Vorwahlen antrat, aber beim Parteitag
zu Gunsten von Nader zurückzog, und
Nader erhielten doppelt so viele Stimmen wie Cobb. Aber als die Delegation
aus Maine auf dem Parteitag auftauchte, stimmte sie mit 95 Prozent für
Cobb. Die Cobb-Leute haben ihre Anhänger durchgebracht, indem sie vorgaben, sie wären für Nader oder Salzman.
ATC: Gibt es eine langfristige Strategie, um die Grüne Partei wieder mehr
demokratisch und unabhängig zu machen?
PC: Wir versuchen selbstverständlich
eine organisierte Strömung in der Grünen Partei aufzubauen, die für Demokratie und Unabhängigkeit eintritt, so
dass die Mitgliedschaft die Kontrolle
über die Grüne Partei erhält.
ATC: Wollen Sie eine Strömung um
die „Avocado Erklärung“ herum aufbauen?
PC: Die „Avocado-Erklärung“ ist ein
zusammenfassender Blick darauf, was
INPREKORR 396/397
das Zwei-Parteien-System ist. Die Menschen müssen nicht notwendigerweise
damit übereinstimmen, um sich für Demokratie innerhalb der Grünen Partei
und für deren Unabhängigkeit von der
Demokratischen Partei einzusetzen.
Das werden aber die zwei wesentlichen Fragen sein. Es müssen das Prinzip „Ein Mensch – eine Stimme“ gelten
und klare Regeln erarbeitet werden,
wie die Delegationen zusammengesetzt sein sollen. Ebenso benötigen wir
eine proportionale Repräsentation in
den Leitungsorganen, wenn es unter-
terviews für die US-Besetzung des
Iraks eintritt.
ATC: Meinen Sie, es wäre anders gelaufen, wenn Nader zum Parteitag gekommen und bereit wäre, eine Nominierung zu akzeptieren?
PC: Ich glaube in der Rückschau, dass
es durchaus Dinge gibt, die getan hätten werden sollen. Aber was Nader erkannte, war, dass ein Teil der Grünen
Partei davon abrückte, die Demokraten
und Republikaner wirklich herausfordern zu wollen.
Vize-Präsidentschaftskandidat
Peter Camejo
am Rednerpult
schiedliche politische Meinungen gibt,
so dass jede Strömung gemäß ihrer
Stärke vertreten ist.
ATC: Ich war erstaunt, dass es auf dem
Grünen-Parteitag keine Debatte mehr
gab.
PC: Der Parteitag wurde so organisiert,
dass es der Mitgliedschaft nicht möglich war, unterschiedliche Positionen
anzuhören. Es gab nur eine Debatte
und selbst in dieser einen hätte es keine
Einleitungen gegeben, wenn ich nicht
protestiert hätte.
Tatsache ist, dass der gesamte Parteitag so durchgeführt wurde, um die
Mitgliedschaft und die Delegierten daran zu hindern, zu erfahren, worin die
politischen Differenzen bestehen. Ihre
ganze Politik bestand darin, die Mitgliedschaft daran zu hindern, die unterschiedlichen Meinungen zu hören, weil
sie wussten, dass sich das absolut gegen sie richten würde.
Ich glaube, dass viele Leute, die für
David Cobb stimmten, sich nicht im
Klaren darüber waren, dass er Kerry
unterstützt und dass er sowohl auf seiner Website als auch in den Radio-In-
ATC: Gibt es die Gefahr einer Spaltung
der Grünen Partei?
PC: Die Grünen sind gespalten. Es gibt
eine kalte Spaltung zwischen dem Flügel Cobb/Demokratische Partei und
dem Flügel, der Unabhängigkeit und
Demokratie befürwortet. Ob dies zu einer heißen Spaltung führt? Das hängt
davon ab, was in den nächsten paar
Jahren passieren wird.
Es gibt die echte Gefahr einer Spaltung, und deshalb habe ich dem Parteitag vorgeschlagen, eine Einheits-Erklärung in Form einer doppelten Bestätigung abzugeben, die den Cobb-Leuten erlaubt, zu machen, was sie machen
wollen und den Nader-Leuten ebenfalls erlaubt, zu tun, was sie tun wollen.
Natürlich haben die Cobb-Leute dies
abgelehnt, weil ihr wirkliches Ziel
nicht ein Wahlkampf für ihn ist, sondern die Verhinderung von Nader auf
den Stimmzetteln in Kalifornien und
anderen Schlüsselstaaten. Sie sind absolut willens, die Grüne Partei zu spalten, wenn dies der Preis der Verhinderung von Nader ist.
Übersetzung. Thiess Gleiss
13
IV. INTERNATIONALE
Livio Maitan hat uns verlassen –
Ciao compagno!
Unser Genosse Livio Maitan, führendes Mitglied der IV. Internationale, ist am 16. September in Rom gestorben. Zu seiner Beerdigung am
19. September versammelte sich eine große Trauergemeinde. Es
wehten die roten Fahnen der Internationale und der partito di rifondazione (PRC).
Alain Krivine
Livio Maitan, 1923 in Venedig geboren, absolviert sein Studium mit einem
Diplom für klassische Literatur an der
Universität Padua und schließt sich zunächst dem sozialistischen Widerstand
unter der Besatzung an. Er wird sodann
gezwungen, in die Schweiz auszuwandern und lernt dort gegen Ende des
Krieges die Internierungslager kennen.
Bei der Befreiung wird er Organisator
der sozialistischen Jugend, bricht dann
aber 1947 mit der Sozialdemokratie
und wendet sich der IV. Internationale
zu. Von da an wird er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Strömung in Italien. Er wird es bis zu seinem Tod bleiben.
1948 gehört er schon zur Leitung
der „Demokratischen Volksfront“.
1951 wird er Mitglied der Leitung der
IV. Internationale und wird dort Weggenosse derjenigen, die es unter den
schwierigsten Bedingungen auf sich
genommen haben, den Kampf Trotzkis
und der linken Opposition fortzuführen: Michel Raptis (Pablo), Ernest
Mandel oder etwa Pierre Frank. Von
dieser Gruppe wird er der letzte Überlebende sein.
Von einer Leidenschaft für Lateinamerika erfasst wird er sich mit so unterschiedlichen Situationen befassen
müssen wie der dramatischen Beteiligung unserer GenossInnen am bewaffneten Kampf gegen die Diktatur in Argentinien oder etwa dem Aufbau der
Arbeiterpartei (PT) in Brasilien.
14
VOM ANTIFASCHISTISCHEN
WIDERSTAND ZUR „WIEDERGRÜNDUNG“ (RIFONDAZIONE)
Livio hat die wichtigsten Werke Trotzkis ins Italienische übersetzt und oft dazu auch das Vorwort geschrieben. Er
interessiert sich auch für die Entwicklung der chinesischen Revolution, zu
der er Artikel und Bücher schreibt. Es
ist eine schwere Zeit, in der es gegen
den Strom standzuhalten gilt, und zwar
sowohl gegen den Druck aus dem bürgerlichen Lager, das die Trotzkisten als
„Ultra-Revolutionäre“ bezeichnet, als
auch gegen die Angriffe der Stalinisten, die unsere Strömung als „HitlerTrotzkisten“ titulieren. Aus dieser langen Zeit des Kampfes hinterlässt uns
Livio eine ganze Reihe von Werken:
Attualità di Gramsci e politica comunista (1955), Teoria e politica comunista nel dopoguerra (1959), Trotzki
oggi (1959), Il Movimento operaio in
una fase critica (1966), PCI 1945-1969
(1969), Partito esercito e masse nelle
crisi cinese (1969), Dinamica delle
classe sociali en Italia (1976), Crisi del
marxismo versione anni 70 (1080), Destino di Trotsky (1981), Il marxismo rivoluzionario di Antonio Gramsci
(1987), Al termine di une lunga marcia,
dal PCI al PDS (1990), Anticapitalismo e comunismo: potenzialità e antimoni di une rifondazione (1992), Il Dilemma cinese (1994), Dall’Urss alla
Russia (1996), Tempeste nell’economia mondiale (1998), La Cina di Ti-
enanmen (1999), La Strada percorsa,
dalla Resistenza all’ nuovi movimenti:
lettura critica e scelte alternative
(2002). Als sein Herz aufhört zu schlagen, ist er übrigens gerade dabei, ein
Buch über die Geschichte der IV. Internationale abzuschließen.
Mit Livios Tod wird eine Seite umgeschlagen, aber eine weitere wird –
auch dank ihm – gerade geschrieben,
die der Öffnung. Seit den 1990ern haben Livio und andere Führer der Internationale die Erscheinungen der Zersetzung und der Neuzusammensetzung
der revolutionären ArbeiterInnenbewegung verstanden. Er wusste, dass dies
nicht ausschließlich von der IV. Internationale zu bewältigen ist und dass es
darauf ankam, eine neue Ausarbeitung
des Programms und eine antikapitalistische Kraft zu befördern, im Bruch sowohl mit den sozialdemokratischen
Kapitulationen wie auch mit dem Verrat der Stalinisten. Schon hat sich die
Perspektive herausgeschält, einen Beitrag zur Umgruppierung antikapitalistischer Kräfte, gleich welcher Tradition
oder Herkunft, zu leisten. Diese Vorgehensweise, die heute von der IV. Internationale umgesetzt wird, ist angesichts der Erklärung des totalen Kriegs
durch Bush gegen die Völker und angesichts der beispiellosen Offensive des
Kapitals gegen die Errungenschaften
der ArbeiterInnenbewegung dringlicher denn je.
ÖFFNUNG UND
MENSCHLICHKEIT
In diesem Rahmen treten Livio und seine GenossInnen – organisiert um die
Zeitung Bandiera rossa – der linksradikalen Organisation Democrazia proletaria bei, die später an der Gründung
INPREKORR 396/397
IV. INTERNATIONALE
der PRC beteiligt sein wird, zusammen
mit Zehntausenden von GenossInnen
der PCI, die den Sozialdemokratisierungskurs ihrer Partei nicht mitmachen
wollen. Ab 1991 wird Livio bei jedem
Kongress in die Führung der Partei gewählt. Schon bei der Gründung dieser
Partei hatten die italienischen GenossInnen der IV. Internationale mit Zustimmung der PRC-Leitung entschieden, sich am Aufbau dieser Organisation zu beteiligen. Sie machen die Positionen der Internationale mit Publikationen wie Bandiera rossa oder wie
künftig mit dem breiteren Organ ERRE
bekannt. Einige unserer GenossInnen
nehmen verantwortliche Positionen für
die Partei im Senat, in den Regionalgliederungen oder in der Leitung der
Tageszeitung Liberazione ein. Die Anwesenheit von Fausto Bertinotti [des
Generalsekretärs der PRC, d. Red.] und
zahlreicher GenossInnen und Leitungsmitglieder der PRC bei der Trauerfeier
für Livio belegt diese Integration.
Kontinuität, Öffnung: Livio ist
auch ein Genosse mit einer großen
Menschlichkeit, in krassem Gegensatz
zu der Karikatur, die so manche von
den „alten Trotzkisten“ zeichnen. Ihm
ist der Dogmatismus von jeher ein
Graus und er schlägt sich gegen alle
sektiererischen Abweichungen, die es
leider in der Bewegung gibt. Er meidet
den Flitter und die Medien und legt eine Einfachheit an den Tag, die die jungen GenossInnen überrascht. Als ich in
noch jungen Jahren in die Leitung der
Internationale kam und von der Erfahrung aller langjährigen Leitungsmitglieder beeindruckt war, kommt der
Kontakt zu Livio am leichtesten von allen zustande. Er liebt es zu diskutieren
und stundenlang zuzuhören, um die
GenossInnen, ihr Leben, ihre Probleme
kennen zu lernen. Er hat auch eine große Fähigkeit, sich nicht von Tagesereignissen blenden zu lassen, und er bewahrt sich immer ein gesundes Maß an
Humor.
Livio bewahrt bis zum Schluss drei
Leidenschaften: die Revolution, das
Leben und den Fußball. Gelegentlich
INPREKORR 396/397
Livio Maitan
(1923–2004)
bedeutet ihm sogar der letztere mehr
als eine Sitzung oder Zusammenkunft,
die nicht immer gerade begeisternd ist.
Mit 70 noch betreibt er in Paris diesen
Sport mit einer Amateurmannschaft
von GenossInnen der LCR [franz. Sektion der IV. Internationale, d. Red.].
Seit einigen Jahren nun ging es mit
seiner Gesundheit bergab und er musste in Rom bleiben und sich telefonisch
über die aktuellen Entwicklungen in
unserer Bewegung auf dem Laufenden
halten lassen, im besonderen was die
LCR anging, die er mit viel Aufmerksamkeit verfolgte.
Sein Ableben hat in der gesamten
internationalen Bewegung tiefe Anteilnahme hervorgerufen, wie die Dutzenden von Botschaften bezeugen, die von
allen Kontinenten kamen und 3 Tage
lang in der Tageszeitung Liberazioneabgedruckt wurden.
Für uns ist jetzt ein Loch entstanden. Es ist vorbei mit seinen scharfen
Einwürfen und seinen Scherzen, seinen
Analysen und seinen auf den Punkt gebrachten Redebeiträgen, in denen man
immer das Gefühl hatte, etwas zu lernen. Vorbei auch diese wilden Begegnungen, bei denen er uns zwischen
zwei Gläsern die Umschwünge der italienischen Politik vermittelte. Ciao Livio, wir werden weitermachen.
Alain Krivine ist Leitungsmitglied der Ligue
communiste révolutionnaire (LCR),
französische Sektion der IV. Internationale.
Übersetzung aus dem Französischen:
D. B.
15
IV. INTERNATIONALE
Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen
Jakob Moneta
1.
Blazowa liegt zwischen Krakau und
Lemberg; westlich des Flusses San, der
die Polen von den Ukrainern trennt. In
Ostgalizien heißen sie Ruthenen. Als ich
vier Jahre alt wurde, am 11. November
1918, ist die Republik Polen gegründet
worden. Josef Pilsudski ließ sich zum
provisorischen Staatsoberhaupt ausrufen. Er war einmal Mitbegründer und
Führer der polnischen Sozialistischen
Partei gewesen. In Vilna gehörte er eine
Zeitlang der gleichen illegalen Gruppe
an wie Leo Jogiches, Kampfgenosse
von Rosa Luxemburg, der wie sie von
der deutschen Konterrevolution ermordet wurde. 1926 kam Marschall Pilsudski durch einen Staatsstreich zur
Macht und errichtete ein autoritäres Regime. Die Wiedervereinigung von Galizien, das unter österreichischer Verwaltung, und von Kongress-Polen, das unter russischer Verwaltung stand, und
von Preußisch-Polen, die Befreiung ihres Landes unter Pilsudski, feierten die
Polen in meiner Geburtsstadt Blazowa –
und nicht nur dort – mit einem Judenpogrom.
Dicht zusammengedrängt saßen Juden in einem Zimmer, Männer, Frauen
und Kinder. Die Fenster hatten sie mit
Matratzen verstellt, damit kein Licht
nach außen drang. Bewaffnete drangen
in den Raum, schleppten einzelne hinaus, verprügelten sie, tasteten sie roh
nach Geld ab. Meine Mutter wurde hinausgezerrt. Mein Vater wollte ihr helfen. Er erhielt einen Kolbenschlag, der
ihm das Trommelfell zerschlug. Ich sah,
wie meine Mutter sich an den Türpfosten klammerte, hörte ihren Hilferuf:
„Gewalt!“. Der Bewaffnete, der sie mit
Füßen trat, war ein polnischer Schulkamerad von ihr.
Der von polnischen Nationalisten
genährte Judenhass konnte sich nicht
überall an Wehrlosen entladen. Dort, wo
der „Bund“, die stärkste organisierte
Kraft im jüdischen Proletariat seine bewaffneten Kampftruppen gebildet hatte,
holten sich die Pogromisten meist blutige Köpfe. Gegenwehr leisteten nicht nur
16
Juden, sondern auch klassenbewusste
Arbeiter jeder Nationalität. Für sie war
der Antisemitismus eine gefährliche
Propagandawaffe des Klassenfeindes.
Man musste ihn bekämpfen. Mit allen
Mitteln.
Meinen Vater nannte man in Blazowa den „Deutschen“. Er war von Frankfurt am Main gekommen und hatte in
dem kleinen galizischen Textilstädtchen
seine Frau gefunden. Nach dem Pogrom
erstattete er Anzeige gegen die Rädelsführer. Sie drohten ihm Rache an. Daraufhin kehrte er nach Deutschland zurück. So kam ich 1919 nach Köln. Mit
fünf Jahren wurde ich eingeschult.
Schon mit drei Jahren hatte man mir im
„Cheder“, einer Art Religionsschule,
das hebräische Alphabet beigebracht. In
Köln ging ich vormittags zur Schule und
nachmittags ins „Cheder“, wo die Bibel
in hebräisch und später der Talmud in
aramäisch gelehrt wurde. Die Lehrer
waren meist verkrachte Händler. Einer
hatte stets eine lange Hundepeitsche,
mit der er jeden erwischte, der unbotmäßig war oder falsche Antworten gab.
Wenn wir aus dem Cheder herauskamen, stand uns dann meist der eigentliche Kampf bevor. Draußen wurden wir
bereits von einer jungen Bande erwartet,
die sich mit HEP-HEP-Geschrei auf die
Judenjungen stürzte. Wir mussten lernen, entweder schneller zu laufen als sie
oder aber uns zu wehren. Aus dem Milieu der Cheder-Schüler gingen eine Reihe bekannter Amateurboxer hervor. Die
Selbstverteidigung hatte zu ihrer sportlichen Ausbildung beigetragen.
HEP ist eine Abkürzung für „Hierosilima est perdita“ – Jerusalem ist verloren. Ich begann von diesem verlorenen
Jerusalem zu träumen. Eine jüdische
Legende sagt, dass immer um Mitternacht ein Schakal über den verwüsteten
Platz in Jerusalem läuft, auf dem die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt den
Tempel zerstörten. Wenn es gelingt,
diesen Schakal zu fangen, dann ersteht
das alte jüdische Reich in seiner ganzen
Herrlichkeit wieder auf. Was lag näher
als dass ich, fast 1900 Jahre nach der
Tempelzerstörung, diesen Schakal fangen würde. Die praktische Vorbereitung
begann ich mit meinem Eintritt in eine
zionistische Jugendgruppe.
Aber noch lebten auch die Zionisten
nicht in Palästina. Die deutsche Arbeiterbewegung, damals die mächtigste der
kapitalistischen Welt, zog auch die zionistische jüdische Jugend in ihren Bann.
Neun Millionen Stimmen hatte die
fast eine Million Mitglieder starke SPD
in den Reichstagswahlen 1924 erhalten
und zog mit 152 Abgeordneten ins Parlament ein. Die KPD eroberte 54 Sitze,
die NSDAP – die Nazis – nur 12. In
Preußen hatten die Sozialdemokraten
mit 229 von 450 Sitzen die absolute
Mehrheit errungen. Der Allgemeine
Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB)
hatte 4,7 Millionen Mitglieder, der Arbeiter-Turn- und Sportbund 770 000,
der Arbeiter-Radfahrbund „Solidarität“
220 000. Es gab einen Arbeiter-Athletenbund, einen Schachbund, Samariterbund und sogar einen Schützenbund.
Die Arbeiterbewegung schuf eine Gegengesellschaft im kapitalistischen
Staat.
Als der Sozialdemokrat Hermann
Müller die neue Reichsregierung bildete, erklärte sein Innenminister Karl Severing, die neue Regierung habe die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen. Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung. In
den Ferien würde man vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik
leisten.
Der Abglanz von all dem fiel auch
auf uns, die lernende, die lesende, die arbeitende jüdische Jugend. Wir wurden
meist Sozialisten. Nicht immer durch
Karl Marx, obwohl uns die wuchtige
Sprache des Kommunistischen Manifestes mitriß. Leonhard Franks Der
Mensch ist gut weckte unseren Haß gegen den Krieg. Hitler ließ ihn dieses Buches wegen ausbürgern. Upton Sinclairs
Der Sumpf schärfte unser soziales Gewissen. Sein Boston, wo er den JustizINPREKORR 396/397
IV. INTERNATIONALE
mord an Sacco und Vanzetti schildert,
und Henri Barbusses Tatsachen wühlten
uns auf gegen die Klassenjustiz.
Im Jahre 1929 setzte die hereinbrechende Wirtschaftskrise der „praktischen Arbeit zum Aufbau der Republik“
durch die Sozialdemokraten ein rasches
Ende. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte zwei Millionen, ein Jahr später
drei Millionen. Bis 1933 sollte sie auf
sechs Millionen steigen. Dazu kamen
Millionen Kurzarbeiter. Die Landwirte
erzielten für ihre Produkte in der Krise
geringere Preise. Das Handwerk und die
freien Berufe gerieten in den Strudel der
Krise. Bestechungsskandale erschütterten zudem die politische Glaubwürdigkeit der SPD. In den Reichstagswahlen
vom September 1930 verloren die Sozialdemokraten dennoch nur eine halbe
Million Stimmen; die Stimmenzahl der
KPD stieg sogar von 3 1/4 auf 4 1/2 Millionen. Entscheidend aber war, dass die
Nazis von 800 000 auf 6,5 Millionen anstiegen und 107 Mandate eroberten.
Von vier Millionen Neuwählern waren
drei Millionen zu Hitler gegangen, 2 1/2
Millionen hatte er von anderen Rechtsparteien gewonnen.
Die wachsende politische Unruhe in
der SPD wurde mit Disziplinierungsmaßnahmen und Ausschlüssen beantwortet. Im Oktober 1931 gründeten die
ausgeschlossenen Reichstags-Abgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld die Sozialistische Arbeiterpartei
(SAP). Ihre Jugendorganisation, der
„Sozialistische Jugendverband“ (SJV),
zog einen großen Teil der sozialdemokratischen Jugend herüber. Ich trat zusammen mit anderen Mitgliedern der zionistisch-sozialistischen Jugend in den
SJV ein und setzte so meinen Fuß auf
die Straße, die mich zum Internationalismus führte.
Zum ersten Mal kam ich in Verbindung mit jungen, idealistischen, kampfentschlossenen, revolutionären deutschen Jugendlichen. Dies genau in dem
Augenblick, wo der Sieg der Nazis die
deutsche Bourgeoisie vor dem Sozialismus retten sollte.
Auf den Straßen Kölns kam es fast
täglich zu blutigen Zusammenstößen.
Von Motorrädern aus schossen Nazis in
eine Gruppe diskutierender Arbeiter.
Saalschlachten wurden ausgetragen. In
der Elsässerstraße, einer roten Hochburg von Köln, warfen Frauen ihre
Mistkübel aus den Fenstern auf Nazidemonstranten. Auf dem Weg vom GymINPREKORR 396/397
nasium nach Hause geriet ich stets in
diskutierende Gruppen von Arbeitern.
Ich erinnere mich an die feurige Rede
eines neugebackenen Nazi, der seine
Zuhörer davon überzeugen wollte, dass
Kriege nötig sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Die Antwort, einfach und klar, erhielt er in reinstem Kölsch: „Dann häng
stärksten Festung der Sozialdemokratie:
„In allen deutschen Städten standen Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat“
(Hammer oder Amboß, Nürnberg 1948,
S.206). Henning Duderstadt sagt noch
bestimmter: „Wir fieberten, wir warteten auf das Signal zum Kampf! General-
Auf den Straßen
Kölns kam es fast
täglich zu blutigen
Zusammenstößen
dich doch op. Dann is doch als ein winniger do.“ (Dann häng dich doch auf,
dann ist doch bereits einer weniger da.)
Am 20. Juli 1932 setzte die Reichsregierung von Papen per Notverordnung
die sozialdemokratische preußische Regierung ab. Sie begründete das mit der
Notwendigkeit, selbst für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen zu müssen,
weil die Sozialdemokraten die von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen in Preußen nicht im notwendigen
Umfange bekämpften.
Dieser kalte Staatsstreich der
Reichsregierung brach der Republik das
Rückgrat. Er verlief „programmäßig
und ohne Zwischenfälle“. So von Papen
in: Der Wahrheit eine Gasse (München
1952, S.218). Um 10 Uhr morgens, am
20. Juli 1932, hatte der sozialdemokratische preußische Innenminister Karl Severing noch erklärt, er werde „nur der
Gewalt weichen“. Um 20 Uhr abends
erschien die Gewalt in Gestalt eines Polizeipräsidenten nebst zwei Polizeioffizieren, und er wich. Später sagte er, er
habe Blutvergießen vermeiden wollen.
Hätte er es doch damals nicht vermieden! Dann wären uns Millionen in
Zuchthäusern und Konzentrationslagern, Gefolterte, Erschlagene, Vergaste,
im Zweiten Weltkrieg Gefallene vielleicht doch noch erspart geblieben.
Evelyn Anderson jedenfalls schreibt
über die ruhmlose Kapitulation der
streik! Jeder bewaffnet sich, wo er kann.
Sieg oder Tod!“ (Vom Reichsbanner
zum Hakenkreuz. Wie es kommen musste. Ein Bekenntnis, Stuttgart 1933, S. 31
f.).
Der „Befehl zur Tat“, das „Signal
zum Kampf“, sie blieben aus.
Die Stationen der schrittweisen Kapitulation vor den Nazis bis zur tiefsten
Erniedrigung in den Schreiben des Führers des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor
Leipart, vom 21. und 29. März 1933 an
den Führer des Deutschen Reiches
Adolf Hitler waren schändlich. Im Namen des Bundesvorstandes erklärte Leipart, der ADGB müsse seine sozialen
Aufgaben erfüllen, „gleichviel welcher
Art das Staatsregime ist“. Im Reichstag
stimmten am 17. Mai 1933 die sozialdemokratischen Abgeordneten Hitlers
„Friedensresolution“ zu, weil – wie sie
sagten – dies eine Bejahung einer friedlichen deutschen Außenpolitik und
nicht ein Vertrauensvotum für Hitler sei.
In Wirklichkeit hofften sie, durch ihren
offenen Verrat an der sozialistischen
Idee, ihre Organisation zu retten und
gnädigst in die „deutsche Volksgemeinschaft“ aufgenommen zu werden. All
das grub sich tief in die Herzen und
Köpfe derer ein, die mit Gefängnis,
Zuchthaus, Konzentrationslager oder
Emigration bezahlen mussten, dass ihre
17
IV. INTERNATIONALE
Führer der Gewalt der Mächtigen
kampflos gewichen waren.
Erst als ich den Fackelzug der bewaffneten SA durch die kommunistische Hochburg Kölns, die Thieboldsgasse, marschieren sah, vorbei an den
hasserfüllten, stummen, durch ihre Führung wehrlos gemachten Proletariern
und ihren vor ohnmächtiger Wut weinenden Frauen, wusste ich: es ist vorbei.
Wir wurden geschlagen, ohne auch nur
einen Versuch zur Gegenwehr. Wir
wurden ausgeliefert.
Allen, die hinterher den „Massen“
die Schuld für ihr eigenes Versagen aufbürden wollten, muss man in Erinnerung rufen: In den letzten einigermaßen
freien Betriebsratswahlen, die von den
Nazis im April 1933 durchgeführt wurden, weil die Nazis selbst daran glaubten, sie hätten in den Betrieben an Boden gewonnen, erhielten die Freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Mandate
und die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 11,7 Prozent. Die Basis zum Widerstand war da.
Aber die Führung war desertiert.
2.
Sieben Monate nach meinem Abitur, am
2. November 1933, kam ich in Palästina
im Hafen von Haifa an. Es war der Jahrestag der 1917 vom britischen Außenminister Balfour abgegebenen Erklärung, die den Juden im arabischen Palästina eine „nationale Heimstätte“ zusicherte. Die Araber streikten an diesem
Tag. Sie protestierten gegen die Balfour-Deklaration. Wir wurden nach Jaffa verfrachtet, wo ich mit einem halben
englischen Pfund in der Tasche landete.
Mein Ziel war ein Kibbuz.
Würde man mich fragen, woher meine unverrückbare Zuversicht stammt,
dass Menschen Habsucht, Jagd nach
Geld, Konkurrenzneid, Selbstsucht, Unterwürfigkeit – jene ihnen zum großen
Teil vom Kapitalismus mühsam anerzogenen „menschlichen“ Eigenschaften –
ablegen können; würde man mich fragen, wo die tiefste Wurzel meines Glaubens daran liegt, dass Menschen ohne
jeden äußeren Zwang als Gleiche und
Freie im Kollektiv ihr Leben selbst gestalten können, ich würde antworten:
Das hat mir meine Erfahrung in der Praxis des damaligen Kibbuz bewiesen.
Isaac Deutscher schreibt in seinen
Essais sur je problème juif (Payot 1969,
S.126 f.), ihm sei in einem Kibbuz,
18
„dessen Mitglieder allen Grund haben,
stolz zu sein auf ihre (gesellschaftliche)
Moral und die sich dessen sehr wohl bewusst sind“, folgendes passiert: Der diplomatische Vertreter der Sowjetunion
besuchte mit seinem Stab Kibbuzim, um
sie mit den Kolchosen vergleichen zu
können. Nachdem er die moderne Molkerei, die Schule, die Bibliothek und
vieles andere gesehen hatte, erkundigte
er sich nach dem Gefängnis. „Das gibt
es hier nicht“, erhielt er zur Antwort.
„Das ist unmöglich“, stieß der Diplomat
hervor. „Was zum Teufel fangt Ihr mit
Euren Verbrechern oder Missetätern
an?“ Man bemühte sich vergeblich, ihm
zu erklären, dass es noch kein so schweres Verbrechen gegeben habe, das eine
Gefängnisstrafe gerechtfertigt hätte.
Schließlich wähle man die Mitglieder
des Kibbuz sorgfältig aus. Es seien
Menschen mit einer hohen sozialistischen Moral. Man könne Mitglieder, deren Verhalten nicht gebilligt wird, auch
ausschließen. Dem sowjetischen Diplomaten wollte es jedoch nicht in den
Kopf hinein, dass eine Gemeinschaft
von hunderten Menschen ohne Gefangene auskommen kann. Er glaubte, man
wolle ihm „potemkinsche Dörfer“ vorführen.
Aber welcher Anhänger unserer „sozialen Marktwirtschaft“ würde glauben,
dass der „Leistungswillen“ in den Kibbuzim, in denen heute mehr als 100 000
Menschen leben, durch die egalitäre Befriedigung der Lebensbedürfnisse, ohne
jegliche Geldentlohnung für die Arbeit,
nicht beeinträchtigt wird? Wer von ihnen würde glauben, dass ein Genosse
aus dem Kibbuz Parlamentsabgeordneter oder Diplomat sein kann und zu Hause als Traktorist oder Helfer in der Küche arbeitet, wenn er hierzu eingeteilt
wird? Wer von ihnen würde begreifen,
dass eine selbstverwaltete Gesellschaft
ohne Vorgesetzte, ohne Polizei, mit frei
gewählten, jederzeit absetzbaren Ausschüssen unter schwierigsten Bedingungen eine gewaltige Aufbauleistung vollbringen kann, wie die Kibbuzniks es taten?
Wer würde glauben, dass die Gemeinschaftserziehung der Kinder – sie
sind nur wenige Stunden am Tag mit
den Eltern zusammen – dazu führt, dass
„die Kinder Kameraden sind, nicht
Konkurrenten“, dass „die Hilfsbereitschaft bei diesen Kindern viel stärker
ausgeprägt ist als das Streben nach Herrschaft. Da keine Eltern da sind, um de-
ren Gunst man (im Kinderhaus) buhlen
könnte, und da das Wetteifern allgemein
nicht geschätzt wird, verhalten sich die
Kinder wie Geschwister; die Starken
üben einen gewissen Einfluss aus, aber
sie wenden ihn auch im Interesse der
Gruppe an“ (Bruno Bettelheim, Die
Kinder der Zukunft, dtv 888, S.90).
Ich habe die Geburtswehen, die gesellschaftlichen Experimente, die großartigen Versuche zur Herstellung neuartiger Beziehungen zwischen Mann und
Frau, zur Eingliederung von Alten und
körperlich Behinderten, das Leben in
Zelten, durch die nachts Schakale liefen,
wie die Legende es vom Tempelplatz
erzählte, das Leben in Baracken, Malariaanfälle, die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Orangenplantagen, in denen wir Lohnarbeiter waren,
ehe der Kibbuz Siedlungsland erhielt,
fünfeinhalb Jahre lang nicht etwa nur
„ertragen“. Mir war bewusst, an einem
großen Abenteuer mitzuwirken, das einmal zur Schaffung des sozialistischen
Menschen führen wird.
Viele Jahre später ging ich mit der
siebenjährigen Nurith aus dem Kibbuz
Dalia durch die Altstadt von Jerusalem.
Sie sah zum ersten Mal Bettler. Ich versuchte zu erklären, was das ist, gab ihr
ein paar Münzen, damit sie eine gute Tat
vollbringen konnte. Sie legte in die erste, in die zweite, in die dritte Hand, die
sich ihr entgegenstreckte, eine Münze,
dann trat sie entschlossen auf einen
Bettler zu, gab ihm das ganze Geld und
sagte: „Da, nimm das und teil es mit deinen Genossen!“ In diesem Augenblick
wusste ich, dass die gesellschaftliche
Erziehung des neuen Menschen in Kibuzzim, in Kommunen, den neuen Menschen hervorbringen wird.
Ich trat aus dem Kibbuz nicht aus.
Ich wurde ausgeschlossen. 1936 war ein
arabischer Aufstand ausgebrochen. Wir
zogen Stacheldraht um den Teil, der als
Wohnfläche diente, schafften einen
Scheinwerfer an, der nachts über das
Lager kreiste, bauten aus Holz und Steinen Schanzen mit Schießscharten. Noch
kurze Zeit zuvor hatte der als Nachtwächter eingeteilte Genosse zu unser aller Schutz nur einen Knüppel erhalten.
Das war die einzige Waffe, die wir hatten. Sie war der Grundstock zu der heute
so mächtigen israelischen Armee. Jetzt
wurden illegale, geheime Waffenarsenale unter den Zeltstangen gut versteckt
eingebaut. Sie waren leicht erreichbar.
Fortsetzung Seite 31
INPREKORR 396/397
die
internationale
die
internationale
5
2004
Gegen die Barbarei – Kampf an allen Fronten
Zu den Anfängen des „Trotzkismus“ in Deutschland
(1930-1945)
Wolfgang Alles
Das Drama der deutschen ArbeiterInnenbewegung im 20.
Jahrhundert ist von zwei Eckdaten bestimmt – dem Scheitern der Novemberrevolution
1918 und der Machtübergabe
an die Nazis 1933.
Die blutige Unterdrückung
des sozialen Aufstands der radikalen Teile der ArbeiterInnenklasse 1918/1919 war
das gemeinsame Werk von
Mehrheits-SPD um Ebert-Noske und Freikorps. Sie bereitete, wie Sebastian Haffner zu
Recht schrieb, das faschistische Deutschland vor.
Eine zentrale Zwischenetappe auf dem Weg in den Abgrund war der verpasste Oktoberaufstand 1923. Er bedeutete nicht nur eine weitere Niederlage der stärksten ArbeiterInnenbewegung der damaligen kapitalistischen Welt, sondern öffnete gleichzeitig dem
Stalinismus in der Sowjetunion das Tor. Dies waren wesentliche Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung der KPD, aus deren Reihen später eine linksoppositionelle, „trotzkistische“ Strömung entstehen sollte.
Einige Tage nach Hitlers
Ernennung zum Reichskanzler
am 30. Januar 1933 lieferte
Leo Sedow von Berlin aus seinem Vater und Genossen Leo
Trotzki eine ernüchternde Beschreibung der Lage: „Was
wir durchleben ähnelt einer
Auslieferung der Arbeiterklasse an den Faschismus … An
der Spitze Unentschlossenheit, niemand weiß, was er tun
soll; an der Basis kein Vertrauen in unsere eigenen Kräf-
INPREKORR 396/397
te … Wenn jetzt nicht eine
entschlossene Aktion geschieht …, ist eine schreckliche Niederlage unvermeidlich. Diese Aktion … ist …
meiner Meinung nach nicht
mehr sehr wahrscheinlich.“
(Leo Sedow, 05.02.1933, zit.
nach Pierre Broué, Trotzki,
Köln o. J. [2003], S. 880.)
ZUR VORGESCHICHTE
DES DEUTSCHEN
„TROTZKISMUS“
Im Unterschied zu Frankreich
existierte hierzulande relativ
lange Zeit keine Gruppierung
innerhalb der KPD, die mit der
antibürokratischen russischen
Linken Opposition um Trotzki
sympathisierte. Dies resultierte vor allem aus der Tatsache,
dass die „Oktoberniederlage“
1923 sogleich zu einem bedeutenden Thema des heftigen
Fraktionskampfes in der russischen Kommunistischen Partei geworden war.
Die „literarische Debatte“
zwischen Trotzki und dem
Triumvirat um Kamenew, Sinowjew und Stalin im Herbst
1924 war nicht nur die Geburtsstunde einer langlebigen
und immer bedrohlichere Züge annehmenden Kampagne
gegen den sogenannten Trotzkismus. Gleichzeitig stellte sie
mit der Verkündung von Stalins Dogma des „Sozialismus
in einem Lande“ als Gegenstück zur Theorie der permanenten Revolution ein wesentliches ideologisches Fundament für den Stalinismus bereit.
Die Moskauer Propaganda-Offensive gegen den angeblich „rechten Führer“
Trotzki kam der damaligen
KPD-Linken um Ruth Fischer
und Arkadij Maslow sehr gelegen. Sie nutzten sie für ihre
eigenen fraktionellen Angriffe
gegen die Berliner Partei-Zentrale um Heinrich Brandler.
Erst nach der Vereinigung
von Sinowjews Neuer Opposition mit der Linken Opposition um Trotzki begann sich
auch in Deutschland das Verhältnis zum „Trotzkismus“ zu
ändern. Dies galt sowohl für
die mittlerweile von Moskau
ausgeschaltete Fraktion um
Fischer-Maslow als auch für
die „ultralinke“ Weddinger
Opposition. Allerdings wirkte
das vergiftete Erbe der scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen der KPD auf
politischer und persönlicher
Ebene im linksoppositionellen
Spektrum noch lange nach.
Dies war nicht zuletzt ein Ergebnis der vom sowjetischen
Geheimdienst seit Mitte der
20er Jahre begonnenen Zersetzungsarbeit gegenüber linksoppositionellen KommunistInnen. Die deutsche Geheimpolizei konnte diese Aktivitäten übrigens detailliert überwachen. (Vgl. hierzu Günter
Wernicke, Operativer Vorgang [OV] „Abschaum“; in:
Andreas G. Graf [Hg.], Anarchisten gegen Hitler, Berlin
2001, S. 284 f.)
SCHWIERIGE ANFÄNGE
Trotzki stellte sich gleich nach
seiner Ausweisung aus der Sowjetunion im Februar 1929
der Aufgabe, die heterogenen
Kräfte der internationalen
linksoppositionellen Gruppen
zu bündeln. Damals setzte er
sich noch dafür ein, eine weltweit handelnde Fraktion der
bereits stalinisierten Kommunistischen Internationale (Komintern) aufzubauen. Ziel war
die Reform und politische
Wiederbelebung der Komintern auf Grundlage der revolutionären Tradition des Oktobers, die damals „Bolschewismus-Leninismus“
genannt
wurde.
Trotzkis mit strenger Beharrlichkeit verfolgte damalige Linie lässt sich wie folgt
skizzieren: Die internationale
linke Opposition wird nur
dann als Fraktion der Komintern erfolgreich sein können,
wenn sie einerseits in prinzipieller Weise die theoretischen
Grundlagen ihrer politischen
Praxis klärt und sich andererseits strikt von anderen kommunistischen Strömungen abgrenzt.
Eine wesentliche Stellung
in Trotzkis politischer Konzeption nahm seine Analyse
der Sowjetunion als bürokratisch deformierter Arbeiterstaat ein. Durch die politische
und organisatorische Reform
vor allem der KPdSU, aber
auch der Gewerkschaften und
des Sowjetsystems könne die
ArbeiterInnenklasse von der
Herrschaft der „zentristischen“, das heißt stalinistischen Bürokratie befreit werden.
Die bedeutendste linkskommunistische Organisation
in Deutschland war der im
April 1928 gegründete Leninbund. Er stand in einem scharfen Konkurrenzverhältnis zur
Weddinger Opposition, die
seit 1927 ebenfalls direkte
Kontakte zur russischen Linksopposition geknüpft hatte.
19
die
internationale
Im Sommer 1929 bereitete
ein offener Streit zwischen der
Mehrheit der Organisation um
Hugo Urbahns und einer Minderheit um Anton Grylewicz
die Spaltung des Leninbundes
vor. Bereits im Februar 1930
wurde die Minderheit ausgeschlossen. Bei diesem Disput
ging es im Kern um die Frage:
Reform der KPD oder Schaf-
Seit 1930 können wir von
der organisierten Existenz eines deutschen „Trotzkismus“
sprechen. Allerdings zeigte
sich, dass die rund 200 Mitglieder zählende VLO keineswegs eine einheitliche, geschweige denn eine wirklich
handlungsfähige Organisation
war. Die Vereinigung der Leninbund-Minderheit um An-
Trotzki setzte sich 1929 für eine Fraktion in der stalinistischen
Komintern ein
fung einer neuen Kommunistischen Partei?
Fraktionelle Streitigkeiten,
persönliche Feindseligkeiten
und nicht zuletzt die von der
GPU gesteuerte Zersetzungsarbeit stalinistischer Agenten
wie Roman Well (d.i. Ruvin
Sobolevicius), dessen Bruder
Adolf Senin (d.i. Abraham Sobolevicius) oder Jakob Frank
verzögerten die Gründung einer neuen Organisation.
DIE VEREINIGTE LINKE
OPPOSITION
Schließlich konnte am 30.
März 1930 die Vereinigte Linke Opposition der K.P.D.
(Bolschewiki-Leninisten)
(VLO) nur unter großen
Schwierigkeiten
gegründet
werden. Mitglied der neu gewählten Reichsleitung (RL)
der VLO war auch der eben erwähnte Provokateur und Spitzel Roman Well. Als Zentralorgan veröffentlichte die VLO
die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung Der Kommunist.
20
ton Grylewicz und der Weddinger Opposition um Kurt
Landau war nicht auf der
Grundlage einer ernsthaft diskutierten politischen Plattform
vollzogen worden, sondern lediglich auf der formalen Basis
der Parität.
Hinzu kam das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch
und Wirklichkeit. Die Bürokratisierung der Kommunistischen Partei ließ nur sehr bescheidenen Spielraum für die
von der VLO angestrebte „Eroberung der Partei für die Lehren des Marxismus-Leninismus“.
In den Organisationsrichtlinien des ZK der KPD hieß
es: „Jedes trotzkistischer
Ideen verdächtige Parteimitglied ist ohne Verfahren unverzüglich auszuschließen.“
Die zeitgenössische linksoppositionelle Presse berichtete
über 53 Ausschlüsse von Mitgliedern der Linken Opposition in den Jahren 1930 bis
1933.
Am 6. April 1930 wurde in
Paris die Internationale Linken Opposition (ILO) als
„Fraktion der Komintern“ ge-
gründeten. Die VLO konnte
als deutsche Sektion der ILO
anfangs nur begrenzte organisatorische und politische Hilfe
erwarten – wenn wir von der
außerordentlichen Unterstützung Trotzkis einmal absehen.
Die internationale Koordination der meist schwachen und
oft in sich zerstrittenen Oppositionsgruppen wirkte sich für
die deutsche VLO erst später
positiv aus.
Bereits im Juni 1930 verschärfte sich ein Disput in der
VLO, der mehrere Monate
lang die Kräfte der Organisation beanspruchte. Kern der
Auseinandersetzungen war ein
schwer zu durchschauendes
Knäuel von Meinungsverschiedenheiten, Intrigen und
Provokationen. Das jahrelang
kultivierte Zirkelwesen der
linksoppositionellen Gruppen
bot dafür einen fruchtbaren
Nährboden.
KONFLIKT MIT LANDAU
Die zentrale Streitfrage über
das aktuelle Ausmaß der Bedrohung der ArbeiterInnenbewegung durch den Faschismus
wurde erbittert zwischen der
Mehrheit der Reichsleitung
um Landau und der Minderheit um den Agenten Well debattiert. Eine weitere Verschärfung erfuhr diese Polemik durch die Verknüpfung
mit fraktionellen Kämpfen in
der österreichischen und französischen Linksopposition.
Trotzki verfolgte mit Sorge diese Entwicklung. Eindringlich mahnte er größere
gegenseitige Toleranz an. Er
warnte davor, durch nicht gerechtfertigte interne Debatten
weitere Zeit zu verlieren. Vergeblich, wie sich bald zeigen
sollte.
Auf Initiative des Internationalen Sekretariats der ILO
fand am 31. Mai 1931 eine
Plenarsitzung der Reichsleitung in Berlin statt. Landau
und seine Anhänger weigerten
sich jedoch, an dieser Sitzung
teilzunehmen, so dass der
Bruch endgültig vollzogen
war. Vierzehn Monate nach
der Gründung zerfiel die VLO
in zwei Teile, die fast identisch waren mit der ehemaligen Minderheit des Leninbundes und der Weddinger Opposition. Die GPU konnte einen
weiteren Erfolg verbuchen.
Mit der Trennung von
Landau fand die Anfangsphase des deutschen „Trotzkismus“ ihren Abschluß. Mehr
als ein Jahr lang hatten interne
Querelen die Linke Opposition weitgehend gelähmt. Der
bescheidene Zuwachs an neuen Kräften war durch die Spaltung wieder verloren gegangen.
80 Mitglieder verließen
mit Landau die Organisation.
Sie verteilten sich auf Berlin,
Ludwigshafen, Leipzig und
Hamburg-Harburg.
EIN NEUBEGINN
Insgesamt 150 Mitglieder in
Bautzen, Berlin, Bruchsal,
Forst, Goldap, Hamborn,
Hamburg, Heidelsheim, Königsberg, Leipzig und Magdeburg wagten den Neuanfang.
Da Landau die Kontrolle über
die Zeitung Der Kommunist
erfolgreich verteidigt hatte,
musste die Linke Opposition
zunächst mittels eines hektographierten Mitteilungsblattes
den Kontakt zu den Gruppen
aufrechterhalten. Im Juli 1931
erschien dann endlich die erste
Nummer der neuen Zeitschrift
Permanente Revolution.
Noch im Oktober 1931
sprach die LO selbst von einer
„Periode der gewissen Stagnation“, aber im Dezember
meinte sie, das „Stadium der
Schwächung“ verlassen zu haben und eine langsame Aufwärtsentwicklung feststellen
zu können.
Erst jetzt konnte sich die
eigentliche Stärke der LO, die
scharfsinnige Analyse der
Endphase der Weimarer Republik, besser entfalten. Besondere Aufmerksamkeit widmete die LO dem bedrohlichen Ansteigen der braunen
Flut vor allem seit den Reichstagswahlen im September
1930. Die sich verschärfende
Krise des kapitalistischen
Wirtschaftsystems und des
INPREKORR 396/397
die
internationale
Parlamentarismus, der nur
scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Nazi-Bewegung und
das katastrophale Versagen
der Führungen der ArbeiterInnenbewegung waren zentrale Themen der LO-Publikationen.
Die auch heute noch beeindruckende Klarheit ihrer
Kommentare, Einschätzungen und Aktionsvorschläge
verdankten sie vor allem den
Stellungnahmen
Trotzkis.
Von seinem Exil in Prinkipo
aus verstand er es wie kein
zweiter, immer wieder überzeugende, aktualisierte Antworten auf die „Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“ zu geben. Unermüdlich
plädierten Trotzki und die Linke Opposition für die Schaffung einer Einheitsfront der
ArbeiterInnenbewegung gegen die faschistische Gefahr.
Alle ihr zur Verfügung
stehenden Mittel konzentrierte
die LO auf die Herausgabe
und Verbreitung preiswerter
Trotzki-Broschüren. Seit Ende
1931/Anfang 1932 fanden
Trotzkis in kurzen Abständen
verfasste Analysen der deutschen Entwicklung einen
wachsenden Widerhall bei
Mitgliedern von KPD, SPD
und Sozialistischer Arbeiterpartei (SAP), ja sogar bei
„linksbürgerlichen Kreisen“.
Im Juni 1932 bezifferte Anton
Grylewicz die Gesamtauflage
der seit April 1931 herausgegebenen Broschüren auf
67.000, von denen zum damaligen Zeitpunkt 55.000 Exemplare verbreitet worden waren.
Appelle wie der folgende
im internen Mitteilungsblatt
der Reichsleitung waren keine
Seltenheit: „Jeder Genosse
muß es sich zur Pflicht machen, mindestens 10 Stk. der
neuen Broschüre des Gen.
Trotzki: Der einzige Weg zu
verbreiten“.
Neben der Herausgabe
und Verbreitung von TrotzkiBroschüren widmete die LO
seit Anfang 1932 ihrer Monatszeitung Permanente Revolution verstärkte Aufmerksamkeit. Ab 1. Januar 1932 erschien die Permanente Revo-
INPREKORR 396/397
lution vierzehntägig und
schließlich ab Ende Juli 1932
als Wochenzeitung im Zeitungsformat. Die Auflage, die
sich seit dem Erscheinen der
ersten Ausgabe mehr als verdoppelt hatte, wurde im August 1932 mit 5.000 Exemplaren pro Nummer angegeben.
Im Vergleich zur ersten
trotzkistischen
Zeitschrift,
dem Kommunist, stellte die
Permanente Revolution aufgrund ihres verbesserten Inhalts und des häufigeren Erscheinens sicherlich einen
Fortschritt dar. Die Zeitung
und die Broschüren Trotzkis
waren das eigentliche Bindeglied der LO.
ORGANISATORISCHER
AUFSCHWUNG
Die propagandistischen Anstrengungen der Linken Opposition erhöhten den Einfluss
ihrer Ideen in einem Ausmaß,
das im Verhältnis zur Größe
der Organisation bedeutend
war. In Diskrepanz dazu befand sich die organisatorische
Entwicklung der LO, wenn
auch hier seit Ende 1931 ein
deutliches Wachstum und die
Gründung neuer Ortsgruppen
zu verzeichnen waren. Vor allem die Hamburger und die
Bruchsaler LO vergrößerten
ihre Mitgliederzahlen. In Oranienburg schloß sich eine größere ArbeiterInnengruppe der
LO an.
Der Linken Opposition gehörten sowohl winzige Propaganda-Stützpunkte als auch einige wenige, aber örtlich relativ einflussreiche Gruppen in
kleineren Städten wie Bruchsal, Oranienburg oder Dinslaken an.
Dem zum größeren Teil
aus älteren Kadern bestehenden Kern der LO schlossen
sich seit Ende 1931 vor allem
jüngere, das heißt 18- bis 35jährige Menschen an. Trotz ihrer Jugend waren sie meist
schon mehrere Jahre Mitglieder, teilweise auch FunktionärInnen der KPD oder des
Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) gewesen.
Von ihrer sozialen Zusammensetzung her war die LO im
Gegensatz zu der auch heute
noch verbreiteten Legende des
„intellektuellen Trotzkismus“
eine ArbeiterInnenorganisation. Lediglich in Universitätsstädten wie Berlin oder Leipzig waren StudentInnen stärker vertreten.
Insgesamt dürfte die Linke
Opposition Ende 1932 ungefähr 600 Mitglieder in 44 Ortsgruppen und Stützpunkten gezählt haben.
Die Organisationsstruktur
der LO orientierte sich an den
ursprünglichen Prinzipien des
demokratischen
Zentralismus. Die Leitung einer Ortsgruppe wurde von der örtlichen Mitgliederversammlung
gewählt.
Sofern regional eine größere Anzahl funktionsfähiger
Ortsgruppen der LO angehörten, konstituierten sie sich auf
einer Bezirkskonferenz zu einem Bezirk und wählten sich
eine Bezirksleitung. Außer
dem bereits 1930 geschaffenen Bezirk Sachsen entstanden bis Anfang 1932 weitere
Bezirke unter anderem RheinRuhr,
Berlin-Brandenburg,
Wasserkante und Südwest.
Die Reichskonferenz, auf
der die Ortsgruppen durch Delegierte vertreten waren, wählte das Führungsorgan der LO,
die 16-köpfige Reichsleitung.
Eine siebenköpfige Redaktionskommission besorgte die
Herausgabe der Permanenten
Revolution.
EINHEITSFRONT GEGEN
FASCHISMUS IN
BRUCHSAL …
Richten wir an dieser Stelle
unser Augenmerk auf die
nordbadische
Kleinstadt
Bruchsal. Denn dort befand
sich die mit 100 Mitgliedern
stärkste lokale Organisation
der LO. Sehr zum Ärger der
führenden badischen KPDFunktionäre
stellten
die
„Trotzkisten“ dort die einzige
kommunistische Kraft dar. Alle Versuche der KPD-Bürokratie, die Bruchsaler LO um
Paul Speck zu „liquidieren“,
scheiterten an deren starker
Verankerung in der Bruchsaler ArbeiterInnennschaft.
Die Linke Opposition
spielte eine führende Rolle in
den örtlichen Gewerkschaften
und der ArbeiterInnensportbewegung. Bei den badischen
Kommunalwahlen erhielten
die Bruchsaler Linksoppositionellen 889 Stimmen und damit neun Gemeinderatssitze.
Im Gemeindeparlament setzten sich die Vertreter der LO
vor allem für die Interessen
der Erwerbslosen ein.
Auf Initiative der Bruchsaler LO gelang es gegen den anfänglichen Widerstand der örtlichen SPD-Führung, im Oktober 1931 einen paritätischen
Aktionsausschuss aus LO,
SPD, Gewerkschaften und anderen proletarischen Organisationen zu bilden. Zu Versammlungen gegen Lohnabbau und Faschismus konnte
der Aktionsausschuss jeweils
weit über 1000 Menschen mobilisieren.
Das starke Wachstum der
Bruchsaler LO-Gruppe und
ihr Einfluss in den umliegenden Ortschaften Forst, Bretten
und Heidelsheim verdankte
sie nicht zuletzt diesen Bemühungen.
Offensichtlich auf Anweisung einer höheren Parteiinstanz verließ die SPD 1932
das Einheitskomitee. Die „bewusste
Sprengungspolitik“
des örtlichen SPD-Führers, so
meinte die Bruchsaler Linke
Opposition, sei dadurch erleichtert worden, dass ihre
Einheitsfrontpolitik nicht über
Bruchsal hinaus verwirklicht
worden war.
Trotz dieses Rückschlags
konnte die Bruchsaler LO ihren politischen Einfluss ausweiten. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielt die LO für die KPD 1.000
Stimmen, die SPD lediglich
500 Stimmen.
In seiner Broschüre Was
nun? nannte Trotzki Bruchsal
„trotz der bescheidenen Ausmaße ein Vorbild für das ganze Land“.
21
die
internationale
… UND IN
ORANIENBURG
Eine andere relativ einflussreiche Ortsgruppe der Linken
Opposition befand sich in Oranienburg. Die dortige KPD
schloss am 8. Januar 1932
Helmut Schneeweiß, den örtlichen Leiter des Kampfbundes
gegen den Faschismus, wegen
angeblicher Zugehörigkeit zur
LO aus. Die KPD zog damit
einen Schlussstrich unter die
schon längere Zeit schwelenden Differenzen in der Einheitsfrontfrage. 56 weitere
Mitglieder des Kampfbundes,
die sich mit Schneeweiß solidarisiert hatten, wurden ebenfalls ausgeschlossen.
Mit entscheidend für den
Übertritt der Oranienburger
DissidentInnen zur Linken
Opposition war die politische
Anziehungskraft der Schriften
Trotzkis. Die neue LO-Gruppe
und der Proletarische Selbstschutz Oranienburg, einer
Nachfolgeorganisation
des
Kampfbundes, waren personell weitgehend deckungsgleich. Dank dieser fast 100
ArbeiterInnen und Arbeitslose
umfassenden
Organisation
stellte die Oranienburger LO
einen für die örtlichen Verhältnisse beachtlichen politischen Faktor dar. Sie wurde
sofort im Sinne der Einheitsfrontbestrebungen der LO aktiv. Das Arbeiter-Mai-Komitee, ein Bündnis aus LO bzw.
Proletarischem Selbstschutz
und SPD organisierte 1932 eine erfolgreiche 1. Mai-Demonstration. Es zeigte derart
deutlich die isolierenden Folgen der ultralinken KPD-Politik auf, dass die KPD sich kurze Zeit später gezwungen sah,
dem in Arbeiter-Kampfkomitee umbenannten Einheitsfrontorgan beizutreten.
Das aus je fünf VertreterInnen von SPD, KPD und LO
zusammengesetzte Komitee
entfaltete eine intensive Aktivität. Außer der Veranstaltung
mehrerer
antifaschistischer
Kundgebungen und der Schaffung von Arbeiterschutzstaffeln widmete es der koordinierten Betriebs- und Er-
22
werbslosenarbeit besondere
Aufmerksamkeit.
Ähnlich wie in Bruchsal
übte die Oranienburger Einheitsfrontbewegung
einen
starken Einfluss auf die umliegenden Ortschaften aus. Auch
dort entstanden Einheitsfrontkomitees und Selbstschutzorganisationen der ArbeiterInnenschaft.
In verschiedenen anderen
Städten ergriff die LO die Initiative zur Bildung lokaler
Einheitsfrontausschüsse.
Meist scheiterten diese Bestrebungen jedoch schon im Anfangsstadium, weil die LO
dort zu schwach war, um den
Widerstand sozialdemokratischer und stalinistischer Funktionäre zu brechen.
LETZTE WARNUNG
Anfang Januar 1933 schlug
die Permanente Revolution erneut Alarm: „1933 [wird] das
Jahr der Entscheidung sein“.
(Permanente Revolution, 3.
Jg., Nr. 1, 1. Januarwoche
1933.)
Die Ernennung Hitlers
zum Reichskanzler stellte für
die Linke Opposition das Ende
der Epoche der „bonapartistischen“ Übergangsregimes dar,
der mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Regierungen Papen oder Schleicher.
Noch ein letztes Mal warnte
die Permanente Revolution:
„Hitlers Programm ist die völlige Zerschlagung aller politischen und gewerkschaftlichen
Organisationen der Arbeiterschaft, um den Weg für eine
noch ungeheuerlichere Verelendung der Arbeiterschaft zu
öffnen. Sein außenpolitisches
Ziel ist der Krieg mit Sowjetrußland.“ (Permanente Revolution, 3. Jg., Nr. 5, 1. Februarwoche 1933, Hervorhebungen
im Original.)
ERNEUTE
STALINISTISCHE
PROVOKATION
In dieser politisch entscheidenden Situation organisierte
die GPU eine erneute Spaltung
der Linken Opposition. Bereits im Herbst 1932 hatten
Roman Well und sein Bruder
Adolf Senin durch eine Verschärfung der organisationsinternen Debatte diesen Schritt
vorbereitet. Es war kein Zufall, dass dies fast zeitgleich zu
Trotzkis Reise nach Kopenhagen im November 1932 und
der dortigen inoffiziellen Konferenz der Internationalen Linken Opposition geschah.
In der zweiten Januar-Hälfte 1933 versuchten Well und
Konsorten der ArbeiterInnenöffentlichkeit mit einer gefälschten Ausgabe der Permanenten Revolution weiszumachen, dass die Mehrheit der
LO politisch und organisatorisch mit Trotzki und der ILO
gebrochen habe. Sowohl die
Rote Fahne der KPD als auch
das Komintern-Organ Inprekorr verbreiteten umgehend
die Meldung vom „Zusammenbruch der deutschen
Trotzki-Gruppe“.
Davon konnte jedoch keine Rede sein. Etwa 35 Mitglieder spalteten sich mit diesem
Coup von der LO ab. Bezeichnenderweise kommentierten
andere linke Organisationen
wie SAP, KPO, Leninbund
und die Landau-Gruppe mit
unverhohlener Befriedigung
die Spaltung. Zwar fiel es der
LO nicht schwer, die absurden
Behauptungen der stalinistischen Agenten als „bestellte
Arbeit“ zu widerlegen. Dennoch musste die LO zugeben:
„Daß solche Leute so lange in
unseren Reihen weilten, ist sicher Ausdruck unserer Schwäche.“
WIDERSTAND UND
EMIGRATION
Die Machtübergabe an Hitler
und die Errichtung der NaziDiktatur markierte für Trotzki
die „bedeutendste Niederlage
in der Geschichte der Arbeiterklasse“.
Erneut hatte die Linke Opposition im Wettlauf mit der
politischen Entwicklung wichtige Zeit verloren:
Aufgrund der Auseinandersetzungen mit der Well-Grup-
pe konnte die ursprünglich für
Ende Januar 1933 geplante
Reichskonferenz der LO erst
in der Illegalität stattfinden.
Am 11. und 12. März 1933
trafen sich Delegierte der
Ortsgruppen, Vertreter der
Reichsleitung und der ILO in
Leipzig, um die neue Situation
zu analysieren. Hauptaufgabe
sei es, den Widerstand der Arbeiterklasse zu organisieren,
den Aufbau einer neuen Partei
lehnte die Konferenz noch ab.
Zwar glaubte sich die Linke Opposition im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut auf die
Illegalität vorbereitet, aber sie
musste bereits in den ersten
Monaten der NS-Diktatur
zahlreiche Verhaftungen vor
allem in den örtlich bekannten
Gruppen hinnehmen (Oranienburg,
Westdeutschland,
Leipzig …)
Schon nach Papens Staatsstreich am 20. Juli 1932 hatte
die LO auf Beschluss der
Reichsleitung mit der Vorbereitung auf die Illegalität begonnen. Die Ortsgruppen waren in kleine, drei bis fünf Personen umfassende Gruppen
aufgeteilt worden. Diese wählten jeweils eine Leitungsperson, die zusammen mit den anderen auf Ortsebene eine sogenannte Fünfergruppe bildete.
Diese wiederum wählte eine
Kontaktperson zur Bezirksleitung bzw. direkt zur Reichsleitung. Durch diese Maßnahmen
sollte die LO besser vor dem
Zugriff staatlicher Repressionsorgane geschützt werden.
Trotz der geringen Größe
und der spärlichen materiellen
Ressourcen der Linken Opposition dürfen ihre organisatorischen und propagandistischen
Anstrengungen im Widerstand
nicht unterschätzt werden.
Die Zugehörigkeit zur Internationalen Linken Opposition erwies sich erneut als großer politischer und organisatorischer Vorteil. Sie milderte
anfangs die Probleme, die aus
der zwangsläufigen Trennung
in eine im Untergrund arbeitende Inlands- und eine im
Exil aktive Auslandsorganisation resultierten.
Es war deshalb auch kein
Zufall, dass Unser Wort, die
INPREKORR 396/397
die
internationale
neue Zeitung der LO, schon ab
Mitte März 1933 in Prag herausgegeben werden konnte.
Unser Wort war nicht nur eine
der ersten Zeitschriften der illegalen deutschen Opposition
gegen die Nazis, sie war auch
eine der Publikationen, die am
längsten überlebten. Ihre letzte
Ausgabe erschien im Sommer
1941 in New York.
Insgesamt flüchteten zunächst etwa 50 Mitglieder der
Linken Opposition ins Ausland. Nicht nur in Prag, sondern auch in Paris, Amsterdam, Antwerpen, Basel, Wien,
Reichenberg,
Kopenhagen
und London entstanden Gruppen und Stützpunkte. Sie betreuten von dort aus den jeweils geographisch benachbarten Inlandsbezirk. So war
zum Beispiel die Amsterdamer Gruppe für die westdeutsche LO zuständig. Im Sommer 1933 wurde Paris als Sitz
des Auslandskomitees (AK)
bestimmt. Das Auslandskomitee stellte die offizielle Führung der LO dar.
Allerdings war die Verbindung zwischen Exil- und Inlandsgruppen sehr fragil. Wege und Möglichkeiten der
Kommunikation und des Materialtransports mussten erst
mühsam gefunden, weiter entwickelt und oft neu hergestellt
werden.
Obwohl die Gestapo die
Kontakte mit dem Ausland
immer wieder unterbrechen
konnte, besaßen die meisten
Inlandsgruppen zunächst ausreichende technische und politische Ressourcen, um eigenständig arbeiten zu können.
Neben illegal hektographierten Flugblättern und Zeitschriften (wie Das andere
Deutschland, Der Vortrupp,
Die kritische Parteistimme,
Der Rote Kurier) konnte sich
der Widerstand auf das Zentralorgan Unser Wort stützen.
Es wurde nach Deutschland
eingeschmuggelt und beispielsweise in Berlin vervielfältigt.
Wie Oskar Hippe, ein führendes Mitglied der Gruppe
berichtete, stellte die Berliner
LO etwa 300 bis 400 kleinformatige Fotoabzüge von jeder
INPREKORR 396/397
Zeitungsseite her und verkaufte die Reproduktionen zusammen mit einem einfachen Vergrößerungsglas der Warenhauskette Woolworth an interessierte Kontakte.
Offensichtlich konnte die
LO in den ersten Monaten der
Nazi-Diktatur nicht nur die
durch Verhaftungen entstandenen Lücken teilweise wieder schließen. Sie vermochte
sogar kurzfristig, neue Kräfte
vor allem aus SPD und KPD
zu gewinnen. Dadurch war
trotz des NS-Terrors die Funktionsfähigkeit der LO zunächst relativ gut gesichert,
aber die politische Verständigung über die neue Lage stand
noch aus.
So erregten die Übertritte
der ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordenten Maria Reese
sowie der prominenten Altkommunisten Karl Friedberg
(d.i. Karl Retzlaw) und Erich
Wollenberg zur IKD einiges
Aufsehen. Allerdings löste
Trotzkis Werben um die früheren „linken“ KPD-Führer
Ruth Fischer und Arkadij
oder enge SympathisantInnen
der IKD angehörten.
Darüber hinaus gab es
Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen: dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), sozialdemokratischen sowie parteiunabhängigen Gruppen und vor allem
zur SAP – trotz der Differenzen im Exil.
FÜR EINE NEUE PARTEI
Zur gleichen Zeit, als die
Mehrheit der LO auf ihrer
Reichskonferenz den Kurs auf
eine neue Partei ablehnte, hatte Trotzki für die Vorbereitung
einer neuen Kommunistischen
Partei plädiert. Die kampflose
Niederlage der KPD im Frühjahr 1933, die er mit der politischen Kapitulation der SPD zu
Beginn des Ersten Weltkriegs
verglich, bedeute ihr Ende als
revolutionäre Partei.
Der Bruch der Internationalen Linken Opposition mit
der bisherigen Orientierung
auf die Reform von KPD und
Komintern und die Wende
zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien und einer neuen
Internationale führte zu Namensänderungen. Seit Herbst
1933 nannte sich die LO Internationale
Kommunisten
Deutschlands (IKD), die ILO
hieß seitdem Liga der Kommunisten-Internationalisten
(LKI).
In dieser Phase war die
SAP ein enger Bündnispartner. Aber noch bevor die damaligen
Vereinigungsverhandlungen zwischen SAP
und ILO/LKI bzw. SAP und
LO/IKD endgültig scheiterten,
legte das Auslandskomitee der
LO/IKD mehr Wert als bisher
darauf, die eigene Organisation in der Öffentlichkeit herauszustellen.
1934: Die NS-Diktatur stützte sich mehr als zuvor auf den
Staatsapparat
Maslow Entsetzen in den Reihen des Auslandskomitees
und der Pariser IKD-Gruppe
aus.
Eher Anlass zur Freude bot
die Umstellung von Unser
Wort auf wöchentliches Erscheinen Anfang Februar
1934.
„KADERARBEIT“
Im März 1934 diskutierten
Delegierte aus vier IKD-Bezirken und Vertreter des AK
auf einer illegalen Organisationskonferenz, die als Hochzeitsfeier getarnt war, ihre
Widerstandstaktik. Zwar war
die besondere Bedeutung der
„Kaderarbeit“ unstrittig, aber
die Bedingungen erlaubten
nur ausnahmsweise die angestrebte Konzentration auf die
Betriebsarbeit, um die Verbindung zu den Arbeitermassen wiederherstellen zu können.
In der Realität beschränkte
sich die „Kaderarbeit“ im wesentlichen auf Diskussionen
und Schulungen in kleinen
Zirkeln, denen nur Mitglieder
Die IKD vermied es, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, als Organisation im Inland wahrnehmbar in Erscheinung zu treten. Nur ausnahmsweise wurden zu dieser Zeit
noch Flugblätter verteilt oder
Widerstandsparolen an Häuserwände gemalt.
Ende 1934 analysierte die
IKD, dass sich das Bild des
Faschismus zu verändern beginne. Die NS-Diktatur stützte
sich mehr als zuvor auf den
Staatsapparat und weniger auf
seine aktive „ursprüngliche
Massenbasis. Der Übergang
zu dieser „zweiten Periode“
des Faschismus, der „bonapartistischen“ Phase eines „Faschismus ohne Massenbasis“
wurde allerdings erst Ende
1935 konstatiert.
Die „französische Wendung“ der LKI 1934, das heißt
die Taktik des Entrismus in
die Sozialdemokratie, drängte
zeitweise die Fragen des deutschen Widerstands in den Hintergrund. Die folgenden heftigen internen Auseinandersetzungen lähmten im Spätsommer desselben Jahres die Organisation. Im Herbst gelang
23
die
internationale
es einer Minderheit des Auslandskomitees eine Zwei-Drittel-Mehrheit der IKD für die
Billigung der Eintrittstaktik zu
gewinnen. Die Mehrheit des
AK um Bauer (d.i. Erwin
Ackerknecht) spaltete sich ab
und schloss sich zunächst der
SAP an, um schließlich mit
anderen ehemaligen SAP-Mitgliedern als Gruppe Neuer
Weg eine kurzzeitige Existenz
zu fristen.
An Weihnachten 1934
fand die zweite Reichskonferenz der IKD unter den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen geheim in der Schweiz
statt. Die Delegierten des innerdeutschen Widerstands und
der Exilgruppen tagten in einem Bildhaueratelier in Dietikon, in der Nähe von Zürich.
Auf der Konferenz, die einem Teilnehmer zufolge
„ziemlich friedlich“ verlief,
spielte paradoxerweise die
„Entrismus“-Frage nur eine
untergeordnete Frage. Im Mittelpunkt stand die Diskussion
über die politische Lage in Nazi-Deutschland und die Aufgaben des Widerstands vor allem in den Betrieben. Neben
der Fortsetzung der „zähen revolutionären
Kaderarbeit“
wurde eine verstärkte Hinwendung der damals noch etwa 200 Mitglieder zählenden
Organisation zur SAP beschlossen. Neben einem Auslandskomitee wählten die Delegierten eine Inlandsleitung
der IKD.
DER ENTSCHEIDENDE
SCHLAG
Abgesehen von den schweren
Verlusten in den ersten Monaten nach der Machtübergabe
an die Nazis war die Linke
Opposition und spätere IKD
zunächst weitgehend vor weiteren Verhaftungen verschont
geblieben.
Im Sommer 1935 warnte
das Reichenberger IKD-Mitglied Julik (d.i. Wenzel Kozlecki) im internen Informationsdienst der IKD: „Wir dürfen…
vor uns selbst kein Versteck
spielen. Unsere weitere Existenz hängt davon ab, inwie-
24
weit und in welchem Zeitraum
wir verstehen, die für unsere
Entwicklung angepassten organisatorischen Verhältnisse
herbeizuführen. Wehe uns,
wenn wir im Verhältnis zur
Gestapo zu kurz treten.“ (Informationsdienst, Nr. 7/8 von
August 1935, S. 22, Hervorhebungen im Original.)
Diese Warnungen kamen
zu spät. Bereits im Frühjahr
1935 war es der Gestapo gelungen, die Grundlage für ihre
späteren Erfolge zu schaffen.
Ab Herbst 1935 schnappte die
Falle zu. Verhaftungen, Folterungen durch die faschistischen Schergen, neue Verhaftungen, neue Folterungen – in
Hamburg, Berlin, Gelsenkirchen, Solingen, Köln, Essen,
Neuß, in Frankfurt am Main,
in Magdeburg, in Danzig, um
nur die wichtigsten Gruppen
zu nennen.
Von November 1935 bis
Ende 1936 – im Laufe eines
Jahres – waren die Strukturen
des innerdeutschen IKD praktisch zerschlagen worden.
Nach dieser Verhaftungswelle
verfügte die IKD seit Anfang
1937 nur noch über zwei intakte Gruppen, die eine in Berlin-Charlottenburg, die andere
in Dresden. In weiteren Städten standen lediglich einzelne
Mitglieder noch in Kontakt
mit dem Auslandskomitee.
Die Verhafteten mussten
teilweise eine mehrjährige
Untersuchungshaft ertragen,
während der die Gestapo
durch Folterung weitere Informationen über die IKD zu erpressen versuchte. Die Anklagen wegen „Vorbereitung des
Hochverrats“ dienten als
Grundlage für die Verhängung
meist hoher Gefängnis- oder
Zuchthausstrafen.
Für viele Opfer der NSJustiz war nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen der Leidensweg nicht beendet. Vor
allem die WiderstandskämpferInnen, die die Gestapo als
Leitungsmitglieder der IKD
identifizieren konnte, wurden
danach in Konzentrationslager
in „Schutzhaft“ überführt.
Eine nicht bekannte Zahl
von
linksoppositionellen
Kommunisten wurde in der
Gefangenschaft durch Nazis
ermordet, teilweise wie im
Falle Werner Scholems mit
Unterstützung von Stalinisten.
Viele der Verurteilten mussten
während des Zweiten Weltkriegs im Strafbataillon 999
Kriegsdienst leisten. Nach
Schätzung des Auslandskomitees waren 1940 mindestens
150 IKD-Mitglieder Gefangene des Regimes.
STALINISTISCHER
TERROR
Nach der Verhaftungswelle
1935/36 hatte die IKD den wesentlichen Bezugspunkt ihrer
politischen Arbeit verloren.
Dadurch verschlechterte sich
die in nahezu jeder Hinsicht
schwierige Situation der Exilorganisation noch mehr. Abgesehen vom „Kirchenkampf“
setzte sich die IKD immer seltener mit innerdeutschen Fragen, dafür umso mehr mit internationalen Themen (Belgien, Frankreich und natürlich
Spanien) sowie mit den Streitigkeiten in der deutschen
Emigration auseinander.
Existenziell verschärfte
sich die Lage der Flüchtlinge
durch die Moskauer Schauprozesse ab August 1936 und
die damit verbundene beispiellose stalinistische Hetze
gegen den „Trotzkismus“ als
„Spionage- und Diversionsagentur des Faschismus“.
Den Worten folgten blutige Taten. Der mittlerweile
NKWD genannte stalinistische Geheimdienst ermordete
Moulin (d.i.Hans Freund), Rudolf Klement, Erwin Wolf und
später Walter Held (d.i.Heinz
Epe), – um nur einige führende IKD-Mitglieder zu nennen.
Im Überlebenskampf der LKI
unterstützten die Exilgruppen
der IKD aktiv die Kampagne
zur Verteidigung Leo Trotzkis
und anderer Opfer der stalinistischen Verfolgungen.
NIEDERGANG IM EXIL
Vor diesem düsteren politischen Hintergrund entwickelte
sich eine neue Krise in der
Exil-IKD. Ihre Eskalation
führte im Sommer 1937 zum
Ausschluss einer kleinen Oppositionsgruppe um Jan Bur
(d. i. Walter Nettelbeck), die
mit Fischer-Maslow sympathisierte.
Unter dem Einfluss von
Josef Webers Theorie der
„rückläufigen Bewegung“ der
Klassenkämpfe beschloss die
Exil-Konferenz der IKD am
25. und 26. August 1937 eine
Abkehr von der an Weihnachten 1934 festgelegten Orientierung. Die späteren politischen Bruchlinien mit der IV.
Internationale waren hiermit
inhaltlich bereits angedeutet.
Johre (d.i. Josef Weber)
und Oskar Fischer (d.i. Otto
Schüssler) stimmten als IKDVertreter auf der geheim tagenden Konferenz der LKI am
3. September 1938 für die
Gründung der IV. Internationale, die am Vorabend des
Zweiten Weltkriegs das politische und organisatorische
Überleben des revolutionären
Marxismus sichern sollte.
Die zweite Etappe des
Exils begann schon kurze Zeit
später mit der Ausdehnung des
Nazi-Reiches. Die Mitglieder
der Reichenberger IKD mussten vor den deutschen Truppen
nach Prag und von dort gemeinsam mit ihren Prager GenossInnen weiter zunächst
nach Frankreich oder Großbritannien flüchten.
Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Redaktion von Unser Wort und später auch die Leitung der IKD
nach New York verlegt worden, wo sich bereits 1938 eine
Ortsgruppe konstituiert hatte.
Ein Teil der Kopenhagener
IKD um Georg Jungclas arbeitete auch nach der Besetzung
Dänemarks im April 1940 im
Untergrund weiter. Sie unterstützzten eine im Widerstand
aktive dänische ArbeiterInnengruppe der IV. Internationale. Der andere Teil flüchtete nach Schweden.
Mit Beginn des sogenannten Westfeldzuges der Wehrmacht waren auch die
Exilgruppen in den Niederlanden, Belgien und Frankreich
direkt bedroht. Einige Mitglie-
INPREKORR 396/397
die
internationale
der konnten nach England
flüchten, wo sie sich der Londoner IKD anschlossen. Andere tauchten unter, wurden aber
meist von der Gestapo verhaftet. Eine dritte Gruppe, darunter die gesamte Pariser IKD,
wurde in südfranzösische Internierungslager
deportiert.
Nur eine Minderheit von ihnen
gelangte in den Besitz USamerikanischer Visa und
konnte sich in die Vereinigten
Staaten absetzen. Die anderen
fielen entweder ihren faschistischen Häschern in die Hände
oder schlossen sich der Résistance an.
Außerhalb Europas und
den USA fanden IKD-Mitglieder in Argentinien, Kuba und
Mexiko eine Zuflucht. Anfang
1940 bestand die AuslandsIKD aus 10 Gruppen in Amerika und Europa mit insgesamt
etwa 70 Mitgliedern.
Im Herbst 1941 wendete
sich die Mehrheit der ExilIKD unter dem maßgeblichen
Einfluss Johres von der angeblich „in jeder Beziehung (theoretisch, politisch, methodisch)
absolut unzulänglich[en]“ Arbeit der IV. Internationale ab
und versuchte mit „Drei Thesen über die Lage in Europa
und die politischen Aufgaben“
für eine „radikale Neuorientierung“ zu werben.
Nach Kriegsende waren
das Auslandskomitee der IKD
und seine UnterstützerInnen
nicht mehr bereit, auf der politischen Grundlage und im organisatorischen Rahmen der
IV. Internationale weiterzuarbeiten. Mit der Herausgabe
des ersten Heftes von Dinge
der Zeit im Juni 1947 verwirklichte die Gruppe um Johre ihr
lange gehegtes Projekt. Ihr
Ziel war nun die „Schaffung
einer Weltorganisation für inhaltliche Demokratie“.
Obwohl die Führung der
IV. Internationale seit Anfang
der 40er Jahre die Entwicklung der Exil-IKD mit großer
Skepsis betrachtet hatte, wurde sie weiterhin als Bestand-
INPREKORR 396/397
teil der Bewegung betrachtet.
Allerdings erwartete sie von
der Strömung um Johre keine
Impulse für den aus ihrer Sicht
so dringend erforderlichen
Wiederaufbau der deutschen
Organisation.
FORTSETZUNG DES
WIDERSTANDS
In Zusammenarbeit mit der
französischen Sektion, der
Parti ouvrier internationaliste
(POI), und dem damaligen
Linkskommunisten Paul Thalmann gelang es einer winzigen
Gruppe deutscher Mitglieder
der IV. Internationale um Viktor (d.i. Paul Widelin), ab dem
Frühjahr 1943 Widerstand in
den deutschen Besatzungstruppen zu organisieren. Die
Bildung kommunistisch-internationalistischer Zellen in der
Wehrmacht, die Herausgabe
von Flugblättern und einer
Zeitung mit dem programmatischen Titel Arbeiter und Soldat war nur ein Aspekt ihrer
kühnen Aktivitäten. Ein anderer bestand in der Lieferung
deutscher Waffen und der
Vermittlung deutscher Deserteure an die bewaffneten Widerstandsgruppen der POI.
Im Herbst 1943 gelang es der
Gestapo, diesen antimilitaristischen Ansatz blutig zu unterdrücken.
Seit März 1944 bemühte
sich eine Kommission deutscher Mitglieder der IV. Internationale die Aktivitäten des
kleinen Kreises von EmigrantInnen zu reorganisieren, der
alle bisherigen Verfolgungen
überlebt hatte. Als Bund der
Kommunisten-Internationalisten sorgte diese Gruppe für die
illegale Herausgabe eines hektographierten Bulletins unter
dem alten Titel Unser Wort
sowie für das Erscheinen weiterer Ausgaben von Arbeiter
und Soldat. Die Verhaftung
und Ermordung Viktors/Widelins durch die Gestapo im
Sommer 1944 bedeutete einen
weiteren schweren Rückschlag für die Reorganisation
der deutschen Sektion.
Die kurz vor Kriegsende
im Konzentrationslager verfasste „Erklärung der Buchenwalder Trotzkisten“ forderte
die Errichtung eines „Rätedeutschland in einem Räteeuropa“. Die Reste der Charlottenburger IKD wollten zur
gleichen Zeit bewaffnete Arbeitergruppen aufbauen. Dies
waren heroische, aber symbolische Gesten, denn die deutsche Revolution fand nicht
statt.
Eine kleine Schar deutscher Mitglieder der IV. Internationale um Georg Jungclas,
der aus der Nazihaft befreit
worden war, musste mehr als
15 Jahre nach der Gründung
der Linken Opposition die
deutsche Sektion neu aufbauen.
VERSUCH EINER BILANZ
Welches Resümee können wir
ziehen? Die ersten 15 Jahre
des organisierten deutschen
„Trotzkismus“ waren geprägt
von der scharfen Krise der ArbeiterInnenbewegung. SPD
und KPD hatten die politische
Spaltung und Lähmung der
ArbeiterInnenklasse zu verantworten, die direkt in die
verheerende Kapitulation von
1933 führte. Sie ermöglichte
nicht nur die faschistische
Diktatur, sondern auch den
späteren zeitweiligen Triumph
des Stalinismus.
Die Linke Opposition
konnte diese katastrophalen
Entwicklungen nicht verhindern, aber sie skizzierte eine
realistische Alternative zum
Versagen der sozialdemokratischen und stalinistischen „Realpolitiken“ und den ihnen zugrunde liegenden Ideologien.
Eine Alternative, die in ihren
Grundgedanken auch heute
noch aktuell ist.
Die Geschichte von LO
und IKD ist ein Beleg für oft
unterschätzte oder gar missachtete Funktion kleiner Organisationen. Zum einen als sensible Seismographen sich ankündigender
gesellschaftlicher Veränderungen und zum
anderen als Zentren praktischen politischen Widerstands, die keinen Vergleich
zur Wirksamkeit von parlamentarisch orientierten und
bürokratisierten Massenparteien zu scheuen brauchen.
Ohne die politische und organisatorische Unterstützung
auf internationaler Ebene hätte
die LO und spätere IKD kaum
ihre auch heute noch wertvollen Beiträge zur Analyse und
zur Bekämpfung der finsteren
Barbarei dieser Zeit leisten
können. Und sie hätte nicht –
zumal in ihren Reihen (stalinistische) Spitzel und Provokateure aktiv waren – die Kontinuität und das Überleben ihrer eigenen Strömung sichern
können – als kleines, aber
nützliches Instrument im
Kampf gegen Ausbeutung und
Unterdrückung.
Der unerschrockene und
beharrliche Kampf entschlossener und aufrechter Menschen, die sich in LO und IKD
organisiert hatten, ist ein Teil
der besseren deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.
Er hat es verdient, vor dem
Vergessen bewahrt zu werden.
Dieser Text ist die überarbeitete
Fassung eines Referats des Autors auf der Gelsenkirchener Tagung zum Widerstand linker
Kleinorganisationen gegen den
Nationalsozialismus am 28. Februar 2004.
Soweit nicht anders angegeben
beruht die Darstellung auf Wolfgang Alles, Zur Politik und Geschichte der deutschen Trotzkisten ab 1930, Köln 1994 (2. Auflage).
Alle Zitate ohne Quellenangabe
sind dieser Untersuchung entnommen.
25
die
internationale
Hartz und der Irrtum von Marx
Werner Abel
Alle weltgeschichtlichen Tatsachen, so meinte Marx in Anlehnung an Hegel, ereignen
sich sozusagen zweimal: Das
eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wilhelm
Liebknecht, der Marx recht
nahe gestanden haben dürfte,
umschrieb in seinem Volksfremdwörterbuch das Wort
„Farce“ mit dem deutschen
Wort „Posse“. Gesetzt den
Fall, auch Marx hätte diese
Wortbedeutung im Sinn gehabt, dann muss man aus aktuellem Anlass annehmen, der
ansonsten so treffsichere Analytiker Marx habe seine Rechnung ohne die deutsche Sozialdemokratie gemacht. Denn
das, was heute mit Hartz IV
die öffentliche Diskussion bestimmt und von der Realisierung her gesehen hauptsächlich von der Sozialdemokratie
zu verantworten ist, kann
wohl, sieht man von einigen
Begleitumständen ab, kaum
als Posse, eher wohl als Tragödie bezeichnet werden.
Neu allerdings ist die ganze
Geschichte nicht. 1929 sah
sich der Hauptverband der
deutschen Krankenkassen gezwungen, eine Streitschrift gegen die massiven Angriffe seitens der Politik, der Wirtschaft, aber auch aus Kreisen
der Wissenschaft, gegen die
Sozialversicherungen und die
Arbeitslosenunterstützung in
Auftrag zu geben. Der bekannte sozialdemokratische
Sozialpolitiker Helmut Lehmann (der später die Vereinigung von SPD und KPD mit
vollziehen sollte , in der DDR
zu einigen Ehren gelangte und
deshalb getrost der Vergessenheit anheim fallen kann!) verfasste dann unter dem Titel
„Die Sünde wider das Volk“,
der zunächst von der Wortwahl her gesehen an die berüchtigte antisemitische Trilogie von Artur Dinter erinnert,
26
eine Auseinandersetzung mit
diesen Angriffen, deren Aktualität in Erstaunen versetzt.
Noch verwunderter aber muss
der Leser dieser alten und, so
wäre zu hoffen gewesen, nur
noch historisch interessanten
Broschüre reagieren, wenn er
feststellt, gegen wen Lehmann
polemisierte. Da ist zunächst
der
Gießener
Professor
Horneffer, seines Zeichens
Philosoph und Theologe, der
in einer gleichnamigen Broschüre die deutsche Sozialpolitik schlichtweg als „Frevel
am Volk“ bezeichnet hatte.
Das gegenwärtige Sozialversicherungssystem und die Arbeitslosenunterstützung seien
nichts weiter als Sozialismus
in der Praxis, ja Bolschewismus gar, und damit nichts anderes als ein Angriff auf den
Arbeits- und Leistungswillen
des deutschen Volkes. Die oft
gerühmte Bismarcksche Sozialpolitik sei nur ein Kompromiss gewesen, um die aufbegehrende Sozialdemokratie zu
neutralisieren, aber diese Sozialdemokratie habe dann die
sozialpolitischen Errungenschaften mit immer neuen Forderungen pervertierend dazu
genutzt, ihre antikapitalistischen und in Wirklichkeit antideutschen Vorstellungen in
die Tat umzusetzen. Nun
könnte man die völkischen Tiraden Horneffers als deutschnationale und antisoziale
Hirngespinste vergessen, wären da nicht seine Argumente,
die denen verblüffend ähneln,
die heute zur Begründung der
sicher dringend notwendigen
Reformen benutzt werden:
Die
Sozialversicherungen
minderten die Eigenverantwortung und würden dazu
missbraucht, den Staat in Permanenz zur Kasse zu bitten,
und die Arbeitnehmer zögen
es vor, lieber „krank zu feiern“, als Leistungen für die
Gemeinschaft zu bringen. Das
gelte natürlich auch für die Arbeitslosenversicherung, denn
eher ließe man sich vom Staat
alimentieren als eine minder
bezahlte, aber nützliche Arbeit
anzunehmen. Die Arbeit sei
keine Ehre und kein Adel
mehr. Im Gegenteil: „Man begegnet in unserem Volke vielfach einem wahren Hass auf
die Arbeit…Das Bürgertum
muss mit höchster Überanstrengung einholen und nacharbeiten, was der andere
Volksteil durch zu wenig Arbeit versäumt.“ Die Frage, was
aber zu tun sei, wenn es keine
Arbeit gäbe, die ließ Honeffer
schon damals nicht gelten: Eigeninitiative zeigen, vor allem
Verantwortung für das Ganze!
Alles andere sei verwerflich,
Sozialismus eben.
Allerdings murrten schon
zu Honeffers Zeiten einige Sozialdemokraten
beleidigt,
wenn ihnen sozialistisches
Denken und Handeln unterstellt wurde, und auf Dauer
konnte auch die Gesamtpartei
diesen Vorwurf nicht mehr auf
sich sitzen lassen. Jetzt aber
kommt endlich die große
Stunde: Der Trend heißt heute
nicht mehr „Genosse“, er ist
neoliberal. Und nach einer Periode der „ruhigen Hand“ entschloss sich der Kanzler zu
handeln, konsequent und mit
Hartz. Vielleicht hat ihm jemand von Carl Schmitt erzählt, von seiner Theorie des
Dezisionismus: Nicht warten,
entscheiden und zuschlagen,
erprobt 1932 im „Preußenschlag“, der ja denn zu einer
wirklichen Zäsur der Weimarer Republik wurde.
Aber vielleicht haben der
Kanzler und seine Experten
überhaupt nicht in historischen Analogien gedacht?
Denn dann hätte man schnell
gemerkt, dass Peter Hartz so
singulär nicht ist und schon
gar nicht ohne historisches
Vorbild. Das Kuriose, aber gar
nicht Lustige ist, dass oben genannter Helmut Lehmann, und
damit sind wir auch wieder bei
Marx, noch gegen einen anderen skurrilen Wissenschaftler
polemisieren musste, der mit
„unserem“ Hartz offensichtlich nicht nur durch den Namen, sondern auch durch das
Denken verbunden zu sein
scheint.
1928 veröffentlichte Gustav
Hartz sein Buch „Irrwege der
deutschen Sozialpolitik und
der Weg zur sozialen Freiheit“. Die Quintessenz des Buches: Statt Versicherungszwang – Sparzwang! Das bedeutete im Klartext, wenn keine Beiträge mehr für die Sozial- und Arbeitslosenversicherungen erhoben werden dürfen,
dann
können
die
Arbeitnehmer
erhebliche
Summen sparen, denn, so Originalton Hartz: „Mit der ausgedehnten Sozialversicherung
ist die deutsche Arbeitnehmerschaft proletarisiert und ihr
Sparvermögen
sozialisiert
worden.“ Wie Gustav Hartz
diesem schleichenden Sozialismus entgegen treten wollte,
verrät ein einfaches Beispiel:
„Wenn ein Arbeiter mit einem Wochenlohn von 36 RM
vom 20. bis 60. Lebensjahr
die Sozialversicherungsbeiträge sparen würde, dann hätte er 33 000 RM Kapital …
Bei eintretendem sozialem
Notfall ist der Sozialsparer zuerst auf sein eigenes Kapital
angewiesen … Im übrigen ist
das Sparkonto nach gesetzlicher Vorschrift gesperrt…In
Abständen von fünf, acht oder
zehn Jahren muss aber der Sozialsparer über die Hälfte des
in dieser Zeit eingezahlten Kapitals – soweit es noch nicht
für soziale Notfälle verbraucht
ist – frei verfügen können.“
Und genau hier lag die geniale
INPREKORR 396/397
die
internationale
Erkenntnis von Gustav Hartz,
die man nur noch nicht so richtig aktualisiert und auf heute
mögliche Einkommen umgerechnet hat. Arbeitsplätze, so
wusste er, sind natürlich auch
ein Problem der Investitionen.
Die Mittel dafür aber sind eher
rar, und bei ausländischen Investoren, da ist man sich auch
nicht so richtig sicher, wer da
kommt und mit welchen Absichten, und überhaupt, es
handelt sich um die deutsche
Wirtschaft, die deutsch bleiben sollte …Autarkie, das war
das eigentliche Schlagwort
aus dem Munde gewisser
Konservativer, die, Kuriosum
am Rande, damit zu den ersten
Globalisierungsgegnern werden sollten. Wo also Investitionsmittel hernehmen? Gustav
Hartz lenkte den Blick auf die
Millionen von Arbeitnehmern.
Wenn diese nun keine Versicherungsbeiträge mehr leisten,
sondern das dafür benötigte
Geld sparen müssten, könnten
sie, so ihnen nichts passierte,
dieses in die Wirtschaft investieren und sich sogar Häuser
bauen. Vor seinem geistigen
Auge entstand aus den besitzlosen Massen eine Riesenschar von Kleinkapitalisten
und Hausbesitzern. Und endlich wäre der Zustand beendet,
in dem durch die Sozialversicherungen die „Gedankenlosigkeit, Unmoral, Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit bis zum Übermaß“ gesteigert waren. Wenn alle Arbeiter Kapitalisten geworden
sind, dann gibt es natürlich
auch keinen Klassenkampf
mehr, dann gibt es nur noch
das Volk. So gesehen werden
die zu erwartenden Auswirkungen der Hartz-IV-Reform
natürlich zu Unrecht als grausam denunziert, denn als echte
Volkspartei muss die SPD die
Interessen des ganzen Volkes
vertreten und das kann man
am besten, indem man dieses
zuvor homogenisiert. Da
müssen temporäre Reibungen
und die im Übrigen maßlos
überspitzten Reaktionen in der
Öffentlichkeit schon mal in
Kauf genommen werden. Zu
DDR – Zeiten behaupteten
kritische Zungen, die Auswirkungen der Russischen Revolution wären ein Rückfall hinter die Französische Revolution. Unsere Bundesrepublik
kann natürlich nicht schlechter
sein als die DDR, und schon
meinen heute einige, Hartz IV
sei ein Rückfall hinter Bismarck. Sie sind im Recht.
Prof. Horneffer und Gustav
Hartz beweisen uns, dass das
Jahr 1883 mit dem Beschluss
über das erste Krankenversicherungsgesetz die Geburtsstunde des deutschen Proletariats war. Die Sozialdemokratie hat sich längere Zeit als die
Partei des Proletariats ausgegeben, mit der Absicht, dieses
abzuschaffen. Mit etwas anderen Mitteln allerdings, als
Marx sich das vorgestellt hatte. Jetzt, im Jahre 2005 beginnt die wahre Revolution.
Da Marx eigentlich so ziemlich alles verkehrt sah und bewertete, muss natürlich auch
die Frage nach der eingangs
erwähnten Behauptung von
Marx offen bleiben, was nun
die Tragödie ist, was die Posse? Die Diskussion Ende der
20er Jahre oder die von heute?
Aber vielleicht ist es doch
sinnvoll daran zu erinnern,
dass es ein Sozialdemokrat
war, der gegen Gustav Hartz
polemisierte und dass, vielleicht viel wichtiger, auf den
historischen Hartz des Jahres
1928 das Jahr 1933 folgte!
Mit freundlicher Genehmigung
der Zweiwochenschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft Das Blättchen, Berlin, Nr. 18/2004.
Wo die einen an Schärfe verlieren...
...fangen wir erst an
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[email protected] - RSB, Landzungenstr. 8, 68159 Mannheim
Was ist los im Betrieb, in der Gewerkschaft und auf der Straße?
Berichte und Analysen dazu und noch mehr gibt's in der Avanti! Wir
betrachten die Welt revolutionär-marxistisch! Im Zentrum steht die
Abwehr gegen die Angriffe des Kapitals und seiner Regierungen auf
die ArbeiterInnenklasse. Avanti analysiert nicht nur – als Zeitung des
RSB nimmt sie Stellung und greift ein. Und das alles jeden Monat aufs
Neue!
Zeitung des Revolutionär Sozialistischen Bund / IV. Internationale
INPREKORR 396/397
27
die
internationale
Aktuelles aus längst vergangener Zeit
Rancs Biographie der Trotzki-Interpretin Alexandra
Ramm-Pfemfert (1883-1963) und ein Heft der Hamburger „Aktion“ über Franz Pfemfert (1879-1954) ermöglichen es, zwei Persönlichkeiten der radikalen Linken
kennen zu lernen, die in der BRD wenig populär und in
der DDR Unpersonen waren. Unter den Kämpfern wider Imperialismus, Faschismus und Stalinismus, für
eine basisdemokratische kommunistische Welt gehörten sie zu den eigenwilligsten.
Manfred Behrend
Die Autorin von „Trotzki und
die Literaten“ 1997 und Mitwirkende an der Edition der
Trotzki-Schriften hatte es
nicht leicht. Ihre Heldin
schrieb nur wenige Artikel,
Briefe waren über viele Orte
verstreut. Es mussten weitere
Quellen, so aus der Memoirenliteratur, erschlossen, Zeitzeugen aufgetrieben und befragt werden. Ein tüchtiges
Stück russischer, deutscher
und internationaler Geschichte galt es zu ergründen. Auf
Akribie bedacht, hat Julijana
Ranc auch in Anmerkungen
eine Fülle aufschlussreicher,
oft kaum bekannter Tatsachen
untergebracht. Sie sichtete
rund 930 Dokumente, darunter mehrere hundert fast ausschließlich
unpublizierte
Briefe und brachte 142 davon,
dazu manche der 160 aufgefundenen Fotos unter.
Die Darstellung beginnt mit
der im russischen Starodub
(Gouvernement
Tschernigow) ansässigen jüdischen
Familie Ramm. Der Vater, ein
Kaufmann, war strenggläubig, nahm aber unter dem Einfluss der ältesten seiner acht
Kinder liberale Züge an und
wurde vom Talmudleser zum
aktiven Autodidakten der Mathematik und Mechanik. Um
die Jahrhundertwende übersiedelten manche seiner
Nachkommen in andere Länder. Alexandra
fand Anschluss an die Berliner Boheme. Seit 1911 wohnte sie mit
Franz Pfemfert in der Nassauischen Straße 17 zu Wilmersdorf. Die dort im selben Jahr
28
gegründete Zeitschrift „Die
Aktion“ propagierte den Expressionismus, trieb aber zugleich bald linke Politik. Wie
ihre ältere Schwester Nadja
und die jüngere, Maria, war
Alexandra Übersetzerin. Mit
einem Teil ihrer Einkünfte
und durch die ab 1927 von ihr
geleitete Aktions-Buch- und
Kunsthandlung am Rankeplatz unterstützte sie die Zeitschrift und den dazugehörigen Verlag.
Unter den Übersetzungen
war der Kurzroman „Schokolade“ von Tarassow-Rodionow 1924 bemerkenswert, in
dem ein Tscheka-Tribunal einen Unschuldigen hinrichten
lässt und er sich drein schickt.
Sowjetische Kritiker fielen
über das Buch her und drehten
dessen Autor um, worauf er
Alexandra der Verfälschung
seines Werks bezichtigte und
Franz die Sache in der „Aktion“ niedriger hängte. 1929
bot A. Ramm Leo Trotzki die
Übersetzung seiner Autobiographie ins Deutsche an, mit
der (zutreffenden) Begründung, die bisherigen Interpretationen seiner Werke wären
schlecht. Der Arbeit an „Mein
Leben“ folgte mehrjähriges
enges Zusammenwirken. Zu
den Resultaten gehörten deutsche Ausgaben der „Geschichte der russischen Revolution“, von „Stalins Verbrechen“ und mehreren Broschüren. Der erstmals hier auszugsweise wiedergegebene
Briefwechsel zeugt davon,
dass beide Seiten und zudem
oft Franz Pfemfert nicht nur
Probleme der Interpretation,
sondern auch wichtige politische Fragen erörterten. Alexandra verhandelte als Literaturagentin mit Verlegern,
nahm zeitweise Trotzkis Kinder Lew Sedow und Sinaida
Wolkowa unter ihre Fittiche,
unterhielt eine Anlaufstelle
für Trotzki-Anhänger in und
außerhalb der Sowjetunion
und konspirative Briefkontakte. Sie versorgte den Verbannten auf Prinkipo mit für die
Arbeit nötigen Büchern und
„Prawda“-Ausgaben, einmal
auch mit einer zum Angeln im
Marmara-Meer
geeigneten
englischen Schnur. Aufmerken lässt ihr Vorschlag an
Trotzki, „etwas in der Art des
Erfurter Programms“ für die
kommunistische Bewegung zu
schreiben. (S. 345) Vom
Adressaten stammt die (nicht
mehr nur auf diese Nation zutreffende) Bemerkung: „So
genial die Deutschen als Volk
auf verschiedenen Gebieten
sind, so extrem unbedarft sind
sie in der Politik.“ (S. 389)
Ranc schildert, wie Franz
und Alexandra nach dreimaliger Haussuchung an einem
Tage im Frühjahr 1933 gerade noch rechtzeitig Berlin
verließen. Ihr Exil war zunächst
in
Karlsbad
( ČSR), danach in Frankreich,
kurzzeitig in Lissabon und
New York, schließlich in Mexico City. Wiederholt richtete
der als Porträtfotograf begabte Franz zwecks Broterwerbs
ein Fotostudio ein. Die Lebensbedingungen waren ärmlich. Von draußen trafen traurige Nachrichten ein. Die
Zahl der Freunde sank. Allein
Ruth Fischer und Arkadi
Maslow kamen eine zeitlang
hinzu. 1919 hatte Noskes Soldateska Pfemferts Wohnung
geplündert. 1933 nahm die
Gestapo auf Nimmerwiedersehen Archiv, Bücher, Zeitschriften, Bilder und Manuskripte mit. Nach Franz Pfemferts Tod und Alexandras
Übersiedlung zur Schwester
Maria nach Westberlin Mitte
der 50er Jahre gingen die in
Mexiko angesammelten Materialien – wahrscheinlich bei
einer Schiffskatastrophe –
verloren. (S. 175, 469 und
543)
Die letzten Jahre ihres Lebens brachte Alexandra wieder in Berlin-Wilmersdorf zu.
Mit der Wirtschaftswunderund
Frontstadtatmosphäre
kam sie nicht zurecht. Lichtblicke waren Arbeiten im Zusammenhang mit Vorbereitungen für eine Expressionismus-Anthologie, Reprintausgaben der alten „Aktion“, eine Rundfunksendung zu deren 50. Jahrestag 1961 und
Neuauflagen von Trotzkis
Werken. Dessen Witwe Natalja Sedowa, die in Mexiko
die Pfemferts rührend umsorgt hatte, kam kurz vor ihrem Tode zu Besuch nach
Westberlin.
Wie der biographische und
dokumentarische Teil des Buches sind seine Anhänge
wichtig. Durch sie erschließt
sich die Biographie voll und
ganz. Wesentlich erscheinen
mir die Personenangaben
über den tschechoslowakischen Diplomaten Camill
Hoffmann, den Menschewiken Boris Nikolajewski, den
Anarchisten Rudolf Rocker,
von Leopold Schwarzschild
und J. Thomas (Jakub Reich),
welcher durch die 1928 mit
herausgegebene „Illustrierte
Geschichte der Russischen
Revolution 1917“ Stalin, der
darin nur am Rande vorkam,
erzürnte. (S. 326)
Heft 209 der neuen, Hamburger „Aktion“ birgt neben einer Skizze über Leben und
Wirken Franz Pfemferts Auszüge aus dessen Schriften.
Demnach war es Anliegen
seiner Zeitschrift, für „eine
Große Deutsche Linke“ zu
wirken, ohne auf dem Boden
einer bestimmten Partei zu
INPREKORR 396/397
die
internationale
stehen, und eine Tribüne zu
sein, „von der aus jede Persönlichkeit, die Sagenswertes
zu sagen hat, ungehindert
sprechen kann“. (S. 14 f.)
Wer das von mehr als einer
Handvoll heutiger Publikationsorgane erwartet, erwartet
zuviel. Frühzeitig übte Pfemfert am Wilhelminischen
Reich, seinem Militarismus
und seiner imperialistischen
Großkotzigkeit, aber auch an
der bürokratisierten opportunistischen Sozialdemokratie
Kritik, während er gleichzeitig für Rosa Luxemburg Partei
nahm und sich mit Mehring
und Liebknecht gut stand. Im
Kriege sorgte er, seine Zeitschrift geschickt als scheinbar
unpolitisch tarnend, für den illegalen Druck und Vertrieb
der Juniusbroschüre. 1915 bildete sich um „Die Aktion“ eine winzige Linksgruppe, die
„Antinationale Sozialistenpartei“. Sie solidarisierte sich
drei Jahre später mit dem nun
ebenfalls legalen Spartakusbund und trat zur Jahreswende
der KPD bei.
Das Zusammenwirken dauerte bis zum 2., Heidelberger
Parteitag im Oktober 1919.
Dort drängte die Zentrale um
Paul Levi linksradikale Gegner von Parlamentswahlen
und sozialdemokratischen Gewerkschaften zugunsten eines
Rätesystems, mit ihnen fast
die Hälfte der Parteimitglieder
aus der KPD hinaus. Pfemfert
gehörte dazu. Er beteiligte
sich an der Gründung der
Kommunistischen Arbeiter-
29
partei Deutschlands (KAPD)
1920, der Allgemeinen Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAUE) 1922 und des
kurzlebigen Spartakusbundes
II 1926. Artikel künden von
seiner Grundauffassung, gleichermaßen gegen Kapitalismus und „Staatssozialismus“
zu sein. (Hierzu und zum Folgenden S. 49 ff.) Mit großer
Schärfe polemisierte er gegen
den „Salonkommunisten“ Levi und gegen Lenin, der in seiner Schrift „Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ für
„straffste Zentralisation“ und
„eiserne Disziplin“ eintrat und
beim zweiten KI-Kongress im
Juli/August 1920 entsprechende
Aufnahmebedingungen
durchsetzte. Taktisch hatten er
und seine Anhänger Recht.
Doch erwiesen sich seit Stalins Alleinherrschaft Bedenken Pfemferts gegen Abhängigkeit von Moskau und eine
superstarke Zentralgewalt als
wohlbegründet.
Darüber, ob und wie „Die
Aktion“ auf die von russischer Seite mitverursachten
Aufstandsversuche von 1921
und 1923 in Deutschland reagierte, wird nicht berichtet.
Ebenso bleiben Bolschewisierung und Stalinisierung,
der Feldzug gegen „Rechte“,
„Versöhnler“ und von Moskau unabhängige Ultralinke
sowie der verhängnisvolle
Kurs dem „Sozial“- und „Nationalfaschismus“ gegenüber
unerörtert. Wie viele glaubte
Pfemfert, die Todeskrise des
Kapitalismus sei eingetreten,
dieser werde nicht aus ihr herauskommen. (S. 92) Er trat
jedoch dafür ein, SPD und
Zentrum durch das Versprechen parlamentarischer Unterstützung seitens der KPD
zum Mitwirken bei der Abwehr einer Hitlerdiktatur zu
bewegen. (S. 78)
Die trostlosen Exiljahre
werden auch hier erwähnt.
Äußerungen zum VII. Weltkongress der KI 1935 und zur
Volksfront, zum zweiten
Weltkrieg und zur Nachkriegsordnung fehlen. Doch
wird Pfemferts 1936er Versuch beschrieben, Freunde
der UdSSR zur gebührenden
Antwort auf den ersten Moskauer Schauprozess zu bewegen. Sie dürften nicht die
„Sache der Freiheit und konzessionslosen
Wahrheit“
preisgeben, indem sie angesichts der faschistischen Gefahr das berüchtigte „kleinere
Übel“ in der Sowjetunion
stützten, „das tatsächlich
grässliches Unheil ist“. Pfemfert regte einen Gegenprozess
an, um Trotzki Gelegenheit
zu geben, „alle Verleumdungen einwandfrei zu entlarven“. (S. 101) Der Vorschlag
wurde ohne Hilfe der Angesprochenen in Amerika realisiert. Nur ganz wenige äußerten sich ähnlich wie Pfemfert.
Der Humanist Heinrich Mann
indes tat den tiefsten Fall seines Lebens. In der Prager
„Neuen Weltbühne“ bekundete er seinen Glauben an die
Moskauer
Prozesslügen:
„Wenn aber – zum Schaden
der Revolution – Verschwörer auftraten, mussten sie,
zum Nutzen der Revolution,
schnell und gründlich verschwinden.“ Pfemfert hielt
dies für „genauso ungeheuerlich und unheimlich wie das
gesamte Moskauer Schaustück“. (S. 105 bzw. 107)
Die Ramm-Biographie enthält ein weiteres interessantes
Detail: 1951 gaben Margarete
Buber-Neumann und Babette
Gross-Münzenberg
eigenmächtig eine neue Zeitschrift
als angebliche Fortsetzung
der „Aktion“ heraus. Pfemfert
strengte einen Urheberrechtsprozess an. Als der Schwächere verlor er diesen und
hatte nicht mehr die Kraft, literarisch zu antworten.
Gleich der Biographie kündet das Heft von Vorgängen
und Personen in einer Zeit,
die längst vergangen ist, die
viele vergessen oder nie gekannt haben. Dennoch scheinen die Ereignisse aktuell zu
sein. Vielleicht deshalb, weil
es damals ebenfalls große
Umbrüche, verlorene Illusionen und extrem harte Realitäten gab.
Julijana Ranc:
Alexandra Ramm-Pfemfert.
Ein Gegenleben.
Edition Nautilus, Hamburg
2004, 592 Seiten
Die Aktion. Zeitschrift für
Politik, Literatur, Kunst,
Nr. 209, Hamburg
2004, 112 Seiten
INPREKORR 396/397
die
internationale
Thierry Jouvet – Michel Rovère
François Sabado
Unser Genosse Thierry Jouvet
ist am 21. September im Alter
von 52 Jahren verstorben.
Er war nicht lange nach dem
Mai 68 der Ligue communiste
beigetreten. Ich habe ihn als
Schüler am Lycée Saint-Louis
in Paris kennen gelernt. Sehr
schnell hat Michel Rovère (so
lautete sein Name in der Organisation) sich auf internationale Arbeit spezialisiert. Im
Team der Wochenzeitung
Rouge nahm er einen wichtigen Platz ein.
In einer von verstärktem
Aktionismus gekennzeichneten Zeit zeichnete er sich dadurch aus, dass er Theorie,
Schulungen,
Diskussionen
über grundlegende Fragen
wichtig nahm. Er war allerdings kein vertrockneter Theoretiker. Ihm waren auch ein
Sinn für Gastronomie und eine
große Liebe zu Musik und
Kunst eigen. Rovère verschlang Dutzende von Büchern, Artikeln, Papieren zu
jedem Thema, mit dem er sich
beschäftigte. Als Journalist bei
Rouge, erst der Wochen- und
dann der Tageszeitung, berichtete er über die Entwicklungen der portugiesischen
Revolution und die Krisen und
Spannungen des Übergangs in
Spanien nach Francos Tod.
Vor allem aber sorgte er dafür, dass wir die iranische Revolution entdeckten. Ich erinnere mich an seine Artikel und
Reportagen über den Aufstand
in Teheran oder über das Entstehen der Schouras, der „islamischen“ Arbeiterräte in den
Erdölbetrieben. In diesen Jahren, von 1978 bis 1981, leitete
er die Zeitschrift Inprecor und
gehörte er zur Tagesleitung
der IV. Internationale.1
Rovère war vor allen Dingen ein aktives Mitglied. Als
die Ligue in den achtziger Jahren Schritte zum Aufbau von
Strukturen in großen Industriebetrieben beschloss (Ge1 Er sorgte für eine Professionalisierung des damals alle zwei Wochen erscheinenden Organs des
Vereinigten Sekretariats der IV.
Internationale und war außerdem
an den Vorbereitungen zur Herausgabe von International Viewpoint beteiligt (Anm. d. Übers.).
nossInnen sollten sich dort
einstellen lassen), war er zur
Stelle und ging als Arbeiter in
das Chemiewerk von RhônePoulenc in Vitry. Seine Arbeit
war besonders unangenehm
(Schichtarbeit). Er beteiligte
sich aktiv an dem Aufbau der
Zelle bei Rhône-Poulenc und
des Bezirksverbands Val-deMarne der LCR sowie an der
gewerkschaftlichen Aktivität
in seinem Betrieb. Zu dieser
Zeit wurde er auch in das Zentralkomitee der LCR gewählt.
Einige Jahre lang arbeitete er
in diesem Bereich, doch
machte er dann aus gesundheitlichen Gründen eine Umschulung; er stellte seine Erfahrung und seine Kompetenz
in den Dienst der Personalvertretungen. Er arbeitete in einer
Beratergruppe, die auf Anfrage von Betriebsräten bei der
Analyse von Unternehmen
oder Konzernen behilflich
war, insbesondere bei Umstrukturierungen oder im Fall
von geplanten Massenentlassungen.
Außerdem beteiligte er sich
an der Schulung der Mitglieder und Kader und in der Ökonomie-Arbeitsgruppe der LCR
mit. Das letzte Mal habe ich
ihn im Juni gesehen. Er war
bereits schwer krank; trotzdem wollte er unbedingt ein
Arbeitstreffen mit Olivier Besancenot machen, um ihm Argumentationshilfen zum Thema Europa zu geben. Er
sprach davon, wie wichtig die
Weitergabe des revolutionärmarxistischen Erbes an die
jüngeren Generationen ist, und
entwickelte
Vorstellungen,
wie er dazu beitragen könnte –
wie immer offen und jedem
Dogmatismus fremd.
Thierry Jouvet – Michel Rovère hat bis zuletzt an unseren
Kampf gedacht, den wir 35
Jahre lang gemeinsam geführt
haben. Er wird mir fehlen, wie
seinen zahlreichen FreundInnen, GenossInnen, KollegInnen.
Übersetzung: Friedrich Dorn.
Spendenaufruf für das
International Institute for Research and Education (IIRE):
Es gilt weiterhin, die Infrastruktur zu erhalten
Auch dieses Jahr wurden einige Renovierungsarbeiten
am International Institute for Research and Education
(IIRE, Amsterdam) durchgeführt. Aber schon sehr früh
ist unseren Freundinnen und Freunden vom Institut das
Geld ausgegangen. Wichtige Maßnahmen zum Erhalt
des Bauwerks wie auch zur Erweiterung der Infrastruktur sind weiterhin erforderlich, um dieses wichtige Institut auch in Zukunft für Seminare verschiedenster Art
nutzen zu können.
Hier führt die IV. Internationale jedes Jahr mehrere
Schulungen durch („Nord-Süd“-Schulungen, Frauenseminare, Lesbian&Gay-Seminare, Ökonomieseminare,
Jugendschulungen usw.). Das Haus beherbergt das
Schulungszentrum Ernest Mandel, steht aber auch anderen, befreundeten Organisationen offen und ist in den
30
vergangenen 20 Jahren von Hunderten von AktivistInnen aus der ganzen Welt genutzt worden.
Wer noch vom reichlich fließenden Weihnachtsgeld
was übrig hat (was mit Sicherheit für die meisten zutrifft), der/die möge bitte umgehend spenden auf eines
der folgenden Konten:
Postgirokonto 2079 557 (IIRE, Amsterdam).
In Deutschland: Konto Nr. 43 43 83 00 04 (P. Berens;
Stichwort: IIRE) bei der Volksbank Rhein-Ruhr,
BLZ 350 60 386
In der Schweiz:
Kto. Nr. 40-8888-1. COOP-Bank, 266233.290005-6
(Förderverein des Studienzentrums, Stichwort:
E.Mandel/IIRE)
INPREKORR 396/397
IV. INTERNATIONALE
Fortsetzung von Seite 18
Die „Hagana“ – die zionistische
„Selbstschutzorganisation“ – begann
uns auszubilden: Revolver, Handgranaten, Gewehre, Maschinenpistolen. Aber
wer war der Feind?
Das Dorf Karkur, wo unser Kibbuz
damals war, lag an der Grenze des jüdischen Siedlungsgebietes. Als ich 1933
nach Palästina kam, lebten 175 000 Juden unter 1,5 Millionen Arabern. Der
„Haschomer Hazair“, die linkssozialistische, stark stalinistisch beeinflusste
Kibbuzbewegung, wollte, dass sich die
arabischen zusammen mit den jüdischen
Arbeitern in einer gemeinsamen Klassenorganisation, der „Histadruth“ (Gewerkschaft) zusammenschließen. Der
„Haschomer Hazair“, dem auch mein
Kibbuz angehörte, erwartete, dass eines
Tages ein „binationaler“ arabisch-jüdischer Staat in Palästina entstehen wird.
Beides wurde von der sozialdemokratischen Mehrheit in der Histadruth, der
Mapai, abgelehnt.
Wenn man in einem solch armen
Land wie in Palästina einen jüdischen
Staat mit einer jüdischen Arbeiterklasse
und nicht nur eine weiße Siedlerherrenschicht wie in Südafrika schaffen wollte, konnte dies nur auf Kosten der arabischen Bevölkerung gehen. Darum wurde propagiert: „Kauft die Produkte des
Landes.“ Das waren die jüdischen Produkte, die teurer waren als die arabischen. „Erobert die Arbeit“ sagte man
uns, also: ersetzt die billige, unorganisierte arabische Arbeit durch teure, organisierte jüdische (wobei man gleichzeitig die Histadruth, die Gewerkschaftsorganisation, für die Araber versperrte!). „Erobert den Boden“ hieß die
dritte Losung. Man kaufte von den reichen arabischen Effendis, den Großgrundbesitzern, den Boden mit Hilfe des
jüdischen Nationalfonds, der ihn ausschließlich an jüdische Siedler verpachtete. Die armen arabischen Fellachen,
die meist Pächter waren, wurden mit
Geld abgefunden, mit dem sie wenig anfangen konnten.
Die Haltung der Mapai war durchaus schlüssig. Man musste bereits innerhalb des arabischen Palästina einen geschlossenen jüdischen Wirtschaftssektor schaffen und diesen immer mehr
ausweiten, wenn man eines Tages einen
jüdischen Staat haben wollte. Unterstützung hierfür kam von zwei Seiten:
INPREKORR 396/397
vom britischen Imperialismus, der
trotz aller Schwankungen stets auf der
Seite der Zionisten blieb, und von den
amerikanischen Juden, die Geld spendeten.
Dass dieser Plan aber überhaupt Erfolg haben konnte, verdanken die Araber Hitler. Er hatte die sich auflösenden,
in voller Assimilation befindlichen
deutschen Juden zunächst ins Ghetto
und später in die Todes- und Vernichtungslager geschickt. Für sie, aber auch
für die nichtzionistische jüdische Arbeiterklasse in Osteuropa, wurde Palästina
zum einzigen Schlupfloch, weil die so
humanen demokratischen imperialistischen Staaten, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise, sich weigerten, jüdische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen.
Eines Tages, als ich im Kibbuz hinter unserer holzverkleideten steinernen
Schanze auf Wache stand, sah ich Flugzeuge, die wie Raubvögel immer wieder
auf einen kahlen Berg niederstießen.
Dann folgten Maschinengewehrgarben,
die mit einzelnen Schüssen beantwortet
wurden. Einige Stunden später kamen
britische Soldaten zu uns und erzählten,
sie hätten eine arabische „Bande“ – etwa
6o Menschen – wie Hasen abgeschossen. Die Briten bewunderten den Mut
dieser Männer, die versuchten, mit ihren
Gewehren die britischen Flugzeuge zu
treffen und die sich, wenn man sie verwundet gefangen nehmen wollte, noch
mit ihren „Djabries“, den arabischen
Krummdolchen, auf die Soldaten stürzten.
(Dieser Tage las ich im Stern, Nr.4/
78, der GSG-Kommandeur Wegener
habe sich in Mogadischu überrascht gezeigt über „die heftige Gegenwehr der
Palästinenser“. Er habe geglaubt, dass
Araber nicht sehr mutig seien. Jetzt
kämpften sie wie Japaner auch in aussichtsloser Position weiter. Wegener:
„Das war neu und erschreckend. Die
Leute hatten eine riesige Energie und einen fanatischen Hass.“
Niemand fragt danach, ob die Wurzel dieses Hasses nicht in der unterdrückten Freiheitsliebe dieses Volkes
liegt, sowie in dem unbändigen Zorn
darüber, dreißig Jahre lang in Lagern zu
vegetieren.)
Einige von uns im Kibbuz begannen
damals Fragen zu stellen über unsere
„Feinde“. Wir kamen zu dem Ergebnis:
diesen Menschen geschieht unrecht.
Wir, die wir selber Opfer Hitlers sind,
verüben an ihnen Unrecht. Wenn wir es
ernst meinen mit unserem Internationalismus, müssen wir einen Weg suchen
zu diesen arabischen Massen.
Wir wollten den Kibbuz nicht verlassen, der unsere Heimat, unsere Lebensform, unsere Familie war. Bald
aber mussten wir begreifen, dass, wer
nicht mehr Zionist ist, nicht im Kibbuz
leben darf, der trotz seiner fortschrittlichen gesellschaftlichen Experimente die
Speerspitze des Zionismus bildet. Standen nicht auch die katholischen Klöster
im Mittelalter, diese wunderbaren Kommunen, die alle damaligen Schätze der
menschlichen Kultur aufbewahrten und
mehrten, im Dienste der feudalistischen
Kirche, die eine der furchtbarsten Unterdrückungsmächte war, gegen die sich
Reformation und Bauernaufstände richteten?
Wenige Monate nachdem wir den
Kibbuz verlassen hatten, zwei Monate
vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs,
wurden drei von uns Ausgeschlossenen verhaftet und interniert. Administrativ, ohne jedes Gerichtsverfahren,
erhielten wir 12 Monate zudiktiert, die
beliebig verlängert werden konnten.
Wir kamen zum ersten Mal mit dem
britischen Imperialismus in Berührung, der jüdische Nichtzionisten als
Gefahr ansah.
Im Polizeigefängnis von Haifa wurden etwa 30 Häftlinge so eng in einem
Raum zusammengepfercht, dass man
sich nicht einmal beim Schlafen ausstrecken konnte. Wir lagen nachts auf dünnen Matten, die von Gefangenen aus
Lumpen geflochten waren; tagsüber saßen wir auf dem Zementboden zusammen mit Kriminellen, mit Menschen,
die offene Tbc, Geschlechtskrankheiten,
die Krätze oder Läuse hatten. Hier gab
es zwischen Juden und Arabern keine
Unterschiede mehr, ebensowenig wie
zwischen Politischen und Kriminellen.
In der Zelle gab es weder Tisch noch
Stuhl. In der Ecke stand ein offener Pisskübel.
Einige Tage darauf wurden wir in
die Festung Akko eingeliefert. Eine
Nacht lang war ich dort mit Mitgliedern
einer arabischen „Bande“ zusammen,
die wir heute Partisanen oder Freischärler nennen würden. Ihre Moral, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie
diskutierten, ihr Kampfwille – einige
von ihnen waren zum Tode verurteilt
und wurden hingerichtet – hinterließen
einen tiefen Eindruck auf mich.
31
IV. INTERNATIONALE
Tags darauf wurden wir von einem
Aufseher instruiert, wir würden nun
ärztlich untersucht und müßten Fragen
mit „Yes Sir“ beantworten. Wir standen
in einer langen Reihe, wurden einem
britischen Militärarzt vorgeführt, der
fragte: „Everything alright?“ Wir antworteten: „Yes Sir“. Die medizinische
Inspektion war beendet.
Nachdem 12 Monate meiner Internierung abgelaufen waren, wurde die
Haft automatisch für weitere 12 Monate
erneuert. Mit uns zusammen – wir waren inzwischen nach Sarafand überführt
worden und kamen später nach Masra –
war ein Sekretär der Palästinensischen
Kommunistischen Partei, Meir Slonim,
interniert seit sechs Jahren, ohne Prozeß, ohne Urteil.
Eines Tages wurde eine Gruppe jüdischer Strafgefangener – 43 Mann – in
das benachbarte Lager eingeliefert. Sie
waren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie britischen Soldaten mit voller Bewaffnung in die Arme gelaufen waren. Ihr Anführer hieß
Moshe Dayan1. Natürlich wurden sie
lange vor Ablauf ihrer Strafe entlassen.
Unter uns Häftlingen übten wir Solidarität, und da wir als Internierte das
Recht hatten, Geld zu erhalten und zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen,
schmuggelten wir einen Teil davon in
das Lager der Strafgefangenen, in dem
auch Mosche Dayan saß, mit dem ich
über den Zaun hinweg fruchtlose Diskussionen führte. Zusammen interniert
mit uns waren auch die bedeutendsten
Führer der rechtsradikalen zionistischen
Terroristen, wie Abraham Stern, Abrascha Zehner und David Razill, Vorläufer Begins als Führer des „Irgun“.
Die Linken im Lager organisierten
gemeinsam mit den arabischen Häftlingen, die zu hunderten interniert waren,
einen Hungerstreik, um endlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen. Wir wurden zwangsernährt und erhielten nach sieben Tagen das Versprechen, dass wir vor eine Kommission gestellt würden, die unsere Fälle überprüfen werde.
1 Moshe Dayan war später einer der einflussreichsten Militärs und Politiker bei der (militärischen) Durchsetzung des Staates Israel. Er
war Mitglied der Mapai und der Haganah, später der Rafi („Arbeiterliste“) und ab ihrer
Gründung 1968 der „Israelischen Arbeitspartei“; von 1953 – 58 Generalstabschef, leitete
den Sinaifeldzug; 1959-64 Landwirtschaftsminister, 1968-74 Verteidigungsminister, 197779 Außenminister. Anmerkung der Redaktion.
32
In den zweieinviertel Jahren, die ich
interniert war, habe ich nicht nur Sprachen gelernt, eine Art Lageruniversität
mitorganisiert, sondern auch erfahren,
was die drei Buchstaben CID (Criminal
Investigation Department) bedeuten, die
ich vor meiner Verhaftung gar nicht
kannte. Sie bedeuteten, dass Häftlingen
Holzstäbchen unter die Fingernägel getrieben wurden, dass man Feuer unter
ihren Fußsohlen anzündete, dass sie an
den Händen aufgehängt wurden, bis sie
vor Schmerz brüllten; und all das, um
Aussagen von ihnen zu erpressen. Ich
lernte, dass der demokratische Imperialismus im Kampf für die Erhaltung seines Imperiums manchmal nicht weniger
zimperlich ist als der Faschismus, der
auszieht, ein neues Imperium zu erobern.
Drei Monate nach dem Einmarsch
der Nazis in die Sowjetunion kam ich
endlich vor eine britische Untersuchungskommission. Sir Hartley Shawcross, ein in Gießen geborener englischer Jurist, der 1945 Labour-Abgeordneter, dann Kronanwalt und später
Hauptankläger für Großbritannien vor
dem Internationalen Militärtribunal in
Nürnberg war, führte den Vorsitz. Er
wollte wissen, was eigentlich gegen
mich vorliege, und war ebenso wie mein
Anwalt, der bedeutende jüdische Arabist Goitein, über die „Beweise“, die
von der Polizei geliefert wurden, überrascht, ja empört. Shawcross verfügte
meine Freilassung.
In den zweieinviertel Jahren meiner
Internierung hatte nur ein Vetter von mir
es gewagt, mich ein einziges Mal zu besuchen. Jeder, der um die entsprechende
Erlaubnis bat, wurde von der CID darauf aufmerksam gemacht, welchem Risiko er sich damit aussetzt.
Nach meiner Entlassung stand ich
dennoch lange unter Polizeiaufsicht,
was mich nicht daran hinderte, nun zum
ersten Mal wirklich mit arabischen Linken Verbindung aufzunehmen, unter
denen ich Freunde gewann. Während
des Krieges kamen wir über sympathisierende marxistische Soldaten mit der
ägyptischen Literaturzeitschrift Megalla Gedidah (Neue Zeitung) in Kontakt.
Wir traten in eine politische Diskussion
mit den Redakteuren ein, von denen
1947 einige an der ersten großen Massenstreikbewegung ägyptischer Arbeiter Anteil hatten.
Als das Kriegsende kam, bereitete
ich mich auf die Rückkehr nach
Deutschland vor. Einige meiner Freunde waren in die Armee, zur Marine oder
zur UNRRA (United Nations Relief and
Rehabilitation Administration) gegangen und setzten sich in Europa ab. Eine
internationalistische politische Arbeit in
Palästina schien mehr und mehr aussichtslos. Die terroristischen Attentate
des rechtsextremen Irgun Zwai leumi
(Nationale Militärorganisation) – einer
ihrer Führer war der jetzige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin –; die
Anschläge der Stern-Organisation, das
britische Hauptquartier in Jerusalem,
das King David Hotel, wurde in die Luft
gejagt, wobei fast 100 Menschen umkamen; der Terror vor den Raffinerien von
Haifa, wo in der Schlange der dort nach
einem Tag Arbeit anstehenden arabischen Fellachen eine Bombe explodierte, die mehr als 40 Menschen zerriss;
schließlich der blutige Pogrom gegen
das arabische Dorf Dir Yassin, in dem
auch Frauen und Kinder ermordet wurden, und viele andere Attentate ließen
eine friedliche Lösung immer weniger
zu. Als ich sah, wie meist orientalische
Juden aus arabischen Dörfern bei Jerusalem fortschleppten, was nicht nietund nagelfest war, oder armselige Behausungen niederrissen, erinnerte ich
mich wieder an den Pogrom der Polen.
Nur: Hier wurden Juden zu Pogromisten.
1947 beschlossen die Vereinten Nationen – die USA gemeinsam mit der
Sowjetunion – die Zweiteilung Palästinas. Die Araber beantworteten dies mit
einem Generalstreik. Tagtäglich explodierten nun arabische oder jüdische
Bomben, wurden Menschen ermordet.
Wenn man sich morgens verabschiedete
und zur Arbeit ging, sagte man sarkastisch: „Auf Wiedersehen in der Abendzeitung“. Dort wurden die Bilder der Ermordeten veröffentlicht.
Anfang 1948 kam ich mit einem
Touristenvisum und einem Pass des britischen Mandatsgebiets Palästina in
Frankreich an. Von dieser Zeit an durchlebte ich zuerst in Frankreich, dann in
Belgien das Schicksal eines Emigranten, dessen Mandatspass seine Gültigkeit verlor und der stets im Clinch mit
den Polizeibehörden lag, die ihn ausweisen wollten. Denn die britische Regierung hatte beschlossen, ihre Truppen
aus dem Mandatsgebiet Palästina am
14.5.1948 zurückzuziehen. Am gleichen Tag wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Truppen der arabischen StaaINPREKORR 396/397
IV. INTERNATIONALE
ten, die versuchten, die Entstehung des
Staates zu verhindern, wurden geschlagen. In Panik flohen hunderttausende
Araber in die Nachbarstaaten. Sie gingen in die Diaspora wie die Juden 1900
Jahre vor ihnen.
1933 war ich als Jude in das arabische Palästina gekommen. Als ich 1948
das Land verließ, waren die Araber zu
Juden geworden. Ich kehrte im November 1948 als überzeugter Internationalist
nach Deutschland zurück. In der falschen Hoffnung, die Geschichte würde
dort weitergehen, wo sie nach der Revolution von 1918 unterbrochen worden
war.
3.
Mag sein, dass es wirklich Menschen
gibt, die niemals schwanken. Die Heiligen der katholischen Kirche etwa, oder
die Bolschewiken aus der Retorte der
stalinistischen Geschichtsfälscher. Aber
die Entwicklung des Nachkriegseuropa,
vor allem die enttäuschte Hoffnung auf
das Verschwinden der blutigen Herrschaft Stalins nach dem Krieg und des
Sieges der sozialistischen Demokratie
in Europa und in der Sowjetunion machten mir schwer zu schaffen.
Drei Monate vor dem Tod Stalins
veröffentlichte ich eine kleine Schrift:
Aufstieg und Niedergang des Stalinismus – Kommentar zum kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Unter den Linken in der Bundesrepublik, aber vor allem unter Kommunisten in der DDR, wo die Tradition der
marxistischen Analyse durch den Faschismus und den Stalinismus angeschlagen war, löste diese Schrift Diskussionen aus.
Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: „Revolutionärer und bürokratischer Terror“. Es beginnt mit der Feststellung, daß, wie immer man subjektiv
den Terror, die Gewaltanwendung in
der Geschichte verabscheuen mag, sich
nicht leugnen lasse, dass die Gewalt zuweilen eine Hebamme der Geschichte
gewesen ist.
„Angefangen von der puritanischen
englischen Revolution bis zu den amerikanischen Befreiungskriegen gegen
die Engländer, dem Kampf um die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten
Amerikas oder der Französischen Revolution hat die Gewaltanwendung eine Rolle gespielt. Gewalt wird in der
INPREKORR 396/397
gleichen Weise vom Chirurgen angewandt, der einen Patienten mit einem
Skalpell behandelt, und vom Mörder,
der sein Opfer mit einem Dolch tötet.
Man kommt also um die Frage nicht
herum, wer zu welchem Zweck Gewalt
anwendet. Wie unterscheidet man jedoch die revolutionäre von der reaktionären Gewalt? Wie kann man feststel-
auch nachher vielleicht etwas anderes
genügt.“
Wie aber sah es mit der Schreckensherrschaft der russischen Revolution aus?
Ich schrieb:
„Man kann ohne jede Übertreibung
feststellen, dass die vom Stalinismus angewandten Mittel den von ihm selbst
Gewaltanwendung spielte bei
der Befreiung der
Sklaven eine
wichtige Rolle
len, ob Gewaltanwendung dem Fortschritt dient oder den Fortschritt behindert?“
Ich zitierte, was Mark Twain, einer der
aufrichtigsten amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, ein wahrhafter
Verfechter der amerikanischen Demokratie, über die Schreckensherrschaft
der Französischen Revolution in seinem
Buch Ein Yankee am Hofe von König
Artus schrieb:
„Es gab zwei Schreckensherrschaften, wenn wir uns daran erinnern und es
erwägen würden. Die eine verübte Mord
in heißer Leidenschaft, die andere hatte
tausend Jahre gedauert. Die eine verhängte Tod über zehntausend Personen,
die andere über hundert Millionen, aber
unser Schaudern gilt nur dem ,Schrecken des kleineren Terrors, des momentanen Terrors sozusagen: Was aber ist
der Schrecken eines raschen Todes
durch das Beil, verglichen mit dem lebenslangen Sterben durch Hunger, Kälte, Schimpf, Grausamkeit und an gebrochenem Herzen?. . . Trotz allem scheinheiligen Gewinsel vom Gegenteil hat
noch kein Volk der Welt jemals durch
gütliches Zureden und moralische Überredung seine Freiheit erlangt, da es ein
unabänderliches Gesetz ist, dass jede
Revolution, die Erfolg haben will, mit
Blutvergießen beginnen muss, wenn
angegebenen Zweck beständig verfehlen. Die Sowjet-Demokratie hatte sich
als hinreichend erwiesen, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten. Aber
um die Überbleibsel (der herrschenden
Klassen) in der Wirtschaft und im zurückgebliebenen Bewusstsein der Menschen zu bekämpfen, braucht Stalin angeblich den gewaltigen Machtapparat
seiner Geheimpolizei! In Wirklichkeit
ist es so, dass das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen
Gruppen die immer wieder aufflackernde Idee des echten Marxismus und Leninismus ist, der eben nie ausstirbt, weil er
von der Sowjetwirklichkeit selbst tausendfach immer neu hervorgebracht
wird: jene tiefe Sehnsucht der Massen
zur Wiederbelebung der Demokratie in
der Sowjetunion und das Drängen zur
Beseitigung jener stalinistischen Kaste,
die, ohne im wissenschaftlichen Sinne
eine besitzende Klasse zu sein, zehnfach
die Laster aller besitzenden Klassen enthält.
Der stalinistische Terror, angeblich
ein Mittel, die Klassenherrschaft zu beseitigen, ist in Wahrheit ein Mittel, das
dieses Ziel beständig verfehlen muss,
und insofern eben kein Mittel, das den
Zweck heiligt, sondern ihn schändet...
Der bürokratische Terror ist im Gegensatz zum revolutionären hinterhältig, inquisitorisch und unehrlich. Er
33
IV. INTERNATIONALE
wendet sich mit größter Niedertracht gerade gegen jene, die sich weigern, in diesem Regime der Unterdrückung eine
klassenlose sozialistische Gesellschaft
zu sehen. Die Wahrheit ist der größte
Feind der Bürokratie, aber sie kann auf
die Dauer nicht mit terroristischen Methoden ausgerottet werden. Sie wird
auch die stalinistische Geheimpolizei
überleben.“
Das hat sie getan. Der 20. Kongress der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Arbeiteraufstände in den Satellitenstaaten, jetzt die Charta 77, das Buch
von Bahro, der Protest der 14 polnischen Kommunisten, die Entwicklung
der Eurokommunisten bei all ihren
Mängeln – all das bezeugt, dass ich
mich nicht in allem geirrt habe, als ich
drei Monate vor Stalins Tod den Niedergang des Stalinismus kommen sah.
Dennoch, meine optimistische Zeitrechnung, meinen Optimismus in bezug auf
die Entwicklung der Linken in den sozialdemokratischen Parteien muss ich revidieren. Die kurze Zeitspanne eines
Menschenlebens reicht eben nicht aus,
um historische Prozesse an ihr zu messen, obwohl sich der Gang der Geschichte erheblich beschleunigt hat. Das
macht uns ungeduldig.
Was für den stalinistischen Terror
gilt, trifft abgewandelt auch auf den individuellen Terror zu. Auch er verfehlt
beständig den selbst angegebenen
Zweck. Er führt nicht zur „Vernichtung
des Klassenfeindes“, sondern hilft seine
Herrschaft zu stabilisieren. Er fördert
nicht das zurückgebliebene Bewusstsein
der Massen, sondern er verwirrt es. Der
individuelle Terrorist macht sich selbst
zum Helden der Geschichte, anstatt die
Klasse der Arbeitenden über ihre historische Aufgabe aufzuklären, sie ihr bewusst zu machen, damit sie selbst wieder als Held auf die Bühne der Geschichte tritt.
Noch zweimal wurde ich nach der
Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mit dem Problem der Gewalt konfrontiert. Das eine Mal – ich war damals
Sozialreferent im diplomatischen Dienst
der Bundesrepublik in Paris – als der
Aufstand in Algerien ausbrach. Mir war,
nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien,
den Bombardierungen in Algerien wußte, unbegreiflich, dass die „Front de
Libération Nationale“ und das algerische Volk all dem standhielten und nicht
34
zusammenbrachen; dass die Algerische
Befreiungsfront, die seit 1954 pausenlos
einem gnadenlosen Terror ausgesetzt
war, nicht aufgab. In einem Pariser Cafe
stellte ich diese Frage der jungen, algerischen Schriftstellerin Assja Djebar. Sie
antwortete: „Wenn ein algerischer Fellache für den FLN rekrutiert wird, erhält
er zum ersten Mal in seinem Leben ein
paar Schuhe und ein Gewehr. Damit
wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewusstsein, das er
hierdurch gewinnt, das Gefühl, dass er
für die Befreiung seines Volkes kämpft,
jetzt kämpfen kann, lässt ihn alles ertragen bis zum Sieg.“
Viele Jahre später kam dieser Sieg,
wenn auch wiederum nicht so, wie ihn
viele erhofft und erwartet hatten: als
Sieg des Sozialismus in Algerien. Aber
dennoch: Algerien wurde frei.
Das zweite Mal trat mir die Gewalt
in Chile entgegen, als ich zwei Monate
nach dem Militärputsch für die Gewerkschaftszeitung Metall nach Chile ging.
Ich fragte chilenische Gewerkschafter,
ob man der Regierung Allende vorwerfen könne, sie habe die Verfassung verletzt, wie das damals ein großer Teil der
bürgerlichen Presse in der Bundesrepublik behauptete. Sie antworteten:
„Wenn die Regierung Allende zugrunde gegangen ist, so höchstens darum, weil sie sich allzu sehr an die Verfassung gehalten hat. Wir, die Gewerkschaften, wollten rechtzeitig der Sabotage der Unternehmer und dem Boykott
der von ihnen aufgehetzten Lastwagenbesitzer und Ärzte entgegentreten. Wir
forderten, den Kampf gegen die Terroristen von ,Patria e Libertad‘ aufzunehmen. Aber die Regierung Allende ließ
im Parlament ein Gesetz verabschieden,
das die Suche nach Waffen erleichterte.
Gefunden wurden seltsamerweise nur
die spärlichen Waffen, die Arbeiter zu
ihrem eigenen Schutz in den Betrieben
hatten, während die Rechtsextremisten
bis an die Zähne bewaffnet blieben. Als
der Putsch der Junta begann, befahl man
uns, die Betriebe zu besetzen. Wir haben
es getan. In der Hoffnung, dass die
christlich-demokratische Partei von
Eduardo Frei uns gegen die putschenden
Generäle ebenso unterstützen würde,
wie wir ihn unterstützt hatten, als er an
der Regierung war und General Viaux
gegen ihn putschte. Aber er hat geglaubt, die Junta werde ihm nach ihrem
Putsch die politische Macht überreichen. Sie denkt nicht daran. Wir aber
waren in den Betrieben ohne Waffen,
ohne Schutz, ohne die Möglichkeit, uns
zu verteidigen.
Es war falsch, dass die Regierung
Allende die Armee in die Politik hineingezogen hat, dass sie immer weiter zurückwich. Sie hätte mehr Vertrauen zu
uns, zu den Gewerkschaften, zu den in
den Betrieben Beschäftigten haben
müssen, die bereit waren zu kämpfen,
die aber mit leeren Händen nicht kämpfen konnten...
Mancher von uns denkt heute: Hätte
die Unidad Popular doch den Mut gehabt, zwei Dutzend Generäle und drei
Dutzend Spekulanten so zu behandeln,
wie man heute mit Tausenden von uns
umgeht, dann hätte uns das viele Opfer
und Qualen erspart.“
Ich fühlte mich wieder wie im Jahr
1933. Die politisch und militärisch unbewaffnete Gerechtigkeit hatte ihren
Kampf gegen die waffenstarrende Ungerechtigkeit verloren.
4.
Aber aus welchen Quellen speist sich
trotz aller Niederlagen meine Zuversicht
in den Sieg des Sozialismus, den wir
wollen? Die Befreiung Algeriens, Vietnams ist nur ein Teil der Antwort. Ein
anderer Teil liegt in der Hoffnung, die
jene vernichtete, in Gaskammern erstickte jüdische Arbeiterklasse Osteuropas bis zum letzten Atemzug, bis in ihrem Todesgesang aufrecht erhalten hat.
Die Hymne des „Bund“ hatte in seltsam geheimnisvoller Weise einiges davon vorweggenommen, vorausgeahnt.
In freier Übersetzung beginnt sie:
„Vielleicht bau ich in der Luft nur meine
Schlösser.
Vielleicht ist mein Gott überhaupt nicht
da.
Im Traum wirds leichter mir, im Traum
wird es mir besser.
Im Traum ist der Himmel blau und völlig klar.“
Wer nicht im KZ ermordet, nicht in
den Gaskammern umgebracht wurde,
wer nicht in imperialistischen Kriegen
gefallen ist, hat kein Recht dazu, den
Kampf für den Sozialismus aufzugeben.
Lenin, der größte revolutionäre Realist war es, der sagte: „Der Mensch muss
träumen können.“
Im Frühjahr 1978
INPREKORR 396/397
BRASILIEN
Die Parteifrage in Zeiten der
Lula-Regierung
Die kürzlich erfolgte Gründung einer neuen sozialistischen Partei in Brasilien – der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) – durch DissidentInnen
der Arbeiterpartei (PT) und der Vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU) hat in der brasilianischen Linken eine heftige Diskussion über die
Möglichkeiten und die Richtigkeit des Entscheids,
erneut eine Partei aufzubauen, ausgelöst.
Im Folgenden veröffentlichen wir verschiedene
Standpunkte dazu. Zuerst eine Reportage über die
Gründungsversammlung der neuen Partei in Form
eines Interviews mit unserer im Dezember letzten
Jahres aus der PT ausgeschlossenen Genossin
Heloísa Helena (vgl. Inprekorr 386/387, S. 3), Senatorin des Bundesstaates Alagoas und Mitglied der
Tendenz Sozialistische Demokratie, die zur Zeit
den Vorsitz der PSoL inne hat. Die anderen drei Artikel kritisieren diesen Schritt aus verschiedenen
Blickwinkeln. Der erste Artikel stammt von einem
führenden Genossen der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT, der zweite ist das Editorial
einer von Linkskatholiken herausgegebenen Wochenzeitung und der dritte ein Beitrag aus der Monatszeitung der Tendenz Sozialistische Demokratie in der PT, in der die GenossInnen der Vierten Internationale organisiert sind. (inprecor)
Dissidenten sammeln sich in
der PSoL, um die sozialistischen Ideale
wiederzubeleben
Maurício Hashizume
Eine neue Linkspartei unter Führung
von Abgeordneten, die aus der PT ausgeschlossen wurden, hat am vergangenen Wochenende einen bedeutenden
Schritt vorwärts vollzogen. Rund 700
GenossInnen haben sich zum ersten
Treffen der Partei Sozialismus und
Freiheit (PSoL, das sich wie sol – Sonne ausspricht) in der Hauptstadt Brasilia versammelt, um den Namen der
Partei zu beschließen, die Statuten festzulegen und ein provisorisches Programm zu verabschieden. Die Organisation, die sich im Spektrum der Linksparteien als Alternative versteht, hat
bereits eine Vorsitzende: die Senatorin
Heloísa Helena, die noch für die PT im
Bundesstaat Alagoas gewählt wurde,
heute aber keiner offiziell anerkannten
Partei angehört. An ihrer Seite in der
neuen Parlamentsgruppe finden sich
weiter ehemalige PT-Abgeordnete wie
Babá (Bundesstaat Pará), João Fontes
(Bundesstaat Sergipe) und Luciana
Genro (Bundesstaat Rio Grande do
35
Sul) – Letztere ist übrigens die Tochter
von Erziehungsminister Tarso Genro.
Sie alle haben einen Prozess der politischen Isolation durchgemacht, nachdem sie im Kongress gegen die Reform
der Sozialversicherung gestimmt hatten. Diese Ausgrenzung gipfelte im
Dezember 2003 an der nationalen PTLeitungssitzung in ihrem Ausschluss,
der mit disziplinarischen Gründen und
mangelnder Loyalität gegenüber der
Partei begründet wurde.
Die meisten der Anwesenden des
PSoL-Gründungstreffens kommen aus
der Strömung Sozialistische Demokratie (DS) der PT, die sich in der neuen Organisation in der Tendenz namens Rote Freiheit zusammengeschlossen haben, sind Dissidenten der
Kommunistischen Partei Brasiliens
(PCdoB) und der Vereinten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU), Funktionäre der Beamtengewerkschaft (vor
allem Lehrer) oder AktivistInnen der
Bewegung Boden, Arbeit und Freiheit
(MTL) oder unabhängiger Gruppen.
Nach den Worten eines der 16 Mitglieder des Exekutivausschusses der
neuen politischen Kraft sehen die
meisten PSoL-Mitglieder in diesem
Schritt den „letzten Versuch“, eine institutionelle Partei aufzubauen. Unter
den der neuen Gruppe beigetretenen
„Persönlichkeiten“ finden sich auch
der Soziologe Chico de Oliveira und
Prof. Paulo Arantes.
Um vollberechtigt an den Wahlen
teilnehmen zu können, muss die PSoL
noch ihre „Legalisierungskampagne“
erfolgreich über die Runden bringen,
d. h. die für die Registrierung nötigen
Unterschriften sammeln. „Am Wahltag
für die Kommunalwahlen im November 2004 werden ‚PSoL-Brigaden‘ im
ganzen Land unterwegs sein, um die
nötigen 438 000 Unterschriften zu
sammeln. Wir werden in allen Bundesstaaten Seminare durchführen – um
den Formalitäten zu genügen und die
erforderlichen ,bürokratischen HinderINPREKORR 396/397
BRASILIEN
nisse‘ zu überwinden, gleichzeitig aber
auch das angenommene provisorische
Programm und die Statuten zu verfeinern. Im Januar [2005] werden wir
während des Weltsozialforums in Porto Alegre unser zweites nationales
Treffen abhalten“, meint die Vorsitzende der neuen Partei.
Heloísa Helena:Die anderen Parteien
erscheinen heute als Instrumente der
triumphalistischen Propaganda des
Neoliberalismus, da sie auf die eine
oder andere Weise das von der Regierung Lula verfolgte neoliberale Projekt
unterstützen. Wer immer versucht, die
Bedeutung der Lula-Regierung zu ana-
Heloísa Helena, die 2006 möglicherweise für die PSoL als
Präsidentschaftskandidatin ins Rennen gehen wird
Senatorin Heloísa Helena, die nach
eigener Aussage „die besten Jahre ihres
Lebens“ dazu beigetragen hat, die PT
aufzubauen, kritisiert an der Regierung,
dass diese heute „dieselbe neoliberale
Politik vorantreibt, der in der Vergangenheit durch die Opposition der PT,
sei es in sozialen Bewegungen oder im
Parlament, Schranken gesetzt wurden“.
„Wir fühlen uns daher genötigt, ein politisches Refugium aufzubauen und das
historische Banner der Arbeiterklasse
und all dessen, was ideologisch und
programmatisch im Verlauf der Geschichte der sozialistischen Linken erarbeitet wurde, zu bewahren“, meint
sie. Nachfolgend veröffentlichen wir
Ausschnitte aus einem Interview, das
Heloísa Helena, die 2006 möglicherweise für die PSoL als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen gehen wird, kurz
nach der ersten nationalen Versammlung der jungen Partei der Agentur Carta Maior (ACM) gegeben hat.
Agentur Carta Maior (ACM):Worin
liegt der Hauptunterschied zwischen
dem Programm der PSoL und den bestehenden Linksparteien?
36
lysieren und einen Funken gesunden
Menschenverstand hat, wird – ob
Sozialist oder Kapitalist – erkennen,
dass die Unterwerfung unter die Parasiten des Internationalen Währungsfonds
(IWF) und anderer multilateraler Finanzinstitutionen und die Abzweigung
staatlicher Gelder (in der Höhe von
60%) zugunsten der Spekulation andauert und Reformen durchgeführt
werden, die nichts mit den Reformen
des Staatsapparats gemein haben, die
wir stets verteidigt haben.
Wir verteidigen Reformen des brasilianischen Staates, der im Interesse
einer Minderheit privatisiert wurde.
Die von der Regierung Lula in Fortsetzung der Politik seines Vorgängers
Fernando Henrique Cardoso eingeleiteten Reformen sind dagegen nichts als
neoliberale Gegenreformen, die sich
des einzigen Mechanismus der Senkung der Sozialausgaben bedienen, um
die steigenden Finanzausgaben – ein
Ergebnis der Wirtschaftspolitik und einer streng monetaristischen Politik – zu
bedienen. Einerseits werden die ArbeiterInnen des öffentlichen Dienstes geopfert, wie dies bei der Rentenreform
der Fall war, um die Spekulanten zu
stützen, andererseits werden die staatlichen Ressourcen buchstäblich geplündert – 20 Prozent der Mittel für den Finanzausgleich zwischen Bund und
Ländern bzw. Gemeinden wurden
zweckentfremdet –, um einen Budgetüberschuss zu gewährleisten.
ACM: Ist nichts mehr davon rückgängig zu machen? Besteht keine Chance
mehr, dass die Regierung Lula angesichts der sozialen Spannungen ihren
Kurs wechselt?
H.H.: Ich hoffe für das Wohl Brasiliens
und der Millionen von unterdrückten,
ausgeschlossenen und marginalisierten
Menschen in diesem Land, dass es den
aktiven gesellschaftlichen Kräften gelingt, organisiert Druck zu machen, um
Veränderungen herbeizuführen. Doch
leider sind viele soziale Bewegungen
verbürokratisiert, haben Regierungsaufgaben übernommen und bemühen
sich vor allem darum, ihre Basis zu lähmen, um solche sozialen Spannungen
zu verhindern.
Natürlich will ich, dass sich die
Dinge ändern. Doch angesichts der
Maßnahmen, die von der Regierung
bereits umgesetzt wurden, glaube ich
nicht, dass es objektiv möglich ist, einen
Kurswechsel
durchzusetzen.
Könnte ich an einen übermächtigen
Gott glauben, würde ich mir wünschen,
dass er der brasilianischen Bevölkerung die Kraft und Fähigkeit verleiht,
zu kämpfen und die Regierung zu einem Kurswechsel zu zwingen. Doch
leider gehe ich davon aus, dass die Regierung das Lager gewechselt hat. Aus
diesem Grund fühlen wir uns gezwungen, dieses ‚Refugium‘ für die Linke
aufzubauen. Denn wenn sie schon das
Lager gewechselt haben, sollen sie sich
nicht auf eine linke Tradition berufen
können. Sie hätten einen Kongress einberufen, ihren sozialistischen Wurzeln
abschwören und sich als Neoliberale
oder als zynische Anhänger eines
‚Dritten Weg‘ oder irgendeines anderen programmatischen Denkens präsentieren müssen. Seit sie das Lager
gewechselt haben, sind sie nicht mehr
durch die brasilianische Bevölkerung
und noch weniger durch die Linke legitimiert, die historischen Errungenschaften, die nicht durch die eine oder
andere politische Persönlichkeit oder
Partei, sondern durch heldenhafte
Kämpfe, durch Blut, Schweiß und TräINPREKORR 396/397
BRASILIEN
nen der ArbeiterInnenklasse und von
SozialistInnen aus Brasilien, Lateinamerika und der ganzen Welt durchgesetzt wurden, zunichte zu machen und
mit Füßen zu treten.
ACM: Hoffen Sie, dass weitere PT-Abgeordnete und -Kader aus der PT austreten werden, um sich der PSoL anzuschließen?
H.H.: Die PSoL, unsere geschätzte
Partei des Sozialismus und der Freiheit, wird GenossInnen aller Linksparteien, die sich uns anschließen
wollen, mit offenen Armen, herzlich,
solidarisch und respektvoll aufnehmen. Bei uns sind viele AktivistInnen
aus der Bevölkerung, die in der PT,
der PCdoB, der PSTU und anderen
Parteien organisiert waren. Ich werde
aber keinen einzigen Schweißtropfen
und keine Energie darauf verschwenden, AktivistInnen anderer Parteien
gewinnen zu wollen, und erst recht
nicht Abgeordnete. Denn die Abgeordneten wissen bestens, was los ist.
Ich sage immer im Scherz, dass die
Unschuldigsten unter ihnen nicht gehen, sondern in höheren Regionen
schweben.
Wenn sich diese Leute dafür entscheiden, die Regierung zu verlassen,
um sich uns anzuschließen, werden
wir sie mit offenen Armen empfangen. Es liegt uns daran, die gefühlsmäßigen Beziehungen, die wir im
Lauf unserer gemeinsamen Geschichte geknüpft haben, zu bewahren, auch wenn wir nicht mehr gemeinsam Politik machen. Wo Beziehungen in die Brüche gegangen sind,
waren sie nicht stark und ernsthaft
genug, um trotz ideologischer und
programmatischer Differenzen, die
im politischen Engagement auftreten,
zu überstehen.
Im Ernst, ich wusste bereits, dass
es außerhalb der heute bestehenden
Parteistrukturen ein sozialistisches
Leben gibt, das durch Würde, Mut
und Großzügigkeit gekennzeichnet
wird. Und diese Überzeugung ist in
dieser Durststrecke, die ich für den
Aufbau einer neuen Partei zurücklegen musste, als ich echten Weggefährten begegnete, zur Gewissheit geworden. Für mich war das ein richtiger Lernprozess. Ich werde mich noch
mehr darum bemühen, diese Menschen zu gewinnen, anstatt um Mitglieder und Abgeordnete anderer Parteien zu werben.
Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib
Übernommen aus Inprecor América Latina,
elektronische Publikation der Vierten
Internationale für Lateinamerika und die
Karibik <[email protected]>.
Die Linke in der Stunde der
Wahrheit
Valter Pomar
Die Lula-Regierung ist das Ergebnis
eines mindestens zwanzigjährigen
Prozesses der Kräfteakkumulation
der gesamten brasilianischen Linken.
Unsere Regierung setzt heute eine
Wirtschaftspolitik um, die die Hegemonie des Finanzkapitals, der Lebensmittel- und Agroindustrie und
des Exportsektors ungebrochen stützt.
Dieser Widerspruch zwischen dem,
was Lula zum Präsidenten gemacht
hat und dem, was Lula als Präsident
macht, erklärt die politisch ambivalente Haltung der Bourgeoisie gegenüber der Regierung: Einerseits applaudieren die Bürgerlichen Palloci1,
andererseits bereiten sie Lulas Niederlage vor. Die gegenwärtige Regierung ist letzten Endes aus Sicht der
Bourgeoisie nicht vertrauenswürdig.
Daher ist es sehr unwahrscheinlich,
1
Antonio Palloci, Finanzminister der Lula-Regierung, gilt als Vorreiter der neoliberalen,
IWF-freundlichen Politik.
INPREKORR 396/397
dass Lula die momentane Wirtschaftspolitik beibehält, die seine eigene gesellschaftliche und ideologische sowie seine Wählerbasis untergräbt, und gleichzeitig 2004 und 2006
die Wahlen gewinnen wird.
Wenn die Rechte gewinnt, sei es
bei den Wahlen oder „von innen heraus“ (indem sie den definitiven Bruch
der Regierung mit allen Verpflichtungen gegenüber der Bewegung durchsetzt, aus der diese hervorgegangen
ist), würde das die sozialistische Linke vor die Notwendigkeit einer Neuorganisierung stellen, die Jahrzehnte
dauern würde.
Eine Niederlage der Lula-Regierung, was auch immer der Grund dafür wäre, würde die Rechte „objektiv“
stärken. Deshalb ist es riskant, Kräfte
als „links“ zu betrachten, die auf eine
Niederlage oder den Sturz dieser Regierung hinarbeiten, was nicht zu verwechseln ist mit dem selbst öffentli-
chen Versuch, die Regierung zur Abkehr von der zur Zeit hegemonialen
Politik zu zwingen.
Die vor kurzem gegründete Partei
Sozialismus und Freiheit (PSoL) gibt
vor, eine linke Opposition zur Lula-Regierung aufzubauen. Offensichtlich
handelt es sich nicht um eine „konstruktive Opposition“, die von außen
Druck machen und einen Kurswechsel
erwirken will. Wäre dies die Absicht,
gäbe es im Grunde keine Divergenz
zwischen der Position der PSoL und
der PT-Linken, außer dass der Regierungskurs von außen natürlich freier
und ungezwungener kritisiert werden
kann.
Die PSoL setzt sich aber eine „destruktive Opposition“ zum Ziel, die so
tut, als wäre es möglich, die Lula-Regierung und die Rechte gleichzeitig zu
besiegen und dem Land eine linke, sozialistische, wahrhaftig demokratische
und volksnahe Regierung anzubieten.
37
BRASILIEN
In Wirklichkeit deutet nichts darauf
hin, dass es zur Zeit oder in absehbarer
Zukunft eine Welle von breit getragenen Kämpfen geben wird, die das
Rückgrat für einen neuen sozialistischen, demokratischen, den Interessen
der Bevölkerung verpflichteten Pol abgeben könnten, der stark genug wäre,
um die PT, die Lula-Regierung und die
traditionelle Rechte links zu überholen.
Aus diesem Grund haben sich breite Teile der brasilianischen Linken dafür entschieden, sich mit der Lula-Regierung und ihren Zielen zu konfrontieren. Nur wenn wir diese verändern,
stellen wir uns in die Kontinuität des
seit Ende der 70er Jahre bestehenden
Impulses. Die beiden Alternativen dazu – die Fortsetzung der gegenwärtigen
Wirtschaftspolitik und die Rückkehr
der traditionellen Rechten – wären eine
Niederlage und würden zu einer wesentlich gravierenderen Zersplitterung
der Kräfte führen, als wir sie nach dem
Staatsstreich 1964 erlebt haben.
Die Entstehung der PSoL ist ein
Zeichen dafür, dass diese Zersplitterung bereits begonnen hat; paradoxerweise scheint die neue Partei das Organisationsmodell der PT zu übernehmen. Klar! Wer vorgibt, hier und heute
in diesem Land im Klassenkampf zu
zählen, braucht eine Massenbasis, die
Präsenz im Parlament und muss sich an
Wahlen beteiligen. Im Gegensatz zur
PT, die „klein“ entstanden ist, aber von
einer kräftigen Welle politischer
Kämpfe getragen wurde, entsteht die
PSoL aber in einer Phase schwach entwickelter Kämpfe. Ebenso misst sie im
Gegensatz zur PT, die in den ersten
Jahren wenig Gewicht auf den institutionellen Kampf gelegt hatte, ihren ParlamentarierInnen eine große Bedeutung bei und hat bereits heute eine Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen
und begibt sich damit karikaturhaft in
dieselbe tragische Abhängigkeit, in die
sich die PT mit der Lula-Kandidatur
selbst manövriert hat.
Der sich über zwei Jahrzehnte dahinziehende Prozess, der das politische
38
und gesellschaftliche Projekt der PT
zutiefst verändert hat, prägt mit anderen Worten die PSoL schon bei ihrer
Gründung. Dasselbe würde für alle
Sektoren gelten, die jetzt mit der Erfahrung der PT und der Regierung brechen
wollten, es sei denn, sie sind bereit,
selbst um den Preis eines verminderten
politischen Eingreifens in der gegenwärtigen Phase langfristig Energie in
den Aufbau einer anderen strategischen
Alternative zu investieren.
Der Wandel, den die PT in den letzten zehn Jahren in ihren Positionen
vollzogen hat, ist die „beschleunigte“
Version der 90er Jahre einer Entwicklung, die sich in der europäischen Sozialdemokratie über ein Jahrhundert ihres Bestehens hinweg vollzogen hat:
von der Revolution zur Reform, vom
Sozialismus zum Kapitalismus, vom
sozialdemokratischen
Kapitalismus
zum neoliberalen Kapitalismus (über
den so genannten „Dritten Weg“ oder
ein Mitte-Links-Programm).
Unser gegenwärtiges Problem lässt
sich nicht auf die politischen Ziele der
PT und / oder der Lula-Regierung reduzieren. Das Problem ist, wie in der brasilianischen Arbeiterklasse die demokratische, sozialistische und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen
Dynamik wieder aufgenommen werden kann, die diese seit dem Ende der
70er Jahre und die 80er Jahre hindurch
geleitet hat.
Weite Teile der sozialen Bewegungen in Brasilien, angefangen bei den
Gewerkschaften, stehen heute unter der
Hegemonie des gemäßigten Teils der
PT und des Gewerkschaftsdachverbands CUT. Ein anderer Teil steht unter dem Einfluss von AktivistInnen, die
der Partei gegenüber so kritisch eingestellt sind, dass sie agieren, als wären
die „sozialen Bewegungen“ in der Lage, das Problem der Machteroberung
und des Aufbaus des Sozialismus zu lösen.
Ist es möglich, das Land zu ändern,
ohne die Machtfrage, die Frage des
Staates zu stellen? Ist es möglich, die
Machtprobleme ohne Kämpfe und politische Parteien zu lösen? Wie kann
unter den gegebenen politischen Bedingungen verhindert werden, dass eine Linkspartei von der bürgerlichen
Ordnung vereinnahmt wird? Oder dass
sie auf die Rolle einer „ewigen Minderheit“ reduziert bleibt, wie das für die
meisten sozialistischen oder revolutionären Parteien der Fall ist?
Diese Fragen werden nicht beantwortet, indem wir die Ungeduld zu einem theoretischen Argument erheben,
und auch nicht, indem wir vergessen,
dass unser Feind die Rechte ist. Es
braucht eine politische und gesellschaftliche Kraft, die eine alternative
Strategie und ein alternatives Programm verwirklichen kann. Eine solche Kraft wird nicht aus der Niederlage
unserer Regierung hervorgehen. Denn
eine allfällige Niederlage der Lula-Regierung wird in der brasilianischen Politik zu einem gravierenden Einbruch
der Kräfte des Sozialismus und der
Freiheit führen. Aus all diesen Gründen
werden wir uns bei vollem Respekt des
Entscheids derer, die lieber einem anderen Weg folgen, so gut wie möglich
weiter dafür einsetzen, die Regierung
und die PT zu einem Kurswechsel zu
bewegen.
Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib
Valter Pomar, dritter nationaler Vizepräsident
der Arbeiterpartei (PT), ist Mitglied der
Strömung Linker Zusammenschluss in der PT.
Der aus einem Bruch der historischen PTFührung Anfang der 90er Jahre
hervorgegangene Linke Zusammenschluss ist
nach der Sozialistischen Demokratie die
zweitstärkste Strömung sozialistischer Linker
in der PT. Beide Tendenzen haben ihre
Zusammenarbeit kürzlich intensiviert und
halten gemeinsame programmatische Seminare
ab.
Übernommen aus Inprecor América Latina,
elektronische Publikation der Vierten
Internationale für Lateinamerika und die
Karibik <[email protected]>.
INPREKORR 396/397
BRASILIEN
Eine neue sozialistische Partei
Correio da Cidadania
Die GründerInnen der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) verdienen den
Respekt der Nation. Es sind seriöse,
mutige politische AktivistInnen, die es
ablehnen, den Rechtsrutsch der Arbeiterpartei (PT) mitzumachen. Trotz des
Respekts, den wir ihnen zollen, scheint
uns, dass sie politisch die falsche Entscheidung getroffen haben.
Das offenkundige Abdriften der
ideologischen Haltung der PT und die
Nutzlosigkeit des Versuchs, angesichts
der monolithischen Mehrheit, die sich
rund um eine regelrechte politische
Wahlmaschinerie etabliert hat, in den
Parteistrukturen für eine Kurskorrektur
zu kämpfen, reichen als Grund noch
nicht aus, um in Brasilien eine neue sozialistische Partei zu gründen. Es gibt
eine vorrangigere Aufgabe, die unter
dem überstürzten Versuch leiden wird,
die Partei zu legalisieren, um an den
Wahlen teilnehmen zu können.
Bevor eine neue Partei lanciert
wird, müssten die Ursachen für das Abdriften der PT genau analysiert werden.
Diese Auseinandersetzung wird lang
und schmerzhaft sein, die nicht nur die
Bereitschaft zu einer intellektuellen
Analyse, sondern auch den Willen zum
Ausprobieren neuer politischer Aktionsformen voraussetzt, wenn man
nicht Gefahr laufen will, dieselben
Fehler zu reproduzieren, die die PT in
die gegenwärtige Situation geführt haben. Es ist eine Sache, diese Fragen zu
diskutieren, ohne unter dem Druck zu
stehen, ein politisches Programm verfassen und Wahltermine einhalten zu
müssen, die von Gegnern des Sozialismus festgelegt wurden. Eine andere Sache ist es, dies unter den Zwängen zu
tun, die solche Termine mit sich bringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass
die Beteiligung von SozialistInnen in
den bürgerlichen Institutionen einen
Widerspruch darstellt, der sich erst auflösen lässt, wenn der Sozialismus den
Kapitalismus als Organisationsform
für Wirtschaft und Gesellschaft abgelöst haben wird. Bis dorthin wird es für
die Beteiligung von SozialistInnen an
INPREKORR 396/397
der institutionellen bürgerlichen Politik
nur vorübergehende Teillösungen geben, die von den konkreten Umständen
abhängen werden.
Die PT, die kurz nach dem Scheitern der Strategie des bewaffneten
Kampfes gegründet wurde, hat eine
Strategie des institutionellen Kampfs
Mit dieser Kritik wollen wir die
PSoL nicht abschießen oder die solidarische Diskussion blockieren, die die
SozialistInnen untereinander führen
müssen, wenn sie sich gemeinsam der
tiefen Krise stellen wollen, die das
Land bedroht. Wir erkennen im Gegenteil die Reinheit der Motive der Grün-
Die PT hat eine Strategie des institutionellen Kampfs eingeschlagen
eingeschlagen, der auf zwei Stützen beruhte: der Wahlbeteiligung und dem direkten Druck der Massen, der sich oft
am Rande der Legalität bewegte. Diese
Strategie ist aus verschiedenen Gründen gescheitert. Seither hat sich die
Ausgangslage, die dieser Strategie zugrunde lag, aufgrund der Veränderungen, die der Kapitalismus in Brasilien
und in der Welt vollzogen hat, grundlegend geändert.
Unter diesen Umständen scheint es
uns unvorsichtig, alles von vorne beginnen zu wollen, ohne zuvor in einer
breiten nationalen Diskussion mit den
betroffenen sozialen Kräften darüber
zu diskutieren, wie dem brasilianischen
Volk ein neuer sozialistischer Vorschlag vorgelegt werden kann.
derInnen dieser Partei an, deren Ziel es
ist, den Dialog zu eröffnen, um einen
neuen Zusammenschluss zu bilden.
Selbstverständlich stehen die Spalten
des Correio gegenteiligen Meinungen
offen.
Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib
Editorial der Wochenzeitung Correio da
Cidadania Nr. 402 (19.–26. Juni 2004). Diese
von Linkskatholiken herausgegebene
Zeitschrift steht den radikalen sozialen
Bewegungen in Brasilien sehr nahe.
Übernommen aus Inprecor América Latina,
elektronische Publikation der Vierten
Internationale für Lateinamerika und die
Karibik <[email protected]>.
39
BRASILIEN
Die neue Partei
Sozialismus und Freiheit (PSoL)
Jornal Democracia Socialista
Die Parlamentsabgeordneten Babá,
Luciana [Genro] und João Fontes kündigten die Gründung der Partei an, bevor sie noch aus der PT ausgeschlossen
waren. Unterdessen hat die „neue Partei“ einen Namen, Partei Sozialismus
und Freiheit (PSoL). Senatorin Heloísa
Helena ist die wichtigste Sprecherin
des neuen Zusammenschlusses.
Die AktivistInnen der PSoL kommen vor allem aus den politischen Strömungen Movimento de Esquerda Socialista (MES, Bewegung der sozialistischen Linken) und Corrente Socialista
dos Trabalhadores (CST, Sozialistische Strömung der ArbeiterInnen).
Beide Organisationen gehören der morenistischen trotzkistischen Tradition
an. Sie waren unter der Bezeichnung
CST in der damals noch vereinten PT
geblieben, als die Mehrheit des damaligen Sozialistischen Zusammenschlusses die Vereinte Sozialistische Arbeiterpartei (PSTU) gründete.
Ehemalige führende GenossInnen
der PSTU wie Junia Gouvêa und Martiniano Cavalcante, die diese Partei zu
unterschiedlichen Zeitpunkten verlassen hatten, sind heute in der Leitung
der PSoL. Eine limitierte Gruppe von
AktivistInnen, die sich nicht an die
Entscheidungen der Nationalen Konferenz der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS) hielten, haben sich in der
„Liberdade Vermelha“ (Rote Freiheit)
zusammengeschlossen und entschieden, der PSoL beizutreten. Diese Entscheidung wurde in der DS nie kollektiv zur Diskussion gestellt.
Milton Temer und Carlos Nelson
Coutinho, die uns Gramsci und das
Konzept des Prozesses in der Revolution vermittelt haben, finden sich eben-
40
falls in der neuen Partei; desgleichen
Francisco de Oliveira.
Die Enttäuschung über die Regierung Lula und die Unzufriedenheit mit
der PT-Entwicklung können verschiedene politische Traditionen dazu führen, sich zu vereinen und eine neue Partei auszurufen. Doch im Lichte der Erfahrungen der PT wissen wir, dass das
für den Aufbau eines politischen Instruments nicht ausreicht. Dabei reden
wir nicht von den 438 000 Unterschriften, die nötig sind, um sich ins Wählerregister eintragen zu lassen,1 sondern
vom Fehlen eines „heißen“ oder ausreichenden sozialen und politischen Umfelds, das die verschiedenen Vorstellungen zu einem gemeinsamen Programm zusammenschweißen könnte,
um politisch verändernd eingreifen zu
können.
An der 7. Nationalen Konferenz der
DS im Dezember 2003 wurde folgende
Resolution angenommen: „Wir erachten es als legitim, die positiven Werte
aus der Geschichte der PT zu verteidigen (den programmatischen Beitrag,
das Tendenzrecht und die interne Demokratie, die feministischen Errungenschaften, die Synthese der linken Erfahrungen und Kräfte). In diesem Zu1
In einem unter Präsident Fernando Henrique
Cardoso verabschiedeten Gesetz wurden die
Bedingungen zur Gründung politischer Parteien verändert. Während die früheren, vor der
Verabschiedung des Gesetzes registrierten
Parteien, deren Existenz oft reichlich fiktiv ist,
nach wie vor als legal gelten und damit bei allen möglichen Wahlen KandidatInnen aufstellen können, müssen neue Parteien eine beachtliche Zahl an Unterschriften (438 000 auf Bundesebene) zusammenbringen, um an Wahlen
teilnehmen zu können. Es sei daran erinnert,
dass bei der Gründung der Arbeiterpartei die
Bedingungen zur Legalisierung einer politischen Partei weniger scharf waren.
sammenhang ist es auch richtig, die
Beziehungen zwischen der Partei und
der breiten politisch-sozialen Bewegung, die sich rund um die PT gebildet
hat, wieder aufzugreifen.
Wir versuchen, in den Prozess der
Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Partei einzugreifen und stützen uns dabei auf die legitime Verteidigung dieses historischen, strategischen
Projekts einer sozialistischen, demokratischen Partei. Angesichts der konfliktgeladenen Entwicklung der Partei
ist es umso notwendiger, eine breite
linke Strömung als Bezugspol für den
Wiederaufbau und das Funktionieren
der PT als demokratischer und sozialistischer Partei zu bilden.
Der Aufbau dieser Strömung und
der Einsatz für den sozialistischen
Wiederaufbau der PT stellen sowohl
angesichts des massiven Drucks zur
Aufgabe ihres programmatischen Charakters als auch des Drucks gegenüber
den GenossInnen, die die PT verlassen
wollen und sich auf ein sektiererisches
Parteiprojekt orientieren, eine Alternative dar. Denn beide Orientierungen
verzichten auf die Erfahrung des Aufbaus einer sozialistischen, demokratischen Massenpartei.“
Dieser Artikel wurde der Monatszeitschrift
Jornal Democracia Socialista 4 von Juli 2004
entnommen. Die Zeitschrift wird von der
Tendenz Sozialistische Demokratie
herausgegeben, die innerhalb der Arbeiterpartei
die AktivistInnen der Vierten Internationale
organisiert.
Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib
INPREKORR 396/397
ANTIKRIEGSBEWEGUNG
Thesen über die gegenwärtige
Periode, den Krieg und die
Antikriegsbewegung
Gilbert Achcar
1. Die Besetzung des Irak gehört
ganz und gar zur „großen Strategie“ des Expansionismus,
wie sie von den USA sofort
nach dem Ende des Kalten
Krieges eingeleitet wurde.
Das Ende der UdSSR stellte einen großen historischen Wendepunkt dar, der in
seiner Bedeutung mit dem jeweiligen
Ende der beiden Weltkriege des 20.
Jahrhunderts vergleichbar ist. Alle diese
Wendepunkte boten die Gelegenheit, eine neue Etappe der imperialistischen
Expansion der USA einzuleiten: Übergang vom Rang einer Regional- oder
kleineren Weltmacht in den Rang einer
größeren Weltmacht nach Ende des Ersten Weltkriegs, Übergang in den Rang
einer Supermacht am Ende des Zweiten
Weltkriegs im Rahmen einer bipolaren
Welt, die unter die beiden Imperien des
Kalten Kriegs aufgeteilt war.
Die Agonie und schließlich der Zusammenbruch der UdSSR konfrontierten die USA mit der Notwendigkeit,
sich nach Ende des Kalten Krieges zwischen zwei großen strategischen Optionen zur „Gestaltung der Welt“ (shaping the world) entscheiden zu müssen.
Washington hat sich in einer Welt, die
nun auf militärischer Ebene unipolar
geworden war, für die Fortsetzung seiner Suprematie (Überlegenheit) entschieden; die militärische Überlegenheit stellt das wichtigste Unterpfand
der USA in der weltweiten inner-imperialistischen Konkurrenz dar. Die Ära
der riesigen Überlegenheit der USA
wurde von der Regierung Bush Vater
durch den Krieg gegen den Irak (GolfKrieg vom Januar bis Februar 1991)
eingeleitet, der genau im Jahr des Zusammenbruchs der UdSSR stattfand.
Dieser Krieg war für die neue „Gestaltung der Welt“ entscheidend, denn
er ermöglichte es, gleichzeitig mehrere
INPREKORR 396/397
wichtige strategische Ziele zu realisieren:
• Die neuerliche direkte militärische
Verankerung der USA in der GolfRegion, die über zwei Drittel der
weltweiten Ölreserven verfügt. Zu
Beginn eines neuen Jahrhunderts,
das von einer zunehmenden Verknappung und schließlich wohl Erschöpfung der wichtigsten strategischen Ressource gekennzeichnet
sein wird, versetzt diese neuerliche
Verankerung die USA in eine dominante Position sowohl gegenüber ihren möglichen Rivalen wie auch gegenüber den Verbündeten, die (mit
Ausnahme Russlands) alle vom Öl
des Nahen Ostens abhängen.
• Die schneidende Demonstration der
riesigen Überlegenheit der USamerikanischen Waffensysteme angesichts der neuen, auf der kapitalistischen Weltordnung lastenden
Gefahren durch die „Schurkenstaaten“ (rogue states) – Risiken, wie
sie durch das Verhalten des die „islamische Revolution“ im Iran zu
Beutezügen ausnützenden BaathRegimes im Irak illustriert wurden;
dabei hatte jene Revolution im Iran
zur Errichtung eines Regimes geführt, welches sich der Kontrolle
durch die beiden Supermächte des
Kalten Krieges entzog. Diese
Machtdemonstration trug stark dazu bei, die europäischen Mächte
und Japan, die wichtigsten Verbündeten von Washington, zu überzeugen, ihre Abhängigkeit als Vasallen
zu erneuern, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der USamerikanischen Vormacht etabliert
hatten. Die Beibehaltung der NATO und ihre Verwandlung in eine
„Sicherheitsorganisation“ zeigen
die Neuformierung jener hierarchischen Beziehung.
•
Gleichzeitig eröffnet die Rückkehr
der USA in den Nahen Osten eine
neue und letzte historische Phase der
Expansion des von den USA geleiteten Imperiums: Die Ausweitung des
Netzes von Militärbündnissen und basen, mit denen Washington die
Welt umgibt, in Regionen, auf die
sie bisher keinen Zugriff hatten, weil
sie von Moskau dominiert wurden.
Die Ausweitung der NATO nach
Osteuropa, die militärischen Interventionen in Bosnien und danach
der Kosovo-Krieg waren die ersten
Etappen jener Ausweitung der imperialistischen Globalisierung, wie sie
unter der Regierung Clinton realisiert wurden. Das Weiterbetreiben
dieses Prozesses ist an günstige Bedingungen gebunden, besonders im
Hinblick auf das weiterhin bestehende „Vietnam-Syndrom“, das die militärischen und expansionistischen
Ambitionen Washingtons bremst.
2. Die Attentate des 11. September 2001 gaben der Bush-II-Administration die historische Gelegenheit, diesen Prozess im
Namen des „Krieges gegen den
Terrorismus“ massiv zu beschleunigen und voranzubringen.
Die Invasion in Afghanistan und der
Krieg gegen das Netzwerk Al-Qaida
waren zugleich der ideale Vorwand, die
militärische Präsenz der USA ins Zentrum des früher sowjetischen Mittelasien (Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan) und bis in den Kaukasus (Georgien)
auszuweiten. Neben dem Reichtum an
Erdöl und -gas des kaspischen Beckens
ist Mittelasien von unschätzbarem strategischem Interesse, weil es in der Mitte
der eurasischen Landmasse liegt, genau
zwischen Russland und China, den bei41
ANTIKRIEGSBEWEGUNG
den wichtigsten möglichen Rivalen gegen die politisch-militärische Hegemonie der USA.
Die Invasion des Irak, die im Gefolge der vorangegangenen realisiert wurde, versuchte zu vollenden, was 1991
noch unvollendet geblieben war, weil
man aus Gründen der internationalen
Politik (begrenztes Mandat der UNO,
Existenz der UdSSR) wie aus Gründen
der Innenpolitik (Widerstand in der öffentlichen Meinung, begrenztes Mandat des Kongresses) das Land nicht auf
Dauer besetzten konnte. Mit der Besetzung des Irak neben ihrer Stellung als
Schutzmacht des saudischen Königreichs und der Errichtung von Militärstützpunkten in den anderen Emiraten
der Golfregion üben die USA gegenwärtig eine direkte Kontrolle über
mehr als die Hälfte der weltweiten Ölreserven aus, einmal abgesehen von ihren eigenen Reserven zu Hause. Washington versucht aktiv, diesen planetarischen Zugriff auf das Öl dadurch zu
vervollständigen, dass es seine Hegemonie auch auf den Iran und auf Venezuela ausweitet, den beiden wichtigsten Zielen nach dem Irak.
3. Die strategische Option der
Vollendung der unipolaren
Herrschaft der USA über die
Welt stellt das Gegenstück zur
neoliberalen Option dar, wie sie
vom weltweiten Kapitalismus
eingeschlagen und im Rahmen
des Prozesses, der unter dem
Namen „Globalisierung“ bekannt ist, auf den ganzen Planeten ausgeweitet werden soll.
Um den freien Zugang der USA und ihrer Partner im weltweiten imperialistischen System zu den Ressourcen und
Märkten der übrigen Welt zu garantieren, aber auch um sich gegen die außerökonomischen Risiken einer Destabilisierung des Systems und der Märkte
abzusichern, wie sie der neoliberalen
Prekarisierung der Welt innewohnen
(Abbau der sozialen Errungenschaften,
verschärfte Privatisierung, wilde Konkurrenz), ist die Existenz und die Unterhaltung einer Militärmacht, die auf
der Höhe dieser Aufgaben ist, unverzichtbar. Washington hat entschieden,
die USA zur „unverzichtbaren Nation“
des Weltsystems zu machen: Der militärische Graben zwischen den USA
und dem Rest der Welt wird unaufhör42
lich breiter. Von einem Drittel der
weltweiten Rüstungsausgaben am Ende des Kalten Krieges haben es die
USA nun geschafft, mehr für ihre Rüstung auszugeben als alle übrigen Staaten des Planeten zusammen.
Diese riesige militärische Überlegenheit der US-Hypermacht zeigt, dass
der „Militarismus“ dem Konzept des
Imperialismus inhärent ist, wie es erstmals (von Hobson 1903) systematisch
definiert wurde und wie er nach dem
Zweiten Weltkrieg durch die hierarchische Struktur feudaler Art (Herrscher/
Vasallen) ausgeweitet wurde. Aufgrund dieser Struktur übernahm nunmehr eine Schutz gewährende Supermacht den entscheidenden Part der
Verteidigung des kapitalistischen Systems, welches durch eine institutionalisierte subjektive Solidarität seine objektive Solidarität vervollständigte.
Die wirtschaftliche und politische Erfahrung der Großen Depression (nach
1929) hatte – ex negativo – deren Notwendigkeit deutlich werden lassen, bevor sie durch die weltweite Konfrontation mit dem stalinistischen System offensichtlich geworden war.
Damit aus jener hierarchischen
Struktur ein einziges, planetarisches imperialistisches System würde und es
blieb, musste die zur Hypermacht gewordene Supermacht militärische Mittel
unterhalten, die auf der Höhe der gestellten Aufgaben liegen. Die neuerliche
Bekräftigung der Rolle der USA als
Übermacht und ihr Aufstieg in den
Rang einer militärischen Hypermacht
durch den Aufbau einer Asymmetrie
zwischen ihren militärischen Mitteln
und denen des Restes der Welt stand im
Zentrum des Projektes der Reagan-Administration mit ihrer außerordentlichen
Steigerung der Rüstungsausgaben auf
ein (in „Friedenszeiten“) Rekordniveau.
Das Ende des Kalten Krieges sowie
die wirtschaftlichen Zwänge der in ein
gefährliches Defizit geratenen öffentlichen Finanzen hatten eine Reduzierung
und sodann ein Einfrieren der Rüstungsausgaben der USA in der ersten
Hälfte der 90er Jahre bewirkt. Das neuerliche Auftauchen russischer (post-sowjetischer) Anfechtung der Washingtoner Ziele im Rahmen der Osterweiterung der NATO (ab 1994), sodann die
Krisen auf dem Balkan (1994-1999)
sowie das Auftauchen einer chinesischen (post-maoistischen) Herausforderung, wie sie durch Pekings harte
Haltung zur Taiwan-Frage (1996) illustriert wird, wobei dies alles auf dem
Hintergrund einer wachsenden militärischen Kooperation zwischen Moskau
und Peking ablief, führten die ClintonAdministration ab 1998 dazu, eine
langfristige Steigerung der Rüstungsausgaben der USA vorzunehmen.
4. Der neue Kurs der USA hin zu
einer Überbewaffnung im Vergleich zur übrigen Welt, wie er
auf den Rüstungswettlauf mit
der UdSSR zur Zeit des Kalten
Krieges folgte, wurde von einer
Änderung der Haltung der USA
in Fragen der internationalen
Beziehungen begleitet.
Die Idylle mit der UNO bei der Golfkrise 1990 sowie der Glaube an die
Möglichkeit, die imperialistische Rolle
der USA systematisch im Rahmen der
internationalen Legalität, die zugunsten Washingtons „gedreht“ wurde
(Irak, Somalia, Haiti), entfalten zu können, wurden zunächst zugunsten einer
unilateralen Aktion der NATO auf dem
Balkan aufgegeben. Das Vetorecht
Russlands und Chinas im Sicherheitsrat der UNO wurden so durch eine unilaterale Aktion einer von Washington
geführten militärischen Struktur im
Namen der Sorge um „humanitäre
Rechte“ ausgehebelt.
Die neuerliche massive Steigerung
der Rüstungsausgaben, wie sie durch
den 11. September 2001 ermöglicht
wurde, der neue Konsens, der durch
diese Attentate zugunsten der Militärexpeditionen Washingtons geschaffen
wurde, sowie die „unilateralistischen“
Neigungen, wie sie der Bush-II-Administration eigen sind, führten letztere
dazu, sich bei der Ausdehnung der imperialistischen Expansion der USA jeder institutionellen Struktur zu entledigen. Die Koalitionen mit steuerbaren
Partnern (coalitions of the willing) unter Washingtons nicht zu diskutierender Fuchtel ersetzten die NATO selbst,
in der das Prinzip der Einstimmigkeit
einem Vetorecht gleichkommt, das allen ihren Mitgliedsstaaten zugestanden wird.
Der Invasionskrieg im Irak war die
Gelegenheit par excellence zur Durchsetzung des unilateralistischen Prinzips:
Beim Irak-Dossier befanden sich der
Gesichtspunkt und die Interessen der
USA nicht nur im Konflikt mit den perINPREKORR 396/397
ANTIKRIEGSBEWEGUNG
manenten Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates wie Russland und China, die
sich allgemein der weltweiten Hegemonie der USA widersetzen, sondern auch
mit denen von traditionellen Verbündeten von Washington und NATO-Mitgliedsländern wie Frankreich und
Deutschland. Das Zusammentreffen der
Interessen und der Gesichtspunkte zwischen den USA und dem Vereinigten
Königreich ermöglichte es den beiden
Ländern, die Invasion gemeinsam vorzunehmen, wobei sich einige Mitgliedsländer der NATO sowie weitere gelehrige oder übereifrige Verbündete Washington anschlossen.
Die Verwicklungen der USA und
ihrer Koalition im Irak und die
Schwierigkeiten der Bush-II-Administration, die Besatzung des Landes
zu organisieren, haben eine scharfe
Demonstration der Unfähigkeit ihres
arroganten Unilateralismus erzeugt,
was ihr nun von einer größeren Fraktion des US-amerikanischen Establishments bis in die Reihen der Republikaner und der Umgebung von Bush I
vorgehalten wird.
5. Der Misserfolg im Irak hat die
Notwendigkeit betont, zu einer
subtileren Kombination zwischen der Überlegenheit bei
der militärischen Macht und der
Beibehaltung eines minimalen
Konsenses mit den traditionell
verbündeten Mächte (NATO,
Japan) zu kommen, wenn nicht
mit der Gesamtheit der übrigen
Mächten im Rahmen der UNO.
Dieser Konsens hat natürlich
seinen Preis: die USA müssen
zumindest ein bisschen die Interessen ihrer Partner achten,
auch wenn sie sich den Löwenanteil sichern.
Seit der Wende von 1990/1991 ist
Washington davon ausgegangen, dass
die UNO mit ihrer Rolle als Ort des
Auslotens und Verwaltens des Konsenses zwischen den Großmächten,
die sie zur Zeit des Kalten Krieges gespielt hatte, nun überflüssig geworden
sei. Die Gleichheit (im Vetorecht)
zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates schien ihr in
einer unipolaren Welt, in der einzig
die USA in der Lage sind, in Fragen
der internationalen „Sicherheit“ ein
wirkliches Vetorecht auszuspielen,
INPREKORR 396/397
überholt zu sein. Doch paradoxerweise ging der Umsturz der Weltordnung
über den politischen Einsatz der UNO
durch Bush I, um für seinen Krieg gegen den Irak die Zustimmung im eigenen Land zu erreichen. Unter Clinton
wurde auf dem Balkan die Rolle der
UNO in Verbindung mit der Nato auf
die Nachkriegsverwaltung der Territorien, die von letztgenannter Organisation besetzt worden waren, reduziert – unter der Führung der USA. In
Afghanistan wurde sogar diese Formel der Nachkriegsverwaltung (durch
die UNO) aufgegeben und die Invasion von Washington unilateral ausgeführt.
Da die USA nach der Invasion des
Irak nun mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, die Besatzung zu organisieren, versuchen sie, zum afghanischen Szenario zu kommen. Die
Buchstaben und mehr noch der Geist
der UN-Charta werden mit Füßen getreten. Im Hinblick auf die Charta sind
Invasionskriege illegal, sofern sie
nicht vom Sicherheitsrat beschlossen
werden: In diesem Sinn sind Washingtons Kriege nicht einmal legal, ganz
zu schweigen von gerecht oder legitim. Der Krieg von 1991 wurde im Namen der UNO geführt, doch nicht von
der UNO, wie sich der Generalsekretär jener Organisation selbst ausgedrückt hat.
Jedenfalls sieht Washington die Zuhilfenahme der UNO wie auch der NATO oder einer anderen kollektiven
Struktur nur unter der Bedingung vor,
dass sie ihm nützlich ist. Die USA haben sich immer die Möglichkeit gesichert, unilateral zu handeln, wenn die
Verteidigung ihrer Interessen dies verlangt. Die Erpressung mit dem Unilateralismus wird gegen alle internationalen Organisationen dauerhaft vollführt.
Sie steht am Ursprung jener starken
Entwertung der UN-Charta seit dem
Ende des Kalten Krieges.
6. Die großen Optionen des von
den USA geführten imperialistischen Weltsystems nach Ende
des Kalten Krieges haben eine
lange historische Periode des
ungezähmten militärischen Interventionismus eröffnet. Die
einzige Kraft, die in der Lage ist,
diesen Lauf der Dinge zu ändern, ist die Antikriegsbewegung.
Die Entwicklung der weltweiten militärischen Kräfteverhältnisse seit dem
Ende der UdSSR hat die Hemmungen
vor imperialistischen Interventionen
auf ein Minimum reduziert: Abgesehen von der nuklearen Abschreckung,
die nur ein selbstmörderischer Staat
gegen die USA in Stellung bringen
kann (im Fall eines geheimen terroristischen Netzwerkes, das nicht an ein
Territorium gebunden wäre, das Repressalien zu erwarten hätte, läge der
Sachverhalt anders), ist keine militärische Macht der Erde in der Lage, die
Dampfwalze der US-Supermacht aufzuhalten, wenn sie einmal beschlossen
hat, ein Gebiet mit einer Invasion zu
überziehen.
Die einzige große Macht, die die
imperialistische Kriegsmaschine aufhalten kann, ist die öffentliche Meinung und ihr Vortrupp, die Antikriegsbewegung. Es ist nur logisch,
dass in dieser Frage der Bevölkerung
der USA die entscheidende Rolle zukommt. Das „Vietnam-Syndrom“, mit
andern Worten die Wirkung der bedeutenden Antikriegsbewegung, die
erheblich zur Beendigung der Besatzung Vietnams durch die USA beigetragen hat, hat das Imperium fünfzehn
Jahre lang – zwischen dem überstürzten Rückzug aus Vietnam 1973 bis zur
Invasion in Panama 1989 – militärisch
gelähmt.
Sodann hat sich Washington ab der
militärischen Aktion gegen die Diktatur in Panama einfache Ziele vorgenommen, die man in den Augen der Öffentlichkeit leicht verteufeln konnte,
weil sie über ein hässliches, diktatorisches Antlitz verfügten: Noriega, Milosevic, Saddam Hussein usw. Wenn nötig, verstärkten die staatliche und die
Medienpropaganda die Züge einer zu
wenig dem verteufelten Bild entsprechenden Realität, vor allem im Vergleich mit den Verbündeten des Westens. Dies gilt für Milosevic (im Vergleich zu seinem kroatischen Gegenspieler Tudjman) oder für das Regime
im Iran (im Vergleich mit dem weit obskurantistischeren und mittelalterlichen Fundamentalismus der saudischen Monarchie); nunmehr versucht
man dies auch mit Hugo Chavez in Venezuela.
Dennoch zeugen die Schwierigkeiten von Bush I 1990, für seine Militäroperation am Golf grünes Licht zu erhalten, trotz der irakischen Besetzung
43
ANTIKRIEGSBEWEGUNG
von Kuwait, wie auch die Probleme der
Clinton-Administration bei ihren Interventionen auf dem Balkan, des weiteren der überstürzte Rückzug der Truppen der USA aus Somalia, vom fortwährenden und starken Widerstand der
öffentlichen Meinung und dem Druck
bei Wahlen.
Die Attentate vom 11. September
2001 verschafften der Bush-II-Administration die Illusion eines massiven
und bedingungslosen Aufgreifens der
im „Krieg gegen den Terrorismus“
versteckten expansionistischen Pläne
durch die westliche öffentliche Meinung. Diese Illusion währte nur kurz:
17 Monate nach den Attentaten gab es
am 15. Februar 2003 in den USA und
weltweit die größten Mobilisierungen
gegen den Krieg seit Vietnam – ja sogar die größte weltweite Mobilisierung aller Zeiten. Sie war Ausdruck
einer massiven Ablehnung der drohenden Invasion in den Irak durch die
weltweite öffentliche Meinung, blieb
jedoch in den USA selbst noch in der
Minderheit. Die internationale Bewegung hatte – wie früher schon – erheblich zur Verstärkung der Bewegung in
den USA beigetragen, doch die Auswirkungen des 11. September zusammen mit der Desinformationskampagne der Bush-Administration, konnten
noch nicht ausreichend zurückgedrängt werden.
7. Die Enttäuschung der Erwartungen, die in die US-Besetzung des Irak gesetzt wurden,
haben günstige Bedingungen
dafür geschaffen, dass sich die
öffentliche Meinung in den USA
mehrheitlich in eine mächtige
und unerbittliche Bewegung für
die Rückführung der Truppen
verwandeln könnte.
Diesmal besteht das Problem darin,
dass die friedensbewegte Avantgarde
seit der Invasion weniger Aktivitäten
entwickelt hat, während sie eigentlich
voranschreiten sollte. Die von einer zu
kurzfristigen Sicht herrührende Demoralisierung, wo es doch angesichts der
Bedeutung, die die Sache für Washington hatte, höchst unwahrscheinlich
war, dass die Bewegung den Krieg verhindern könnte; der Glaube an die
Wahlen in den USA, also daran, das
Problem durch die Wahlurnen lösen zu
können, während doch allein der Druck
44
der Bevölkerung den Rückzug der USTruppen aus dem Irak erzwingen kann,
weil es einen Konsens der beiden großen Parteien über die Bedeutung der
auf dem Spiel stehenden Sache gibt;
sodann die Illusion, die bewaffneten
Aktionen aller Art, denen die Okkupationstruppen ausgesetzt sind, würden
allein genügen, der Besatzung ein Ende
zu bereiten – hierin liegen die wichtigsten Gründe für den ganz unpassenden
Rückgang der Aktivitäten der Antikriegsbewegung.
Diese Gründe verkennen allesamt
die vietnamesischen Erfahrungen, die
für die neuen Generationen zu weit
weg sind, als dass ihre Lektionen im
kollektiven Gedächtnis verblieben wären, weil es keine Kontinuität der Antikriegsbewegung gibt, die sie weitergeben könnte. Die Bewegung, die
schließlich der US-amerikanischen Besatzung Vietnams ein Ende gesetzt hat,
hatte sich als Bewegung mit langem
Atem langfristig aufgebaut, und eben
nicht als Mobilisierung vor dem Beginn des Krieges, die mit dem Beginn
der Invasion verstört ist. Jene Bewegung machte sich umso weniger Illusionen über eine Lösung des Problems
durch die Wahlen, weil sie in der Zeit
der demokratischen Johnson-Administration entstanden war, bevor sie ihren
Höhepunkt zur Zeit von Nixons republikanischer Administration fand. Für
jene Bewegung war klar, dass trotz des
starken Widerstandes, der erheblich
umfänglicher und wirksamer war als
der gegen den Irakkrieg, die Vietnamesen in ihrer tragischen militärischen
Isolierung nicht über die Mittel verfügten, den USA eine militärische Niederlage à la Dien Bien Phû zu bereiten –
also eine Niederlage vom Ausmaß derjenigen, die der französischen Besatzung des Landes 1954 ein Ende bereitete.
Dies gilt für den Irak noch weit
mehr: Außer der Heterogenität der
Quellen und Formen gewaltsamer Aktionen in diesem Land, wo sich terroristische Attentate gegen die Zivilbevölkerung mit teilweise konfessionellem Hintergrund mit legitimen Aktionen gegen die Besatzungstruppen und
ihre lokalen Hilfssheriffs vermischen,
macht allein schon das Terrain es unmöglich, der Supermacht USA eine militärische Niederlage beizubringen.
Deshalb fürchten die Besatzer eher die
Massenmobilisierungen der irakischen
Bevölkerung, wie diejenigen, die die
Entscheidung durchgedrückt haben,
spätestens im Januar 2005 allgemeine
Wahlen abzuhalten.
Nur ein massiver Schub der Antikriegsbewegung und ihr Echo in der öffentlichen Meinung der USA und weltweit, die zum Druck von Seiten der irakischen Bevölkerung hinzutreten, werden in der Lage sein, Washington zu
zwingen, seinen Zugriff auf ein Land
aufzugeben, dessen wirtschaftliche und
strategische Bedeutung unendlich viel
größer ist als die Vietnams und dessen
Invasion und Besatzung die USA
schon so viele Milliarden Dollar gekostet haben.
Wenn der Irak heute das Potential
für ein „neues Vietnam“ hat, dann nicht
hinsichtlich eines militärischen Vergleichs der beiden Okkupationen, sondern nur im politischen Vergleich.
Denn es handelt sich um die tiefste
Verstrickung der USA seit 1973, eine
Verstrickung, deren Auswirkungen
durch die Erinnerung an Vietnam verstärkt werden (was beweist, dass das
„Vietnam-Syndrom“ anhält), aber auch
durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel seither.
Es gibt hier eine historische Chance, am Elan des 15. Februar 2003 anzuknüpfen und eine Antikriegsbewegung mit langem Atem aufzubauen,
die in der Lage ist, das irakische
Kriegsabenteuer der USA und ihrer
Verbündeten politisch in ein neues Vietnam zu verwandeln, also in eine
neue langfristige Blockierung ihrer
imperialistischen Kriegsmaschine. Eine solche Perspektive, verbunden mit
Fortschritten in der weltweiten Mobilisierung gegen den Neoliberalismus,
ermöglichte es, den Weg für tiefgreifende soziale und politische Veränderungen zu eröffnen, nach denen eine
Welt verlangt, in der die Ungleichheiten massiv anwachsen.
24. August 2004
Gilbert Achcar ist Mitglied von „Agir contre la
guerre“ (ACG) und Autor von Der Schock der
Barbarei. Der 11. September und die „neue
Weltordnung“, Köln (ISP) 2002, sowie Eastern
Cauldron. Islam, Afghanistan, Palestine and
Iraq in a Marxist Mirror, London 2004.
Übersetzung: Paul B. Kleiser
INPREKORR 396/397
NACHRUF
Gérard de Verbizier (1942–2004) – Vergeat
Friedrich Dorn
Am 25. Juli, seinem 62. Geburtstag,
ist Gérard de Verbizier in Paris verstorben; viele kannten ihn eher als
„Vergeat“ (oder Verjat).
Er ist in Montbéliard (Département
Doubs) geboren , wo sein Vater Unterpräfekt war. Gérard schlug mehr nach
seinem Großvater väterlicherseits, der
bei dem berühmten Parteitag von Tours
(Dezember 1920), auf dem die sozialistische Partei (SFIO) sich in die sozialdemokratische und die kommunistische Partei spaltete, einer der Delegierten war und mit der Mehrheit für den
Anschluss an die Kommunistische Internationale votierte.
Gérard de Verbizier begann in Paris
ein Geschichtsstudium und trat 1963
dem kommunistischen Studentenverband (UEC) bei. Sehr rasch schloss er
sich erst der „italienischen“ Opposition
an (das heißt der Strömung, die mit der
vorsichtigen Öffnung und Kritik am
Stalinismus von Palmiro Togliatti, dem
damaligen Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei, sympathisierte), dann 1965 der trotzkistisch beeinflussten linken Opposition
in der UEC. Als dieser Sektor der UEC
offen mit der PCF-Führung brach und
1966 ausgeschlossen wurde – ein Prozess, der zur Gründung der „Jeunesse
communiste révolutionnaire“ (JCR) im
März 1967 führte –, stand er weniger
im Rampenlicht als Alain Krivine oder
Henri Weber; dennoch gehörte er zu
den führenden Köpfen dieser Strömung und war wie sie bereits der französischen Sektion der IV. Internationale beigetreten. Er betreute die ersten
Kerne der JCR unter der Schülerschaft.
Die JCR spielte eine bedeutende Rolle
im „Mai 68“ und wurde wie eine Reihe
weiterer Organisationen im Juni 1968
verboten. 1970 wurde er von der Leitung der an Ostern 1969 gegründeten
INPREKORR 396/397
„Ligue communiste“ nach Brüssel abgegeben; bis im August 1971 entdeckt
wurde, dass er eine seltene und unheilbare, genetisch bedingte Form von Diabetes hatte, war er damals der einzige
Hauptamtliche der IV. Internationale.
Er hat wenig geschrieben, berichtet
Daniel Bensaïd, war aber „ein Virtuose
im mündlichen Vortrag“. Für Schulungskurse arbeitete er lange Referate
aus, gestützt auf einige wenige Notizen
– über den Algerienkrieg, den Nahen
Osten und die Palästinafrage, Sri Lanka
oder die antikolonialen Bewegungen in
Vietnam. „Manchmal sprach er mehr
als sechs Stunden. Und die Zuhörerschaft wollte noch mehr hören. Man
hätte glauben mögen, er habe es verstanden, sich wie ein geschickter politischer 'profiler' in die Denkweise von
Ho Chi Minh oder Giap1 hineinzuwuseln, um die Feinheiten ihrer Denkvorgänge genau zu begreifen. Gérard war
dadurch ausschlaggebend dafür, dass
unsere Kultur von Anfang an in einem
Internationalismus von Fleisch und
Blut verankert war.“
Nach und nach stellte er seine politischen Aktivitäten ein. Er widmete
sich dem Filmemachen und arbeitete
an mehreren Dokumentarfilmen mit.
Zeitweilig war er bei „Arte“ beschäftigt, und er konnte sich für die Herstel-
lung einer als perfekt gelobten französischen Fassung des Films „Operation
Nikolai“2 und für dessen Verbreitung
in Frankreich und in anderen europäischen Ländern einsetzen.
Außerdem beschäftigte er sich mit
der vernichteten revolutionären jiddischen Kultur; er schrieb ein Buch über
eine Einheit der jugendlichen, vorwiegend jüdischen ImmigrantInnen, die einen bedeutenden und später parteioffiziell heruntergespielten Anteil am bewaffneten kommunistischen Widerstandskampf gegen die Nazi-Okkupanten hatten.3
Gérard de Verbizier machte sich
den jüdischen Humor zu eigen und sagte, er „arbeite im Audiovisuellen“ – er,
den seine Krankheit hatte taub und
blind werden lassen.
Diesem Nachruf liegen im wesentlichen die
Artikel von Paul Benkimoun in Le Monde vom
29. Juli 2004 und von Daniel Bensaïd in Rouge
vom 2. September 2004 zugrunde.
Herangezogen wurden außerdem ein Nachruf
im Boletin electronico de la Fundacion Andreu
Nin, Nr. 36, September 2004, sowie das halbautobiographische Buch Une lente impatience
von Daniel Bensaïd (Paris: Éditions Stock,
2004).
2
1
Der vietnamesische General Vô Nguyen Giap
(geboren 1912) war von Jugend an in der revolutionären antikolonialen Bewegung aktiv, trat
der kommunistischen Partei bei, hatte ab 1944
führende Positionen, leitete von 1946 bis zum
Sieg bei Dien Bien Phu den bewaffneten
Kampf gegen die zahlenmäßig und technisch
überlegenen französischen Truppen; 1960 bis
1980 Minister für Nationale Verteidigung der
Demokratischen Republik Vietnam bzw. ab
1976 der Sozialistischen Republik Vietnam;
bis 1982 Mitglied des Politischen Büro. Er gilt
allgemein als brillanter Militärstratege und taktiker; verfasste eine Reihe von Artikeln, die
zu dem Buch Volkskrieg, Volksarmee zusammengestellt wurden (Hanoi 1961; dt. München
1968).
„Operación Nikolai“ dokumentiert die Ermordung des katalanischen Linksoppositionellen
und POUM-Führers Andreu Nin im Juni 1937
und wurde von Journalisten des katalanischen
Fernsehens erarbeitet; sie konnten herausfinden, wann, wo, von wem und warum der Mord
durchgeführt wurde (vgl. die Einzelheiten und
Nachweise bei Reiner Tosstorff, „Andreu Nin
und Joaquín Maurín. Vom revolutionären Syndikalismus zum antistalinistischen Kommunismus“, in: Theodor Bergmann / Mario Keßler
(Hrsg.), Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, 2. Ausg., Hamburg: VSA-Verlag, 2000, S. 218–241, hier S. 226/227).
3 Gérard de Verbizier, Ni travail, ni famille, ni
patrie. Journal d’une brigade F.T.P.-M.O.I.
Toulouse 1942-1944, Paris: Calmann-Lévy,
1994.
45
NACHRUF
Pierre Le Grève (1916–2004)
Georges Dobbeleer
Pierre Le Grève ist am 1. August im Alter von 88 Jahren in Brüssel gestorben.
Sein ganzes Leben lang ist er ein Beispiel für einen selbstlosen, großzügigen
und wirkungsvoll handelnden Marxisten
gewesen. Neben Ernest Mandel ist er als
derjenige zu nennen, der sowohl im politischen, im gewerkschaftlichen und vor
allem im internationalen Bereich seit
Ende der dreißiger Jahre in der belgischen revolutionär-marxistischen Bewegung kontinuierlich aktiv gewesen ist –
eine Aktivität, die unsere Achtung und
Bewunderung verdient hat.
Er kam in einer bürgerlichen Familie auf die Welt, brach aber noch sehr
jung mit den Ideen und den Verhaltensweisen dieser Umgebung. 1934 begann
er an der Universität von Brüssel ein Lizenziatsstudium in Philosophie und trat
dort den „Étudiants socialistes“ bei; er
sympathisierte mit dem Kommunismus
und arbeitete mit dem kommunistischen Jugendverband zusammen. Aber
Stalins Rechtswende zugunsten der
Volksfronten führte von der Perspektive der sozialistischen Revolution weg,
was Pierre nicht hinnehmen wollte. Damals begegnete er Georges Vereeken,
Organisator einer Gewerkschaft der Taxifahrer und eine der führenden Personen in der belgischen trotzkistischen
Bewegung1. Er erklärte ihm die bürokratische Entartung der stalinistischen
UdSSR und überzeugte ihn recht
schnell. Als Pierre Le Grève als Freiwilliger nach Spanien gehen wollte, um
gegen Franco zu kämpfen, wurde er ab1 Georges Vereeken (1898–1978) war von Beruf
Taxifahrer, trat 1922 der belgischen kommunistischen Partei bei, war einer der Mitbegründer
der antistalinistischen Opposition in Belgien,
lehnte 1934/35 die Taktik des Eintritts in die Sozialdemokratie („Entrismus“) ab und führte eine
eigene Gruppe, die sich 1936 mit der belgischen
Sektion wiedervereinigte; G. Vereeken wurde in
der „Parti Socialiste Révolutionnaire“ Organisationssekretär, 1937 wurde er politischer Sekretär und Hauptamtlicher; 1938 verließ er die PSR
erneut, wegen Differenzen über die Haltung zur
spanischen POUM und Kritiken am Internationalen Sekretariat, er bildete eine eigene Gruppe,
die eng mit der niederländischen RSAP zusammenarbeitete; 1964 verließ er die belgische Sektion ein letztes Mal, zusammen mit der von Michel Pablo geführten Internationalen Revolutionären Marxistischen Tendenz.
46
gelehnt. Er ist sicher, dass das darauf
zurückgeht, dass er als Trotzkist eingestuft wurde. Vereekens Gruppe, die das
Organ Contre le courant herausgab, beteiligte sich 1938 nicht an der Gründung der IV. Internationale; sie hielt
das für verfrüht.
KRIEG UND NACHKRIEGSZEIT
Im Februar 1940 trat Pierre Le Grève
den Militärdienst an. Dadurch entging er
der Festnahme durch den belgischen
Staatssicherheitsdienst bei Kriegsbeginn
im Mai. Er verließ dann in der Nähe von
Montpellier ein Regiment2, das in einem
deutschen „Stalag“3 landete; kaum war
er im Sommer desselben Jahres in Belgien zurück, begann er wieder mit der politischen Aktivität und der Verbreitung
von Contre le courant; er war gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Die
Stalinisten stuften diese Zeitung zunächst als Organ von Helfershelfern des
angelsächsischen Imperialismus ein,
nach dem Einfall der Nazis in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 sprachen sie
dann vom „Hitlero-Trotzkismus“.
Unmittelbar nach dem Krieg vereinigten sich die beiden unterschiedlichen
trotzkistischen Gruppen, sie gründeten
die „Parti Communiste Internationaliste“, die belgische Sektion der IV. Internationale. Pierre kam sofort in das Politische Büro der Partei, in dem er 30 Jahre
lang aktiv mitarbeiten sollte.
2 Auf die Invasion Polens im September 1939,
die zur Kriegserklärung von Großbritannien
und Frankreich an das Deutsche Reich führte,
folgten im April 1940 der Überfall auf Dänemark und Norwegen und am 10. Mai 1940 der
siebenwöchige „Blitzkrieg“ gegen die Niederlande und Belgien (dessen Regierung ab Mitte
der dreißiger Jahre eine Hitler-freundliche
„Neutralitätspolitik“ betrieben hatte); während
der belgische König Leopold III. (1934–1951)
am 28. Mai die Kapitulation unterzeichnete,
hatte die belgische Regierung England und
Frankreich um Unterstützung angesucht, Teile
der belgischen Armee zogen sich daher mit den
französischen Truppen vor der vorrückenden
deutschen Wehrmacht zurück.
3 „Stalag“ – Abkürzung für Stammlager, im
Zweiten Weltkrieg für kriegsgefangene Mannschaften und Unteroffiziere.
Zunächst arbeitete er in Charleroi
als Fabrikarbeiter, dann als Handelsvertreter, schließlich fand er eine Stelle als
Gymnasiallehrer für „morale laïque“4
in dem staatlichen Unterrichtswesen in
Ixelles (Brüssel).
Ab 1951 praktizierten die belgischen Trotzkisten den Entrismus in der
sozialistischen Partei. Nicht ohne
Schwierigkeiten wurde er zu dem Ortsverein in Uccle (Brüssel) zugelassen.
Er war Mitglied der „Association des
Enseignants Socialistes“ (Sozialistischer Lehrerverband); er trat überzeugend auf und konnte 1955 auf dem
Brüsseler Verbandstag und 1957 auf
dem nationalen Verbandstag ein umfassendes Programm für eine „Gemeinschaftsschule von 12 bis 18 Jahren“
durchbringen, die den Arbeiterkindern
eine allgemeine Bildung und nicht
mehr nur eine Berufsausbildung ermöglichen sollte. Das war eine Anwendung der Forderungen aus dem 1938
von Trotzki ausgearbeiteten „Übergangsprogramm“ auf den Bildungsbereich. 1983 wurde dieses Programm
von einem Grundsatzkongress der
CGSP-FGTB5 übernommen.
KONGO, ALGERIEN, VIETNAM...
Im Juli 1956 hielt die Belgische Sozialistische Partei (PSB) einen Parteitag
zur Festlegung ihrer Position zur Zukunft des belgischen Kongo ab. Als Widersacher eines sehr gemäßigten Berichts erhielt Pierre die Unterstützung
der Parteitagsmehrheit und sogar des
Parteivorsitzenden Max Buset, als er
sofortige demokratische Freiheiten für
den Kongo forderte.
Am 1. November 1954 begann die
„Front de Libération Nationale“ (FLN)
den Aufstand gegen den französischen
Kolonialismus in Algerien. Die recht
4 in etwa vergleichbar dem brandenburgischen
LER (Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde)
5 Die „Centrale Générale des Services Publics“
(CGSP) ist die Gewerkschaft im öffentlichen
Dienst, die dem sozialdemokratisch orientierten Dachverband „Fédération Générale du Travail de Belgique“ (FGTB) angehört.
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NACHRUF
Frankreich-freundliche
öffentliche
Meinung in Belgien lehnte diese Revolution ab. 1955 gründete Pierre ein
„Komitee für den Frieden in Algerien“.
Die zurückhaltende Bezeichnung stand
nicht nur für Verbreitung von Informationen durch Veranstaltungen und
Schriften, sondern auch für konkrete
Hilfeleistungen für algerische Aktivisten auf der Durchreise. In dem Buch Le
front du Nord von J. Doneux und H. Le
Paige über Belgier im Algerienkrieg
hat Pierre Le Grève, der dynamische
und fähige Organisator, die verdiente
Ehrung erfahren.6
Die französischen Geheimdienste
wollten diese Aktivität mit terroristischen Akten unterbinden. Am 9. März
1960 wurde der algerische Student Akli
Aîssiou in Brüssel ermordet. Kurz darauf wurde der Gymnasiallehrer Laperches in Lüttich von einer Paketbombe
getötet. Pierre erhielt ein eben solches
Paket, machte es aber nicht auf und
kam davon. Dann wandte sich die öffentliche Meinung in Belgien von dem
gaullistischen Frankreich ab. Pierre organisierte eine Kundgebung gegen den
Algerienkrieg mit Jean-Paul Sartre, die
am 12. März 1962 in Brüssel stattfand
und zu einem enormen Erfolg wurde.
Kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens nahm Pierre in Algier an einer
„europäischen Konferenz für Nichtregierungshilfe für Algerien“ teil, die dazu beitragen sollte, dass die unabhängig
gewordene algerische Nation aus der
dramatischen Situation herauskommen
sollte. Das Algerien-Komitee verwandelte sich in ein „Komitee gegen Neokolonialismus und Faschismus“ und
half vor allem Aktiven der marokkanischen Linken. Pierre war Mitbegründer
des Vietnam-Komitees, das riesige Demonstrationen organisierte. Er führte
auch eine erfolgreiche Kampagne gegen die Auslieferung des Anarchisten
Francisco Abarca an Franco-Spanien.
GEWERKSCHAFTSARBEIT UND
POLITISCHE ARBEIT
Pierre gehörte zu denen, denen es während des Generalstreiks von 1960/61
gelang, den Vorstand in der Region
Brüssel der Abteilung Unterrichtswesen in der Gewerkschaft des Öffentli6 Jean L. Doneux u. Hugues Le Paige, Le front
du Nord. Des Belges dans la guerre d’Algérie
(1954–1962), Paris u. Bruxelles: De Boeck
Université, 1992.
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chen Diensts, der sich wenig um die innergewerkschaftliche
Demokratie
scherte, zu stürzen. Von da an befanden
nur Vollversammlungen über den Kurs
und Aktionen der Gewerkschaft.
In seinen „Erinnerungen eines antistalinistischen Marxisten“ schrieb Pierre: „Ich bin immer für eine Gewerkschaftsbewegung eingetreten, die sich
an einem Klassenideal orientiert.“ 7 Er
war ein brillanter Redner und hat stets
in diesem Sinne gesprochen und gehandelt. Zusammen mit Ernest Mandel gehörte er zu den Mitbegründern der Wochenzeitung La Gauche, deren Ziel es
war, den linken Flügel der Sozialistischen Partei zusammenzufassen. Im
April 1964 beschloss der Parteitag der
PSB jedoch den Ausschluss der Redakteure dieser Zeitung.
Dem sozialistischen linken Flügel
gelang es, in Wallonien die „Parti Wallon des Travailleurs“ (PWT) und in
Brüssel die „Union de la Gauche Socialiste“ (UGS) zu gründen, die eine Föderation bildeten. Ein Wahlbündnis mit
der kommunistischen Partei machte es
1965 möglich, dass Pierre in Brüssel
zum Abgeordneten gewählt wurde. Das
zwang ihn zur Aufgabe seiner Lehrerstelle, die er nach Ende des Mandats
[Anfang 1968] nur unter großen
Schwierigkeiten zurück bekommen
konnte. Im Parlament trat er zugunsten
der Rechte von AusländerInnen, für die
streikenden Bergleute in Limburg, gegen den Putsch der griechischen Obristen und gegen das NATO-Hauptquartier in Belgien auf.
Mitte der siebziger Jahre stellte er
die Aktivitäten in der belgischen trotzkistischen Organisation ein, während er
seinen Überzeugungen treu blieb. Seit
einiger Zeit hat sein Gesundheitszustand es nicht mehr erlaubt, aktiv zu
handeln; am Schluss seiner Erinnerungen bekräftigte er jedoch: „Seit langem
bin ich Anhänger des Marxismus, ich
bleibe es; bin ich Kommunist, ich bleibe es; bin ich Trotzkist, ich bleibe es.“
Wir haben einen Genossen verloren. Wir werden Pierre Le Grève als einen vorbildlichen revolutionär-marxistischen Genossen in Erinnerung behalten.
Aus dem Französischen übersetzt von
Friedrich Dorn. Die Anmerkungen
wurden von dem Übersetzer
hinzugefügt.
7 Pierre Le Grève, Souvenirs d’un marxiste antistalinien, Paris: La Pensée universelle, 1996.
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47
G 9861
„Wir kämpfen für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert “
Aufruf der Versammlung sozialer Bewegungen auf dem Dritten Europäischen Sozialforum
London, 17. Oktober 2004
Wir kommen von allen Kampagnen und sozialen Bewegungen, vereinbar mit unseren Vorstellungen. Dieser Verfassungsver„Keine Stimme“ („no vox“)-Organisationen, Gewerkschaften, trag erhebt den Neoliberalismus zur offiziellen Doktrin der EU;
Menschenrechtsorganisationen, Organisationen der internatio- er macht den Wettbewerb zur Grundlage des Europäischen Genalen Solidarität, Antikriegs-, Friedens- und Frauenbewegun- meinschaftsrechts und faktisch aller menschlichen Aktivitäten;
gen. Wir kommen aus allen Regionen Europas, um uns in Lon- er ignoriert vollständig die Ziele einer ökologisch nachhaltigen
don zum dritten Europäischen Sozialforum zu treffen. Wir sind Gesellschaft. Dieser Verfassungsvertrag garantiert weder gleiche Rechte noch das Recht auf Bewegungsfreiheit noch das
viele und unsere Stärke ist unsere Vielfalt.
Krieg ist heute der hässlichste und realste Ausdruck des Ne- Recht auf Niederlassungsfreiheit und Staatsbürgerschaft für aloliberalismus. Der Krieg und die Besatzung im Irak, die Besat- le, unabhängig von ihrer Nationalität. Der Verfassungsvertrag
zung Palästinas, die Massaker in Tschetschenien und die ver- räumt der NATO eine Rolle in der europäischen Außen- und
steckten Kriege in Afrika zerstören die Zukunft der Menschheit. Verteidigungspolitik ein drängt auf die Militarisierung der EU.
Der Irakkrieg war mit Lügen gerechtfertigt worden. Heute ist Schließlich rückt er den Markt an die erste Stelle, drängt das Soder Irak erniedrigt und zerstört. Die Iraker sind Gefangene des ziale an den Rand und beschleunigt er die Zerstörung der öffentKrieges und des Terrors. Die Besatzung hat weder Freiheit noch lichen Dienstleistungen.
Wir kämpfen für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert,
eine Besserung der Lebensbedingungen gebracht. Im Gegenteil:
Die Vertreter der These vom „Zusammenstoß der Kulturen“ für einen Kontinent der internationalen Solidarität und für eine
ökologisch nachhaltige Gesellschaft. Wir kämpfen für Abrüs(„clash of civilisations“) sind heute gestärkt.
Wir kämpfen für den Abzug der Besatzungstruppen aus dem tung, gegen atomare Waffen und gegen US- und NATO-MiliIrak, für einen sofortigen Stopp der Bombardierungen und für tärstützpunkte. Wir unterstützen all jene, die den Militärdienst
die sofortige Wiederherstellung der Souveränität der irakischen verweigern.
Wir wenden uns gegen die Privatisierung öffentlicher
Bevölkerung.
Wir unterstützen die palästinensischen und israelischen Be- Dienstleistungen und gemeinsamer Güter wie Wasser. Wir
wegungen, die für einen gerechten und dauerhaften Frieden kämpfen für Menschenrechte, für soziale, ökonomische, politikämpfen. Entsprechend dem Urteil des Internationalen Ge- sche und ökologische Rechte zur Abwehr und Überwindung der
richtshofes der Vereinten Nationen und dem einstimmigen Vo- Herrschaft des Marktes, der Logik des Profits und der Beherrtum der europäischen Staaten in der UN-Vollversammlung for- schung der Dritten Welt durch die Schuldendienste. Wir wendern wir ein Ende der israelischen Besatzung und die Beseiti- den uns gegen die Instrumentalisierung des „Kriegs gegen den
gung der Apartheidmauer. Wir fordern politische und wirt- Terrorismus“ zum Zweck des Angriffs auf demokratische und
schaftliche Sanktionen gegen die israelische Regierung, solange Bürgerrechte und um abweichende Meinungen und soziale
sie weiterhin internationales Recht und die Menschenrechte der Konflikte zu kriminalisieren.
Am 20. März 2005 jährt sich zum zweiten Mal der Beginn
palästinensischen Bevölkerung verletzt. Daher werden wir für
die internationale Aktionswoche gegen die Apartheidmauer des Krieges gegen Irak. Am 22. und 23. März trifft sich der Euvom 9. bis 16. November, zu europäischen Aktionstagen am 10. ropäische Rat in Brüssel. Wir rufen daher zu landesweiten Mound 11. Dezember, dem Jahrestag der Verabschiedung der UN- bilisierungen in allen europäischen Ländern auf. Für den 19.
März rufen wir zu einer zentralen Demonstration nach Brüssel
Menschenrechtserklärung, mobilisieren.
Im Februar 2005 werden wir uns den Protestaktionen gegen auf: gegen Krieg und Rassismus und gegen ein neoliberales Euden NATO-Gipfel in Nizza anschließen. Wir wenden uns gegen ropa, gegen Privatisierung, gegen das Bolkestein-Projekt und
die von den G-8-Staaten angemaßte Übernahme globaler Regie- gegen die Angriffe auf die Arbeitszeit, für ein Europa der Rechrungsfunktionen und einer Politik des Neoliberalismus. Daher te und der Solidarität zwischen den Völkern. Wir rufen alle sobitten wir um massenhafte Mobilisierung anlässlich des G-8- zialen Bewegungen und die europäischen Gewerkschaften auf,
an diesem Tag auf die Straße zu gehen.
Gipfels in Schottland im Juli 2005.
Wir wollen ein anderes Europa, das Sexismus und Gewalt
gegen Frauen ablehnt und das Recht auf Abtreibung anerkennt. Der hier vorliegende Text ist ein kurzer Auszug aus dem Aufruf des
Wir unterstützen den internationalen Aktionstag gegen Gewalt Treffens der Sozialen Bewegungenen. Ungekürzt nachzulesen im Internet
gegen Frauen am 25. November und die Europäische Initiative. unter http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/esfWir unterstützen die Mobilisierung zu den Feiern des Internati- london.html
onalen Frauentags am 8. März. Wir unterstützen die Europäische Initiative zum 27./28. Mai in Marseille, die vom weltwei- Übersetzung aus dem Englischen: Peter Strutynski
ten Marsch für die Frauen vorgeschlagen wurde.
Wir treten ein gegen Rassismus und die Festung
Europa und für die Rechte der Einwanderer und AsylNeuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln
suchenden; wir sind für Bewegungsfreiheit, für das
Postvertriebsstück, DPAG, Entgelt bezahlt
Staatsbürgerrecht nach dem Residenzprinzip und für
G9861 #5037280137*
die Schließung der Abschiebehaftanstalten. Wir wenden uns gegen die Abschiebung von MigrantInnen. Wir
schlagen einen Aktionstag am 2. April 2005 vor: gegen
Rassismus, für Bewegungsfreiheit und für das Bleiberecht als Alternative zu einem Europa der Exklusion
und der Ausbeutung.
In der Zeit, in welcher der Entwurf für die Europäische Verfassung ratifiziert werden soll, müssen wir
darauf bestehen, dass die Menschen in Europa darüber
direkt befragt werden. Der Verfassungsentwurf ist un-
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