G 9861 INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ USA: Bushs Kriege, die Wahlen von 2004 und die amerikanische Linke USA Die Nader-Kampagne zu den US-Wahlen • IV. Internationale Livio Maitan hat uns verlassen – Ciao compagno! • Jakob Moneta Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen • Brasilien Die Parteifrage in Zeiten der Lula-Regierung • Antikriegsbewegung Thesen über die gegenwärtige Periode, den Krieg und die Antikriegsbewegung • Sozialforum • Die Internationale NR. 396/397 November/Dezember 2004 € 4,50 IMPRESSUM Inprekorr ist das Organ der IV. Internationale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internationale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politischen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internationale. Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des herausgebenden Gremiums wieder. 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Alain Krivine ................... 14 Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen, Jakob Moneta .......................................... 16 Brasilien Die Parteifrage in Zeiten der Lula-Regierung: Dissidenten sammeln sich in der PSoL Maurício Hashizume ...................................................................................... 35 Die Linke in der Stunde der Wahrheit, Valter Pomar ...................................... 37 Eine neue sozialistische Partei, Correio da Cidadania ..................................... 39 Die neue Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL), Jornal Democracia Socialista ....................................................................... 40 Antikriegsbewegung Thesen über die gegenwärtige Periode, den Krieg und die Antikriegsbewegung, Gilbert Achcar ...................................................... 41 Nachruf Gérard de Verbizier (1942–2004) – Vergeat, Friedrich Dorn .......................... 45 Pierre Le Grève (1916–2004), Georges Dobbeleer .......................................... 46 Sozialforum Der Aufruf der Versammlung sozialer Bewegungen auf dem Europäischen Sozialforum London, 17. Oktober 2004 ................................. 48 Die Internationale Gegen die Barbarei – Kampf an allen Fronten, Wolfgang Alles ....................... 19 Hartz und der Irrtum von Marx, Werner Abel ................................................... 26 Aktuelles aus längst vergangener Zeit, Manfred Behrend ................................ 28 Thierry Jouvet – Michel Rovère, François Sabado .......................................... 30 Verlag, Verwaltung & Vertrieb: Neuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln. Kontaktadressen: RSB, Revolutionär Sozialistischer Bund Landzugenstraße 8, D-68519 Mannheim isl, internationale sozialistische linke Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln Soal, Postfach 395, A-1070 Wien Inprekorr, Güterstr. 122, CH-4053 Basel Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung umgehend zurückzusenden. 2 Liebe Leserinnen, liebe Leser, Am 11. November diesen Jahres wird unser Genosse Jakob Moneta 90 Jahre alt. Seit mehr als 55 Jahren Mitglied der IV. Internationale ist er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unsrer Bewegung. Die Redaktion wünscht ihm von dieser Stelle aus alles Gute und noch möglichst viele Jahre freudigen Schaffens, denn nichts ist ihm ganz offensichtlich so wichtig wie – mit der Feder bewaffnet – für die Sache der Unterdrückten zu streiten. Wir wissen nicht, ob er vorhat, seine gesammelten Erinnerungen zu Papier zu bringen. Aber aus Anlass seines Geburtstages bringen wir in diesem Heft einen Aufsatz, in dem er 1978 anlässlich einer Debatte über die „Gewaltfrage“ Grundsätzliches zur notwendigen politischen und militärischen „Bewaffnung“ der Ohnmächtigen ausführt und dabei ein sehr erhellendes Licht auf einige seiner Lebensabschnitte wirft. Wir entnehmen den Aufsatz der Sammlung Jakob Moneta: Mehr Macht für die Ohnmächtigen. Reden und Aufsätze (isp-Verlag, 1991). Wir können noch lange nicht auf Eure finanzielle Unterstützung verzichten. Darum bitten wir auch diesmal wieder darum, reichlich auf folgendes Konto zu spenden: Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507 Postbank Köln (BLZ 370 100 50) INPREKORR 396/397 USA Bushs Kriege, die Wahlen von 2004 und die amerikanische Linke – eine Broschüre der Solidarity IV. Geschichtlicher Rückblick: Die Demokratische Partei und die sozialen Bewegungen Von der Industriearbeiterbewegung der 1930er Jahre über die Bürgerrechtsund Black-Power-Kämpfe der 1950er und 1960er Jahre bis zur Anti-Vietnamkriegsbewegung und den Protesten gegen den „Reaganismus“ in den 80ern zeigt die historische Bestandsaufnahme der sozialen Bewegungen in den Vereinigten Staaten ein gleich bleibendes Muster. Die Bewegungen flauen ab oder verschwinden gar, sobald ihre Schlüsselfiguren sich entschließen, „pragmatisch“ zu werden, militantes Vorgehen als zweitrangig anzusehen, und sich in der traditionellen Wahlpolitik der Demokraten engagieren. DIE DEMOKRATEN UND DER NIEDERGANG DES CIO Der CIO (Congress of Industrial Organisations), der Zusammenschluss der Industriegewerkschaften, entstand aus Kämpfen heraus. Seit dem Anfang der wirtschaftlichen Depression (Great Depression) im Jahr 1929 hatten die ArbeiterInnen unter Arbeitslosigkeit, Lohnreduktionen und Rationalisierungen zu leiden. Anfang der 1930er Jahre hatten Radikale, Sozialisten und Kommunisten den Grundstein zur Organisierung der Beschäftigungslosen gelegt. Die Bewegung der arbeitslosen Arbeiterschaft nahm teil an Großdemonstrationen, Sit-ins in Unterstützungsbüros und Kampfmaßnahmen zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Trotz starker Repressionen durch die lokalen Polizeiorgane und die Gemeindebehörden (viele mit Demokratischen Bürgermeistern an der Spitze), errang die Arbeitslosenbewegung wichtige Erfolge, und viele ArbeiterInnen machten dabei INPREKORR 396/397 die Erfahrung, dass sie nicht nur kämpfen, sondern auch gewinnen konnten. Viele Veteranen der Arbeitslosenbewegung begannen – nachdem sie wieder Arbeit gefunden hatten – mit dem Aufbau von Industriegewerkschaften. Dabei taten sie sich mit den Radikalen, Sozialisten und Kommunisten der großen Industriestandorte zusammen. 1934 erlebte es die arbeitende Bevölkerung in einer Reihe von Massenstreiks, die durch Radikale angeführt wurden – es streikten die Lastwagenfahrer in Minneapolis, die AutomobilarbeiterInnen in Toledo und die Dockarbeiter in San Francisco –, dass sie auch gewinnen konnte. In allen diesen Auseinandersetzungen waren gemeinsames Vorgehen, die Organisation von demokratischen, durch die Basis geführten Gewerkschaften, die Abstützung auf die eigene Kampfkraft auf der Straße statt auf Politiker oder behördliche Vermittler sowie Allianzen mit den Arbeitslosen und Farmern der Schlüssel zum Erfolg. Der Erfolg der Streiks von 1934 entfachte eine Debatte in der „alten“ American Federation of Labor (AFL), deren angeschlossene Gewerkschaften nach Berufsständen organisiert waren. Die Organisatoren von der Basis der Automobil-, Gummi-, Stahl-, Maschinenbau- und anderen Industrien mit Fließbandproduktion setzten sich gemeinsam mit den Führern der Bergarbeiter- und TextilarbeiterInnengewerkschaften für eine Industrie-Gewerkschaftsorganisation ein, die sämtliche im industriellen Bereich tätige Personen, unabhängig von ihrer Aufgabe oder Stellung, umfassen sollte. Nachdem die AFL einen Zusammenschluss abgelehnt hatte, lancierte der CIO eine Reihe von Mitgliederwer- beaktionen. Der eigentliche Test für das Industriegewerkschaftswesen war der Blockade-Streik bei General Motors in Flint (Michigan) in den Jahren 1936/37. Der Sieg der Vereinigten AutomobilarbeiterInnen in Flint löste eine Welle von Blockaden in anderen Industrien aus und spielte eine entscheidende Rolle beim Aufbau der CIO-Gewerkschaften. Dass der CIO überhaupt entstand und Erfolg hatte, hatte zu einem geringen Teil damit zu tun, wer gerade im Weißen Haus saß. Franklin Roosevelt, der erste Demokratische Präsident in zwanzig Jahren, war mit einem eher konservativen Programm zu den Wahlen angetreten; er wollte mit einem ausgeglichenen Bundesbudget das Vertrauen in die Wirtschaft wieder herstellen. Obwohl es Unruhen unter den Arbeitslosen waren, die Roosevelt 1933 und 1934 dazu bewegten, öffentliche Arbeitsprogramme zu lancieren, hatte der so genannte „erste New Deal“ wenig Wirkung bezüglich einer Neuverteilung des Einkommens oder der Organisation der Arbeiterschaft in Gewerkschaften. Das hauptsächliche Ziel des National Industrial Recovery Acts – der vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt wurde – war, den von Roosevelt als schädlich erachteten Wettbewerb unter den Produzenten einzuschränken, indem Preise und Produktionsquoten festgesetzt wurden. Der berühmte Paragraf 7A, der das Recht der ArbeiterInnen auf die Bildung von Gewerkschaften nach ihren Vorstellungen anerkannte, sah keine Maßnahmen vor, die es erlaubt hätten, diese Recht gegen den Widerstand des Arbeitgebers durchzusetzen. Die CIO-Gewerkschaften nahmen sich das „Recht sich zu organisieren“ eher selbst, durch groß angelegte Arbeitskampfmaßnahmen, als 3 USA dass es ihnen durch den Gesetzgeber gewährt wurde. Die Roosevelt-Administration schwenkte erst 1935 auf eine mehr reformorientierte Linie ein – nach den Streiks in Toledo, Minneapolis und San Francisco, mitten in einer andauernden Streikwelle. Der „zweite New Deal“ bedeutete einen scharfen Linksrutsch von Seiten Roosevelts und der Demokratischen Partei. Die Verabschiedung des Social Security Acts (der eine Arbeitslosenversicherung, Renten sowie Unterstützungsgelder für Witwen mit Kindern einführte), des Fair Labor Standards Acts (der die Vierzig-Stunden-Woche und einen Minimallohn vorschrieb) und des National Labor Relations Acts (der gesetzliche Grundlagen zur Anerkennung der Gewerkschaften schuf) war eine Reaktion auf die Streikwelle, die die amerikanische Industrie zwischen 1934 und 1937 erschütterte. Die Demokraten unter der Führung Roosevelts reagierten auf die Spannungen in der Industrie mit Reformen. Aber um zwei ihrer Hauptwählergruppen – die mächtigen Interessensgruppen des Nordens, die städtischen Immobilienhandel betrieben und die südlichen Demokraten, meist reiche Plantagenbesitzer, die für die Rassentrennung eintraten („Dixiecrats“) – bei der Stange zu halten, mussten sich die New Deal-Reformer innerhalb bestimmter, eng gesteckter Grenzen bewegen. Die Regierungen der Bundesstaaten sollten für die Arbeitslosenversicherung und die Bargeldunterstützungen von allein stehenden Müttern (Aid for Dependent Children, AFDC) zuständig sein, um den Bedarf der lokalen Arbeitgeber an billigen Arbeitskräften sicher zu stellen. Noch bedeutsamer war indessen, dass LandarbeiterInnen und Heimwerkerinnen – die überwiegend Schwarze oder Mischlinge waren – von der Arbeitslosenversicherung, den Altersrenten und dem gesetzlichen Recht, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, ausgeschlossen wurden. Die Durchsetzungskraft und die Radikalität, die vom Aktivismus der einfachen ArbeiterInnen ausging und die den Aufstieg des CIO in Schwung brachten, erschreckten nicht nur die Firmenbosse und die Roosevelt-Administration, sondern auch einen Teil der AFL-Offiziellen. Unter der Führung von John L. Lewis von den „United Mine Workers“ versuchten dissidente 4 Bürokraten der Industriegewerkschaft die wachsenden Aktivitäten des CIO vom militanten Arbeitskampf weg und zu alltäglicheren und harmloseren Vorgehensweisen hin zu lenken, wie dem Führen von Verhandlungen und dem Vertrauen in bundesstaatliche Vermittlung. In der Folge der Sitzblockade bei General Motors, gelang es der neuen CIO-Bürokratie die Ausweitung der Sitzstreiks zu Chrysler und anderen Autoherstellern zu verhindern. Sie sorgten auch für eine Kontrolle von oben beim – letztlich erfolglosen – Aufbau einer Gewerkschaft in den „Little Steel“-Fabriken im Jahre 1937. Ein zentraler Punkt des Programms der neuen CIO-Bürokratie, dessen Ziel die Zähmung der militanten Industriearbeiterschaft war, war eine Allianz mit der Demokratischen Partei und der Roosevelt-Administration. Dass die meisten Demokratischen Politiker, einschließlich etlicher Gouverneure und Bürgermeister, die Bosse unterstützten und versuchten, die Gewerkschaften in ihren Mitgliederwerbekampagnen zu behindern, führte zu heftigen Diskussionen innerhalb des CIO über die Frage, ob eine ArbeiterInnenpartei gegründet werden sollte. Die örtlichen Büros von CIO-Gewerkschaften verabschiedeten eine ganze Anzahl Resolutionen, in denen eine unabhängige, auf den neuen Industriegewerkschaften basierende Partei gefordert wurde und selbst an internationalen Treffen der „United Auto Workers“ wurde diese Forderung erhoben. Die Ergebenheit der CIO-Führung gegenüber Roosevelt und der Demokratischen Partei machte jedoch jegliche ernsthafte Erwägung einer unabhängigen Partei zunichte, die die Standpunkte der arbeitenden Bevölkerung auf der politischen Bühne hätte vertreten können. Die Unterstützung, die Roosevelt in der hart umkämpften Wahl von 1936 durch Labor erhielt, war entscheidend für seine Wiederwahl. Die Demokraten „belohnten“ die CIO-Führung 1937, als der Demokratische Bürgermeister von Chicago die Polizei losschickte, um auf unbewaffnete „Little Steel“-Streikende zu schießen, die an einem Memorial Day-Picknick teilnahmen. Roosevelts „Gegenleistung“ bestand darin, „Euren beiden Sippen die Pest“ an den Hals zu wün- schen (gemeint waren die Stahlunternehmen und die Gewerkschaften). Das Bündnis, das Labor mit den Demokraten geschlossen hatte, führte – zusammen mit dem Wunsch, nicht „unpatriotisch“ erscheinen zu wollen – dazu, dass sowohl die AFL- wie auch die CIO-Spitzen während des Zweiten Weltkriegs auf das Streikrecht verzichteten. Mit Unterstützung der Roosevelt-Administration sorgten die LaborFunktionäre für ein Verschwinden der Tradition von Kurzstreiks wegen Angelegenheiten am Arbeitsplatz und setzten eine bürokratische Prozedur von Beschwerden zur Lösung von Arbeitsplatzkonflikten durch. Am Ende des Kriegs waren die CIO-Gewerkschaften handzahm geworden. Die Funktionäre hielten die Streikwelle der Nachkriegszeit unter strikter Kontrolle und die Inflation brachte die während der Streiks gewonnenen Lohnaufbesserungen rasch wieder zum Verschwinden. Die Unternehmen waren nach dem Krieg so selbstbewusst, dass sie 1947 den TaftHartley erfolgreich durchdrückten, der dem Aufbau von Gewerkschaften gesetzliche Hindernisse in den Weg legte (vor allem in den Südstaaten) und der Bundesregierung das Recht gab, nationale Streiks zu stoppen. Obwohl die Gewerkschaften bei der Wahl von Roosevelts Nachfolger, Harry Truman, und einer Demokratischen Mehrheit im Kongress, eine entscheidende Rolle spielten, haben die Demokraten den Taft-Hartley Act niemals aufgehoben. Im Bestreben, ihr Bündnis mit der Demokratischen Partei einzuhalten, passte die AFL-CIO-Führung ihre Politik den Firmeninteressen an, die auch die Demokraten während der 1950er und 1960er Jahre beherrschten. Die Gewerkschaften akzeptierten das Argument der Unternehmer, dass Überseeinvestitionen und -handel sehr wichtig für die wirtschaftliche Expansion und den anhaltenden Wohlstand der amerikanischen Arbeiterschaft wären. Deswegen unterstützte der Großteil der AFL-CIO-Führung auch die interventionistische Außenpolitik der Demokraten während des Kalten Kriegs und die Bemühungen der CIA, militante Arbeiterbewegungen ebenso wie linksgerichtete Regierungen in der Dritten Welt zu schwächen. Die AFLINPREKORR 396/397 USA CIO gab auch ihre Forderungen nach einer nationalen Krankenversicherung und nach Sozialwohnungen auf, und sie gab dem konservativen Drängen der Demokraten nach. Als die Bürgerrechtsbewegung anfing, die amerikanische Variante von Apartheid in den Südstaaten in Frage zu stellen, weigerte sich die AFL-CIO die rassistischen „Dixiecrats“ herauszufordern. Sie unterstützte auch den Marsch nach Washington von 1963 nicht, der von Martin Luther King organisiert wurde, und entfernte A. Philip Randolph aus ihrem Vorstand, weil er ihre Untätigkeit kritisiert hatte. Die Politik der AFL-CIO-Bürokraten war letzten Endes selbstzerstörerisch. Während der 1950er und 1960er Jahre wurde die fundamentale Schwäche der Arbeiterbewegung durch die Größe der Gewerkschaften und deren Allianz mit der Demokratischen Partei verdeckt. Solange die Gewinne hoch waren und die Arbeitgeber Lohnerhöhungen gewährten – als Gegenleistung verzichteten die Gewerkschaften auf jeglichen Versuch, das Tempo und die Art der Arbeit unter Kontrolle zu halten – schienen die Gewerkschaften gute Arbeit zu leisten. Als jedoch die amerikanische und weltweite kapitalistische Wirtschaft in den späten 1960er Jahren in eine länger andauernde Krise rutschte, und die Konzernbosse anfingen, die Gewerkschaften anzugreifen, wurden ihre Schwächen offensichtlich. Die Feindseligkeit der AFL-CIO gegenüber der Bürgerrechts-, der Frauen- wie auch der Antikriegsbewegung isolierte sie von wichtigen potentiellen Verbündeten, während ihre fortgesetzte Abhängigkeit von der Demokratischen Partei den Arbeitskampf gegen die Arbeitgeber und deren Regierung ersetzte. Die vom Schreibtisch aus geführten und mit den Demokraten verbandelten Gewerkschaften waren nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen, als Mitte der siebziger Jahre Politiker beider Parteien begannen, für Steuerreduktionen und Deregulierung einzutreten, und Großkonzerne anfingen neue, „effizientere“ Produktionsmethoden einzuführen. Die „unfruchtbare Ehe“ zwischen der Arbeiterschaft und der Demokratischen Partei führte dazu, dass die Gewerkschaftsbewegung, der in den 1960er Jahren einmal fast 35 Prozent der Werktätigen angehört hatten, heute INPREKORR 396/397 noch über weniger als 15 Prozent von ihnen umfasst. Die Demokraten, die sich immer mehr nach rechts bewegen, wissen, dass es für sie kaum einen Grund gibt, der Arbeiterbewegung gegenüber größere Konzessionen zu machen. Die AFL-CIO hat bei Wahlen keine Alternative zu den Demokraten und die Militanz am Arbeitsplatz und sende wanderten zusätzlich in die Städte im Süden und Westen ab. Eine weitere Million der ländlichen schwarzen Bevölkerung übersiedelte während der 1920er Jahre in städtische Gebiete. Obwohl die Schwarzen auch in den Großstädten des Nordens diskriminiert wurden, gelang es ihnen, eine Gemeinschaft zu bilden, ihre eigenen Organi- Antikriegsaktivistin in den USA im sozialen Bereich als Mittel zum Aufbau von Macht für die arbeitende Bevölkerung ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden. DER KAMPF DER AFROAMERIKANISCHEN BEVÖLKERUNG Am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten gegen drei Viertel der afro-amerikanischen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten des Südens. Sie arbeiteten vor allem als Sharecropper1, Pächter, oder Hausangestellte. Die Vorherrschaft der Weißen, die auf dem Plantagensystem des Südens aufbaute, war auch in den Gesetzen und der gesellschaftlichen Praxis der Rassentrennung und der Verweigerung des Wahlrechts festgelegt. Der Wandel in der Landwirtschaft des Südens und das Wachstum der Industrien im Norden ebneten im frühen 20. Jahrhundert den Weg für eine starke Wanderbewegung unter den Schwarzen und für eine Infragestellung des brutalen „Jim-Crow-Systems“.2 Zwischen 1915 und 1920 emigrierte eine Million Afro-Amerikaner in die urbanen Zentren des Nordens; zehntau1 Pächter einer kleinen Farm, der einen Teil der Pacht in Naturalien entrichtet. 2 System der Rassendiskriminierung, u.a. auch durch entsprechende Gesetze. sationen aufzubauen und erste Anstrengungen zu unternehmen, der Diskriminierung und der Rassentrennung entgegen zu treten. Die Depression der frühen dreißiger Jahre brachte die Migration beinahe ganz zum Erliegen, da schwarze ArbeiterInnen in unverhältnismässigem Ausmaß entlassen wurden. Im Laufe der dreißiger Jahre traten jedoch immer mehr schwarze ArbeiterInnen den gemischtrassigen Arbeitslosen-Vereinigungen bei und nach der Gründung des CIO auch den Gewerkschaften, die aktiv bemüht waren, sie einzubeziehen. Die große Wanderbewegung nach Norden setzte während des Zweiten Weltkriegs wieder ein, als durch die Ausweitung der Kriegsindustrie Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden. In den Industriezentren des Nordens verschwand die Arbeitslosigkeit dadurch praktisch vollständig. Viele Industriezweige weigerten sich anfänglich, Schwarze anzustellen. Aber 1944 belief sich der Anteil an afro-amerikanischen ArbeiterInnen in der Kriegsproduktion trotz einer weitverbreiteten Benachteiligung am Arbeitsplatz auf über acht Prozent. Zu Beginn des Kriegs initiierte A. Philip Randolph von der Bruderschaft der Schlafwagenschaffner eine „Double-V-Kampagne“: Sieg (victory) gegen den Faschismus im Ausland und Sieg 5 USA gegen den Rassismus in Amerika. Angesichts des Drucks durch Bürgerrechtsorganisationen und der CIO-Gewerkschaften sprach Roosevelt ein Verbot von Rassendiskriminierung in der Verteidigungsindustrie und in der Bundesverwaltung aus. Die Afro-Amerikaner sahen sich aber weiterhin mit rassistischem Widerstand konfrontiert. Allein im Sommer 1943 gab es 250 gegen die Schwarzen gerichtete Rassenunruhen in 47 Städten, Es gab auch eine Welle von „Hass-Streiks“, als Weiße ArbeiterInnen ihre Arbeitsplätze verließen, um gegen die Einstellung oder Beförderung von Afro-Amerikanern in Jobs der Kriegswirtschaft zu protestieren, die bisher als „Weiß“ gegolten hatten. Drei Millionen afro-amerikanische Männer und Frauen dienten in den Streitkräften, wobei die Hälfte von ihnen in Übersee eingesetzt wurden. Sie waren in rein „Schwarzen Einheiten“ zusammengefasst und wurden von häufig rassistischen weißen Offizieren und Militärpolizisten kommandiert. Schwarze Offiziere und auch einfache Soldaten kämpften gegen die Rassentrennung im Militär an. Als Reaktion darauf begann die Bundesregierung, kleine Schritte in Richtung Aufhebung der Segregation zu unternehmen. Als dann eine gesetzliche Anordnung erlassen worden war, kämpften afro-amerikanische Soldaten dafür, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Leutnant Jackie Robinson (der nach dem Krieg die Trennlinie zwischen Schwarz und Weiß im Profi-Baseball3 durchbrechen sollte) weigerte sich, im hinteren Teil eines Busses zu sitzen, nachdem das Verteidigungsministerium 1944 eine Direktive erlassen hatte, die eine Diskriminierung in den Transportmitteln und Freizeiteinrichtungen sämtlicher Militärbasen verbot. Robinson wurde verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt, das ihn rehabilitierte. Er ist nur einer von zahlreichen ähnlichen Fällen. Während des ganzen Kriegs bekämpfte die afro-amerikanische Gemeinschaft die Rassentrennung und die Verweigerung der Bürgerrechte mit Kampfmaßnahmen wie auch mit gesetzlichen Mitteln. Ortsgruppen der NAACP führten lokale Aktionen ge3 Die Schwarzen spielten ebenso in einer eigenen Liga wie die Weißen. 6 gen restriktive Vertragsklauseln (Chicago), Diskriminierung an der Kantinentheke (Newton, Kansas) und Theater mit Rassentrennung (Council Bluffs, Iowa) durch. Sie sorgten für Eintragungen ins Wählerverzeichnis (Roosevelt, Alabama) und inszenierten die ersten Kantinen-Sit-ins des Landes (Topeka, Kansas). Die Ortsgruppen erhielten Unterstützung durch die NAACP-Direktorin Ella Baker, die, nachdem sie 1943 Zweigstellenleiterin geworden war, zehn Führungsseminare für Aktivisten und Aktivistinnen der schwarzen Gemeinden auf die Beine stellte. 1946, im Anschluss an die massive Nachkriegs-Streikwelle, lancierte der CIO die „Operation Dixie“, ein ambitiöses Programm, um im Süden Gewerkschaften ins Leben zu rufen. Die „Operation Dixie“ hätte, um erfolgreich sein zu können, als Vorbedingung zur Vereinigung von schwarzen und weißen ArbeiterInnen in Industriegewerkschaften, die Rassentrennung und die Aberkennung der Bürgerrechte der Schwarzen bekämpfen müssen. Eine solche, von der Arbeiterschaft geführte, Bürgerrechtsbewegung hätte den CIO auf Kollisionskurs mit der Demokratischen Partei geführt. Diese zählte auf die Unterstützung der Südstaaten-Großgrundbesitzer und auf die Entmündigung der afro-amerikanischen Bevölkerung als Grundlage ihrer regionalen und nationalen Vorherrschaft. Die CIO-Funktionäre schreckten jedoch vor der Aussicht auf eine Auseinandersetzung mit den Demokratischen „Freunden der Arbeit“ zurück, mit denen zusammen sie sich auch dem anti-kommunistischen Kreuzzug jener Epoche anzuschließen gedachten. Daher wurde die „Operation Dixie“ wieder aufgegeben. Das Scheitern der „Operation Dixie“ bedeutete jedoch nicht das Ende des Kampfes der afro-amerikanischen Gemeinschaft gegen das „Jim-CrowSystem“. Die sinkende Bedeutung der landbesitzenden Klasse in den Südstaaten – von ihr ging ja hauptsächlich die Befürwortung einer gesetzlich festgelegten Trennung der Rassen und der politischen Rechtlosigkeit der Schwarzen aus – eröffnete erst die Aussicht auf einen erfolgreichen Kampf gegen die Vorherrschaft der Weißen. Gleichzeitig wuchs im Süden der USA eine schwarze städtische Arbei- ter- und Mittelklasse heran. Dieser Wandel in den sozialen Strukturen und die Erfahrungen, die viele Schwarze aus dem Krieg oder von der Arbeit in den Städten des Nordens zurück in den Süden gebracht hatten, bildete den Humus für das Aufkeimen der großen Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre. Diese Bewegung ihrerseits ging aus lokalen Auseinandersetzungen hervor, die die etablierten Machtstrukturen im Süden dazu zwangen, Rassentrennung und politische Rechtlosigkeit auf gesetzlicher Ebene aufzugeben. Es war eine Bewegung, die die Durchschlagskraft hatte, die Bundesregierung – unabhängig davon, ob gerade die Demokraten oder die Republikaner im Weißen Haus saßen – zu zwingen, gegen die „Jim-Crow-Gesetze“ vorzugehen, trotz der Unentschlossenheit beider Parteien. Im Frühjahr 1951 protestierten Schülerinnen und Schüler einer schwarzen High School in Farmville, Virginia gegen die unzumutbaren Verhältnisse an ihrer Schule. Unter der Führung von Barbara Johns entschlossen sie sich zu streiken. Die resolute 16-Jährige appellierte an Anwälte der NAACP, die zusagten, zu einer Besprechung nach Farmville zu kommen – ohne zu realisieren, dass es „Kinder“ gewesen waren, die sie kontaktiert hatten. Die Anwälte erklärten, sie hätten kein Mandat, um eine Klage für bessere schwarze Schulen einzureichen, sie könnten nur gemischte Schulen fordern. An einer Großversammlung votierte die Gemeinde – überwältigt von der Kühnheit der Schülerinnen und Schüler – dafür, ein Verfahren auf Bundesebene anzustrengen und „getrennte, aber gleichwertige“ Schulen zu verlangen. Dieser Fall wurde zusammen mit vier weiteren (aus Delaware, Kansas, South Carolina und dem District of Columbia) ein Teil des Urteils des Obersten Gerichtshofs im Fall Brown gegen die Erziehungsbehörde von Topeka. Am 17. Mai 1954 erklärte der Supreme Court die Rassentrennung in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig. Im Dezember 1955 wurde Rosa Parks, eine NAACP-Aktivistin aus Montgomery, Alabama verhaftet, weil sie sich geweigert hatte, ihren Platz im Bus einer weißen Passagierin zu überINPREKORR 396/397 USA lassen. In der Folge wurde für den Tag des Prozesses gegen Parks ein eintägiger Busboykott ausgerufen. Der Boykott ging vom politischen Beirat der Frauen unter der Führung von JoAnn Robinson aus, der mehr als 52 000 Flugblätter unter der schwarzen Bevölkerung von Montgomery verteilte. Die Busse fuhren an diesem Tag leer durch die Stadt und mehrere tausend Menschen kamen am Abend zu einer Zusammenkunft, an der die Montgomery Improvement Association gegründet wurde. Was ein eintägiger Boykott hätte werden sollen, dauerte schließlich 381 Tage. Daran beteiligt waren 42 000 Protestierende, die zu Fuß gingen oder Fahrgemeinschaften bildeten, bis der Bundes-Bezirksgerichtshof zugunsten der NAACP entschied, der gegen die Aufteilung nach Rassen in öffentlichen Verkehrsmitteln Klage eingereicht hatte. Obwohl Montgomery nicht der erste erfolgreiche Busboykott war, bedeutete die anhaltende starke Unterstützung durch die Gemeinde für Ella Baker von der NAACP, dass die Möglichkeit bestand, eine Bürgerrechtsbewegung auf breiter Basis aufzubauen. Zurück in New York City arbeitete Baker zusammen mit Bayard Rustin und Stanley Levinson daran, ein Treffen zu organisieren, das die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) lancierte. Danach kehrte Baker nach Atlanta zurück und leitete die Kampagne der SCLC zur Registrierung von Stimmberechtigten. Baker sah die SCLC als mögliches Mittel an, um eine Massenbewegung auf der Basis von lokal organisierten Gruppierungen auszulösen. Am 1. Februar 1960 organisierten vier Studenten ein Sit-in gegen die Rassentrennung in der Verpflegungsecke eines Woolworth-Warenhauses in Greensboro, North Carolina. Bis zum April desselben Jahres fanden in 125 Städten Sit-ins gegen die Rassentrennung statt. Im gleichen Frühling wirkte Baker bei der Organisation einer Zusammenkunft von führenden studentischen Aktivisten der Südstaaten mit. Die SCLC sorgte für die Finanzierung des Treffens, doch Baker riet den Studierenden ihre Unabhängigkeit zu wahren und nicht zur Jugendorganisation der SCLC zu werden. Die Bildung des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) sorgte für neue Impulse in der BürgerrechtsINPREKORR 396/397 bewegung. Das SNCC engagierte sich aktiv im Sozialkampf und bei Eintragungen ins Wählerverzeichnis, sowohl in städtischen wie auch in ländlichen Gegenden des Südens. Da es im Stande war, sich blitzschnell neuen Gegebenheiten anzupassen, wurde das SNCC zum Wegbereiter der Bewegung. Die Aktivisten, die den Kampf um nach Little Rock, Arkansas, um Entscheidungen des Bundes zur Aufhebung der Rassentrennung in Schulen durchzusetzen. Eisenhower bestand darauf, dass dem Gesetz Folge geleistet würde, strebte aber einen Kompromiss mit Orval Faubus, dem Gouverneur von Arkansas, an und bemerkte wiederholt, er könne sich kaum Schlimme- Antikriegsdemonstration in Washington die Bürgerrechte auslösten, waren – wie diejenigen, die in den Anfangszeiten den Aufstieg des CIO angeführt hatten – nicht darauf aus, die Gunst von Politikern zu gewinnen. Ihr Ziel war vielmehr, eine politische Kraft aufzubauen, die tatsächlich Veränderungen fordern würde. Zu ihnen gehörten langjährige Aktivisten im Arbeitskampf wie E.D. Nixon, ein führender Funktionär der NAACP von Montgomery und Mitglied der „Bruderschaft der Schlafwagenschaffner“, Geistliche wie James Lawson, Martin Luther King und Fred Shuttlesworth, studentische Aktivistinnen und Aktivisten wie Ruby Doris Robinson, Charles Sherrod, John Lewis, Diana Bevel Nash, James Bevel, Gloria Richardson und Bernice Reagon, Leute aus dem einfachen Volk wie Fanny Lou Hamer und erfahrene Aktivisten wie Medgar Evers und Amzie Moore. Sie fanden Unterstützung bei Gemeindeerziehern wie Septima Clark. Die Militanz und Entschlossenheit der Bürgerrechtsbewegung zwang sowohl Republikanische wie auch Demokratische Administrationen in Washington etwas gegen rassistische Gewalt und für die Aufhebung der Rassentrennung und die Rechte der AfroAmerikaner zu tun. Die Republikanische EisenhowerAdministration entsandte Truppen res als den Einsatz von Regierungstruppen vorstellen. Die Kennedy-Administration versuchte den Bürgerrechtsaktivismus auf Kampagnen zur Registrierung im Wählerverzeichnis einzuschränken. Aber auch sie wurde dazu genötigt, gewaltsamen weißen Widerstand gegen den afro-amerikanischen Freiheitskampf im Süden aufzuhalten. Der ansonsten liberale Kennedy bewilligte dem FBI auch die Telefonüberwachungen von Martin Luther King und anderen führenden Bürgerrechtlern. Im Zentrum der Bürgerrechtspolitik der Kennedy-Administration stand das Taktieren und Suchen von Kompromissen; man hoffte, die Südstaaten-Demokraten so dazu zu bringen, die notwendigen minimalen Konzessionen zu machen und gleichzeitig die politische Vorherrschaft im „verlässlichen Süden“ behalten zu können. Dr. King schrieb, dass die Verhandlungen zwischen Ross Barnett, dem Gouverneur von Mississippi, und Kennedy über die vom Gericht angeordnete Zulassung von James Meredith zur Universität von Mississippi „den Negern das Gefühl gab, Schachfiguren im politischen Spiel des weißen Mannes zu sein.“ (Taylor Branch, Parting the Waters, America in the King Years, 1954-63, S.672) 7 USA Schließlich war es Lyndon Johnson, ein weißer Texaner, der bei der Annahme des Civil Rights Acts von 1964 und des Voting Right Acts von 1965 den Vorsitz hatte. Diese beiden Gesetze schafften die gesetzlich vorgeschriebene Rassentrennung im Süden ab und gab den Schwarzen ihr Stimmrecht zurück. Im Februar 1964 beschlossen aktive Mitglieder des SNCC, eine großangelegte Kampagne zur Registrierung von schwarzen Wahlberechtigten zu starten. Die SNCC-Aktivisten kombinierten „Freiheits-Registrierung“ von Stimmberechtigten bei der Mississippi Freedom Democratic Party (MFDP) mit der Eintragung von Afro-Amerikanern ins Wahlregister der offiziellen Demokratischen Partei. In den Wochen nach der Gründung der MFDP versuchten ihre Mitglieder an regionalen Versammlungen der regulären Partei teilzunehmen, wurden aber nicht zugelassen. Sie organisierten daher unabhängige regionale MFDPVersammlungen, um die Legitimität ihrer Partei zu demonstrieren und um sich darauf vorzubereiten, gegen die reguläre Delegation im August des gleichen Jahres am nationalen Parteikonvent der Demokraten in Atlantic City anzutreten. Victoria Gray, eine Bürgerrechtsaktivistin aus Hattiesburg, wurde dazu bestimmt, Senator John Stennis herauszufordern und die SNCC-Frau Fanny Lou Hamer sollte für den Kongress kandidieren. Achthundert Delegierte nahmen am bundesstaatlichen Konvent der MDFP teil; sie wählten achtundsechzig Delegierte, die sie in Atlantic City vertreten sollten. Präsident Johnson war entschlossen, jegliche Aktion zu verhindern, die seine Unterstützung durch die weißen Südstaatler schwächen könnte und beauftragte das FBI mit der Beobachtung der MDFP. Deren Delegation erkannte, dass es ihr kaum gelingen würde, den regulären Abgeordneten den Rang abzulaufen, rechnete aber mit einem Kompromiss und der Zulassung beider Delegationen. Stattdessen bot Johnson, nachdem er das Zulassungskomitee stark unter Druck gesetzt hatte, Aaron Henry und Edwin King je einen Sondersitz am Konvent an, währenddessen die anderen den Status von „Gästen“ erhalten sollten. Zusätzlich wurde das Verspre8 chen abgegeben, dass 1968 alle staatlichen Delegationen, die die Schwarzen diskriminierten, vom Konvent ausgeschlossen würden. Trotz intensiven Lobbyings durch Anhänger der liberalen Linie wie Walter Reuther von der UAW, wiesen die MFDP-Delegierten den Kompromissvorschlag deutlich zurück. Einige der führenden MFDP-Leute und vor allem SNCC-Aktivisten sahen den nationalen Parteikonvent der Demokraten von 1964 als Test an für ihre Strategie, an die Bundesregierung zu appellieren. Sie zogen nun [aus den Ereignissen] den Schluss, dass ihre liberalen Verbündeten – besonders die etablierten Bürgerrechts- und Arbeitskampfaktivisten – die MFDP im Stich gelassen hatten, weil ihre Verbindungen zur nationalen Demokratischen Partei Vorrang hatten. Diese Leute entfernten sich immer mehr von der MFDP und suchten nach radikaleren politischen Alternativen. Viele von ihnen fühlten sich von den Ideen von Malcolm X angezogen, der im letzten Jahr vor seinem Tod eine Strategie befürwortete, die eine Verbindung des afro-amerikanischen Freiheitskampfes sowohl zu den Demokraten wie auch zu den Republikanern ablehnte. Der Erfolg des Bürgerrechtskampfes im Süden bewies einerseits die Macht von kollektiven Aktionen und zeigte andererseits die Grenzen von Gleichheit nach dem Gesetz auf. Während das Ende der Jim-Crow-Gesetze und der politischen Entmündigung für die afro-amerikanische Bevölkerung und andere Farbige ein enormer Schritt nach vorne bedeutete, konnte weder der Civil Rights Act noch der Voting Rights Act etwas gegen den systematischen und institutionalisierten Rassismus ausrichten, der in den Städten des Nordens deutlich erkennbar war. Das unverhältnismäßige Ausmaß von Arbeitslosigkeit und Armut, die Diskriminierung am Arbeitsplatz, die getrennten Wohngebiete und ungleiche Ausbildung – all das blieb trotz rechtlicher Gleichstellung bestehen. Die Ghetto-Aufstände von 1965 bis 1968 sorgten dafür, dass eine ganze Generation von afro-amerikanischen Aktivisten im Norden nach radikaleren Lösungen für die Probleme Rassimus, Armut und Ausbeutung strebte. Organisationen wie die Black-Panther-Bewegung und die Liga der revolutionären schwarzen Arbeiterschaft nahmen die Forderung nach „Black Power“ auf, die zuerst von SNCCFührern wie Stokely Carmichael und H. Rap Brown erhoben worden war. „Black Power“ war ein Aufruf zur Selbstorganisation der Afroamerikaner und zu einer Massenbewegung, die den Verbindungen zwischen institutionalisiertem Rassismus und dem kapitalistischen System entgegen treten würde. „Black Power“ fand Widerhall bei vielen jungen afro-amerikanischen Aktivisten, die sich im Süden organsiert hatten und die Erfahrung mit der MFDP gemacht hatten. Gegen das Ende seines Lebens trachtete Martin Luther King danach, diese Verknüpfungen durch seine Kampagne für arme Leute herzustellen. Das Ziel dieser Kampagne war, die Bundesregierung dazu zu zwingen, die Arbeitsbeschaffungsprogramme für die „Working Poor“ massiv auszubauen und eine Krankenkasse ins Leben zu rufen. Für King war es klar, dass, solange „Profitdenken und Eigentumsrechte für wichtiger angesehen werden als die Menschen, das dreifache Übel – Rassismus, Militarismus und wirtschaftliche Ausbeutung – nicht besiegt werden kann.“ (Manning Marable, Black American Politics, S.105). Die neue Welle von Militanz unter den Afro-Amerikanern und anderen Farbigen zwangen sowohl die Demokratische Johnson-Administration wie auch die Republikanische unter Nixon dazu, die Sozialmaßnahmen auf ein nie da gewesenes Ausmaß auszubauen. Die Programme von Johnsons „Krieg gegen die Armut“ konzentrierten sich auf Bildung und Berufsausbildung, trugen aber wenig dazu bei, das Einkommen durch die Schaffung neuer Stellen, einen höheren Minimallohn oder neue Sozialleistungen umzuverteilen. Vielleicht die wichtigste Langzeitwirkung aller Maßnahmen Johnsons hatte die Schaffung des „Community Action Programs“, durch das arme Leute und ihre Fürsprecher in die Verwaltung der neuen Bildungs- und Ausbildungsprogramme integriert werden sollten. Aus den Reihen der Verwaltungsbeamten von Bundesagenturen gegen Armut rekrutierte sich eine neue Schicht von afro-amerikanischen Demokratischen Aktivisten, von denen in INPREKORR 396/397 USA den späten sechziger und frühen siebziger Jahren viele zu Funktionären auf lokaler oder bundesstaatlicher Ebene gewählt wurden. Es ist ein Zeugnis von der Durchsetzungskraft der schwarzen Bewegung, dass sie es fertig brachte, Richard Nixon, den am weitesten rechts stehenden Präsidenten seit einer Generation, dazu zu zwingen, eine soziale Wohlstandspolitik einzuführen, die viel radikaler war als die des Demokraten Johnson. Unter Nixon wurden nicht nur aktive Förderungsmaßnahmen des Bundes in den Sektoren Beschäftigung und Bildung eingeführt, sondern auch der Minimallohn erhöht, neue Unterstützungsund Jobprogramme geschaffen, neue Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz in Kraft gesetzt und es wurde sogar eine nationale Diskussion über die mögliche Einführung eines staatlich garantierten jährlichen Mindesteinkommens geführt. Afroamerikaner und andere Farbige waren allein nicht in der Lage, erfolgreich eine Herausforderung der systemimmanenten kapitalistischen Wurzeln des Rassismus in Gang zu setzen. Die logische Verbündete in einem solchen Kampf, die Arbeiterbewegung, war durch den Nachkriegswohlstand „gezähmt“ worden. Die AFL-CIO-Bürokratie war durchdrungen von Gewerkschaftspolitik in den Betrieben, Konservatismus und dem Vertrauen in das Wählen von Demokratischen „Freunden der Arbeit“. Abgeschnitten von der organisierten Arbeiterklasse, wurden afroamerikanische und andere farbige Radikale effektiv an den Rand gedrängt und konnten nur allzu leicht unterdrückt werden. Das FBI und andere bundesstaatliche sowie regionale Polizeibehörden infiltrierten systematisch die Bürgerrechtsund die Black-Power-Bewegung und höhlten sie aus. Ende der sechziger Jahre schafften staatliche Operationen, wie zum Beispiel COINTELPRO des FBI (1967 während der Amtszeit Johnsons lanciert), radikale schwarze Führer buchstäblich aus der Welt und rissen Organisationen wie die Black Panther Party auf brutale Weise auseinander. Bis zum Ende der siebziger Jahre waren 28 „Panter“ tot und viele andere im Gefängnis oder sie hatten das Land verlassen, um einer Verhaftung zu entgehen. INPREKORR 396/397 Mit dem Niedergang der radikalen Linken begann eine neue Schicht die politische Führung innerhalb der schwarzen und anderen farbigen Gemeinschaften zu übernehmen. Viele dieser neuen schwarzen Demokraten stammten aus den Reihen der „Great Society“-Programme gegen die Armut. Diese neuen Kräfte waren schon weit wählten Schwarzen in kleinen Ortschaften und Städten sowie Schulbehörden Ämter bekleideten, standen schwarze Bürgermeister an der Spitze einer ganzen Reihe von großen urbanen Zentren wie Los Angeles, Chicago, Detroit, Atlanta, Philadelphia, Boston und New York. Die Schwarzen haben proportional Abgeschnitten von der organisierten Arbeiterklasse, blieben afroamerikanische und andere farbige Radikaleim Kampf gegen den Rassismus weg von den Schauplätzen militanten sozialen Protests und stützten sich auf die nationale und regionale Maschinerie der Demokraten, um ihre Positionen in den neuen Sozialdiensten und dem Bildungssystem zu erlangen. Für diese moderaten schwarzen Führungspersönlichkeiten war die Wahl von mehr Leuten ihres Schlags in die Ämter als Angehörige der Demokratischen Partei die natürliche Strategie, um die Interessen der afroamerikanischen Gemeinschaft zu fördern. In den frühen siebziger Jahren wurde die Debatte unter den Schwarzen zur Frage „Protest“ oder „Politik“ zugunsten eines neu entstehenden schwarzen und städtischen Demokratischen Apparats entschieden. Gemäß seinen eigenen Vorstellungen war der neue Apparat der schwarzen Demokraten sehr erfolgreich. Vor 1965 wurden in den USA weniger als 500 Schwarze zu Funktionären gewählt. Heute sind es allein im Süden mehr als 5000. Zwischen 1901 und 1955 saßen nur vier Afro-Amerikaner im Repräsentantenhaus. Heute umfasst der schwarze Parlamentsausschuss im Kongress stolze 38 Mitglieder. Die Zahl der Schwarzen im nationalen Parlament und in den Legislativen der Bundesstaaten ist von unter 200 im Jahr 1970 auf heute über 600 angewachsen. Obwohl die meisten der ge- immer noch weniger Ämter inne als ihrem Anteil an der US-Bevölkerung entsprechen würde. Schwarze Wahlerfolge haben jedoch den schwarzen Gemeinden einige Verbesserungen gebracht. Gewählte afroamerikanische Beamte haben es fertig gebracht, dass Regierungsaufträge auf Firmen von Angehörigen einer Minorität ausgedehnt wurden und auch, dass Verwaltungsbeamte und Fachleute aus ihren Kreisen verpflichtet wurden. Es gab auch einige Verbesserungen bei der Versorgung der schwarzen Gemeinschaft mit wichtigen Dienstleistungen wie Kehrrichtabfuhr, Reparaturen an öffentlichen Gebäuden, Schulen und Gemeindezentren. Die meisten Polizeiabteilungen der Großstädte werden heutzutage nicht mehr von notorischen Rassisten geleitet, auch wenn Polizeibrutalität beim besten Willen nicht verschwunden ist. Bedeutungsvoller ist jedoch, dass die gewählten schwarzen Beamten – vor allem diejenigen, die Dörfer und Städte verwalteten – gezwungen waren, Sparsamkeit walten zu lassen. Wie ihre weißen Amtskollegen, mussten auch die farbigen Bürgermeister und andere gewählte Beamte die staatlichen Unterstützungsbeiträge kürzen, auf die die Angehörigen der Arbeiterklasse und der Minderheiten am meisten angewiesen sind. Sie lehnten die Forderungen von Lehrpersonen und anderen öffentli9 USA chen Angestellten ab (die in vielen Gemeinden mehrheitlich Farbige sind). Gleichzeitig versuchten lokale Beamte – Schwarze und Weiße – in ihren Gebieten durch vorübergehende Steuerbefreiungen und andere Vergünstigungen für Unternehmen Investitionen anzuregen. Die „städtischen Wiederbelebungsprogramme“ schwarzer Bürger- Anstelle eines antikapitalistischen Radikalismus, befürwortet das neue schwarze Demokratische Establishment, zusammen mit dem Rest der Partei, marktwirtschaftliche Lösungen für die Armut und die Verzweiflung im Schwarzen Amerika. Charles Rangel, schwarzes Demokratisches Kongressmitglied aus New York geht dabei vor- wehrkampf engagiert, um wenigstens zu retten, was von den Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten noch übrig geblieben ist. Die schwarzen Demokraten hingegen haben den Kampf für echte Verbesserungen in der staatlichen Wohlfahrt und entwicklungsfähige Beschäftigung im öffentlichen Sektor praktisch aufgegeben. DIE ANTI-VIETNAMKRIEGSBEWEGUNG UND DIE DEMOKRATEN Campusdemo gegen den Vietnamkrieg meister in den Großstädten haben Arbeiter- und Armenviertel ruiniert, während sie die Innenstädte mittels neue Bürohochhäuser und Einkaufszentren für die Mittelklasse „revitalisierten“. Alles in allem hat die große Mehrheit von arbeitenden und armen Farbigen die sinkende Zahl von gewerkschaftlich organisierten Jobs im öffentlichen wie im privaten Sektor, das Ansteigen von Niedriglohnstellen in den städtischen Diensten und Sparmaßnahmen bei den staatlichen Unterstützungen am meisten zu spüren bekommen. Die neue afroamerikanische Mittelklasse hingegen, die Kleinunternehmer, Fachleute und Manager, haben vom Aufkommen von Demokratischen Stadtregierungen unter Führung von Angehörigen einer Minderheit profitiert. Auf Bundesebene werden die staatlichen Unterstützungsbeiträge wie die AFDC weiterhin demontiert und Förderungsmaßnahmen zugunsten von Minderheiten zurückgefahren, sogar unter der Clinton-Administration. Dies geschieht der Loyalität der schwarzen und anderen farbigen Wählerinnen und Wählern gegenüber der Demokratischen Partei und der Zunahme von schwarzen und Latino-Abgeordneten im Kongress zum Trotz. 10 neweg: Rangel ist ein hochrangiges Mitglied im „House Ways and Means“Komitee, Vorsitzender des Demokratischen Wahlkampfkomitees für den Kongress und Gründungsmitglied des schwarzen Kongressausschusses. (http://rangel.gov/Iez_vision.shtml) Rangel ist einer der Hauptbefürworter von „Unternehmenszonen“ in heruntergekommenen städtischen Gegenden. In diesen „Unternehmenszonen“ – häufig als „nordamerikanische Maquiladoras“ bezeichnet – erhalten Firmen, die gewillt sind zu investieren, riesige Subventionen und zeitlich begrenzte Steuerbefreiungen. Zudem wird das öffentliche Bildungssystem den Bedürfnissen der neuen lokalen Arbeitgeber angepasst. Die „Unternehmenszone“ im Heimdistrikt Rangels in Harlem verwandelte die 125. Straße in eine Einkaufsmeile für die Mittelklasse von Harlem, brachte aber der ArbeiterInnenklasse und den armen Bewohnern des Stadtteils hauptsächlich schlecht bezahlte Teilzeit- oder Saisonstellen. Einmal mehr verebbte die Bewegung, als „Protest“ durch „Politik“ (sprich: politische Unterstützung der Demokraten), ersetzt wurde und die Errungenschaften früherer Zeiten gerieten in Gefahr. Heute sind die antirassistischen Aktivisten in einem harten Ab- Ab 1965 begannen Tausende von Studierenden, BürgerrechtsaktivistInnen und Radikalen eine Bewegung gegen den barbarischen Krieg der USA gegen das vietnamesische Volk aufzubauen. Innerhalb der nächsten acht Jahre gingen Millionen von Menschen auf die Straße um die Einstellung der brutalen Bombardierungen und den Rückzug der beinahe 500 000 Mann starken Bodentruppen zu fordern. Obwohl die Antikriegsbewegung um die Opposition gegen den Krieg organisiert war, konnte das Marschieren in Gruppen weitgehend selbst auf die Beine gestellt werden. Schwarze Demonstranten trugen Transparente mit Slogans wie „Noch nie hat mich ein Vietnamese Nigger genannt“. Amerikaner asiatischer Herkunft und feministische Gruppierungen verknüpften ihre Anliegen mit dem Krieg. Indianische Aktivisten, die „Fish-ins“ und „Wiederbesetzungen“ ihrer historischen Lebensräume organisierten, wiesen darauf hin, dass die US-Außenpolitik der Indianerpolitik der Regierung glich, durch die sie ausgerottet, deportiert und bevormundet worden waren und zum Teil immer noch wurden. Ab 1968 wurden die Protestmärsche häufig von Veteranen – auch solche des Vietnamkriegs – und GIs, die den Krieg ablehnten, angeführt. Die Antikriegsbewegung benützte eine Vielzahl von Taktiken: Von Sit-ins an Colleges und Universitäten quer durch die Vereinigten Staaten zu Großdemonstrationen von bis zu einer Million Menschen in Washington und San Francisco, von Widerstand gegen die Einberufung ins Militär zur Mobilisierung von GIs im Aktivdienst und Vietnamveteranen gegen den Krieg der USA. Die Fähigkeit der Antikriegsbewegung den „Business as usual“ wähINPREKORR 396/397 USA rend acht Jahren zum Erliegen zu bringen, war der Ursprung ihrer Stärke und ihres Radikalismus. Die Antikriegsbewegung brachte eine Generation von Aktivistinnen und Aktivisten hervor, die den Vietnamkrieg nicht als einen „Fehler“ ansahen, – wie es Gemäßigte und Liberale taten – sondern als etwas, das untrennbar verbunden war mit der imperialistischen amerikanischen Strategie die Welt zu beherrschen. Angewidert von der Unverbrämtheit der amerikanischen Aggression und beeindruckt vom entschlossenen Widerstand der Vietnamesen, der Revolte der Schwarzen und der wachsenden Unruhe unter der Arbeiterschaft in Amerika selber, wandten sich tausende von jungen Leuten in den 1960er und frühen 1970er Jahren einer radikalen, antikapitalistischen Politik zu. Wie es Max Elbaum in seinem Buch mit dem selben Namen ausführt, lag nach 1968 eine „Revolution in der Luft“. Die Antikriegsbewegung hatte einen riesigen Einfluss: Zusammen mit dem entschlossenen militärischen Widerstand der Vietnamesen sorgte sie dafür, dass die USA den Krieg zuerst entschärften und schließlich ihre geschlagenen Truppen aus Indochina abzogen. Nachdem er 1964 mit der größten Mehrheit der amerikanischen Geschichte zum Präsidenten gewählt worden war, zwang der Protest gegen den Krieg Lyndon Johnson, sich von der Wahlkampagne für 1968 zurückzuziehen. Sogar noch wichtiger war, dass Johnson die Bombardierung von Nordvietnam vorübergehend stoppte und Verhandlungen mit der vietnamesischen Widerstandsbewegung in die Wege leitete. Die Antikriegsbewegung wuchs unter der Republikanischen Rechtsaußenregierung von Richard Nixon weiter an. Nixon, der nicht gerade als „Taube“ bezeichnet werden kann, sah sich 1969 gezwungen, mit dem Rückzug der US-Truppen aus Vietnam zu beginnen. Er schrieb später, dass „all die Proteste“ die Regierung davon abgehalten hatte, in Vietnam Nuklearwaffen einzusetzen. Gegen Ende 1969 schickte einer von Nixons Beratern ein streng geheimes Memorandum an Henry Kissinger, in dem er davor warnte, dass „die Nation in großen Aufruhr geraten könnte“, INPREKORR 396/397 der die „brutale“ Unterdrückung von „Meinungsverschiedenheiten“ erfordern würde, wenn die USA nukleare Waffen einsetzen würde. Man fürchtete sich also nicht vor den oppositionellen Demokraten im Kongress oder den nächsten Wahlen, sondern vor der Mobilisierung der Massen. Nachdem Nixon ohne Erfolg versucht hatte, Vietnam „zur Unterwerfung zu bombardieren“, musste er 1973 den endgültigen Abzug der USTruppen aus Indochina arrangieren. Trotz Nixons gegenteiligen Behauptungen – und der fortdauernden Unterstützung des Marionettenregimes in Südvietnam –, kam der Rückzug der USA einer Kapitulation gleich. 1975 übernahm dann die vietnamesische Widerstandsbewegung die Macht. Von Beginn der Antikriegsbewegung an, versuchten gemäßigte und liberale Kräfte, die Aktivisten dazu zu bringen, dass sie ihre Energie in die Wahlkampagnen von Demokraten investieren sollten, die angeblich gegen den Krieg waren. 1968 beteiligten sich viele junge Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner an den Kampagnen für Eugene McCarthy und Robert Kennedy. Die Ermordung Kennedys machte den Weg frei für die Nominierung Hubert Humphreys. Humphrey wurde als Belohnung dafür, dass er die MFDPDelegation dazu überredet hatte, den Parteikonvent von 1964 nicht zu „stören“ zu Johnsons Vizepräsident und er wurde einer der „Baumeister“ der Eskalation des Vietnamkriegs. Das kriegsbefürwortende Establishment der Demokraten drängte die McCarthy-Fraktion nicht bloß innerhalb der Partei auf die Seite (sie erhielt nämlich keine Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern und wurden von den wichtigen Funktionen fern gehalten): Am Parteikonvent von 1968 in Chicago ließ der Demokratische Bürgermeister Richard Daley seine berüchtigten rassistischen und gewalttätigen Polizeikräfte gegen AntikriegsDemonstranten los, von denen viele McCarthy-Anhänger waren. Die Wahlkampagne McCarthys bedeutete eine Ablenkung für die Antikriegsbewegung. Es gab jedoch einen starken Flügel der Bewegung, der es ablehnte, sich mit den Demokraten zu verbünden. Ein Teil dieses linken Flügels arbeitete auch an der Präsidentschaft- kampagne von Black Panther-Führer Eldridge Cleaver, der für die Peace & Freedom Party antrat und eine kleine, aber bedeutungsvolle Alternative zum Morast der Politik der Demokraten bot. Andere Aktivisten der Antikriegsbewegung unterstützten jedoch Kennedy oder McCarthy. Nach 1968 gab es einen bedeutenden Kern unter den AktivistInnen, der darauf drängte, weiterhin Demonstrationen und andere Protestaktionen zu organisieren. Da der Krieg weiterging und Zehntausende von GIs, darunter ein unproportional hoher Anteil Angehörige der Arbeiterklasse und von Minderheiten, starben, gelang es dem aktivistischen Kern, eine Antikriegsbewegung am Leben zu erhalten, deren Stärke sowohl der Demokratisch kontrollierte Kongress wie auch Nixon, der Rechtsaußen-Republikaner anerkennen mussten. 1972 gelang dem liberalen und gemäßigten Flügel der Antikriegsbewegung, was ihm zuvor nicht gelungen war: Er errang die Mehrheit auf dem Demokratischen Konvent und nominierte George McGovern zum Präsidentschaftskandidaten. Die Kapitalisten und Gewerkschaftsfunktionäre, die das wahre Machtzentrum der Partei bildeten und sie finanzierten, weigerten sich jedoch ganz einfach, sich für McGovern einzusetzen. Zudem flossen Millionen von Dollars, die normalerweise einem Demokraten zugute gekommen wären, in die Wahlkasse von Richard Nixon. Das Ergebnis war die „erdrutschartige“ Wiederwahl Nixons im Jahre 1972. In der Hoffnung, nie wieder die finanzkräftigen Unterstützer der Partei vor den Kopf zu stoßen und angewidert von der Rolle der AFL-CIO, die „Spezialinteressen“ vertrat, wurden viele frühere McGovern-Anhänger zu zentralen Figuren beim Rechtsrutsch der Demokraten in den achtziger und neunziger Jahren. Sowohl Bill Clinton als auch John Kerry waren gemäßigte Gegner des Vietnamkriegs, enthusiastische Anhänger George McGoverns und entscheidend daran beteiligt, dass sich die Demokratische Partei die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten zwei Jahrzehnte zu ihrer eigenen machte. Übersetzung: Hans Peter Frey 11 USA Die Nader-Kampagne zu den US-Wahlen 2004 Interview mit Vize-Präsidentschaftskandidaten Peter Camejo Von Ann Menasche für Against the Current Against the Current (ATC): Was ist die Bedeutung der Nader-Camejo-Kampagne von 2004? Peter Camejo (PC): Diese Kampagne steht für eine breite Meinungsströmung in den USA: Gegen den Einmarsch in und die Besetzung des Iraks und gegen das Heimatschutzgesetz. Aber es gibt kein Entkommen. Das Wahlsystem erlaubt es den Menschen nicht, für das zu stimmen, was sie wollen. Sie sind in der Zwei-Parteien-Falle gefangen. Die besondere Bedeutung der NaderKampagne liegt vor allem darin, dass die überwältigende Zahl der KerryWählerInnen nicht mit Kerrys Meinung übereinstimmt. In Wirklichkeit stehen sie in vielen Fragen viel näher bei Nader. Somit zeigt die Nader-Kandidatur den undemokratischen Charakter der US-amerikanischen Gesellschaft, dass wir in Wahrheit keine freien Wahlen in den USA haben, sondern ein System, das ein gewünschtes Ergebnis garantiert, aber den Menschen gleichzeitig die Illusion verschafft, sie hätten entschieden. ATC: So weit ich weiß, hat Nader in Kalifornien nicht genügend Unterschriften zusammen bekommen, um zur Wahl zugelassen zu werden. Wie konnte dies passieren und was hat dies für Folgen für die Wahlkampagne in Kalifornien? PC: Die Demokratische Partei führt mit gewaltigem Aufwand eine umfassende Offensive, um die Menschen in den USA, die mit Ralph Naders Friedenspositionen und seiner Politik für die Interessen der Arbeiterklasse einverstanden sind, davon abzuhalten, auch für Nader zu stimmen. Einigen dieser Kräfte gelang es, den Parteitag der Grünen zu manipulieren, so dass ei12 ne sehr merkwürdige Sache passieren konnte: Ein Kandidat, der bei den Vorwahlen lediglich 12,2 Prozent der Stimmen gewinnen konnte, wurde letzten Endes der nationale Kandidat. Mittlerweile beginnen wir dahinter zu kommen, dass dies deshalb gelang, weil die Versammlungen der Grünen Partei mit Leuten überfüllt wurden, die für Kerry sind. (In einigen Staaten, wie in Kalifornien, wurden Vorwahlen der Grünen Partei durchgeführt, bei denen die Delegierten für den Nationalen Parteikongress gewählt wurden. In anderen Staaten geschah dies nicht. – Anm. von ATC). In Kalifornien wählten die Grünen mit 86 Prozent Kandidaten, die Nader unterstützten und lediglich mit 11,8 Prozent David Cobb. Trotzdem wurde Cobb für Kalifornien als Kandidat der Grünen nominiert. Nader-Camejo wurden noch nicht einmal als Unabhängige zugelassen. Wir werden eine Einschreib-Kampagne benötigen, aber das wird unseren Wahlkampf nicht stoppen. ATC: Und wie sieht es in den anderen Staaten aus? PC: Das nationale Büro der NaderKampagne geht nach wie vor davon aus, dass wir in rund 40 Staaten antreten können. Aber es ist schwierig, dies genau vorherzusehen; denn überall dort, wo wir die Voraussetzungen erfüllt haben, versuchen die Demokraten, formale Dinge zu finden, um uns wieder rauszudrängen. Im Staat Oregon gab es eine Versammlung, um zu den Wahlen zugelassen zu werden, zu der 1000 TeilnehmerInnen erforderlich waren. Wir mussten Hunderte wieder zurückweisen. Doch als wir dann die Leute aufforderten, die Formulare für Nader zu unter- zeichnen, entdeckten wir eine Gruppe von 200 Demokraten. Sie zogen ihre Hemden aus und darunter trugen sie welche mit der Aufschrift „Kerry“. (Zuvor hatten die Demokraten zugegeben, dass sie bewusst eine Nader-Nominierungs-Versammlung gestört hätten, indem sie massiv in die Versammlung drängten, um dann später die Wahlpetition nicht zu unterschreiben. Dadurch wurden andere Leute von der Teilnahme an der Versammlung abgehalten, weil die Behörden die Türen verschlossen, wenn mehr als 1000 BesucherInnen anwesend waren, und die Zahl der Unterzeichner wurde erfolgreich unter die notwendigen 1000 Unterschriften gedrückt, die Nader für die Registrierung zur Wahl benötigte. – Anm. von ATC) So sehen die Haltung und meiner Meinung nach illegalen Aktionen der Demokraten aus. Die andere Masche ist, zu behaupten, dass wir von den Republikanern finanziert würden, was eine komplett erfundene Lüge ist. Und sie wissen sehr wohl, dass dies keineswegs der Fall ist. Aber wir erwarten ungefähr 25 Prozent unserer Wählerstimmen von Republikanern, die gegen Bush, aber nicht bereit sind, für Kerry zu stimmen. Unsere Wahlkampfspenden von registrierten Republikanern betragen etwa fünf Prozent. Die meisten davon sind US-BürgerInnen arabischen Ursprungs, die gegen das Heimatschutz-Gesetz sind. ATC: Warum, glauben Sie, hat Cobb die Nominierung der Grünen Partei gewonnen, und was bedeutet dies für die Zukunft der Grünen? PC: Ich denke, Cobb ist ein Ergebnis des Druckes der Demokraten innerhalb der Grünen Partei. Er möchte die Unabhängigkeit der Grünen Partei von den INPREKORR 396/397 USA Demokraten beenden. Seine wesentliche Aussage ist: „Wählt die Grünen, solange Kerry eure Stimmen nicht benötigt. In diesen Fällen wählt Kerry.“ Cobb wird von einer ganzen Gruppe aus der Führung der Grünen Partei unterstützt. Der Anfang war die Liste der 17, die erklärte, dass die Taktik des kleineren Übels bei den Wahlen richtig wäre. Grüne Führer wie John Rensenbrink aus Maine oder Medea Benjamin vom Global Exchange in San Francisco sind allesamt für ein Bündnis mit der Demokratischen Partei, was die Grünen in eine zahme Pressure-Group verwandelt, die lokale Kandidaten unterstützt und in Einzelfragen Druck auf die Demokraten ausübt. Das ist etwas völlig anderes, als die ursprüngliche Vision der Grünen Partei, eine Kraft aufzubauen, die unabhängige politische Aktionen durchführt und eine alternative Stimme und Plattform stärkt. Cobb ist es gelungen, den Parteitag mit seinen Leuten zu beschicken und die Nominierung zu gewinnen. Ein schönes Beispiel ist Maine, wo Cobb fast Zweidrittel zu Eindrittel gegen Nader verloren hatte. Lorna Salzman, eine langjährige Führerin der Grünen Partei aus dem Staat New York, die in den Vorwahlen antrat, aber beim Parteitag zu Gunsten von Nader zurückzog, und Nader erhielten doppelt so viele Stimmen wie Cobb. Aber als die Delegation aus Maine auf dem Parteitag auftauchte, stimmte sie mit 95 Prozent für Cobb. Die Cobb-Leute haben ihre Anhänger durchgebracht, indem sie vorgaben, sie wären für Nader oder Salzman. ATC: Gibt es eine langfristige Strategie, um die Grüne Partei wieder mehr demokratisch und unabhängig zu machen? PC: Wir versuchen selbstverständlich eine organisierte Strömung in der Grünen Partei aufzubauen, die für Demokratie und Unabhängigkeit eintritt, so dass die Mitgliedschaft die Kontrolle über die Grüne Partei erhält. ATC: Wollen Sie eine Strömung um die „Avocado Erklärung“ herum aufbauen? PC: Die „Avocado-Erklärung“ ist ein zusammenfassender Blick darauf, was INPREKORR 396/397 das Zwei-Parteien-System ist. Die Menschen müssen nicht notwendigerweise damit übereinstimmen, um sich für Demokratie innerhalb der Grünen Partei und für deren Unabhängigkeit von der Demokratischen Partei einzusetzen. Das werden aber die zwei wesentlichen Fragen sein. Es müssen das Prinzip „Ein Mensch – eine Stimme“ gelten und klare Regeln erarbeitet werden, wie die Delegationen zusammengesetzt sein sollen. Ebenso benötigen wir eine proportionale Repräsentation in den Leitungsorganen, wenn es unter- terviews für die US-Besetzung des Iraks eintritt. ATC: Meinen Sie, es wäre anders gelaufen, wenn Nader zum Parteitag gekommen und bereit wäre, eine Nominierung zu akzeptieren? PC: Ich glaube in der Rückschau, dass es durchaus Dinge gibt, die getan hätten werden sollen. Aber was Nader erkannte, war, dass ein Teil der Grünen Partei davon abrückte, die Demokraten und Republikaner wirklich herausfordern zu wollen. Vize-Präsidentschaftskandidat Peter Camejo am Rednerpult schiedliche politische Meinungen gibt, so dass jede Strömung gemäß ihrer Stärke vertreten ist. ATC: Ich war erstaunt, dass es auf dem Grünen-Parteitag keine Debatte mehr gab. PC: Der Parteitag wurde so organisiert, dass es der Mitgliedschaft nicht möglich war, unterschiedliche Positionen anzuhören. Es gab nur eine Debatte und selbst in dieser einen hätte es keine Einleitungen gegeben, wenn ich nicht protestiert hätte. Tatsache ist, dass der gesamte Parteitag so durchgeführt wurde, um die Mitgliedschaft und die Delegierten daran zu hindern, zu erfahren, worin die politischen Differenzen bestehen. Ihre ganze Politik bestand darin, die Mitgliedschaft daran zu hindern, die unterschiedlichen Meinungen zu hören, weil sie wussten, dass sich das absolut gegen sie richten würde. Ich glaube, dass viele Leute, die für David Cobb stimmten, sich nicht im Klaren darüber waren, dass er Kerry unterstützt und dass er sowohl auf seiner Website als auch in den Radio-In- ATC: Gibt es die Gefahr einer Spaltung der Grünen Partei? PC: Die Grünen sind gespalten. Es gibt eine kalte Spaltung zwischen dem Flügel Cobb/Demokratische Partei und dem Flügel, der Unabhängigkeit und Demokratie befürwortet. Ob dies zu einer heißen Spaltung führt? Das hängt davon ab, was in den nächsten paar Jahren passieren wird. Es gibt die echte Gefahr einer Spaltung, und deshalb habe ich dem Parteitag vorgeschlagen, eine Einheits-Erklärung in Form einer doppelten Bestätigung abzugeben, die den Cobb-Leuten erlaubt, zu machen, was sie machen wollen und den Nader-Leuten ebenfalls erlaubt, zu tun, was sie tun wollen. Natürlich haben die Cobb-Leute dies abgelehnt, weil ihr wirkliches Ziel nicht ein Wahlkampf für ihn ist, sondern die Verhinderung von Nader auf den Stimmzetteln in Kalifornien und anderen Schlüsselstaaten. Sie sind absolut willens, die Grüne Partei zu spalten, wenn dies der Preis der Verhinderung von Nader ist. Übersetzung. Thiess Gleiss 13 IV. INTERNATIONALE Livio Maitan hat uns verlassen – Ciao compagno! Unser Genosse Livio Maitan, führendes Mitglied der IV. Internationale, ist am 16. September in Rom gestorben. Zu seiner Beerdigung am 19. September versammelte sich eine große Trauergemeinde. Es wehten die roten Fahnen der Internationale und der partito di rifondazione (PRC). Alain Krivine Livio Maitan, 1923 in Venedig geboren, absolviert sein Studium mit einem Diplom für klassische Literatur an der Universität Padua und schließt sich zunächst dem sozialistischen Widerstand unter der Besatzung an. Er wird sodann gezwungen, in die Schweiz auszuwandern und lernt dort gegen Ende des Krieges die Internierungslager kennen. Bei der Befreiung wird er Organisator der sozialistischen Jugend, bricht dann aber 1947 mit der Sozialdemokratie und wendet sich der IV. Internationale zu. Von da an wird er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Strömung in Italien. Er wird es bis zu seinem Tod bleiben. 1948 gehört er schon zur Leitung der „Demokratischen Volksfront“. 1951 wird er Mitglied der Leitung der IV. Internationale und wird dort Weggenosse derjenigen, die es unter den schwierigsten Bedingungen auf sich genommen haben, den Kampf Trotzkis und der linken Opposition fortzuführen: Michel Raptis (Pablo), Ernest Mandel oder etwa Pierre Frank. Von dieser Gruppe wird er der letzte Überlebende sein. Von einer Leidenschaft für Lateinamerika erfasst wird er sich mit so unterschiedlichen Situationen befassen müssen wie der dramatischen Beteiligung unserer GenossInnen am bewaffneten Kampf gegen die Diktatur in Argentinien oder etwa dem Aufbau der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien. 14 VOM ANTIFASCHISTISCHEN WIDERSTAND ZUR „WIEDERGRÜNDUNG“ (RIFONDAZIONE) Livio hat die wichtigsten Werke Trotzkis ins Italienische übersetzt und oft dazu auch das Vorwort geschrieben. Er interessiert sich auch für die Entwicklung der chinesischen Revolution, zu der er Artikel und Bücher schreibt. Es ist eine schwere Zeit, in der es gegen den Strom standzuhalten gilt, und zwar sowohl gegen den Druck aus dem bürgerlichen Lager, das die Trotzkisten als „Ultra-Revolutionäre“ bezeichnet, als auch gegen die Angriffe der Stalinisten, die unsere Strömung als „HitlerTrotzkisten“ titulieren. Aus dieser langen Zeit des Kampfes hinterlässt uns Livio eine ganze Reihe von Werken: Attualità di Gramsci e politica comunista (1955), Teoria e politica comunista nel dopoguerra (1959), Trotzki oggi (1959), Il Movimento operaio in una fase critica (1966), PCI 1945-1969 (1969), Partito esercito e masse nelle crisi cinese (1969), Dinamica delle classe sociali en Italia (1976), Crisi del marxismo versione anni 70 (1080), Destino di Trotsky (1981), Il marxismo rivoluzionario di Antonio Gramsci (1987), Al termine di une lunga marcia, dal PCI al PDS (1990), Anticapitalismo e comunismo: potenzialità e antimoni di une rifondazione (1992), Il Dilemma cinese (1994), Dall’Urss alla Russia (1996), Tempeste nell’economia mondiale (1998), La Cina di Ti- enanmen (1999), La Strada percorsa, dalla Resistenza all’ nuovi movimenti: lettura critica e scelte alternative (2002). Als sein Herz aufhört zu schlagen, ist er übrigens gerade dabei, ein Buch über die Geschichte der IV. Internationale abzuschließen. Mit Livios Tod wird eine Seite umgeschlagen, aber eine weitere wird – auch dank ihm – gerade geschrieben, die der Öffnung. Seit den 1990ern haben Livio und andere Führer der Internationale die Erscheinungen der Zersetzung und der Neuzusammensetzung der revolutionären ArbeiterInnenbewegung verstanden. Er wusste, dass dies nicht ausschließlich von der IV. Internationale zu bewältigen ist und dass es darauf ankam, eine neue Ausarbeitung des Programms und eine antikapitalistische Kraft zu befördern, im Bruch sowohl mit den sozialdemokratischen Kapitulationen wie auch mit dem Verrat der Stalinisten. Schon hat sich die Perspektive herausgeschält, einen Beitrag zur Umgruppierung antikapitalistischer Kräfte, gleich welcher Tradition oder Herkunft, zu leisten. Diese Vorgehensweise, die heute von der IV. Internationale umgesetzt wird, ist angesichts der Erklärung des totalen Kriegs durch Bush gegen die Völker und angesichts der beispiellosen Offensive des Kapitals gegen die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung dringlicher denn je. ÖFFNUNG UND MENSCHLICHKEIT In diesem Rahmen treten Livio und seine GenossInnen – organisiert um die Zeitung Bandiera rossa – der linksradikalen Organisation Democrazia proletaria bei, die später an der Gründung INPREKORR 396/397 IV. INTERNATIONALE der PRC beteiligt sein wird, zusammen mit Zehntausenden von GenossInnen der PCI, die den Sozialdemokratisierungskurs ihrer Partei nicht mitmachen wollen. Ab 1991 wird Livio bei jedem Kongress in die Führung der Partei gewählt. Schon bei der Gründung dieser Partei hatten die italienischen GenossInnen der IV. Internationale mit Zustimmung der PRC-Leitung entschieden, sich am Aufbau dieser Organisation zu beteiligen. Sie machen die Positionen der Internationale mit Publikationen wie Bandiera rossa oder wie künftig mit dem breiteren Organ ERRE bekannt. Einige unserer GenossInnen nehmen verantwortliche Positionen für die Partei im Senat, in den Regionalgliederungen oder in der Leitung der Tageszeitung Liberazione ein. Die Anwesenheit von Fausto Bertinotti [des Generalsekretärs der PRC, d. Red.] und zahlreicher GenossInnen und Leitungsmitglieder der PRC bei der Trauerfeier für Livio belegt diese Integration. Kontinuität, Öffnung: Livio ist auch ein Genosse mit einer großen Menschlichkeit, in krassem Gegensatz zu der Karikatur, die so manche von den „alten Trotzkisten“ zeichnen. Ihm ist der Dogmatismus von jeher ein Graus und er schlägt sich gegen alle sektiererischen Abweichungen, die es leider in der Bewegung gibt. Er meidet den Flitter und die Medien und legt eine Einfachheit an den Tag, die die jungen GenossInnen überrascht. Als ich in noch jungen Jahren in die Leitung der Internationale kam und von der Erfahrung aller langjährigen Leitungsmitglieder beeindruckt war, kommt der Kontakt zu Livio am leichtesten von allen zustande. Er liebt es zu diskutieren und stundenlang zuzuhören, um die GenossInnen, ihr Leben, ihre Probleme kennen zu lernen. Er hat auch eine große Fähigkeit, sich nicht von Tagesereignissen blenden zu lassen, und er bewahrt sich immer ein gesundes Maß an Humor. Livio bewahrt bis zum Schluss drei Leidenschaften: die Revolution, das Leben und den Fußball. Gelegentlich INPREKORR 396/397 Livio Maitan (1923–2004) bedeutet ihm sogar der letztere mehr als eine Sitzung oder Zusammenkunft, die nicht immer gerade begeisternd ist. Mit 70 noch betreibt er in Paris diesen Sport mit einer Amateurmannschaft von GenossInnen der LCR [franz. Sektion der IV. Internationale, d. Red.]. Seit einigen Jahren nun ging es mit seiner Gesundheit bergab und er musste in Rom bleiben und sich telefonisch über die aktuellen Entwicklungen in unserer Bewegung auf dem Laufenden halten lassen, im besonderen was die LCR anging, die er mit viel Aufmerksamkeit verfolgte. Sein Ableben hat in der gesamten internationalen Bewegung tiefe Anteilnahme hervorgerufen, wie die Dutzenden von Botschaften bezeugen, die von allen Kontinenten kamen und 3 Tage lang in der Tageszeitung Liberazioneabgedruckt wurden. Für uns ist jetzt ein Loch entstanden. Es ist vorbei mit seinen scharfen Einwürfen und seinen Scherzen, seinen Analysen und seinen auf den Punkt gebrachten Redebeiträgen, in denen man immer das Gefühl hatte, etwas zu lernen. Vorbei auch diese wilden Begegnungen, bei denen er uns zwischen zwei Gläsern die Umschwünge der italienischen Politik vermittelte. Ciao Livio, wir werden weitermachen. Alain Krivine ist Leitungsmitglied der Ligue communiste révolutionnaire (LCR), französische Sektion der IV. Internationale. Übersetzung aus dem Französischen: D. B. 15 IV. INTERNATIONALE Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen Jakob Moneta 1. Blazowa liegt zwischen Krakau und Lemberg; westlich des Flusses San, der die Polen von den Ukrainern trennt. In Ostgalizien heißen sie Ruthenen. Als ich vier Jahre alt wurde, am 11. November 1918, ist die Republik Polen gegründet worden. Josef Pilsudski ließ sich zum provisorischen Staatsoberhaupt ausrufen. Er war einmal Mitbegründer und Führer der polnischen Sozialistischen Partei gewesen. In Vilna gehörte er eine Zeitlang der gleichen illegalen Gruppe an wie Leo Jogiches, Kampfgenosse von Rosa Luxemburg, der wie sie von der deutschen Konterrevolution ermordet wurde. 1926 kam Marschall Pilsudski durch einen Staatsstreich zur Macht und errichtete ein autoritäres Regime. Die Wiedervereinigung von Galizien, das unter österreichischer Verwaltung, und von Kongress-Polen, das unter russischer Verwaltung stand, und von Preußisch-Polen, die Befreiung ihres Landes unter Pilsudski, feierten die Polen in meiner Geburtsstadt Blazowa – und nicht nur dort – mit einem Judenpogrom. Dicht zusammengedrängt saßen Juden in einem Zimmer, Männer, Frauen und Kinder. Die Fenster hatten sie mit Matratzen verstellt, damit kein Licht nach außen drang. Bewaffnete drangen in den Raum, schleppten einzelne hinaus, verprügelten sie, tasteten sie roh nach Geld ab. Meine Mutter wurde hinausgezerrt. Mein Vater wollte ihr helfen. Er erhielt einen Kolbenschlag, der ihm das Trommelfell zerschlug. Ich sah, wie meine Mutter sich an den Türpfosten klammerte, hörte ihren Hilferuf: „Gewalt!“. Der Bewaffnete, der sie mit Füßen trat, war ein polnischer Schulkamerad von ihr. Der von polnischen Nationalisten genährte Judenhass konnte sich nicht überall an Wehrlosen entladen. Dort, wo der „Bund“, die stärkste organisierte Kraft im jüdischen Proletariat seine bewaffneten Kampftruppen gebildet hatte, holten sich die Pogromisten meist blutige Köpfe. Gegenwehr leisteten nicht nur 16 Juden, sondern auch klassenbewusste Arbeiter jeder Nationalität. Für sie war der Antisemitismus eine gefährliche Propagandawaffe des Klassenfeindes. Man musste ihn bekämpfen. Mit allen Mitteln. Meinen Vater nannte man in Blazowa den „Deutschen“. Er war von Frankfurt am Main gekommen und hatte in dem kleinen galizischen Textilstädtchen seine Frau gefunden. Nach dem Pogrom erstattete er Anzeige gegen die Rädelsführer. Sie drohten ihm Rache an. Daraufhin kehrte er nach Deutschland zurück. So kam ich 1919 nach Köln. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult. Schon mit drei Jahren hatte man mir im „Cheder“, einer Art Religionsschule, das hebräische Alphabet beigebracht. In Köln ging ich vormittags zur Schule und nachmittags ins „Cheder“, wo die Bibel in hebräisch und später der Talmud in aramäisch gelehrt wurde. Die Lehrer waren meist verkrachte Händler. Einer hatte stets eine lange Hundepeitsche, mit der er jeden erwischte, der unbotmäßig war oder falsche Antworten gab. Wenn wir aus dem Cheder herauskamen, stand uns dann meist der eigentliche Kampf bevor. Draußen wurden wir bereits von einer jungen Bande erwartet, die sich mit HEP-HEP-Geschrei auf die Judenjungen stürzte. Wir mussten lernen, entweder schneller zu laufen als sie oder aber uns zu wehren. Aus dem Milieu der Cheder-Schüler gingen eine Reihe bekannter Amateurboxer hervor. Die Selbstverteidigung hatte zu ihrer sportlichen Ausbildung beigetragen. HEP ist eine Abkürzung für „Hierosilima est perdita“ – Jerusalem ist verloren. Ich begann von diesem verlorenen Jerusalem zu träumen. Eine jüdische Legende sagt, dass immer um Mitternacht ein Schakal über den verwüsteten Platz in Jerusalem läuft, auf dem die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt den Tempel zerstörten. Wenn es gelingt, diesen Schakal zu fangen, dann ersteht das alte jüdische Reich in seiner ganzen Herrlichkeit wieder auf. Was lag näher als dass ich, fast 1900 Jahre nach der Tempelzerstörung, diesen Schakal fangen würde. Die praktische Vorbereitung begann ich mit meinem Eintritt in eine zionistische Jugendgruppe. Aber noch lebten auch die Zionisten nicht in Palästina. Die deutsche Arbeiterbewegung, damals die mächtigste der kapitalistischen Welt, zog auch die zionistische jüdische Jugend in ihren Bann. Neun Millionen Stimmen hatte die fast eine Million Mitglieder starke SPD in den Reichstagswahlen 1924 erhalten und zog mit 152 Abgeordneten ins Parlament ein. Die KPD eroberte 54 Sitze, die NSDAP – die Nazis – nur 12. In Preußen hatten die Sozialdemokraten mit 229 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit errungen. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) hatte 4,7 Millionen Mitglieder, der Arbeiter-Turn- und Sportbund 770 000, der Arbeiter-Radfahrbund „Solidarität“ 220 000. Es gab einen Arbeiter-Athletenbund, einen Schachbund, Samariterbund und sogar einen Schützenbund. Die Arbeiterbewegung schuf eine Gegengesellschaft im kapitalistischen Staat. Als der Sozialdemokrat Hermann Müller die neue Reichsregierung bildete, erklärte sein Innenminister Karl Severing, die neue Regierung habe die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen. Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung. In den Ferien würde man vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik leisten. Der Abglanz von all dem fiel auch auf uns, die lernende, die lesende, die arbeitende jüdische Jugend. Wir wurden meist Sozialisten. Nicht immer durch Karl Marx, obwohl uns die wuchtige Sprache des Kommunistischen Manifestes mitriß. Leonhard Franks Der Mensch ist gut weckte unseren Haß gegen den Krieg. Hitler ließ ihn dieses Buches wegen ausbürgern. Upton Sinclairs Der Sumpf schärfte unser soziales Gewissen. Sein Boston, wo er den JustizINPREKORR 396/397 IV. INTERNATIONALE mord an Sacco und Vanzetti schildert, und Henri Barbusses Tatsachen wühlten uns auf gegen die Klassenjustiz. Im Jahre 1929 setzte die hereinbrechende Wirtschaftskrise der „praktischen Arbeit zum Aufbau der Republik“ durch die Sozialdemokraten ein rasches Ende. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte zwei Millionen, ein Jahr später drei Millionen. Bis 1933 sollte sie auf sechs Millionen steigen. Dazu kamen Millionen Kurzarbeiter. Die Landwirte erzielten für ihre Produkte in der Krise geringere Preise. Das Handwerk und die freien Berufe gerieten in den Strudel der Krise. Bestechungsskandale erschütterten zudem die politische Glaubwürdigkeit der SPD. In den Reichstagswahlen vom September 1930 verloren die Sozialdemokraten dennoch nur eine halbe Million Stimmen; die Stimmenzahl der KPD stieg sogar von 3 1/4 auf 4 1/2 Millionen. Entscheidend aber war, dass die Nazis von 800 000 auf 6,5 Millionen anstiegen und 107 Mandate eroberten. Von vier Millionen Neuwählern waren drei Millionen zu Hitler gegangen, 2 1/2 Millionen hatte er von anderen Rechtsparteien gewonnen. Die wachsende politische Unruhe in der SPD wurde mit Disziplinierungsmaßnahmen und Ausschlüssen beantwortet. Im Oktober 1931 gründeten die ausgeschlossenen Reichstags-Abgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Ihre Jugendorganisation, der „Sozialistische Jugendverband“ (SJV), zog einen großen Teil der sozialdemokratischen Jugend herüber. Ich trat zusammen mit anderen Mitgliedern der zionistisch-sozialistischen Jugend in den SJV ein und setzte so meinen Fuß auf die Straße, die mich zum Internationalismus führte. Zum ersten Mal kam ich in Verbindung mit jungen, idealistischen, kampfentschlossenen, revolutionären deutschen Jugendlichen. Dies genau in dem Augenblick, wo der Sieg der Nazis die deutsche Bourgeoisie vor dem Sozialismus retten sollte. Auf den Straßen Kölns kam es fast täglich zu blutigen Zusammenstößen. Von Motorrädern aus schossen Nazis in eine Gruppe diskutierender Arbeiter. Saalschlachten wurden ausgetragen. In der Elsässerstraße, einer roten Hochburg von Köln, warfen Frauen ihre Mistkübel aus den Fenstern auf Nazidemonstranten. Auf dem Weg vom GymINPREKORR 396/397 nasium nach Hause geriet ich stets in diskutierende Gruppen von Arbeitern. Ich erinnere mich an die feurige Rede eines neugebackenen Nazi, der seine Zuhörer davon überzeugen wollte, dass Kriege nötig sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Die Antwort, einfach und klar, erhielt er in reinstem Kölsch: „Dann häng stärksten Festung der Sozialdemokratie: „In allen deutschen Städten standen Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat“ (Hammer oder Amboß, Nürnberg 1948, S.206). Henning Duderstadt sagt noch bestimmter: „Wir fieberten, wir warteten auf das Signal zum Kampf! General- Auf den Straßen Kölns kam es fast täglich zu blutigen Zusammenstößen dich doch op. Dann is doch als ein winniger do.“ (Dann häng dich doch auf, dann ist doch bereits einer weniger da.) Am 20. Juli 1932 setzte die Reichsregierung von Papen per Notverordnung die sozialdemokratische preußische Regierung ab. Sie begründete das mit der Notwendigkeit, selbst für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen zu müssen, weil die Sozialdemokraten die von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen in Preußen nicht im notwendigen Umfange bekämpften. Dieser kalte Staatsstreich der Reichsregierung brach der Republik das Rückgrat. Er verlief „programmäßig und ohne Zwischenfälle“. So von Papen in: Der Wahrheit eine Gasse (München 1952, S.218). Um 10 Uhr morgens, am 20. Juli 1932, hatte der sozialdemokratische preußische Innenminister Karl Severing noch erklärt, er werde „nur der Gewalt weichen“. Um 20 Uhr abends erschien die Gewalt in Gestalt eines Polizeipräsidenten nebst zwei Polizeioffizieren, und er wich. Später sagte er, er habe Blutvergießen vermeiden wollen. Hätte er es doch damals nicht vermieden! Dann wären uns Millionen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, Gefolterte, Erschlagene, Vergaste, im Zweiten Weltkrieg Gefallene vielleicht doch noch erspart geblieben. Evelyn Anderson jedenfalls schreibt über die ruhmlose Kapitulation der streik! Jeder bewaffnet sich, wo er kann. Sieg oder Tod!“ (Vom Reichsbanner zum Hakenkreuz. Wie es kommen musste. Ein Bekenntnis, Stuttgart 1933, S. 31 f.). Der „Befehl zur Tat“, das „Signal zum Kampf“, sie blieben aus. Die Stationen der schrittweisen Kapitulation vor den Nazis bis zur tiefsten Erniedrigung in den Schreiben des Führers des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, vom 21. und 29. März 1933 an den Führer des Deutschen Reiches Adolf Hitler waren schändlich. Im Namen des Bundesvorstandes erklärte Leipart, der ADGB müsse seine sozialen Aufgaben erfüllen, „gleichviel welcher Art das Staatsregime ist“. Im Reichstag stimmten am 17. Mai 1933 die sozialdemokratischen Abgeordneten Hitlers „Friedensresolution“ zu, weil – wie sie sagten – dies eine Bejahung einer friedlichen deutschen Außenpolitik und nicht ein Vertrauensvotum für Hitler sei. In Wirklichkeit hofften sie, durch ihren offenen Verrat an der sozialistischen Idee, ihre Organisation zu retten und gnädigst in die „deutsche Volksgemeinschaft“ aufgenommen zu werden. All das grub sich tief in die Herzen und Köpfe derer ein, die mit Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager oder Emigration bezahlen mussten, dass ihre 17 IV. INTERNATIONALE Führer der Gewalt der Mächtigen kampflos gewichen waren. Erst als ich den Fackelzug der bewaffneten SA durch die kommunistische Hochburg Kölns, die Thieboldsgasse, marschieren sah, vorbei an den hasserfüllten, stummen, durch ihre Führung wehrlos gemachten Proletariern und ihren vor ohnmächtiger Wut weinenden Frauen, wusste ich: es ist vorbei. Wir wurden geschlagen, ohne auch nur einen Versuch zur Gegenwehr. Wir wurden ausgeliefert. Allen, die hinterher den „Massen“ die Schuld für ihr eigenes Versagen aufbürden wollten, muss man in Erinnerung rufen: In den letzten einigermaßen freien Betriebsratswahlen, die von den Nazis im April 1933 durchgeführt wurden, weil die Nazis selbst daran glaubten, sie hätten in den Betrieben an Boden gewonnen, erhielten die Freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Mandate und die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 11,7 Prozent. Die Basis zum Widerstand war da. Aber die Führung war desertiert. 2. Sieben Monate nach meinem Abitur, am 2. November 1933, kam ich in Palästina im Hafen von Haifa an. Es war der Jahrestag der 1917 vom britischen Außenminister Balfour abgegebenen Erklärung, die den Juden im arabischen Palästina eine „nationale Heimstätte“ zusicherte. Die Araber streikten an diesem Tag. Sie protestierten gegen die Balfour-Deklaration. Wir wurden nach Jaffa verfrachtet, wo ich mit einem halben englischen Pfund in der Tasche landete. Mein Ziel war ein Kibbuz. Würde man mich fragen, woher meine unverrückbare Zuversicht stammt, dass Menschen Habsucht, Jagd nach Geld, Konkurrenzneid, Selbstsucht, Unterwürfigkeit – jene ihnen zum großen Teil vom Kapitalismus mühsam anerzogenen „menschlichen“ Eigenschaften – ablegen können; würde man mich fragen, wo die tiefste Wurzel meines Glaubens daran liegt, dass Menschen ohne jeden äußeren Zwang als Gleiche und Freie im Kollektiv ihr Leben selbst gestalten können, ich würde antworten: Das hat mir meine Erfahrung in der Praxis des damaligen Kibbuz bewiesen. Isaac Deutscher schreibt in seinen Essais sur je problème juif (Payot 1969, S.126 f.), ihm sei in einem Kibbuz, 18 „dessen Mitglieder allen Grund haben, stolz zu sein auf ihre (gesellschaftliche) Moral und die sich dessen sehr wohl bewusst sind“, folgendes passiert: Der diplomatische Vertreter der Sowjetunion besuchte mit seinem Stab Kibbuzim, um sie mit den Kolchosen vergleichen zu können. Nachdem er die moderne Molkerei, die Schule, die Bibliothek und vieles andere gesehen hatte, erkundigte er sich nach dem Gefängnis. „Das gibt es hier nicht“, erhielt er zur Antwort. „Das ist unmöglich“, stieß der Diplomat hervor. „Was zum Teufel fangt Ihr mit Euren Verbrechern oder Missetätern an?“ Man bemühte sich vergeblich, ihm zu erklären, dass es noch kein so schweres Verbrechen gegeben habe, das eine Gefängnisstrafe gerechtfertigt hätte. Schließlich wähle man die Mitglieder des Kibbuz sorgfältig aus. Es seien Menschen mit einer hohen sozialistischen Moral. Man könne Mitglieder, deren Verhalten nicht gebilligt wird, auch ausschließen. Dem sowjetischen Diplomaten wollte es jedoch nicht in den Kopf hinein, dass eine Gemeinschaft von hunderten Menschen ohne Gefangene auskommen kann. Er glaubte, man wolle ihm „potemkinsche Dörfer“ vorführen. Aber welcher Anhänger unserer „sozialen Marktwirtschaft“ würde glauben, dass der „Leistungswillen“ in den Kibbuzim, in denen heute mehr als 100 000 Menschen leben, durch die egalitäre Befriedigung der Lebensbedürfnisse, ohne jegliche Geldentlohnung für die Arbeit, nicht beeinträchtigt wird? Wer von ihnen würde glauben, dass ein Genosse aus dem Kibbuz Parlamentsabgeordneter oder Diplomat sein kann und zu Hause als Traktorist oder Helfer in der Küche arbeitet, wenn er hierzu eingeteilt wird? Wer von ihnen würde begreifen, dass eine selbstverwaltete Gesellschaft ohne Vorgesetzte, ohne Polizei, mit frei gewählten, jederzeit absetzbaren Ausschüssen unter schwierigsten Bedingungen eine gewaltige Aufbauleistung vollbringen kann, wie die Kibbuzniks es taten? Wer würde glauben, dass die Gemeinschaftserziehung der Kinder – sie sind nur wenige Stunden am Tag mit den Eltern zusammen – dazu führt, dass „die Kinder Kameraden sind, nicht Konkurrenten“, dass „die Hilfsbereitschaft bei diesen Kindern viel stärker ausgeprägt ist als das Streben nach Herrschaft. Da keine Eltern da sind, um de- ren Gunst man (im Kinderhaus) buhlen könnte, und da das Wetteifern allgemein nicht geschätzt wird, verhalten sich die Kinder wie Geschwister; die Starken üben einen gewissen Einfluss aus, aber sie wenden ihn auch im Interesse der Gruppe an“ (Bruno Bettelheim, Die Kinder der Zukunft, dtv 888, S.90). Ich habe die Geburtswehen, die gesellschaftlichen Experimente, die großartigen Versuche zur Herstellung neuartiger Beziehungen zwischen Mann und Frau, zur Eingliederung von Alten und körperlich Behinderten, das Leben in Zelten, durch die nachts Schakale liefen, wie die Legende es vom Tempelplatz erzählte, das Leben in Baracken, Malariaanfälle, die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Orangenplantagen, in denen wir Lohnarbeiter waren, ehe der Kibbuz Siedlungsland erhielt, fünfeinhalb Jahre lang nicht etwa nur „ertragen“. Mir war bewusst, an einem großen Abenteuer mitzuwirken, das einmal zur Schaffung des sozialistischen Menschen führen wird. Viele Jahre später ging ich mit der siebenjährigen Nurith aus dem Kibbuz Dalia durch die Altstadt von Jerusalem. Sie sah zum ersten Mal Bettler. Ich versuchte zu erklären, was das ist, gab ihr ein paar Münzen, damit sie eine gute Tat vollbringen konnte. Sie legte in die erste, in die zweite, in die dritte Hand, die sich ihr entgegenstreckte, eine Münze, dann trat sie entschlossen auf einen Bettler zu, gab ihm das ganze Geld und sagte: „Da, nimm das und teil es mit deinen Genossen!“ In diesem Augenblick wusste ich, dass die gesellschaftliche Erziehung des neuen Menschen in Kibuzzim, in Kommunen, den neuen Menschen hervorbringen wird. Ich trat aus dem Kibbuz nicht aus. Ich wurde ausgeschlossen. 1936 war ein arabischer Aufstand ausgebrochen. Wir zogen Stacheldraht um den Teil, der als Wohnfläche diente, schafften einen Scheinwerfer an, der nachts über das Lager kreiste, bauten aus Holz und Steinen Schanzen mit Schießscharten. Noch kurze Zeit zuvor hatte der als Nachtwächter eingeteilte Genosse zu unser aller Schutz nur einen Knüppel erhalten. Das war die einzige Waffe, die wir hatten. Sie war der Grundstock zu der heute so mächtigen israelischen Armee. Jetzt wurden illegale, geheime Waffenarsenale unter den Zeltstangen gut versteckt eingebaut. Sie waren leicht erreichbar. Fortsetzung Seite 31 INPREKORR 396/397 die internationale die internationale 5 2004 Gegen die Barbarei – Kampf an allen Fronten Zu den Anfängen des „Trotzkismus“ in Deutschland (1930-1945) Wolfgang Alles Das Drama der deutschen ArbeiterInnenbewegung im 20. Jahrhundert ist von zwei Eckdaten bestimmt – dem Scheitern der Novemberrevolution 1918 und der Machtübergabe an die Nazis 1933. Die blutige Unterdrückung des sozialen Aufstands der radikalen Teile der ArbeiterInnenklasse 1918/1919 war das gemeinsame Werk von Mehrheits-SPD um Ebert-Noske und Freikorps. Sie bereitete, wie Sebastian Haffner zu Recht schrieb, das faschistische Deutschland vor. Eine zentrale Zwischenetappe auf dem Weg in den Abgrund war der verpasste Oktoberaufstand 1923. Er bedeutete nicht nur eine weitere Niederlage der stärksten ArbeiterInnenbewegung der damaligen kapitalistischen Welt, sondern öffnete gleichzeitig dem Stalinismus in der Sowjetunion das Tor. Dies waren wesentliche Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung der KPD, aus deren Reihen später eine linksoppositionelle, „trotzkistische“ Strömung entstehen sollte. Einige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 lieferte Leo Sedow von Berlin aus seinem Vater und Genossen Leo Trotzki eine ernüchternde Beschreibung der Lage: „Was wir durchleben ähnelt einer Auslieferung der Arbeiterklasse an den Faschismus … An der Spitze Unentschlossenheit, niemand weiß, was er tun soll; an der Basis kein Vertrauen in unsere eigenen Kräf- INPREKORR 396/397 te … Wenn jetzt nicht eine entschlossene Aktion geschieht …, ist eine schreckliche Niederlage unvermeidlich. Diese Aktion … ist … meiner Meinung nach nicht mehr sehr wahrscheinlich.“ (Leo Sedow, 05.02.1933, zit. nach Pierre Broué, Trotzki, Köln o. J. [2003], S. 880.) ZUR VORGESCHICHTE DES DEUTSCHEN „TROTZKISMUS“ Im Unterschied zu Frankreich existierte hierzulande relativ lange Zeit keine Gruppierung innerhalb der KPD, die mit der antibürokratischen russischen Linken Opposition um Trotzki sympathisierte. Dies resultierte vor allem aus der Tatsache, dass die „Oktoberniederlage“ 1923 sogleich zu einem bedeutenden Thema des heftigen Fraktionskampfes in der russischen Kommunistischen Partei geworden war. Die „literarische Debatte“ zwischen Trotzki und dem Triumvirat um Kamenew, Sinowjew und Stalin im Herbst 1924 war nicht nur die Geburtsstunde einer langlebigen und immer bedrohlichere Züge annehmenden Kampagne gegen den sogenannten Trotzkismus. Gleichzeitig stellte sie mit der Verkündung von Stalins Dogma des „Sozialismus in einem Lande“ als Gegenstück zur Theorie der permanenten Revolution ein wesentliches ideologisches Fundament für den Stalinismus bereit. Die Moskauer Propaganda-Offensive gegen den angeblich „rechten Führer“ Trotzki kam der damaligen KPD-Linken um Ruth Fischer und Arkadij Maslow sehr gelegen. Sie nutzten sie für ihre eigenen fraktionellen Angriffe gegen die Berliner Partei-Zentrale um Heinrich Brandler. Erst nach der Vereinigung von Sinowjews Neuer Opposition mit der Linken Opposition um Trotzki begann sich auch in Deutschland das Verhältnis zum „Trotzkismus“ zu ändern. Dies galt sowohl für die mittlerweile von Moskau ausgeschaltete Fraktion um Fischer-Maslow als auch für die „ultralinke“ Weddinger Opposition. Allerdings wirkte das vergiftete Erbe der scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen der KPD auf politischer und persönlicher Ebene im linksoppositionellen Spektrum noch lange nach. Dies war nicht zuletzt ein Ergebnis der vom sowjetischen Geheimdienst seit Mitte der 20er Jahre begonnenen Zersetzungsarbeit gegenüber linksoppositionellen KommunistInnen. Die deutsche Geheimpolizei konnte diese Aktivitäten übrigens detailliert überwachen. (Vgl. hierzu Günter Wernicke, Operativer Vorgang [OV] „Abschaum“; in: Andreas G. Graf [Hg.], Anarchisten gegen Hitler, Berlin 2001, S. 284 f.) SCHWIERIGE ANFÄNGE Trotzki stellte sich gleich nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion im Februar 1929 der Aufgabe, die heterogenen Kräfte der internationalen linksoppositionellen Gruppen zu bündeln. Damals setzte er sich noch dafür ein, eine weltweit handelnde Fraktion der bereits stalinisierten Kommunistischen Internationale (Komintern) aufzubauen. Ziel war die Reform und politische Wiederbelebung der Komintern auf Grundlage der revolutionären Tradition des Oktobers, die damals „Bolschewismus-Leninismus“ genannt wurde. Trotzkis mit strenger Beharrlichkeit verfolgte damalige Linie lässt sich wie folgt skizzieren: Die internationale linke Opposition wird nur dann als Fraktion der Komintern erfolgreich sein können, wenn sie einerseits in prinzipieller Weise die theoretischen Grundlagen ihrer politischen Praxis klärt und sich andererseits strikt von anderen kommunistischen Strömungen abgrenzt. Eine wesentliche Stellung in Trotzkis politischer Konzeption nahm seine Analyse der Sowjetunion als bürokratisch deformierter Arbeiterstaat ein. Durch die politische und organisatorische Reform vor allem der KPdSU, aber auch der Gewerkschaften und des Sowjetsystems könne die ArbeiterInnenklasse von der Herrschaft der „zentristischen“, das heißt stalinistischen Bürokratie befreit werden. Die bedeutendste linkskommunistische Organisation in Deutschland war der im April 1928 gegründete Leninbund. Er stand in einem scharfen Konkurrenzverhältnis zur Weddinger Opposition, die seit 1927 ebenfalls direkte Kontakte zur russischen Linksopposition geknüpft hatte. 19 die internationale Im Sommer 1929 bereitete ein offener Streit zwischen der Mehrheit der Organisation um Hugo Urbahns und einer Minderheit um Anton Grylewicz die Spaltung des Leninbundes vor. Bereits im Februar 1930 wurde die Minderheit ausgeschlossen. Bei diesem Disput ging es im Kern um die Frage: Reform der KPD oder Schaf- Seit 1930 können wir von der organisierten Existenz eines deutschen „Trotzkismus“ sprechen. Allerdings zeigte sich, dass die rund 200 Mitglieder zählende VLO keineswegs eine einheitliche, geschweige denn eine wirklich handlungsfähige Organisation war. Die Vereinigung der Leninbund-Minderheit um An- Trotzki setzte sich 1929 für eine Fraktion in der stalinistischen Komintern ein fung einer neuen Kommunistischen Partei? Fraktionelle Streitigkeiten, persönliche Feindseligkeiten und nicht zuletzt die von der GPU gesteuerte Zersetzungsarbeit stalinistischer Agenten wie Roman Well (d.i. Ruvin Sobolevicius), dessen Bruder Adolf Senin (d.i. Abraham Sobolevicius) oder Jakob Frank verzögerten die Gründung einer neuen Organisation. DIE VEREINIGTE LINKE OPPOSITION Schließlich konnte am 30. März 1930 die Vereinigte Linke Opposition der K.P.D. (Bolschewiki-Leninisten) (VLO) nur unter großen Schwierigkeiten gegründet werden. Mitglied der neu gewählten Reichsleitung (RL) der VLO war auch der eben erwähnte Provokateur und Spitzel Roman Well. Als Zentralorgan veröffentlichte die VLO die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung Der Kommunist. 20 ton Grylewicz und der Weddinger Opposition um Kurt Landau war nicht auf der Grundlage einer ernsthaft diskutierten politischen Plattform vollzogen worden, sondern lediglich auf der formalen Basis der Parität. Hinzu kam das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Bürokratisierung der Kommunistischen Partei ließ nur sehr bescheidenen Spielraum für die von der VLO angestrebte „Eroberung der Partei für die Lehren des Marxismus-Leninismus“. In den Organisationsrichtlinien des ZK der KPD hieß es: „Jedes trotzkistischer Ideen verdächtige Parteimitglied ist ohne Verfahren unverzüglich auszuschließen.“ Die zeitgenössische linksoppositionelle Presse berichtete über 53 Ausschlüsse von Mitgliedern der Linken Opposition in den Jahren 1930 bis 1933. Am 6. April 1930 wurde in Paris die Internationale Linken Opposition (ILO) als „Fraktion der Komintern“ ge- gründeten. Die VLO konnte als deutsche Sektion der ILO anfangs nur begrenzte organisatorische und politische Hilfe erwarten – wenn wir von der außerordentlichen Unterstützung Trotzkis einmal absehen. Die internationale Koordination der meist schwachen und oft in sich zerstrittenen Oppositionsgruppen wirkte sich für die deutsche VLO erst später positiv aus. Bereits im Juni 1930 verschärfte sich ein Disput in der VLO, der mehrere Monate lang die Kräfte der Organisation beanspruchte. Kern der Auseinandersetzungen war ein schwer zu durchschauendes Knäuel von Meinungsverschiedenheiten, Intrigen und Provokationen. Das jahrelang kultivierte Zirkelwesen der linksoppositionellen Gruppen bot dafür einen fruchtbaren Nährboden. KONFLIKT MIT LANDAU Die zentrale Streitfrage über das aktuelle Ausmaß der Bedrohung der ArbeiterInnenbewegung durch den Faschismus wurde erbittert zwischen der Mehrheit der Reichsleitung um Landau und der Minderheit um den Agenten Well debattiert. Eine weitere Verschärfung erfuhr diese Polemik durch die Verknüpfung mit fraktionellen Kämpfen in der österreichischen und französischen Linksopposition. Trotzki verfolgte mit Sorge diese Entwicklung. Eindringlich mahnte er größere gegenseitige Toleranz an. Er warnte davor, durch nicht gerechtfertigte interne Debatten weitere Zeit zu verlieren. Vergeblich, wie sich bald zeigen sollte. Auf Initiative des Internationalen Sekretariats der ILO fand am 31. Mai 1931 eine Plenarsitzung der Reichsleitung in Berlin statt. Landau und seine Anhänger weigerten sich jedoch, an dieser Sitzung teilzunehmen, so dass der Bruch endgültig vollzogen war. Vierzehn Monate nach der Gründung zerfiel die VLO in zwei Teile, die fast identisch waren mit der ehemaligen Minderheit des Leninbundes und der Weddinger Opposition. Die GPU konnte einen weiteren Erfolg verbuchen. Mit der Trennung von Landau fand die Anfangsphase des deutschen „Trotzkismus“ ihren Abschluß. Mehr als ein Jahr lang hatten interne Querelen die Linke Opposition weitgehend gelähmt. Der bescheidene Zuwachs an neuen Kräften war durch die Spaltung wieder verloren gegangen. 80 Mitglieder verließen mit Landau die Organisation. Sie verteilten sich auf Berlin, Ludwigshafen, Leipzig und Hamburg-Harburg. EIN NEUBEGINN Insgesamt 150 Mitglieder in Bautzen, Berlin, Bruchsal, Forst, Goldap, Hamborn, Hamburg, Heidelsheim, Königsberg, Leipzig und Magdeburg wagten den Neuanfang. Da Landau die Kontrolle über die Zeitung Der Kommunist erfolgreich verteidigt hatte, musste die Linke Opposition zunächst mittels eines hektographierten Mitteilungsblattes den Kontakt zu den Gruppen aufrechterhalten. Im Juli 1931 erschien dann endlich die erste Nummer der neuen Zeitschrift Permanente Revolution. Noch im Oktober 1931 sprach die LO selbst von einer „Periode der gewissen Stagnation“, aber im Dezember meinte sie, das „Stadium der Schwächung“ verlassen zu haben und eine langsame Aufwärtsentwicklung feststellen zu können. Erst jetzt konnte sich die eigentliche Stärke der LO, die scharfsinnige Analyse der Endphase der Weimarer Republik, besser entfalten. Besondere Aufmerksamkeit widmete die LO dem bedrohlichen Ansteigen der braunen Flut vor allem seit den Reichstagswahlen im September 1930. Die sich verschärfende Krise des kapitalistischen Wirtschaftsystems und des INPREKORR 396/397 die internationale Parlamentarismus, der nur scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Nazi-Bewegung und das katastrophale Versagen der Führungen der ArbeiterInnenbewegung waren zentrale Themen der LO-Publikationen. Die auch heute noch beeindruckende Klarheit ihrer Kommentare, Einschätzungen und Aktionsvorschläge verdankten sie vor allem den Stellungnahmen Trotzkis. Von seinem Exil in Prinkipo aus verstand er es wie kein zweiter, immer wieder überzeugende, aktualisierte Antworten auf die „Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“ zu geben. Unermüdlich plädierten Trotzki und die Linke Opposition für die Schaffung einer Einheitsfront der ArbeiterInnenbewegung gegen die faschistische Gefahr. Alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel konzentrierte die LO auf die Herausgabe und Verbreitung preiswerter Trotzki-Broschüren. Seit Ende 1931/Anfang 1932 fanden Trotzkis in kurzen Abständen verfasste Analysen der deutschen Entwicklung einen wachsenden Widerhall bei Mitgliedern von KPD, SPD und Sozialistischer Arbeiterpartei (SAP), ja sogar bei „linksbürgerlichen Kreisen“. Im Juni 1932 bezifferte Anton Grylewicz die Gesamtauflage der seit April 1931 herausgegebenen Broschüren auf 67.000, von denen zum damaligen Zeitpunkt 55.000 Exemplare verbreitet worden waren. Appelle wie der folgende im internen Mitteilungsblatt der Reichsleitung waren keine Seltenheit: „Jeder Genosse muß es sich zur Pflicht machen, mindestens 10 Stk. der neuen Broschüre des Gen. Trotzki: Der einzige Weg zu verbreiten“. Neben der Herausgabe und Verbreitung von TrotzkiBroschüren widmete die LO seit Anfang 1932 ihrer Monatszeitung Permanente Revolution verstärkte Aufmerksamkeit. Ab 1. Januar 1932 erschien die Permanente Revo- INPREKORR 396/397 lution vierzehntägig und schließlich ab Ende Juli 1932 als Wochenzeitung im Zeitungsformat. Die Auflage, die sich seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe mehr als verdoppelt hatte, wurde im August 1932 mit 5.000 Exemplaren pro Nummer angegeben. Im Vergleich zur ersten trotzkistischen Zeitschrift, dem Kommunist, stellte die Permanente Revolution aufgrund ihres verbesserten Inhalts und des häufigeren Erscheinens sicherlich einen Fortschritt dar. Die Zeitung und die Broschüren Trotzkis waren das eigentliche Bindeglied der LO. ORGANISATORISCHER AUFSCHWUNG Die propagandistischen Anstrengungen der Linken Opposition erhöhten den Einfluss ihrer Ideen in einem Ausmaß, das im Verhältnis zur Größe der Organisation bedeutend war. In Diskrepanz dazu befand sich die organisatorische Entwicklung der LO, wenn auch hier seit Ende 1931 ein deutliches Wachstum und die Gründung neuer Ortsgruppen zu verzeichnen waren. Vor allem die Hamburger und die Bruchsaler LO vergrößerten ihre Mitgliederzahlen. In Oranienburg schloß sich eine größere ArbeiterInnengruppe der LO an. Der Linken Opposition gehörten sowohl winzige Propaganda-Stützpunkte als auch einige wenige, aber örtlich relativ einflussreiche Gruppen in kleineren Städten wie Bruchsal, Oranienburg oder Dinslaken an. Dem zum größeren Teil aus älteren Kadern bestehenden Kern der LO schlossen sich seit Ende 1931 vor allem jüngere, das heißt 18- bis 35jährige Menschen an. Trotz ihrer Jugend waren sie meist schon mehrere Jahre Mitglieder, teilweise auch FunktionärInnen der KPD oder des Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) gewesen. Von ihrer sozialen Zusammensetzung her war die LO im Gegensatz zu der auch heute noch verbreiteten Legende des „intellektuellen Trotzkismus“ eine ArbeiterInnenorganisation. Lediglich in Universitätsstädten wie Berlin oder Leipzig waren StudentInnen stärker vertreten. Insgesamt dürfte die Linke Opposition Ende 1932 ungefähr 600 Mitglieder in 44 Ortsgruppen und Stützpunkten gezählt haben. Die Organisationsstruktur der LO orientierte sich an den ursprünglichen Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Die Leitung einer Ortsgruppe wurde von der örtlichen Mitgliederversammlung gewählt. Sofern regional eine größere Anzahl funktionsfähiger Ortsgruppen der LO angehörten, konstituierten sie sich auf einer Bezirkskonferenz zu einem Bezirk und wählten sich eine Bezirksleitung. Außer dem bereits 1930 geschaffenen Bezirk Sachsen entstanden bis Anfang 1932 weitere Bezirke unter anderem RheinRuhr, Berlin-Brandenburg, Wasserkante und Südwest. Die Reichskonferenz, auf der die Ortsgruppen durch Delegierte vertreten waren, wählte das Führungsorgan der LO, die 16-köpfige Reichsleitung. Eine siebenköpfige Redaktionskommission besorgte die Herausgabe der Permanenten Revolution. EINHEITSFRONT GEGEN FASCHISMUS IN BRUCHSAL … Richten wir an dieser Stelle unser Augenmerk auf die nordbadische Kleinstadt Bruchsal. Denn dort befand sich die mit 100 Mitgliedern stärkste lokale Organisation der LO. Sehr zum Ärger der führenden badischen KPDFunktionäre stellten die „Trotzkisten“ dort die einzige kommunistische Kraft dar. Alle Versuche der KPD-Bürokratie, die Bruchsaler LO um Paul Speck zu „liquidieren“, scheiterten an deren starker Verankerung in der Bruchsaler ArbeiterInnennschaft. Die Linke Opposition spielte eine führende Rolle in den örtlichen Gewerkschaften und der ArbeiterInnensportbewegung. Bei den badischen Kommunalwahlen erhielten die Bruchsaler Linksoppositionellen 889 Stimmen und damit neun Gemeinderatssitze. Im Gemeindeparlament setzten sich die Vertreter der LO vor allem für die Interessen der Erwerbslosen ein. Auf Initiative der Bruchsaler LO gelang es gegen den anfänglichen Widerstand der örtlichen SPD-Führung, im Oktober 1931 einen paritätischen Aktionsausschuss aus LO, SPD, Gewerkschaften und anderen proletarischen Organisationen zu bilden. Zu Versammlungen gegen Lohnabbau und Faschismus konnte der Aktionsausschuss jeweils weit über 1000 Menschen mobilisieren. Das starke Wachstum der Bruchsaler LO-Gruppe und ihr Einfluss in den umliegenden Ortschaften Forst, Bretten und Heidelsheim verdankte sie nicht zuletzt diesen Bemühungen. Offensichtlich auf Anweisung einer höheren Parteiinstanz verließ die SPD 1932 das Einheitskomitee. Die „bewusste Sprengungspolitik“ des örtlichen SPD-Führers, so meinte die Bruchsaler Linke Opposition, sei dadurch erleichtert worden, dass ihre Einheitsfrontpolitik nicht über Bruchsal hinaus verwirklicht worden war. Trotz dieses Rückschlags konnte die Bruchsaler LO ihren politischen Einfluss ausweiten. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielt die LO für die KPD 1.000 Stimmen, die SPD lediglich 500 Stimmen. In seiner Broschüre Was nun? nannte Trotzki Bruchsal „trotz der bescheidenen Ausmaße ein Vorbild für das ganze Land“. 21 die internationale … UND IN ORANIENBURG Eine andere relativ einflussreiche Ortsgruppe der Linken Opposition befand sich in Oranienburg. Die dortige KPD schloss am 8. Januar 1932 Helmut Schneeweiß, den örtlichen Leiter des Kampfbundes gegen den Faschismus, wegen angeblicher Zugehörigkeit zur LO aus. Die KPD zog damit einen Schlussstrich unter die schon längere Zeit schwelenden Differenzen in der Einheitsfrontfrage. 56 weitere Mitglieder des Kampfbundes, die sich mit Schneeweiß solidarisiert hatten, wurden ebenfalls ausgeschlossen. Mit entscheidend für den Übertritt der Oranienburger DissidentInnen zur Linken Opposition war die politische Anziehungskraft der Schriften Trotzkis. Die neue LO-Gruppe und der Proletarische Selbstschutz Oranienburg, einer Nachfolgeorganisation des Kampfbundes, waren personell weitgehend deckungsgleich. Dank dieser fast 100 ArbeiterInnen und Arbeitslose umfassenden Organisation stellte die Oranienburger LO einen für die örtlichen Verhältnisse beachtlichen politischen Faktor dar. Sie wurde sofort im Sinne der Einheitsfrontbestrebungen der LO aktiv. Das Arbeiter-Mai-Komitee, ein Bündnis aus LO bzw. Proletarischem Selbstschutz und SPD organisierte 1932 eine erfolgreiche 1. Mai-Demonstration. Es zeigte derart deutlich die isolierenden Folgen der ultralinken KPD-Politik auf, dass die KPD sich kurze Zeit später gezwungen sah, dem in Arbeiter-Kampfkomitee umbenannten Einheitsfrontorgan beizutreten. Das aus je fünf VertreterInnen von SPD, KPD und LO zusammengesetzte Komitee entfaltete eine intensive Aktivität. Außer der Veranstaltung mehrerer antifaschistischer Kundgebungen und der Schaffung von Arbeiterschutzstaffeln widmete es der koordinierten Betriebs- und Er- 22 werbslosenarbeit besondere Aufmerksamkeit. Ähnlich wie in Bruchsal übte die Oranienburger Einheitsfrontbewegung einen starken Einfluss auf die umliegenden Ortschaften aus. Auch dort entstanden Einheitsfrontkomitees und Selbstschutzorganisationen der ArbeiterInnenschaft. In verschiedenen anderen Städten ergriff die LO die Initiative zur Bildung lokaler Einheitsfrontausschüsse. Meist scheiterten diese Bestrebungen jedoch schon im Anfangsstadium, weil die LO dort zu schwach war, um den Widerstand sozialdemokratischer und stalinistischer Funktionäre zu brechen. LETZTE WARNUNG Anfang Januar 1933 schlug die Permanente Revolution erneut Alarm: „1933 [wird] das Jahr der Entscheidung sein“. (Permanente Revolution, 3. Jg., Nr. 1, 1. Januarwoche 1933.) Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler stellte für die Linke Opposition das Ende der Epoche der „bonapartistischen“ Übergangsregimes dar, der mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Regierungen Papen oder Schleicher. Noch ein letztes Mal warnte die Permanente Revolution: „Hitlers Programm ist die völlige Zerschlagung aller politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft, um den Weg für eine noch ungeheuerlichere Verelendung der Arbeiterschaft zu öffnen. Sein außenpolitisches Ziel ist der Krieg mit Sowjetrußland.“ (Permanente Revolution, 3. Jg., Nr. 5, 1. Februarwoche 1933, Hervorhebungen im Original.) ERNEUTE STALINISTISCHE PROVOKATION In dieser politisch entscheidenden Situation organisierte die GPU eine erneute Spaltung der Linken Opposition. Bereits im Herbst 1932 hatten Roman Well und sein Bruder Adolf Senin durch eine Verschärfung der organisationsinternen Debatte diesen Schritt vorbereitet. Es war kein Zufall, dass dies fast zeitgleich zu Trotzkis Reise nach Kopenhagen im November 1932 und der dortigen inoffiziellen Konferenz der Internationalen Linken Opposition geschah. In der zweiten Januar-Hälfte 1933 versuchten Well und Konsorten der ArbeiterInnenöffentlichkeit mit einer gefälschten Ausgabe der Permanenten Revolution weiszumachen, dass die Mehrheit der LO politisch und organisatorisch mit Trotzki und der ILO gebrochen habe. Sowohl die Rote Fahne der KPD als auch das Komintern-Organ Inprekorr verbreiteten umgehend die Meldung vom „Zusammenbruch der deutschen Trotzki-Gruppe“. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Etwa 35 Mitglieder spalteten sich mit diesem Coup von der LO ab. Bezeichnenderweise kommentierten andere linke Organisationen wie SAP, KPO, Leninbund und die Landau-Gruppe mit unverhohlener Befriedigung die Spaltung. Zwar fiel es der LO nicht schwer, die absurden Behauptungen der stalinistischen Agenten als „bestellte Arbeit“ zu widerlegen. Dennoch musste die LO zugeben: „Daß solche Leute so lange in unseren Reihen weilten, ist sicher Ausdruck unserer Schwäche.“ WIDERSTAND UND EMIGRATION Die Machtübergabe an Hitler und die Errichtung der NaziDiktatur markierte für Trotzki die „bedeutendste Niederlage in der Geschichte der Arbeiterklasse“. Erneut hatte die Linke Opposition im Wettlauf mit der politischen Entwicklung wichtige Zeit verloren: Aufgrund der Auseinandersetzungen mit der Well-Grup- pe konnte die ursprünglich für Ende Januar 1933 geplante Reichskonferenz der LO erst in der Illegalität stattfinden. Am 11. und 12. März 1933 trafen sich Delegierte der Ortsgruppen, Vertreter der Reichsleitung und der ILO in Leipzig, um die neue Situation zu analysieren. Hauptaufgabe sei es, den Widerstand der Arbeiterklasse zu organisieren, den Aufbau einer neuen Partei lehnte die Konferenz noch ab. Zwar glaubte sich die Linke Opposition im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut auf die Illegalität vorbereitet, aber sie musste bereits in den ersten Monaten der NS-Diktatur zahlreiche Verhaftungen vor allem in den örtlich bekannten Gruppen hinnehmen (Oranienburg, Westdeutschland, Leipzig …) Schon nach Papens Staatsstreich am 20. Juli 1932 hatte die LO auf Beschluss der Reichsleitung mit der Vorbereitung auf die Illegalität begonnen. Die Ortsgruppen waren in kleine, drei bis fünf Personen umfassende Gruppen aufgeteilt worden. Diese wählten jeweils eine Leitungsperson, die zusammen mit den anderen auf Ortsebene eine sogenannte Fünfergruppe bildete. Diese wiederum wählte eine Kontaktperson zur Bezirksleitung bzw. direkt zur Reichsleitung. Durch diese Maßnahmen sollte die LO besser vor dem Zugriff staatlicher Repressionsorgane geschützt werden. Trotz der geringen Größe und der spärlichen materiellen Ressourcen der Linken Opposition dürfen ihre organisatorischen und propagandistischen Anstrengungen im Widerstand nicht unterschätzt werden. Die Zugehörigkeit zur Internationalen Linken Opposition erwies sich erneut als großer politischer und organisatorischer Vorteil. Sie milderte anfangs die Probleme, die aus der zwangsläufigen Trennung in eine im Untergrund arbeitende Inlands- und eine im Exil aktive Auslandsorganisation resultierten. Es war deshalb auch kein Zufall, dass Unser Wort, die INPREKORR 396/397 die internationale neue Zeitung der LO, schon ab Mitte März 1933 in Prag herausgegeben werden konnte. Unser Wort war nicht nur eine der ersten Zeitschriften der illegalen deutschen Opposition gegen die Nazis, sie war auch eine der Publikationen, die am längsten überlebten. Ihre letzte Ausgabe erschien im Sommer 1941 in New York. Insgesamt flüchteten zunächst etwa 50 Mitglieder der Linken Opposition ins Ausland. Nicht nur in Prag, sondern auch in Paris, Amsterdam, Antwerpen, Basel, Wien, Reichenberg, Kopenhagen und London entstanden Gruppen und Stützpunkte. Sie betreuten von dort aus den jeweils geographisch benachbarten Inlandsbezirk. So war zum Beispiel die Amsterdamer Gruppe für die westdeutsche LO zuständig. Im Sommer 1933 wurde Paris als Sitz des Auslandskomitees (AK) bestimmt. Das Auslandskomitee stellte die offizielle Führung der LO dar. Allerdings war die Verbindung zwischen Exil- und Inlandsgruppen sehr fragil. Wege und Möglichkeiten der Kommunikation und des Materialtransports mussten erst mühsam gefunden, weiter entwickelt und oft neu hergestellt werden. Obwohl die Gestapo die Kontakte mit dem Ausland immer wieder unterbrechen konnte, besaßen die meisten Inlandsgruppen zunächst ausreichende technische und politische Ressourcen, um eigenständig arbeiten zu können. Neben illegal hektographierten Flugblättern und Zeitschriften (wie Das andere Deutschland, Der Vortrupp, Die kritische Parteistimme, Der Rote Kurier) konnte sich der Widerstand auf das Zentralorgan Unser Wort stützen. Es wurde nach Deutschland eingeschmuggelt und beispielsweise in Berlin vervielfältigt. Wie Oskar Hippe, ein führendes Mitglied der Gruppe berichtete, stellte die Berliner LO etwa 300 bis 400 kleinformatige Fotoabzüge von jeder INPREKORR 396/397 Zeitungsseite her und verkaufte die Reproduktionen zusammen mit einem einfachen Vergrößerungsglas der Warenhauskette Woolworth an interessierte Kontakte. Offensichtlich konnte die LO in den ersten Monaten der Nazi-Diktatur nicht nur die durch Verhaftungen entstandenen Lücken teilweise wieder schließen. Sie vermochte sogar kurzfristig, neue Kräfte vor allem aus SPD und KPD zu gewinnen. Dadurch war trotz des NS-Terrors die Funktionsfähigkeit der LO zunächst relativ gut gesichert, aber die politische Verständigung über die neue Lage stand noch aus. So erregten die Übertritte der ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordenten Maria Reese sowie der prominenten Altkommunisten Karl Friedberg (d.i. Karl Retzlaw) und Erich Wollenberg zur IKD einiges Aufsehen. Allerdings löste Trotzkis Werben um die früheren „linken“ KPD-Führer Ruth Fischer und Arkadij oder enge SympathisantInnen der IKD angehörten. Darüber hinaus gab es Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen: dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), sozialdemokratischen sowie parteiunabhängigen Gruppen und vor allem zur SAP – trotz der Differenzen im Exil. FÜR EINE NEUE PARTEI Zur gleichen Zeit, als die Mehrheit der LO auf ihrer Reichskonferenz den Kurs auf eine neue Partei ablehnte, hatte Trotzki für die Vorbereitung einer neuen Kommunistischen Partei plädiert. Die kampflose Niederlage der KPD im Frühjahr 1933, die er mit der politischen Kapitulation der SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs verglich, bedeute ihr Ende als revolutionäre Partei. Der Bruch der Internationalen Linken Opposition mit der bisherigen Orientierung auf die Reform von KPD und Komintern und die Wende zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien und einer neuen Internationale führte zu Namensänderungen. Seit Herbst 1933 nannte sich die LO Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD), die ILO hieß seitdem Liga der Kommunisten-Internationalisten (LKI). In dieser Phase war die SAP ein enger Bündnispartner. Aber noch bevor die damaligen Vereinigungsverhandlungen zwischen SAP und ILO/LKI bzw. SAP und LO/IKD endgültig scheiterten, legte das Auslandskomitee der LO/IKD mehr Wert als bisher darauf, die eigene Organisation in der Öffentlichkeit herauszustellen. 1934: Die NS-Diktatur stützte sich mehr als zuvor auf den Staatsapparat Maslow Entsetzen in den Reihen des Auslandskomitees und der Pariser IKD-Gruppe aus. Eher Anlass zur Freude bot die Umstellung von Unser Wort auf wöchentliches Erscheinen Anfang Februar 1934. „KADERARBEIT“ Im März 1934 diskutierten Delegierte aus vier IKD-Bezirken und Vertreter des AK auf einer illegalen Organisationskonferenz, die als Hochzeitsfeier getarnt war, ihre Widerstandstaktik. Zwar war die besondere Bedeutung der „Kaderarbeit“ unstrittig, aber die Bedingungen erlaubten nur ausnahmsweise die angestrebte Konzentration auf die Betriebsarbeit, um die Verbindung zu den Arbeitermassen wiederherstellen zu können. In der Realität beschränkte sich die „Kaderarbeit“ im wesentlichen auf Diskussionen und Schulungen in kleinen Zirkeln, denen nur Mitglieder Die IKD vermied es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Organisation im Inland wahrnehmbar in Erscheinung zu treten. Nur ausnahmsweise wurden zu dieser Zeit noch Flugblätter verteilt oder Widerstandsparolen an Häuserwände gemalt. Ende 1934 analysierte die IKD, dass sich das Bild des Faschismus zu verändern beginne. Die NS-Diktatur stützte sich mehr als zuvor auf den Staatsapparat und weniger auf seine aktive „ursprüngliche Massenbasis. Der Übergang zu dieser „zweiten Periode“ des Faschismus, der „bonapartistischen“ Phase eines „Faschismus ohne Massenbasis“ wurde allerdings erst Ende 1935 konstatiert. Die „französische Wendung“ der LKI 1934, das heißt die Taktik des Entrismus in die Sozialdemokratie, drängte zeitweise die Fragen des deutschen Widerstands in den Hintergrund. Die folgenden heftigen internen Auseinandersetzungen lähmten im Spätsommer desselben Jahres die Organisation. Im Herbst gelang 23 die internationale es einer Minderheit des Auslandskomitees eine Zwei-Drittel-Mehrheit der IKD für die Billigung der Eintrittstaktik zu gewinnen. Die Mehrheit des AK um Bauer (d.i. Erwin Ackerknecht) spaltete sich ab und schloss sich zunächst der SAP an, um schließlich mit anderen ehemaligen SAP-Mitgliedern als Gruppe Neuer Weg eine kurzzeitige Existenz zu fristen. An Weihnachten 1934 fand die zweite Reichskonferenz der IKD unter den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen geheim in der Schweiz statt. Die Delegierten des innerdeutschen Widerstands und der Exilgruppen tagten in einem Bildhaueratelier in Dietikon, in der Nähe von Zürich. Auf der Konferenz, die einem Teilnehmer zufolge „ziemlich friedlich“ verlief, spielte paradoxerweise die „Entrismus“-Frage nur eine untergeordnete Frage. Im Mittelpunkt stand die Diskussion über die politische Lage in Nazi-Deutschland und die Aufgaben des Widerstands vor allem in den Betrieben. Neben der Fortsetzung der „zähen revolutionären Kaderarbeit“ wurde eine verstärkte Hinwendung der damals noch etwa 200 Mitglieder zählenden Organisation zur SAP beschlossen. Neben einem Auslandskomitee wählten die Delegierten eine Inlandsleitung der IKD. DER ENTSCHEIDENDE SCHLAG Abgesehen von den schweren Verlusten in den ersten Monaten nach der Machtübergabe an die Nazis war die Linke Opposition und spätere IKD zunächst weitgehend vor weiteren Verhaftungen verschont geblieben. Im Sommer 1935 warnte das Reichenberger IKD-Mitglied Julik (d.i. Wenzel Kozlecki) im internen Informationsdienst der IKD: „Wir dürfen… vor uns selbst kein Versteck spielen. Unsere weitere Existenz hängt davon ab, inwie- 24 weit und in welchem Zeitraum wir verstehen, die für unsere Entwicklung angepassten organisatorischen Verhältnisse herbeizuführen. Wehe uns, wenn wir im Verhältnis zur Gestapo zu kurz treten.“ (Informationsdienst, Nr. 7/8 von August 1935, S. 22, Hervorhebungen im Original.) Diese Warnungen kamen zu spät. Bereits im Frühjahr 1935 war es der Gestapo gelungen, die Grundlage für ihre späteren Erfolge zu schaffen. Ab Herbst 1935 schnappte die Falle zu. Verhaftungen, Folterungen durch die faschistischen Schergen, neue Verhaftungen, neue Folterungen – in Hamburg, Berlin, Gelsenkirchen, Solingen, Köln, Essen, Neuß, in Frankfurt am Main, in Magdeburg, in Danzig, um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen. Von November 1935 bis Ende 1936 – im Laufe eines Jahres – waren die Strukturen des innerdeutschen IKD praktisch zerschlagen worden. Nach dieser Verhaftungswelle verfügte die IKD seit Anfang 1937 nur noch über zwei intakte Gruppen, die eine in Berlin-Charlottenburg, die andere in Dresden. In weiteren Städten standen lediglich einzelne Mitglieder noch in Kontakt mit dem Auslandskomitee. Die Verhafteten mussten teilweise eine mehrjährige Untersuchungshaft ertragen, während der die Gestapo durch Folterung weitere Informationen über die IKD zu erpressen versuchte. Die Anklagen wegen „Vorbereitung des Hochverrats“ dienten als Grundlage für die Verhängung meist hoher Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Für viele Opfer der NSJustiz war nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen der Leidensweg nicht beendet. Vor allem die WiderstandskämpferInnen, die die Gestapo als Leitungsmitglieder der IKD identifizieren konnte, wurden danach in Konzentrationslager in „Schutzhaft“ überführt. Eine nicht bekannte Zahl von linksoppositionellen Kommunisten wurde in der Gefangenschaft durch Nazis ermordet, teilweise wie im Falle Werner Scholems mit Unterstützung von Stalinisten. Viele der Verurteilten mussten während des Zweiten Weltkriegs im Strafbataillon 999 Kriegsdienst leisten. Nach Schätzung des Auslandskomitees waren 1940 mindestens 150 IKD-Mitglieder Gefangene des Regimes. STALINISTISCHER TERROR Nach der Verhaftungswelle 1935/36 hatte die IKD den wesentlichen Bezugspunkt ihrer politischen Arbeit verloren. Dadurch verschlechterte sich die in nahezu jeder Hinsicht schwierige Situation der Exilorganisation noch mehr. Abgesehen vom „Kirchenkampf“ setzte sich die IKD immer seltener mit innerdeutschen Fragen, dafür umso mehr mit internationalen Themen (Belgien, Frankreich und natürlich Spanien) sowie mit den Streitigkeiten in der deutschen Emigration auseinander. Existenziell verschärfte sich die Lage der Flüchtlinge durch die Moskauer Schauprozesse ab August 1936 und die damit verbundene beispiellose stalinistische Hetze gegen den „Trotzkismus“ als „Spionage- und Diversionsagentur des Faschismus“. Den Worten folgten blutige Taten. Der mittlerweile NKWD genannte stalinistische Geheimdienst ermordete Moulin (d.i.Hans Freund), Rudolf Klement, Erwin Wolf und später Walter Held (d.i.Heinz Epe), – um nur einige führende IKD-Mitglieder zu nennen. Im Überlebenskampf der LKI unterstützten die Exilgruppen der IKD aktiv die Kampagne zur Verteidigung Leo Trotzkis und anderer Opfer der stalinistischen Verfolgungen. NIEDERGANG IM EXIL Vor diesem düsteren politischen Hintergrund entwickelte sich eine neue Krise in der Exil-IKD. Ihre Eskalation führte im Sommer 1937 zum Ausschluss einer kleinen Oppositionsgruppe um Jan Bur (d. i. Walter Nettelbeck), die mit Fischer-Maslow sympathisierte. Unter dem Einfluss von Josef Webers Theorie der „rückläufigen Bewegung“ der Klassenkämpfe beschloss die Exil-Konferenz der IKD am 25. und 26. August 1937 eine Abkehr von der an Weihnachten 1934 festgelegten Orientierung. Die späteren politischen Bruchlinien mit der IV. Internationale waren hiermit inhaltlich bereits angedeutet. Johre (d.i. Josef Weber) und Oskar Fischer (d.i. Otto Schüssler) stimmten als IKDVertreter auf der geheim tagenden Konferenz der LKI am 3. September 1938 für die Gründung der IV. Internationale, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs das politische und organisatorische Überleben des revolutionären Marxismus sichern sollte. Die zweite Etappe des Exils begann schon kurze Zeit später mit der Ausdehnung des Nazi-Reiches. Die Mitglieder der Reichenberger IKD mussten vor den deutschen Truppen nach Prag und von dort gemeinsam mit ihren Prager GenossInnen weiter zunächst nach Frankreich oder Großbritannien flüchten. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Redaktion von Unser Wort und später auch die Leitung der IKD nach New York verlegt worden, wo sich bereits 1938 eine Ortsgruppe konstituiert hatte. Ein Teil der Kopenhagener IKD um Georg Jungclas arbeitete auch nach der Besetzung Dänemarks im April 1940 im Untergrund weiter. Sie unterstützzten eine im Widerstand aktive dänische ArbeiterInnengruppe der IV. Internationale. Der andere Teil flüchtete nach Schweden. Mit Beginn des sogenannten Westfeldzuges der Wehrmacht waren auch die Exilgruppen in den Niederlanden, Belgien und Frankreich direkt bedroht. Einige Mitglie- INPREKORR 396/397 die internationale der konnten nach England flüchten, wo sie sich der Londoner IKD anschlossen. Andere tauchten unter, wurden aber meist von der Gestapo verhaftet. Eine dritte Gruppe, darunter die gesamte Pariser IKD, wurde in südfranzösische Internierungslager deportiert. Nur eine Minderheit von ihnen gelangte in den Besitz USamerikanischer Visa und konnte sich in die Vereinigten Staaten absetzen. Die anderen fielen entweder ihren faschistischen Häschern in die Hände oder schlossen sich der Résistance an. Außerhalb Europas und den USA fanden IKD-Mitglieder in Argentinien, Kuba und Mexiko eine Zuflucht. Anfang 1940 bestand die AuslandsIKD aus 10 Gruppen in Amerika und Europa mit insgesamt etwa 70 Mitgliedern. Im Herbst 1941 wendete sich die Mehrheit der ExilIKD unter dem maßgeblichen Einfluss Johres von der angeblich „in jeder Beziehung (theoretisch, politisch, methodisch) absolut unzulänglich[en]“ Arbeit der IV. Internationale ab und versuchte mit „Drei Thesen über die Lage in Europa und die politischen Aufgaben“ für eine „radikale Neuorientierung“ zu werben. Nach Kriegsende waren das Auslandskomitee der IKD und seine UnterstützerInnen nicht mehr bereit, auf der politischen Grundlage und im organisatorischen Rahmen der IV. Internationale weiterzuarbeiten. Mit der Herausgabe des ersten Heftes von Dinge der Zeit im Juni 1947 verwirklichte die Gruppe um Johre ihr lange gehegtes Projekt. Ihr Ziel war nun die „Schaffung einer Weltorganisation für inhaltliche Demokratie“. Obwohl die Führung der IV. Internationale seit Anfang der 40er Jahre die Entwicklung der Exil-IKD mit großer Skepsis betrachtet hatte, wurde sie weiterhin als Bestand- INPREKORR 396/397 teil der Bewegung betrachtet. Allerdings erwartete sie von der Strömung um Johre keine Impulse für den aus ihrer Sicht so dringend erforderlichen Wiederaufbau der deutschen Organisation. FORTSETZUNG DES WIDERSTANDS In Zusammenarbeit mit der französischen Sektion, der Parti ouvrier internationaliste (POI), und dem damaligen Linkskommunisten Paul Thalmann gelang es einer winzigen Gruppe deutscher Mitglieder der IV. Internationale um Viktor (d.i. Paul Widelin), ab dem Frühjahr 1943 Widerstand in den deutschen Besatzungstruppen zu organisieren. Die Bildung kommunistisch-internationalistischer Zellen in der Wehrmacht, die Herausgabe von Flugblättern und einer Zeitung mit dem programmatischen Titel Arbeiter und Soldat war nur ein Aspekt ihrer kühnen Aktivitäten. Ein anderer bestand in der Lieferung deutscher Waffen und der Vermittlung deutscher Deserteure an die bewaffneten Widerstandsgruppen der POI. Im Herbst 1943 gelang es der Gestapo, diesen antimilitaristischen Ansatz blutig zu unterdrücken. Seit März 1944 bemühte sich eine Kommission deutscher Mitglieder der IV. Internationale die Aktivitäten des kleinen Kreises von EmigrantInnen zu reorganisieren, der alle bisherigen Verfolgungen überlebt hatte. Als Bund der Kommunisten-Internationalisten sorgte diese Gruppe für die illegale Herausgabe eines hektographierten Bulletins unter dem alten Titel Unser Wort sowie für das Erscheinen weiterer Ausgaben von Arbeiter und Soldat. Die Verhaftung und Ermordung Viktors/Widelins durch die Gestapo im Sommer 1944 bedeutete einen weiteren schweren Rückschlag für die Reorganisation der deutschen Sektion. Die kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager verfasste „Erklärung der Buchenwalder Trotzkisten“ forderte die Errichtung eines „Rätedeutschland in einem Räteeuropa“. Die Reste der Charlottenburger IKD wollten zur gleichen Zeit bewaffnete Arbeitergruppen aufbauen. Dies waren heroische, aber symbolische Gesten, denn die deutsche Revolution fand nicht statt. Eine kleine Schar deutscher Mitglieder der IV. Internationale um Georg Jungclas, der aus der Nazihaft befreit worden war, musste mehr als 15 Jahre nach der Gründung der Linken Opposition die deutsche Sektion neu aufbauen. VERSUCH EINER BILANZ Welches Resümee können wir ziehen? Die ersten 15 Jahre des organisierten deutschen „Trotzkismus“ waren geprägt von der scharfen Krise der ArbeiterInnenbewegung. SPD und KPD hatten die politische Spaltung und Lähmung der ArbeiterInnenklasse zu verantworten, die direkt in die verheerende Kapitulation von 1933 führte. Sie ermöglichte nicht nur die faschistische Diktatur, sondern auch den späteren zeitweiligen Triumph des Stalinismus. Die Linke Opposition konnte diese katastrophalen Entwicklungen nicht verhindern, aber sie skizzierte eine realistische Alternative zum Versagen der sozialdemokratischen und stalinistischen „Realpolitiken“ und den ihnen zugrunde liegenden Ideologien. Eine Alternative, die in ihren Grundgedanken auch heute noch aktuell ist. Die Geschichte von LO und IKD ist ein Beleg für oft unterschätzte oder gar missachtete Funktion kleiner Organisationen. Zum einen als sensible Seismographen sich ankündigender gesellschaftlicher Veränderungen und zum anderen als Zentren praktischen politischen Widerstands, die keinen Vergleich zur Wirksamkeit von parlamentarisch orientierten und bürokratisierten Massenparteien zu scheuen brauchen. Ohne die politische und organisatorische Unterstützung auf internationaler Ebene hätte die LO und spätere IKD kaum ihre auch heute noch wertvollen Beiträge zur Analyse und zur Bekämpfung der finsteren Barbarei dieser Zeit leisten können. Und sie hätte nicht – zumal in ihren Reihen (stalinistische) Spitzel und Provokateure aktiv waren – die Kontinuität und das Überleben ihrer eigenen Strömung sichern können – als kleines, aber nützliches Instrument im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Der unerschrockene und beharrliche Kampf entschlossener und aufrechter Menschen, die sich in LO und IKD organisiert hatten, ist ein Teil der besseren deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Er hat es verdient, vor dem Vergessen bewahrt zu werden. Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Referats des Autors auf der Gelsenkirchener Tagung zum Widerstand linker Kleinorganisationen gegen den Nationalsozialismus am 28. Februar 2004. Soweit nicht anders angegeben beruht die Darstellung auf Wolfgang Alles, Zur Politik und Geschichte der deutschen Trotzkisten ab 1930, Köln 1994 (2. Auflage). Alle Zitate ohne Quellenangabe sind dieser Untersuchung entnommen. 25 die internationale Hartz und der Irrtum von Marx Werner Abel Alle weltgeschichtlichen Tatsachen, so meinte Marx in Anlehnung an Hegel, ereignen sich sozusagen zweimal: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wilhelm Liebknecht, der Marx recht nahe gestanden haben dürfte, umschrieb in seinem Volksfremdwörterbuch das Wort „Farce“ mit dem deutschen Wort „Posse“. Gesetzt den Fall, auch Marx hätte diese Wortbedeutung im Sinn gehabt, dann muss man aus aktuellem Anlass annehmen, der ansonsten so treffsichere Analytiker Marx habe seine Rechnung ohne die deutsche Sozialdemokratie gemacht. Denn das, was heute mit Hartz IV die öffentliche Diskussion bestimmt und von der Realisierung her gesehen hauptsächlich von der Sozialdemokratie zu verantworten ist, kann wohl, sieht man von einigen Begleitumständen ab, kaum als Posse, eher wohl als Tragödie bezeichnet werden. Neu allerdings ist die ganze Geschichte nicht. 1929 sah sich der Hauptverband der deutschen Krankenkassen gezwungen, eine Streitschrift gegen die massiven Angriffe seitens der Politik, der Wirtschaft, aber auch aus Kreisen der Wissenschaft, gegen die Sozialversicherungen und die Arbeitslosenunterstützung in Auftrag zu geben. Der bekannte sozialdemokratische Sozialpolitiker Helmut Lehmann (der später die Vereinigung von SPD und KPD mit vollziehen sollte , in der DDR zu einigen Ehren gelangte und deshalb getrost der Vergessenheit anheim fallen kann!) verfasste dann unter dem Titel „Die Sünde wider das Volk“, der zunächst von der Wortwahl her gesehen an die berüchtigte antisemitische Trilogie von Artur Dinter erinnert, 26 eine Auseinandersetzung mit diesen Angriffen, deren Aktualität in Erstaunen versetzt. Noch verwunderter aber muss der Leser dieser alten und, so wäre zu hoffen gewesen, nur noch historisch interessanten Broschüre reagieren, wenn er feststellt, gegen wen Lehmann polemisierte. Da ist zunächst der Gießener Professor Horneffer, seines Zeichens Philosoph und Theologe, der in einer gleichnamigen Broschüre die deutsche Sozialpolitik schlichtweg als „Frevel am Volk“ bezeichnet hatte. Das gegenwärtige Sozialversicherungssystem und die Arbeitslosenunterstützung seien nichts weiter als Sozialismus in der Praxis, ja Bolschewismus gar, und damit nichts anderes als ein Angriff auf den Arbeits- und Leistungswillen des deutschen Volkes. Die oft gerühmte Bismarcksche Sozialpolitik sei nur ein Kompromiss gewesen, um die aufbegehrende Sozialdemokratie zu neutralisieren, aber diese Sozialdemokratie habe dann die sozialpolitischen Errungenschaften mit immer neuen Forderungen pervertierend dazu genutzt, ihre antikapitalistischen und in Wirklichkeit antideutschen Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Nun könnte man die völkischen Tiraden Horneffers als deutschnationale und antisoziale Hirngespinste vergessen, wären da nicht seine Argumente, die denen verblüffend ähneln, die heute zur Begründung der sicher dringend notwendigen Reformen benutzt werden: Die Sozialversicherungen minderten die Eigenverantwortung und würden dazu missbraucht, den Staat in Permanenz zur Kasse zu bitten, und die Arbeitnehmer zögen es vor, lieber „krank zu feiern“, als Leistungen für die Gemeinschaft zu bringen. Das gelte natürlich auch für die Arbeitslosenversicherung, denn eher ließe man sich vom Staat alimentieren als eine minder bezahlte, aber nützliche Arbeit anzunehmen. Die Arbeit sei keine Ehre und kein Adel mehr. Im Gegenteil: „Man begegnet in unserem Volke vielfach einem wahren Hass auf die Arbeit…Das Bürgertum muss mit höchster Überanstrengung einholen und nacharbeiten, was der andere Volksteil durch zu wenig Arbeit versäumt.“ Die Frage, was aber zu tun sei, wenn es keine Arbeit gäbe, die ließ Honeffer schon damals nicht gelten: Eigeninitiative zeigen, vor allem Verantwortung für das Ganze! Alles andere sei verwerflich, Sozialismus eben. Allerdings murrten schon zu Honeffers Zeiten einige Sozialdemokraten beleidigt, wenn ihnen sozialistisches Denken und Handeln unterstellt wurde, und auf Dauer konnte auch die Gesamtpartei diesen Vorwurf nicht mehr auf sich sitzen lassen. Jetzt aber kommt endlich die große Stunde: Der Trend heißt heute nicht mehr „Genosse“, er ist neoliberal. Und nach einer Periode der „ruhigen Hand“ entschloss sich der Kanzler zu handeln, konsequent und mit Hartz. Vielleicht hat ihm jemand von Carl Schmitt erzählt, von seiner Theorie des Dezisionismus: Nicht warten, entscheiden und zuschlagen, erprobt 1932 im „Preußenschlag“, der ja denn zu einer wirklichen Zäsur der Weimarer Republik wurde. Aber vielleicht haben der Kanzler und seine Experten überhaupt nicht in historischen Analogien gedacht? Denn dann hätte man schnell gemerkt, dass Peter Hartz so singulär nicht ist und schon gar nicht ohne historisches Vorbild. Das Kuriose, aber gar nicht Lustige ist, dass oben genannter Helmut Lehmann, und damit sind wir auch wieder bei Marx, noch gegen einen anderen skurrilen Wissenschaftler polemisieren musste, der mit „unserem“ Hartz offensichtlich nicht nur durch den Namen, sondern auch durch das Denken verbunden zu sein scheint. 1928 veröffentlichte Gustav Hartz sein Buch „Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit“. Die Quintessenz des Buches: Statt Versicherungszwang – Sparzwang! Das bedeutete im Klartext, wenn keine Beiträge mehr für die Sozial- und Arbeitslosenversicherungen erhoben werden dürfen, dann können die Arbeitnehmer erhebliche Summen sparen, denn, so Originalton Hartz: „Mit der ausgedehnten Sozialversicherung ist die deutsche Arbeitnehmerschaft proletarisiert und ihr Sparvermögen sozialisiert worden.“ Wie Gustav Hartz diesem schleichenden Sozialismus entgegen treten wollte, verrät ein einfaches Beispiel: „Wenn ein Arbeiter mit einem Wochenlohn von 36 RM vom 20. bis 60. Lebensjahr die Sozialversicherungsbeiträge sparen würde, dann hätte er 33 000 RM Kapital … Bei eintretendem sozialem Notfall ist der Sozialsparer zuerst auf sein eigenes Kapital angewiesen … Im übrigen ist das Sparkonto nach gesetzlicher Vorschrift gesperrt…In Abständen von fünf, acht oder zehn Jahren muss aber der Sozialsparer über die Hälfte des in dieser Zeit eingezahlten Kapitals – soweit es noch nicht für soziale Notfälle verbraucht ist – frei verfügen können.“ Und genau hier lag die geniale INPREKORR 396/397 die internationale Erkenntnis von Gustav Hartz, die man nur noch nicht so richtig aktualisiert und auf heute mögliche Einkommen umgerechnet hat. Arbeitsplätze, so wusste er, sind natürlich auch ein Problem der Investitionen. Die Mittel dafür aber sind eher rar, und bei ausländischen Investoren, da ist man sich auch nicht so richtig sicher, wer da kommt und mit welchen Absichten, und überhaupt, es handelt sich um die deutsche Wirtschaft, die deutsch bleiben sollte …Autarkie, das war das eigentliche Schlagwort aus dem Munde gewisser Konservativer, die, Kuriosum am Rande, damit zu den ersten Globalisierungsgegnern werden sollten. Wo also Investitionsmittel hernehmen? Gustav Hartz lenkte den Blick auf die Millionen von Arbeitnehmern. Wenn diese nun keine Versicherungsbeiträge mehr leisten, sondern das dafür benötigte Geld sparen müssten, könnten sie, so ihnen nichts passierte, dieses in die Wirtschaft investieren und sich sogar Häuser bauen. Vor seinem geistigen Auge entstand aus den besitzlosen Massen eine Riesenschar von Kleinkapitalisten und Hausbesitzern. Und endlich wäre der Zustand beendet, in dem durch die Sozialversicherungen die „Gedankenlosigkeit, Unmoral, Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit bis zum Übermaß“ gesteigert waren. Wenn alle Arbeiter Kapitalisten geworden sind, dann gibt es natürlich auch keinen Klassenkampf mehr, dann gibt es nur noch das Volk. So gesehen werden die zu erwartenden Auswirkungen der Hartz-IV-Reform natürlich zu Unrecht als grausam denunziert, denn als echte Volkspartei muss die SPD die Interessen des ganzen Volkes vertreten und das kann man am besten, indem man dieses zuvor homogenisiert. Da müssen temporäre Reibungen und die im Übrigen maßlos überspitzten Reaktionen in der Öffentlichkeit schon mal in Kauf genommen werden. Zu DDR – Zeiten behaupteten kritische Zungen, die Auswirkungen der Russischen Revolution wären ein Rückfall hinter die Französische Revolution. Unsere Bundesrepublik kann natürlich nicht schlechter sein als die DDR, und schon meinen heute einige, Hartz IV sei ein Rückfall hinter Bismarck. Sie sind im Recht. Prof. Horneffer und Gustav Hartz beweisen uns, dass das Jahr 1883 mit dem Beschluss über das erste Krankenversicherungsgesetz die Geburtsstunde des deutschen Proletariats war. Die Sozialdemokratie hat sich längere Zeit als die Partei des Proletariats ausgegeben, mit der Absicht, dieses abzuschaffen. Mit etwas anderen Mitteln allerdings, als Marx sich das vorgestellt hatte. Jetzt, im Jahre 2005 beginnt die wahre Revolution. Da Marx eigentlich so ziemlich alles verkehrt sah und bewertete, muss natürlich auch die Frage nach der eingangs erwähnten Behauptung von Marx offen bleiben, was nun die Tragödie ist, was die Posse? Die Diskussion Ende der 20er Jahre oder die von heute? Aber vielleicht ist es doch sinnvoll daran zu erinnern, dass es ein Sozialdemokrat war, der gegen Gustav Hartz polemisierte und dass, vielleicht viel wichtiger, auf den historischen Hartz des Jahres 1928 das Jahr 1933 folgte! Mit freundlicher Genehmigung der Zweiwochenschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft Das Blättchen, Berlin, Nr. 18/2004. Wo die einen an Schärfe verlieren... ...fangen wir erst an Fordere jetzt Dein Probeabo für 5 Euro (3 Ausgaben inkl. Post) an! Mehr Infos unter: [email protected] - RSB, Landzungenstr. 8, 68159 Mannheim Was ist los im Betrieb, in der Gewerkschaft und auf der Straße? Berichte und Analysen dazu und noch mehr gibt's in der Avanti! Wir betrachten die Welt revolutionär-marxistisch! Im Zentrum steht die Abwehr gegen die Angriffe des Kapitals und seiner Regierungen auf die ArbeiterInnenklasse. Avanti analysiert nicht nur – als Zeitung des RSB nimmt sie Stellung und greift ein. Und das alles jeden Monat aufs Neue! Zeitung des Revolutionär Sozialistischen Bund / IV. Internationale INPREKORR 396/397 27 die internationale Aktuelles aus längst vergangener Zeit Rancs Biographie der Trotzki-Interpretin Alexandra Ramm-Pfemfert (1883-1963) und ein Heft der Hamburger „Aktion“ über Franz Pfemfert (1879-1954) ermöglichen es, zwei Persönlichkeiten der radikalen Linken kennen zu lernen, die in der BRD wenig populär und in der DDR Unpersonen waren. Unter den Kämpfern wider Imperialismus, Faschismus und Stalinismus, für eine basisdemokratische kommunistische Welt gehörten sie zu den eigenwilligsten. Manfred Behrend Die Autorin von „Trotzki und die Literaten“ 1997 und Mitwirkende an der Edition der Trotzki-Schriften hatte es nicht leicht. Ihre Heldin schrieb nur wenige Artikel, Briefe waren über viele Orte verstreut. Es mussten weitere Quellen, so aus der Memoirenliteratur, erschlossen, Zeitzeugen aufgetrieben und befragt werden. Ein tüchtiges Stück russischer, deutscher und internationaler Geschichte galt es zu ergründen. Auf Akribie bedacht, hat Julijana Ranc auch in Anmerkungen eine Fülle aufschlussreicher, oft kaum bekannter Tatsachen untergebracht. Sie sichtete rund 930 Dokumente, darunter mehrere hundert fast ausschließlich unpublizierte Briefe und brachte 142 davon, dazu manche der 160 aufgefundenen Fotos unter. Die Darstellung beginnt mit der im russischen Starodub (Gouvernement Tschernigow) ansässigen jüdischen Familie Ramm. Der Vater, ein Kaufmann, war strenggläubig, nahm aber unter dem Einfluss der ältesten seiner acht Kinder liberale Züge an und wurde vom Talmudleser zum aktiven Autodidakten der Mathematik und Mechanik. Um die Jahrhundertwende übersiedelten manche seiner Nachkommen in andere Länder. Alexandra fand Anschluss an die Berliner Boheme. Seit 1911 wohnte sie mit Franz Pfemfert in der Nassauischen Straße 17 zu Wilmersdorf. Die dort im selben Jahr 28 gegründete Zeitschrift „Die Aktion“ propagierte den Expressionismus, trieb aber zugleich bald linke Politik. Wie ihre ältere Schwester Nadja und die jüngere, Maria, war Alexandra Übersetzerin. Mit einem Teil ihrer Einkünfte und durch die ab 1927 von ihr geleitete Aktions-Buch- und Kunsthandlung am Rankeplatz unterstützte sie die Zeitschrift und den dazugehörigen Verlag. Unter den Übersetzungen war der Kurzroman „Schokolade“ von Tarassow-Rodionow 1924 bemerkenswert, in dem ein Tscheka-Tribunal einen Unschuldigen hinrichten lässt und er sich drein schickt. Sowjetische Kritiker fielen über das Buch her und drehten dessen Autor um, worauf er Alexandra der Verfälschung seines Werks bezichtigte und Franz die Sache in der „Aktion“ niedriger hängte. 1929 bot A. Ramm Leo Trotzki die Übersetzung seiner Autobiographie ins Deutsche an, mit der (zutreffenden) Begründung, die bisherigen Interpretationen seiner Werke wären schlecht. Der Arbeit an „Mein Leben“ folgte mehrjähriges enges Zusammenwirken. Zu den Resultaten gehörten deutsche Ausgaben der „Geschichte der russischen Revolution“, von „Stalins Verbrechen“ und mehreren Broschüren. Der erstmals hier auszugsweise wiedergegebene Briefwechsel zeugt davon, dass beide Seiten und zudem oft Franz Pfemfert nicht nur Probleme der Interpretation, sondern auch wichtige politische Fragen erörterten. Alexandra verhandelte als Literaturagentin mit Verlegern, nahm zeitweise Trotzkis Kinder Lew Sedow und Sinaida Wolkowa unter ihre Fittiche, unterhielt eine Anlaufstelle für Trotzki-Anhänger in und außerhalb der Sowjetunion und konspirative Briefkontakte. Sie versorgte den Verbannten auf Prinkipo mit für die Arbeit nötigen Büchern und „Prawda“-Ausgaben, einmal auch mit einer zum Angeln im Marmara-Meer geeigneten englischen Schnur. Aufmerken lässt ihr Vorschlag an Trotzki, „etwas in der Art des Erfurter Programms“ für die kommunistische Bewegung zu schreiben. (S. 345) Vom Adressaten stammt die (nicht mehr nur auf diese Nation zutreffende) Bemerkung: „So genial die Deutschen als Volk auf verschiedenen Gebieten sind, so extrem unbedarft sind sie in der Politik.“ (S. 389) Ranc schildert, wie Franz und Alexandra nach dreimaliger Haussuchung an einem Tage im Frühjahr 1933 gerade noch rechtzeitig Berlin verließen. Ihr Exil war zunächst in Karlsbad ( ČSR), danach in Frankreich, kurzzeitig in Lissabon und New York, schließlich in Mexico City. Wiederholt richtete der als Porträtfotograf begabte Franz zwecks Broterwerbs ein Fotostudio ein. Die Lebensbedingungen waren ärmlich. Von draußen trafen traurige Nachrichten ein. Die Zahl der Freunde sank. Allein Ruth Fischer und Arkadi Maslow kamen eine zeitlang hinzu. 1919 hatte Noskes Soldateska Pfemferts Wohnung geplündert. 1933 nahm die Gestapo auf Nimmerwiedersehen Archiv, Bücher, Zeitschriften, Bilder und Manuskripte mit. Nach Franz Pfemferts Tod und Alexandras Übersiedlung zur Schwester Maria nach Westberlin Mitte der 50er Jahre gingen die in Mexiko angesammelten Materialien – wahrscheinlich bei einer Schiffskatastrophe – verloren. (S. 175, 469 und 543) Die letzten Jahre ihres Lebens brachte Alexandra wieder in Berlin-Wilmersdorf zu. Mit der Wirtschaftswunderund Frontstadtatmosphäre kam sie nicht zurecht. Lichtblicke waren Arbeiten im Zusammenhang mit Vorbereitungen für eine Expressionismus-Anthologie, Reprintausgaben der alten „Aktion“, eine Rundfunksendung zu deren 50. Jahrestag 1961 und Neuauflagen von Trotzkis Werken. Dessen Witwe Natalja Sedowa, die in Mexiko die Pfemferts rührend umsorgt hatte, kam kurz vor ihrem Tode zu Besuch nach Westberlin. Wie der biographische und dokumentarische Teil des Buches sind seine Anhänge wichtig. Durch sie erschließt sich die Biographie voll und ganz. Wesentlich erscheinen mir die Personenangaben über den tschechoslowakischen Diplomaten Camill Hoffmann, den Menschewiken Boris Nikolajewski, den Anarchisten Rudolf Rocker, von Leopold Schwarzschild und J. Thomas (Jakub Reich), welcher durch die 1928 mit herausgegebene „Illustrierte Geschichte der Russischen Revolution 1917“ Stalin, der darin nur am Rande vorkam, erzürnte. (S. 326) Heft 209 der neuen, Hamburger „Aktion“ birgt neben einer Skizze über Leben und Wirken Franz Pfemferts Auszüge aus dessen Schriften. Demnach war es Anliegen seiner Zeitschrift, für „eine Große Deutsche Linke“ zu wirken, ohne auf dem Boden einer bestimmten Partei zu INPREKORR 396/397 die internationale stehen, und eine Tribüne zu sein, „von der aus jede Persönlichkeit, die Sagenswertes zu sagen hat, ungehindert sprechen kann“. (S. 14 f.) Wer das von mehr als einer Handvoll heutiger Publikationsorgane erwartet, erwartet zuviel. Frühzeitig übte Pfemfert am Wilhelminischen Reich, seinem Militarismus und seiner imperialistischen Großkotzigkeit, aber auch an der bürokratisierten opportunistischen Sozialdemokratie Kritik, während er gleichzeitig für Rosa Luxemburg Partei nahm und sich mit Mehring und Liebknecht gut stand. Im Kriege sorgte er, seine Zeitschrift geschickt als scheinbar unpolitisch tarnend, für den illegalen Druck und Vertrieb der Juniusbroschüre. 1915 bildete sich um „Die Aktion“ eine winzige Linksgruppe, die „Antinationale Sozialistenpartei“. Sie solidarisierte sich drei Jahre später mit dem nun ebenfalls legalen Spartakusbund und trat zur Jahreswende der KPD bei. Das Zusammenwirken dauerte bis zum 2., Heidelberger Parteitag im Oktober 1919. Dort drängte die Zentrale um Paul Levi linksradikale Gegner von Parlamentswahlen und sozialdemokratischen Gewerkschaften zugunsten eines Rätesystems, mit ihnen fast die Hälfte der Parteimitglieder aus der KPD hinaus. Pfemfert gehörte dazu. Er beteiligte sich an der Gründung der Kommunistischen Arbeiter- 29 partei Deutschlands (KAPD) 1920, der Allgemeinen Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAUE) 1922 und des kurzlebigen Spartakusbundes II 1926. Artikel künden von seiner Grundauffassung, gleichermaßen gegen Kapitalismus und „Staatssozialismus“ zu sein. (Hierzu und zum Folgenden S. 49 ff.) Mit großer Schärfe polemisierte er gegen den „Salonkommunisten“ Levi und gegen Lenin, der in seiner Schrift „Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ für „straffste Zentralisation“ und „eiserne Disziplin“ eintrat und beim zweiten KI-Kongress im Juli/August 1920 entsprechende Aufnahmebedingungen durchsetzte. Taktisch hatten er und seine Anhänger Recht. Doch erwiesen sich seit Stalins Alleinherrschaft Bedenken Pfemferts gegen Abhängigkeit von Moskau und eine superstarke Zentralgewalt als wohlbegründet. Darüber, ob und wie „Die Aktion“ auf die von russischer Seite mitverursachten Aufstandsversuche von 1921 und 1923 in Deutschland reagierte, wird nicht berichtet. Ebenso bleiben Bolschewisierung und Stalinisierung, der Feldzug gegen „Rechte“, „Versöhnler“ und von Moskau unabhängige Ultralinke sowie der verhängnisvolle Kurs dem „Sozial“- und „Nationalfaschismus“ gegenüber unerörtert. Wie viele glaubte Pfemfert, die Todeskrise des Kapitalismus sei eingetreten, dieser werde nicht aus ihr herauskommen. (S. 92) Er trat jedoch dafür ein, SPD und Zentrum durch das Versprechen parlamentarischer Unterstützung seitens der KPD zum Mitwirken bei der Abwehr einer Hitlerdiktatur zu bewegen. (S. 78) Die trostlosen Exiljahre werden auch hier erwähnt. Äußerungen zum VII. Weltkongress der KI 1935 und zur Volksfront, zum zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegsordnung fehlen. Doch wird Pfemferts 1936er Versuch beschrieben, Freunde der UdSSR zur gebührenden Antwort auf den ersten Moskauer Schauprozess zu bewegen. Sie dürften nicht die „Sache der Freiheit und konzessionslosen Wahrheit“ preisgeben, indem sie angesichts der faschistischen Gefahr das berüchtigte „kleinere Übel“ in der Sowjetunion stützten, „das tatsächlich grässliches Unheil ist“. Pfemfert regte einen Gegenprozess an, um Trotzki Gelegenheit zu geben, „alle Verleumdungen einwandfrei zu entlarven“. (S. 101) Der Vorschlag wurde ohne Hilfe der Angesprochenen in Amerika realisiert. Nur ganz wenige äußerten sich ähnlich wie Pfemfert. Der Humanist Heinrich Mann indes tat den tiefsten Fall seines Lebens. In der Prager „Neuen Weltbühne“ bekundete er seinen Glauben an die Moskauer Prozesslügen: „Wenn aber – zum Schaden der Revolution – Verschwörer auftraten, mussten sie, zum Nutzen der Revolution, schnell und gründlich verschwinden.“ Pfemfert hielt dies für „genauso ungeheuerlich und unheimlich wie das gesamte Moskauer Schaustück“. (S. 105 bzw. 107) Die Ramm-Biographie enthält ein weiteres interessantes Detail: 1951 gaben Margarete Buber-Neumann und Babette Gross-Münzenberg eigenmächtig eine neue Zeitschrift als angebliche Fortsetzung der „Aktion“ heraus. Pfemfert strengte einen Urheberrechtsprozess an. Als der Schwächere verlor er diesen und hatte nicht mehr die Kraft, literarisch zu antworten. Gleich der Biographie kündet das Heft von Vorgängen und Personen in einer Zeit, die längst vergangen ist, die viele vergessen oder nie gekannt haben. Dennoch scheinen die Ereignisse aktuell zu sein. Vielleicht deshalb, weil es damals ebenfalls große Umbrüche, verlorene Illusionen und extrem harte Realitäten gab. Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben. Edition Nautilus, Hamburg 2004, 592 Seiten Die Aktion. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, Nr. 209, Hamburg 2004, 112 Seiten INPREKORR 396/397 die internationale Thierry Jouvet – Michel Rovère François Sabado Unser Genosse Thierry Jouvet ist am 21. September im Alter von 52 Jahren verstorben. Er war nicht lange nach dem Mai 68 der Ligue communiste beigetreten. Ich habe ihn als Schüler am Lycée Saint-Louis in Paris kennen gelernt. Sehr schnell hat Michel Rovère (so lautete sein Name in der Organisation) sich auf internationale Arbeit spezialisiert. Im Team der Wochenzeitung Rouge nahm er einen wichtigen Platz ein. In einer von verstärktem Aktionismus gekennzeichneten Zeit zeichnete er sich dadurch aus, dass er Theorie, Schulungen, Diskussionen über grundlegende Fragen wichtig nahm. Er war allerdings kein vertrockneter Theoretiker. Ihm waren auch ein Sinn für Gastronomie und eine große Liebe zu Musik und Kunst eigen. Rovère verschlang Dutzende von Büchern, Artikeln, Papieren zu jedem Thema, mit dem er sich beschäftigte. Als Journalist bei Rouge, erst der Wochen- und dann der Tageszeitung, berichtete er über die Entwicklungen der portugiesischen Revolution und die Krisen und Spannungen des Übergangs in Spanien nach Francos Tod. Vor allem aber sorgte er dafür, dass wir die iranische Revolution entdeckten. Ich erinnere mich an seine Artikel und Reportagen über den Aufstand in Teheran oder über das Entstehen der Schouras, der „islamischen“ Arbeiterräte in den Erdölbetrieben. In diesen Jahren, von 1978 bis 1981, leitete er die Zeitschrift Inprecor und gehörte er zur Tagesleitung der IV. Internationale.1 Rovère war vor allen Dingen ein aktives Mitglied. Als die Ligue in den achtziger Jahren Schritte zum Aufbau von Strukturen in großen Industriebetrieben beschloss (Ge1 Er sorgte für eine Professionalisierung des damals alle zwei Wochen erscheinenden Organs des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und war außerdem an den Vorbereitungen zur Herausgabe von International Viewpoint beteiligt (Anm. d. Übers.). nossInnen sollten sich dort einstellen lassen), war er zur Stelle und ging als Arbeiter in das Chemiewerk von RhônePoulenc in Vitry. Seine Arbeit war besonders unangenehm (Schichtarbeit). Er beteiligte sich aktiv an dem Aufbau der Zelle bei Rhône-Poulenc und des Bezirksverbands Val-deMarne der LCR sowie an der gewerkschaftlichen Aktivität in seinem Betrieb. Zu dieser Zeit wurde er auch in das Zentralkomitee der LCR gewählt. Einige Jahre lang arbeitete er in diesem Bereich, doch machte er dann aus gesundheitlichen Gründen eine Umschulung; er stellte seine Erfahrung und seine Kompetenz in den Dienst der Personalvertretungen. Er arbeitete in einer Beratergruppe, die auf Anfrage von Betriebsräten bei der Analyse von Unternehmen oder Konzernen behilflich war, insbesondere bei Umstrukturierungen oder im Fall von geplanten Massenentlassungen. Außerdem beteiligte er sich an der Schulung der Mitglieder und Kader und in der Ökonomie-Arbeitsgruppe der LCR mit. Das letzte Mal habe ich ihn im Juni gesehen. Er war bereits schwer krank; trotzdem wollte er unbedingt ein Arbeitstreffen mit Olivier Besancenot machen, um ihm Argumentationshilfen zum Thema Europa zu geben. Er sprach davon, wie wichtig die Weitergabe des revolutionärmarxistischen Erbes an die jüngeren Generationen ist, und entwickelte Vorstellungen, wie er dazu beitragen könnte – wie immer offen und jedem Dogmatismus fremd. Thierry Jouvet – Michel Rovère hat bis zuletzt an unseren Kampf gedacht, den wir 35 Jahre lang gemeinsam geführt haben. Er wird mir fehlen, wie seinen zahlreichen FreundInnen, GenossInnen, KollegInnen. Übersetzung: Friedrich Dorn. Spendenaufruf für das International Institute for Research and Education (IIRE): Es gilt weiterhin, die Infrastruktur zu erhalten Auch dieses Jahr wurden einige Renovierungsarbeiten am International Institute for Research and Education (IIRE, Amsterdam) durchgeführt. Aber schon sehr früh ist unseren Freundinnen und Freunden vom Institut das Geld ausgegangen. Wichtige Maßnahmen zum Erhalt des Bauwerks wie auch zur Erweiterung der Infrastruktur sind weiterhin erforderlich, um dieses wichtige Institut auch in Zukunft für Seminare verschiedenster Art nutzen zu können. Hier führt die IV. Internationale jedes Jahr mehrere Schulungen durch („Nord-Süd“-Schulungen, Frauenseminare, Lesbian&Gay-Seminare, Ökonomieseminare, Jugendschulungen usw.). Das Haus beherbergt das Schulungszentrum Ernest Mandel, steht aber auch anderen, befreundeten Organisationen offen und ist in den 30 vergangenen 20 Jahren von Hunderten von AktivistInnen aus der ganzen Welt genutzt worden. Wer noch vom reichlich fließenden Weihnachtsgeld was übrig hat (was mit Sicherheit für die meisten zutrifft), der/die möge bitte umgehend spenden auf eines der folgenden Konten: Postgirokonto 2079 557 (IIRE, Amsterdam). In Deutschland: Konto Nr. 43 43 83 00 04 (P. Berens; Stichwort: IIRE) bei der Volksbank Rhein-Ruhr, BLZ 350 60 386 In der Schweiz: Kto. Nr. 40-8888-1. COOP-Bank, 266233.290005-6 (Förderverein des Studienzentrums, Stichwort: E.Mandel/IIRE) INPREKORR 396/397 IV. INTERNATIONALE Fortsetzung von Seite 18 Die „Hagana“ – die zionistische „Selbstschutzorganisation“ – begann uns auszubilden: Revolver, Handgranaten, Gewehre, Maschinenpistolen. Aber wer war der Feind? Das Dorf Karkur, wo unser Kibbuz damals war, lag an der Grenze des jüdischen Siedlungsgebietes. Als ich 1933 nach Palästina kam, lebten 175 000 Juden unter 1,5 Millionen Arabern. Der „Haschomer Hazair“, die linkssozialistische, stark stalinistisch beeinflusste Kibbuzbewegung, wollte, dass sich die arabischen zusammen mit den jüdischen Arbeitern in einer gemeinsamen Klassenorganisation, der „Histadruth“ (Gewerkschaft) zusammenschließen. Der „Haschomer Hazair“, dem auch mein Kibbuz angehörte, erwartete, dass eines Tages ein „binationaler“ arabisch-jüdischer Staat in Palästina entstehen wird. Beides wurde von der sozialdemokratischen Mehrheit in der Histadruth, der Mapai, abgelehnt. Wenn man in einem solch armen Land wie in Palästina einen jüdischen Staat mit einer jüdischen Arbeiterklasse und nicht nur eine weiße Siedlerherrenschicht wie in Südafrika schaffen wollte, konnte dies nur auf Kosten der arabischen Bevölkerung gehen. Darum wurde propagiert: „Kauft die Produkte des Landes.“ Das waren die jüdischen Produkte, die teurer waren als die arabischen. „Erobert die Arbeit“ sagte man uns, also: ersetzt die billige, unorganisierte arabische Arbeit durch teure, organisierte jüdische (wobei man gleichzeitig die Histadruth, die Gewerkschaftsorganisation, für die Araber versperrte!). „Erobert den Boden“ hieß die dritte Losung. Man kaufte von den reichen arabischen Effendis, den Großgrundbesitzern, den Boden mit Hilfe des jüdischen Nationalfonds, der ihn ausschließlich an jüdische Siedler verpachtete. Die armen arabischen Fellachen, die meist Pächter waren, wurden mit Geld abgefunden, mit dem sie wenig anfangen konnten. Die Haltung der Mapai war durchaus schlüssig. Man musste bereits innerhalb des arabischen Palästina einen geschlossenen jüdischen Wirtschaftssektor schaffen und diesen immer mehr ausweiten, wenn man eines Tages einen jüdischen Staat haben wollte. Unterstützung hierfür kam von zwei Seiten: INPREKORR 396/397 vom britischen Imperialismus, der trotz aller Schwankungen stets auf der Seite der Zionisten blieb, und von den amerikanischen Juden, die Geld spendeten. Dass dieser Plan aber überhaupt Erfolg haben konnte, verdanken die Araber Hitler. Er hatte die sich auflösenden, in voller Assimilation befindlichen deutschen Juden zunächst ins Ghetto und später in die Todes- und Vernichtungslager geschickt. Für sie, aber auch für die nichtzionistische jüdische Arbeiterklasse in Osteuropa, wurde Palästina zum einzigen Schlupfloch, weil die so humanen demokratischen imperialistischen Staaten, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise, sich weigerten, jüdische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen. Eines Tages, als ich im Kibbuz hinter unserer holzverkleideten steinernen Schanze auf Wache stand, sah ich Flugzeuge, die wie Raubvögel immer wieder auf einen kahlen Berg niederstießen. Dann folgten Maschinengewehrgarben, die mit einzelnen Schüssen beantwortet wurden. Einige Stunden später kamen britische Soldaten zu uns und erzählten, sie hätten eine arabische „Bande“ – etwa 6o Menschen – wie Hasen abgeschossen. Die Briten bewunderten den Mut dieser Männer, die versuchten, mit ihren Gewehren die britischen Flugzeuge zu treffen und die sich, wenn man sie verwundet gefangen nehmen wollte, noch mit ihren „Djabries“, den arabischen Krummdolchen, auf die Soldaten stürzten. (Dieser Tage las ich im Stern, Nr.4/ 78, der GSG-Kommandeur Wegener habe sich in Mogadischu überrascht gezeigt über „die heftige Gegenwehr der Palästinenser“. Er habe geglaubt, dass Araber nicht sehr mutig seien. Jetzt kämpften sie wie Japaner auch in aussichtsloser Position weiter. Wegener: „Das war neu und erschreckend. Die Leute hatten eine riesige Energie und einen fanatischen Hass.“ Niemand fragt danach, ob die Wurzel dieses Hasses nicht in der unterdrückten Freiheitsliebe dieses Volkes liegt, sowie in dem unbändigen Zorn darüber, dreißig Jahre lang in Lagern zu vegetieren.) Einige von uns im Kibbuz begannen damals Fragen zu stellen über unsere „Feinde“. Wir kamen zu dem Ergebnis: diesen Menschen geschieht unrecht. Wir, die wir selber Opfer Hitlers sind, verüben an ihnen Unrecht. Wenn wir es ernst meinen mit unserem Internationalismus, müssen wir einen Weg suchen zu diesen arabischen Massen. Wir wollten den Kibbuz nicht verlassen, der unsere Heimat, unsere Lebensform, unsere Familie war. Bald aber mussten wir begreifen, dass, wer nicht mehr Zionist ist, nicht im Kibbuz leben darf, der trotz seiner fortschrittlichen gesellschaftlichen Experimente die Speerspitze des Zionismus bildet. Standen nicht auch die katholischen Klöster im Mittelalter, diese wunderbaren Kommunen, die alle damaligen Schätze der menschlichen Kultur aufbewahrten und mehrten, im Dienste der feudalistischen Kirche, die eine der furchtbarsten Unterdrückungsmächte war, gegen die sich Reformation und Bauernaufstände richteten? Wenige Monate nachdem wir den Kibbuz verlassen hatten, zwei Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden drei von uns Ausgeschlossenen verhaftet und interniert. Administrativ, ohne jedes Gerichtsverfahren, erhielten wir 12 Monate zudiktiert, die beliebig verlängert werden konnten. Wir kamen zum ersten Mal mit dem britischen Imperialismus in Berührung, der jüdische Nichtzionisten als Gefahr ansah. Im Polizeigefängnis von Haifa wurden etwa 30 Häftlinge so eng in einem Raum zusammengepfercht, dass man sich nicht einmal beim Schlafen ausstrecken konnte. Wir lagen nachts auf dünnen Matten, die von Gefangenen aus Lumpen geflochten waren; tagsüber saßen wir auf dem Zementboden zusammen mit Kriminellen, mit Menschen, die offene Tbc, Geschlechtskrankheiten, die Krätze oder Läuse hatten. Hier gab es zwischen Juden und Arabern keine Unterschiede mehr, ebensowenig wie zwischen Politischen und Kriminellen. In der Zelle gab es weder Tisch noch Stuhl. In der Ecke stand ein offener Pisskübel. Einige Tage darauf wurden wir in die Festung Akko eingeliefert. Eine Nacht lang war ich dort mit Mitgliedern einer arabischen „Bande“ zusammen, die wir heute Partisanen oder Freischärler nennen würden. Ihre Moral, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie diskutierten, ihr Kampfwille – einige von ihnen waren zum Tode verurteilt und wurden hingerichtet – hinterließen einen tiefen Eindruck auf mich. 31 IV. INTERNATIONALE Tags darauf wurden wir von einem Aufseher instruiert, wir würden nun ärztlich untersucht und müßten Fragen mit „Yes Sir“ beantworten. Wir standen in einer langen Reihe, wurden einem britischen Militärarzt vorgeführt, der fragte: „Everything alright?“ Wir antworteten: „Yes Sir“. Die medizinische Inspektion war beendet. Nachdem 12 Monate meiner Internierung abgelaufen waren, wurde die Haft automatisch für weitere 12 Monate erneuert. Mit uns zusammen – wir waren inzwischen nach Sarafand überführt worden und kamen später nach Masra – war ein Sekretär der Palästinensischen Kommunistischen Partei, Meir Slonim, interniert seit sechs Jahren, ohne Prozeß, ohne Urteil. Eines Tages wurde eine Gruppe jüdischer Strafgefangener – 43 Mann – in das benachbarte Lager eingeliefert. Sie waren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie britischen Soldaten mit voller Bewaffnung in die Arme gelaufen waren. Ihr Anführer hieß Moshe Dayan1. Natürlich wurden sie lange vor Ablauf ihrer Strafe entlassen. Unter uns Häftlingen übten wir Solidarität, und da wir als Internierte das Recht hatten, Geld zu erhalten und zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen, schmuggelten wir einen Teil davon in das Lager der Strafgefangenen, in dem auch Mosche Dayan saß, mit dem ich über den Zaun hinweg fruchtlose Diskussionen führte. Zusammen interniert mit uns waren auch die bedeutendsten Führer der rechtsradikalen zionistischen Terroristen, wie Abraham Stern, Abrascha Zehner und David Razill, Vorläufer Begins als Führer des „Irgun“. Die Linken im Lager organisierten gemeinsam mit den arabischen Häftlingen, die zu hunderten interniert waren, einen Hungerstreik, um endlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen. Wir wurden zwangsernährt und erhielten nach sieben Tagen das Versprechen, dass wir vor eine Kommission gestellt würden, die unsere Fälle überprüfen werde. 1 Moshe Dayan war später einer der einflussreichsten Militärs und Politiker bei der (militärischen) Durchsetzung des Staates Israel. Er war Mitglied der Mapai und der Haganah, später der Rafi („Arbeiterliste“) und ab ihrer Gründung 1968 der „Israelischen Arbeitspartei“; von 1953 – 58 Generalstabschef, leitete den Sinaifeldzug; 1959-64 Landwirtschaftsminister, 1968-74 Verteidigungsminister, 197779 Außenminister. Anmerkung der Redaktion. 32 In den zweieinviertel Jahren, die ich interniert war, habe ich nicht nur Sprachen gelernt, eine Art Lageruniversität mitorganisiert, sondern auch erfahren, was die drei Buchstaben CID (Criminal Investigation Department) bedeuten, die ich vor meiner Verhaftung gar nicht kannte. Sie bedeuteten, dass Häftlingen Holzstäbchen unter die Fingernägel getrieben wurden, dass man Feuer unter ihren Fußsohlen anzündete, dass sie an den Händen aufgehängt wurden, bis sie vor Schmerz brüllten; und all das, um Aussagen von ihnen zu erpressen. Ich lernte, dass der demokratische Imperialismus im Kampf für die Erhaltung seines Imperiums manchmal nicht weniger zimperlich ist als der Faschismus, der auszieht, ein neues Imperium zu erobern. Drei Monate nach dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion kam ich endlich vor eine britische Untersuchungskommission. Sir Hartley Shawcross, ein in Gießen geborener englischer Jurist, der 1945 Labour-Abgeordneter, dann Kronanwalt und später Hauptankläger für Großbritannien vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg war, führte den Vorsitz. Er wollte wissen, was eigentlich gegen mich vorliege, und war ebenso wie mein Anwalt, der bedeutende jüdische Arabist Goitein, über die „Beweise“, die von der Polizei geliefert wurden, überrascht, ja empört. Shawcross verfügte meine Freilassung. In den zweieinviertel Jahren meiner Internierung hatte nur ein Vetter von mir es gewagt, mich ein einziges Mal zu besuchen. Jeder, der um die entsprechende Erlaubnis bat, wurde von der CID darauf aufmerksam gemacht, welchem Risiko er sich damit aussetzt. Nach meiner Entlassung stand ich dennoch lange unter Polizeiaufsicht, was mich nicht daran hinderte, nun zum ersten Mal wirklich mit arabischen Linken Verbindung aufzunehmen, unter denen ich Freunde gewann. Während des Krieges kamen wir über sympathisierende marxistische Soldaten mit der ägyptischen Literaturzeitschrift Megalla Gedidah (Neue Zeitung) in Kontakt. Wir traten in eine politische Diskussion mit den Redakteuren ein, von denen 1947 einige an der ersten großen Massenstreikbewegung ägyptischer Arbeiter Anteil hatten. Als das Kriegsende kam, bereitete ich mich auf die Rückkehr nach Deutschland vor. Einige meiner Freunde waren in die Armee, zur Marine oder zur UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegangen und setzten sich in Europa ab. Eine internationalistische politische Arbeit in Palästina schien mehr und mehr aussichtslos. Die terroristischen Attentate des rechtsextremen Irgun Zwai leumi (Nationale Militärorganisation) – einer ihrer Führer war der jetzige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin –; die Anschläge der Stern-Organisation, das britische Hauptquartier in Jerusalem, das King David Hotel, wurde in die Luft gejagt, wobei fast 100 Menschen umkamen; der Terror vor den Raffinerien von Haifa, wo in der Schlange der dort nach einem Tag Arbeit anstehenden arabischen Fellachen eine Bombe explodierte, die mehr als 40 Menschen zerriss; schließlich der blutige Pogrom gegen das arabische Dorf Dir Yassin, in dem auch Frauen und Kinder ermordet wurden, und viele andere Attentate ließen eine friedliche Lösung immer weniger zu. Als ich sah, wie meist orientalische Juden aus arabischen Dörfern bei Jerusalem fortschleppten, was nicht nietund nagelfest war, oder armselige Behausungen niederrissen, erinnerte ich mich wieder an den Pogrom der Polen. Nur: Hier wurden Juden zu Pogromisten. 1947 beschlossen die Vereinten Nationen – die USA gemeinsam mit der Sowjetunion – die Zweiteilung Palästinas. Die Araber beantworteten dies mit einem Generalstreik. Tagtäglich explodierten nun arabische oder jüdische Bomben, wurden Menschen ermordet. Wenn man sich morgens verabschiedete und zur Arbeit ging, sagte man sarkastisch: „Auf Wiedersehen in der Abendzeitung“. Dort wurden die Bilder der Ermordeten veröffentlicht. Anfang 1948 kam ich mit einem Touristenvisum und einem Pass des britischen Mandatsgebiets Palästina in Frankreich an. Von dieser Zeit an durchlebte ich zuerst in Frankreich, dann in Belgien das Schicksal eines Emigranten, dessen Mandatspass seine Gültigkeit verlor und der stets im Clinch mit den Polizeibehörden lag, die ihn ausweisen wollten. Denn die britische Regierung hatte beschlossen, ihre Truppen aus dem Mandatsgebiet Palästina am 14.5.1948 zurückzuziehen. Am gleichen Tag wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Truppen der arabischen StaaINPREKORR 396/397 IV. INTERNATIONALE ten, die versuchten, die Entstehung des Staates zu verhindern, wurden geschlagen. In Panik flohen hunderttausende Araber in die Nachbarstaaten. Sie gingen in die Diaspora wie die Juden 1900 Jahre vor ihnen. 1933 war ich als Jude in das arabische Palästina gekommen. Als ich 1948 das Land verließ, waren die Araber zu Juden geworden. Ich kehrte im November 1948 als überzeugter Internationalist nach Deutschland zurück. In der falschen Hoffnung, die Geschichte würde dort weitergehen, wo sie nach der Revolution von 1918 unterbrochen worden war. 3. Mag sein, dass es wirklich Menschen gibt, die niemals schwanken. Die Heiligen der katholischen Kirche etwa, oder die Bolschewiken aus der Retorte der stalinistischen Geschichtsfälscher. Aber die Entwicklung des Nachkriegseuropa, vor allem die enttäuschte Hoffnung auf das Verschwinden der blutigen Herrschaft Stalins nach dem Krieg und des Sieges der sozialistischen Demokratie in Europa und in der Sowjetunion machten mir schwer zu schaffen. Drei Monate vor dem Tod Stalins veröffentlichte ich eine kleine Schrift: Aufstieg und Niedergang des Stalinismus – Kommentar zum kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Unter den Linken in der Bundesrepublik, aber vor allem unter Kommunisten in der DDR, wo die Tradition der marxistischen Analyse durch den Faschismus und den Stalinismus angeschlagen war, löste diese Schrift Diskussionen aus. Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: „Revolutionärer und bürokratischer Terror“. Es beginnt mit der Feststellung, daß, wie immer man subjektiv den Terror, die Gewaltanwendung in der Geschichte verabscheuen mag, sich nicht leugnen lasse, dass die Gewalt zuweilen eine Hebamme der Geschichte gewesen ist. „Angefangen von der puritanischen englischen Revolution bis zu den amerikanischen Befreiungskriegen gegen die Engländer, dem Kampf um die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten Amerikas oder der Französischen Revolution hat die Gewaltanwendung eine Rolle gespielt. Gewalt wird in der INPREKORR 396/397 gleichen Weise vom Chirurgen angewandt, der einen Patienten mit einem Skalpell behandelt, und vom Mörder, der sein Opfer mit einem Dolch tötet. Man kommt also um die Frage nicht herum, wer zu welchem Zweck Gewalt anwendet. Wie unterscheidet man jedoch die revolutionäre von der reaktionären Gewalt? Wie kann man feststel- auch nachher vielleicht etwas anderes genügt.“ Wie aber sah es mit der Schreckensherrschaft der russischen Revolution aus? Ich schrieb: „Man kann ohne jede Übertreibung feststellen, dass die vom Stalinismus angewandten Mittel den von ihm selbst Gewaltanwendung spielte bei der Befreiung der Sklaven eine wichtige Rolle len, ob Gewaltanwendung dem Fortschritt dient oder den Fortschritt behindert?“ Ich zitierte, was Mark Twain, einer der aufrichtigsten amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, ein wahrhafter Verfechter der amerikanischen Demokratie, über die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution in seinem Buch Ein Yankee am Hofe von König Artus schrieb: „Es gab zwei Schreckensherrschaften, wenn wir uns daran erinnern und es erwägen würden. Die eine verübte Mord in heißer Leidenschaft, die andere hatte tausend Jahre gedauert. Die eine verhängte Tod über zehntausend Personen, die andere über hundert Millionen, aber unser Schaudern gilt nur dem ,Schrecken des kleineren Terrors, des momentanen Terrors sozusagen: Was aber ist der Schrecken eines raschen Todes durch das Beil, verglichen mit dem lebenslangen Sterben durch Hunger, Kälte, Schimpf, Grausamkeit und an gebrochenem Herzen?. . . Trotz allem scheinheiligen Gewinsel vom Gegenteil hat noch kein Volk der Welt jemals durch gütliches Zureden und moralische Überredung seine Freiheit erlangt, da es ein unabänderliches Gesetz ist, dass jede Revolution, die Erfolg haben will, mit Blutvergießen beginnen muss, wenn angegebenen Zweck beständig verfehlen. Die Sowjet-Demokratie hatte sich als hinreichend erwiesen, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten. Aber um die Überbleibsel (der herrschenden Klassen) in der Wirtschaft und im zurückgebliebenen Bewusstsein der Menschen zu bekämpfen, braucht Stalin angeblich den gewaltigen Machtapparat seiner Geheimpolizei! In Wirklichkeit ist es so, dass das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen Gruppen die immer wieder aufflackernde Idee des echten Marxismus und Leninismus ist, der eben nie ausstirbt, weil er von der Sowjetwirklichkeit selbst tausendfach immer neu hervorgebracht wird: jene tiefe Sehnsucht der Massen zur Wiederbelebung der Demokratie in der Sowjetunion und das Drängen zur Beseitigung jener stalinistischen Kaste, die, ohne im wissenschaftlichen Sinne eine besitzende Klasse zu sein, zehnfach die Laster aller besitzenden Klassen enthält. Der stalinistische Terror, angeblich ein Mittel, die Klassenherrschaft zu beseitigen, ist in Wahrheit ein Mittel, das dieses Ziel beständig verfehlen muss, und insofern eben kein Mittel, das den Zweck heiligt, sondern ihn schändet... Der bürokratische Terror ist im Gegensatz zum revolutionären hinterhältig, inquisitorisch und unehrlich. Er 33 IV. INTERNATIONALE wendet sich mit größter Niedertracht gerade gegen jene, die sich weigern, in diesem Regime der Unterdrückung eine klassenlose sozialistische Gesellschaft zu sehen. Die Wahrheit ist der größte Feind der Bürokratie, aber sie kann auf die Dauer nicht mit terroristischen Methoden ausgerottet werden. Sie wird auch die stalinistische Geheimpolizei überleben.“ Das hat sie getan. Der 20. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Arbeiteraufstände in den Satellitenstaaten, jetzt die Charta 77, das Buch von Bahro, der Protest der 14 polnischen Kommunisten, die Entwicklung der Eurokommunisten bei all ihren Mängeln – all das bezeugt, dass ich mich nicht in allem geirrt habe, als ich drei Monate vor Stalins Tod den Niedergang des Stalinismus kommen sah. Dennoch, meine optimistische Zeitrechnung, meinen Optimismus in bezug auf die Entwicklung der Linken in den sozialdemokratischen Parteien muss ich revidieren. Die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens reicht eben nicht aus, um historische Prozesse an ihr zu messen, obwohl sich der Gang der Geschichte erheblich beschleunigt hat. Das macht uns ungeduldig. Was für den stalinistischen Terror gilt, trifft abgewandelt auch auf den individuellen Terror zu. Auch er verfehlt beständig den selbst angegebenen Zweck. Er führt nicht zur „Vernichtung des Klassenfeindes“, sondern hilft seine Herrschaft zu stabilisieren. Er fördert nicht das zurückgebliebene Bewusstsein der Massen, sondern er verwirrt es. Der individuelle Terrorist macht sich selbst zum Helden der Geschichte, anstatt die Klasse der Arbeitenden über ihre historische Aufgabe aufzuklären, sie ihr bewusst zu machen, damit sie selbst wieder als Held auf die Bühne der Geschichte tritt. Noch zweimal wurde ich nach der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mit dem Problem der Gewalt konfrontiert. Das eine Mal – ich war damals Sozialreferent im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik in Paris – als der Aufstand in Algerien ausbrach. Mir war, nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien, den Bombardierungen in Algerien wußte, unbegreiflich, dass die „Front de Libération Nationale“ und das algerische Volk all dem standhielten und nicht 34 zusammenbrachen; dass die Algerische Befreiungsfront, die seit 1954 pausenlos einem gnadenlosen Terror ausgesetzt war, nicht aufgab. In einem Pariser Cafe stellte ich diese Frage der jungen, algerischen Schriftstellerin Assja Djebar. Sie antwortete: „Wenn ein algerischer Fellache für den FLN rekrutiert wird, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben ein paar Schuhe und ein Gewehr. Damit wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewusstsein, das er hierdurch gewinnt, das Gefühl, dass er für die Befreiung seines Volkes kämpft, jetzt kämpfen kann, lässt ihn alles ertragen bis zum Sieg.“ Viele Jahre später kam dieser Sieg, wenn auch wiederum nicht so, wie ihn viele erhofft und erwartet hatten: als Sieg des Sozialismus in Algerien. Aber dennoch: Algerien wurde frei. Das zweite Mal trat mir die Gewalt in Chile entgegen, als ich zwei Monate nach dem Militärputsch für die Gewerkschaftszeitung Metall nach Chile ging. Ich fragte chilenische Gewerkschafter, ob man der Regierung Allende vorwerfen könne, sie habe die Verfassung verletzt, wie das damals ein großer Teil der bürgerlichen Presse in der Bundesrepublik behauptete. Sie antworteten: „Wenn die Regierung Allende zugrunde gegangen ist, so höchstens darum, weil sie sich allzu sehr an die Verfassung gehalten hat. Wir, die Gewerkschaften, wollten rechtzeitig der Sabotage der Unternehmer und dem Boykott der von ihnen aufgehetzten Lastwagenbesitzer und Ärzte entgegentreten. Wir forderten, den Kampf gegen die Terroristen von ,Patria e Libertad‘ aufzunehmen. Aber die Regierung Allende ließ im Parlament ein Gesetz verabschieden, das die Suche nach Waffen erleichterte. Gefunden wurden seltsamerweise nur die spärlichen Waffen, die Arbeiter zu ihrem eigenen Schutz in den Betrieben hatten, während die Rechtsextremisten bis an die Zähne bewaffnet blieben. Als der Putsch der Junta begann, befahl man uns, die Betriebe zu besetzen. Wir haben es getan. In der Hoffnung, dass die christlich-demokratische Partei von Eduardo Frei uns gegen die putschenden Generäle ebenso unterstützen würde, wie wir ihn unterstützt hatten, als er an der Regierung war und General Viaux gegen ihn putschte. Aber er hat geglaubt, die Junta werde ihm nach ihrem Putsch die politische Macht überreichen. Sie denkt nicht daran. Wir aber waren in den Betrieben ohne Waffen, ohne Schutz, ohne die Möglichkeit, uns zu verteidigen. Es war falsch, dass die Regierung Allende die Armee in die Politik hineingezogen hat, dass sie immer weiter zurückwich. Sie hätte mehr Vertrauen zu uns, zu den Gewerkschaften, zu den in den Betrieben Beschäftigten haben müssen, die bereit waren zu kämpfen, die aber mit leeren Händen nicht kämpfen konnten... Mancher von uns denkt heute: Hätte die Unidad Popular doch den Mut gehabt, zwei Dutzend Generäle und drei Dutzend Spekulanten so zu behandeln, wie man heute mit Tausenden von uns umgeht, dann hätte uns das viele Opfer und Qualen erspart.“ Ich fühlte mich wieder wie im Jahr 1933. Die politisch und militärisch unbewaffnete Gerechtigkeit hatte ihren Kampf gegen die waffenstarrende Ungerechtigkeit verloren. 4. Aber aus welchen Quellen speist sich trotz aller Niederlagen meine Zuversicht in den Sieg des Sozialismus, den wir wollen? Die Befreiung Algeriens, Vietnams ist nur ein Teil der Antwort. Ein anderer Teil liegt in der Hoffnung, die jene vernichtete, in Gaskammern erstickte jüdische Arbeiterklasse Osteuropas bis zum letzten Atemzug, bis in ihrem Todesgesang aufrecht erhalten hat. Die Hymne des „Bund“ hatte in seltsam geheimnisvoller Weise einiges davon vorweggenommen, vorausgeahnt. In freier Übersetzung beginnt sie: „Vielleicht bau ich in der Luft nur meine Schlösser. Vielleicht ist mein Gott überhaupt nicht da. Im Traum wirds leichter mir, im Traum wird es mir besser. Im Traum ist der Himmel blau und völlig klar.“ Wer nicht im KZ ermordet, nicht in den Gaskammern umgebracht wurde, wer nicht in imperialistischen Kriegen gefallen ist, hat kein Recht dazu, den Kampf für den Sozialismus aufzugeben. Lenin, der größte revolutionäre Realist war es, der sagte: „Der Mensch muss träumen können.“ Im Frühjahr 1978 INPREKORR 396/397 BRASILIEN Die Parteifrage in Zeiten der Lula-Regierung Die kürzlich erfolgte Gründung einer neuen sozialistischen Partei in Brasilien – der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) – durch DissidentInnen der Arbeiterpartei (PT) und der Vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU) hat in der brasilianischen Linken eine heftige Diskussion über die Möglichkeiten und die Richtigkeit des Entscheids, erneut eine Partei aufzubauen, ausgelöst. Im Folgenden veröffentlichen wir verschiedene Standpunkte dazu. Zuerst eine Reportage über die Gründungsversammlung der neuen Partei in Form eines Interviews mit unserer im Dezember letzten Jahres aus der PT ausgeschlossenen Genossin Heloísa Helena (vgl. Inprekorr 386/387, S. 3), Senatorin des Bundesstaates Alagoas und Mitglied der Tendenz Sozialistische Demokratie, die zur Zeit den Vorsitz der PSoL inne hat. Die anderen drei Artikel kritisieren diesen Schritt aus verschiedenen Blickwinkeln. Der erste Artikel stammt von einem führenden Genossen der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT, der zweite ist das Editorial einer von Linkskatholiken herausgegebenen Wochenzeitung und der dritte ein Beitrag aus der Monatszeitung der Tendenz Sozialistische Demokratie in der PT, in der die GenossInnen der Vierten Internationale organisiert sind. (inprecor) Dissidenten sammeln sich in der PSoL, um die sozialistischen Ideale wiederzubeleben Maurício Hashizume Eine neue Linkspartei unter Führung von Abgeordneten, die aus der PT ausgeschlossen wurden, hat am vergangenen Wochenende einen bedeutenden Schritt vorwärts vollzogen. Rund 700 GenossInnen haben sich zum ersten Treffen der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL, das sich wie sol – Sonne ausspricht) in der Hauptstadt Brasilia versammelt, um den Namen der Partei zu beschließen, die Statuten festzulegen und ein provisorisches Programm zu verabschieden. Die Organisation, die sich im Spektrum der Linksparteien als Alternative versteht, hat bereits eine Vorsitzende: die Senatorin Heloísa Helena, die noch für die PT im Bundesstaat Alagoas gewählt wurde, heute aber keiner offiziell anerkannten Partei angehört. An ihrer Seite in der neuen Parlamentsgruppe finden sich weiter ehemalige PT-Abgeordnete wie Babá (Bundesstaat Pará), João Fontes (Bundesstaat Sergipe) und Luciana Genro (Bundesstaat Rio Grande do 35 Sul) – Letztere ist übrigens die Tochter von Erziehungsminister Tarso Genro. Sie alle haben einen Prozess der politischen Isolation durchgemacht, nachdem sie im Kongress gegen die Reform der Sozialversicherung gestimmt hatten. Diese Ausgrenzung gipfelte im Dezember 2003 an der nationalen PTLeitungssitzung in ihrem Ausschluss, der mit disziplinarischen Gründen und mangelnder Loyalität gegenüber der Partei begründet wurde. Die meisten der Anwesenden des PSoL-Gründungstreffens kommen aus der Strömung Sozialistische Demokratie (DS) der PT, die sich in der neuen Organisation in der Tendenz namens Rote Freiheit zusammengeschlossen haben, sind Dissidenten der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) und der Vereinten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU), Funktionäre der Beamtengewerkschaft (vor allem Lehrer) oder AktivistInnen der Bewegung Boden, Arbeit und Freiheit (MTL) oder unabhängiger Gruppen. Nach den Worten eines der 16 Mitglieder des Exekutivausschusses der neuen politischen Kraft sehen die meisten PSoL-Mitglieder in diesem Schritt den „letzten Versuch“, eine institutionelle Partei aufzubauen. Unter den der neuen Gruppe beigetretenen „Persönlichkeiten“ finden sich auch der Soziologe Chico de Oliveira und Prof. Paulo Arantes. Um vollberechtigt an den Wahlen teilnehmen zu können, muss die PSoL noch ihre „Legalisierungskampagne“ erfolgreich über die Runden bringen, d. h. die für die Registrierung nötigen Unterschriften sammeln. „Am Wahltag für die Kommunalwahlen im November 2004 werden ‚PSoL-Brigaden‘ im ganzen Land unterwegs sein, um die nötigen 438 000 Unterschriften zu sammeln. Wir werden in allen Bundesstaaten Seminare durchführen – um den Formalitäten zu genügen und die erforderlichen ,bürokratischen HinderINPREKORR 396/397 BRASILIEN nisse‘ zu überwinden, gleichzeitig aber auch das angenommene provisorische Programm und die Statuten zu verfeinern. Im Januar [2005] werden wir während des Weltsozialforums in Porto Alegre unser zweites nationales Treffen abhalten“, meint die Vorsitzende der neuen Partei. Heloísa Helena:Die anderen Parteien erscheinen heute als Instrumente der triumphalistischen Propaganda des Neoliberalismus, da sie auf die eine oder andere Weise das von der Regierung Lula verfolgte neoliberale Projekt unterstützen. Wer immer versucht, die Bedeutung der Lula-Regierung zu ana- Heloísa Helena, die 2006 möglicherweise für die PSoL als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen gehen wird Senatorin Heloísa Helena, die nach eigener Aussage „die besten Jahre ihres Lebens“ dazu beigetragen hat, die PT aufzubauen, kritisiert an der Regierung, dass diese heute „dieselbe neoliberale Politik vorantreibt, der in der Vergangenheit durch die Opposition der PT, sei es in sozialen Bewegungen oder im Parlament, Schranken gesetzt wurden“. „Wir fühlen uns daher genötigt, ein politisches Refugium aufzubauen und das historische Banner der Arbeiterklasse und all dessen, was ideologisch und programmatisch im Verlauf der Geschichte der sozialistischen Linken erarbeitet wurde, zu bewahren“, meint sie. Nachfolgend veröffentlichen wir Ausschnitte aus einem Interview, das Heloísa Helena, die 2006 möglicherweise für die PSoL als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen gehen wird, kurz nach der ersten nationalen Versammlung der jungen Partei der Agentur Carta Maior (ACM) gegeben hat. Agentur Carta Maior (ACM):Worin liegt der Hauptunterschied zwischen dem Programm der PSoL und den bestehenden Linksparteien? 36 lysieren und einen Funken gesunden Menschenverstand hat, wird – ob Sozialist oder Kapitalist – erkennen, dass die Unterwerfung unter die Parasiten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderer multilateraler Finanzinstitutionen und die Abzweigung staatlicher Gelder (in der Höhe von 60%) zugunsten der Spekulation andauert und Reformen durchgeführt werden, die nichts mit den Reformen des Staatsapparats gemein haben, die wir stets verteidigt haben. Wir verteidigen Reformen des brasilianischen Staates, der im Interesse einer Minderheit privatisiert wurde. Die von der Regierung Lula in Fortsetzung der Politik seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso eingeleiteten Reformen sind dagegen nichts als neoliberale Gegenreformen, die sich des einzigen Mechanismus der Senkung der Sozialausgaben bedienen, um die steigenden Finanzausgaben – ein Ergebnis der Wirtschaftspolitik und einer streng monetaristischen Politik – zu bedienen. Einerseits werden die ArbeiterInnen des öffentlichen Dienstes geopfert, wie dies bei der Rentenreform der Fall war, um die Spekulanten zu stützen, andererseits werden die staatlichen Ressourcen buchstäblich geplündert – 20 Prozent der Mittel für den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern bzw. Gemeinden wurden zweckentfremdet –, um einen Budgetüberschuss zu gewährleisten. ACM: Ist nichts mehr davon rückgängig zu machen? Besteht keine Chance mehr, dass die Regierung Lula angesichts der sozialen Spannungen ihren Kurs wechselt? H.H.: Ich hoffe für das Wohl Brasiliens und der Millionen von unterdrückten, ausgeschlossenen und marginalisierten Menschen in diesem Land, dass es den aktiven gesellschaftlichen Kräften gelingt, organisiert Druck zu machen, um Veränderungen herbeizuführen. Doch leider sind viele soziale Bewegungen verbürokratisiert, haben Regierungsaufgaben übernommen und bemühen sich vor allem darum, ihre Basis zu lähmen, um solche sozialen Spannungen zu verhindern. Natürlich will ich, dass sich die Dinge ändern. Doch angesichts der Maßnahmen, die von der Regierung bereits umgesetzt wurden, glaube ich nicht, dass es objektiv möglich ist, einen Kurswechsel durchzusetzen. Könnte ich an einen übermächtigen Gott glauben, würde ich mir wünschen, dass er der brasilianischen Bevölkerung die Kraft und Fähigkeit verleiht, zu kämpfen und die Regierung zu einem Kurswechsel zu zwingen. Doch leider gehe ich davon aus, dass die Regierung das Lager gewechselt hat. Aus diesem Grund fühlen wir uns gezwungen, dieses ‚Refugium‘ für die Linke aufzubauen. Denn wenn sie schon das Lager gewechselt haben, sollen sie sich nicht auf eine linke Tradition berufen können. Sie hätten einen Kongress einberufen, ihren sozialistischen Wurzeln abschwören und sich als Neoliberale oder als zynische Anhänger eines ‚Dritten Weg‘ oder irgendeines anderen programmatischen Denkens präsentieren müssen. Seit sie das Lager gewechselt haben, sind sie nicht mehr durch die brasilianische Bevölkerung und noch weniger durch die Linke legitimiert, die historischen Errungenschaften, die nicht durch die eine oder andere politische Persönlichkeit oder Partei, sondern durch heldenhafte Kämpfe, durch Blut, Schweiß und TräINPREKORR 396/397 BRASILIEN nen der ArbeiterInnenklasse und von SozialistInnen aus Brasilien, Lateinamerika und der ganzen Welt durchgesetzt wurden, zunichte zu machen und mit Füßen zu treten. ACM: Hoffen Sie, dass weitere PT-Abgeordnete und -Kader aus der PT austreten werden, um sich der PSoL anzuschließen? H.H.: Die PSoL, unsere geschätzte Partei des Sozialismus und der Freiheit, wird GenossInnen aller Linksparteien, die sich uns anschließen wollen, mit offenen Armen, herzlich, solidarisch und respektvoll aufnehmen. Bei uns sind viele AktivistInnen aus der Bevölkerung, die in der PT, der PCdoB, der PSTU und anderen Parteien organisiert waren. Ich werde aber keinen einzigen Schweißtropfen und keine Energie darauf verschwenden, AktivistInnen anderer Parteien gewinnen zu wollen, und erst recht nicht Abgeordnete. Denn die Abgeordneten wissen bestens, was los ist. Ich sage immer im Scherz, dass die Unschuldigsten unter ihnen nicht gehen, sondern in höheren Regionen schweben. Wenn sich diese Leute dafür entscheiden, die Regierung zu verlassen, um sich uns anzuschließen, werden wir sie mit offenen Armen empfangen. Es liegt uns daran, die gefühlsmäßigen Beziehungen, die wir im Lauf unserer gemeinsamen Geschichte geknüpft haben, zu bewahren, auch wenn wir nicht mehr gemeinsam Politik machen. Wo Beziehungen in die Brüche gegangen sind, waren sie nicht stark und ernsthaft genug, um trotz ideologischer und programmatischer Differenzen, die im politischen Engagement auftreten, zu überstehen. Im Ernst, ich wusste bereits, dass es außerhalb der heute bestehenden Parteistrukturen ein sozialistisches Leben gibt, das durch Würde, Mut und Großzügigkeit gekennzeichnet wird. Und diese Überzeugung ist in dieser Durststrecke, die ich für den Aufbau einer neuen Partei zurücklegen musste, als ich echten Weggefährten begegnete, zur Gewissheit geworden. Für mich war das ein richtiger Lernprozess. Ich werde mich noch mehr darum bemühen, diese Menschen zu gewinnen, anstatt um Mitglieder und Abgeordnete anderer Parteien zu werben. Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib Übernommen aus Inprecor América Latina, elektronische Publikation der Vierten Internationale für Lateinamerika und die Karibik <[email protected]>. Die Linke in der Stunde der Wahrheit Valter Pomar Die Lula-Regierung ist das Ergebnis eines mindestens zwanzigjährigen Prozesses der Kräfteakkumulation der gesamten brasilianischen Linken. Unsere Regierung setzt heute eine Wirtschaftspolitik um, die die Hegemonie des Finanzkapitals, der Lebensmittel- und Agroindustrie und des Exportsektors ungebrochen stützt. Dieser Widerspruch zwischen dem, was Lula zum Präsidenten gemacht hat und dem, was Lula als Präsident macht, erklärt die politisch ambivalente Haltung der Bourgeoisie gegenüber der Regierung: Einerseits applaudieren die Bürgerlichen Palloci1, andererseits bereiten sie Lulas Niederlage vor. Die gegenwärtige Regierung ist letzten Endes aus Sicht der Bourgeoisie nicht vertrauenswürdig. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, 1 Antonio Palloci, Finanzminister der Lula-Regierung, gilt als Vorreiter der neoliberalen, IWF-freundlichen Politik. INPREKORR 396/397 dass Lula die momentane Wirtschaftspolitik beibehält, die seine eigene gesellschaftliche und ideologische sowie seine Wählerbasis untergräbt, und gleichzeitig 2004 und 2006 die Wahlen gewinnen wird. Wenn die Rechte gewinnt, sei es bei den Wahlen oder „von innen heraus“ (indem sie den definitiven Bruch der Regierung mit allen Verpflichtungen gegenüber der Bewegung durchsetzt, aus der diese hervorgegangen ist), würde das die sozialistische Linke vor die Notwendigkeit einer Neuorganisierung stellen, die Jahrzehnte dauern würde. Eine Niederlage der Lula-Regierung, was auch immer der Grund dafür wäre, würde die Rechte „objektiv“ stärken. Deshalb ist es riskant, Kräfte als „links“ zu betrachten, die auf eine Niederlage oder den Sturz dieser Regierung hinarbeiten, was nicht zu verwechseln ist mit dem selbst öffentli- chen Versuch, die Regierung zur Abkehr von der zur Zeit hegemonialen Politik zu zwingen. Die vor kurzem gegründete Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) gibt vor, eine linke Opposition zur Lula-Regierung aufzubauen. Offensichtlich handelt es sich nicht um eine „konstruktive Opposition“, die von außen Druck machen und einen Kurswechsel erwirken will. Wäre dies die Absicht, gäbe es im Grunde keine Divergenz zwischen der Position der PSoL und der PT-Linken, außer dass der Regierungskurs von außen natürlich freier und ungezwungener kritisiert werden kann. Die PSoL setzt sich aber eine „destruktive Opposition“ zum Ziel, die so tut, als wäre es möglich, die Lula-Regierung und die Rechte gleichzeitig zu besiegen und dem Land eine linke, sozialistische, wahrhaftig demokratische und volksnahe Regierung anzubieten. 37 BRASILIEN In Wirklichkeit deutet nichts darauf hin, dass es zur Zeit oder in absehbarer Zukunft eine Welle von breit getragenen Kämpfen geben wird, die das Rückgrat für einen neuen sozialistischen, demokratischen, den Interessen der Bevölkerung verpflichteten Pol abgeben könnten, der stark genug wäre, um die PT, die Lula-Regierung und die traditionelle Rechte links zu überholen. Aus diesem Grund haben sich breite Teile der brasilianischen Linken dafür entschieden, sich mit der Lula-Regierung und ihren Zielen zu konfrontieren. Nur wenn wir diese verändern, stellen wir uns in die Kontinuität des seit Ende der 70er Jahre bestehenden Impulses. Die beiden Alternativen dazu – die Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik und die Rückkehr der traditionellen Rechten – wären eine Niederlage und würden zu einer wesentlich gravierenderen Zersplitterung der Kräfte führen, als wir sie nach dem Staatsstreich 1964 erlebt haben. Die Entstehung der PSoL ist ein Zeichen dafür, dass diese Zersplitterung bereits begonnen hat; paradoxerweise scheint die neue Partei das Organisationsmodell der PT zu übernehmen. Klar! Wer vorgibt, hier und heute in diesem Land im Klassenkampf zu zählen, braucht eine Massenbasis, die Präsenz im Parlament und muss sich an Wahlen beteiligen. Im Gegensatz zur PT, die „klein“ entstanden ist, aber von einer kräftigen Welle politischer Kämpfe getragen wurde, entsteht die PSoL aber in einer Phase schwach entwickelter Kämpfe. Ebenso misst sie im Gegensatz zur PT, die in den ersten Jahren wenig Gewicht auf den institutionellen Kampf gelegt hatte, ihren ParlamentarierInnen eine große Bedeutung bei und hat bereits heute eine Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen und begibt sich damit karikaturhaft in dieselbe tragische Abhängigkeit, in die sich die PT mit der Lula-Kandidatur selbst manövriert hat. Der sich über zwei Jahrzehnte dahinziehende Prozess, der das politische 38 und gesellschaftliche Projekt der PT zutiefst verändert hat, prägt mit anderen Worten die PSoL schon bei ihrer Gründung. Dasselbe würde für alle Sektoren gelten, die jetzt mit der Erfahrung der PT und der Regierung brechen wollten, es sei denn, sie sind bereit, selbst um den Preis eines verminderten politischen Eingreifens in der gegenwärtigen Phase langfristig Energie in den Aufbau einer anderen strategischen Alternative zu investieren. Der Wandel, den die PT in den letzten zehn Jahren in ihren Positionen vollzogen hat, ist die „beschleunigte“ Version der 90er Jahre einer Entwicklung, die sich in der europäischen Sozialdemokratie über ein Jahrhundert ihres Bestehens hinweg vollzogen hat: von der Revolution zur Reform, vom Sozialismus zum Kapitalismus, vom sozialdemokratischen Kapitalismus zum neoliberalen Kapitalismus (über den so genannten „Dritten Weg“ oder ein Mitte-Links-Programm). Unser gegenwärtiges Problem lässt sich nicht auf die politischen Ziele der PT und / oder der Lula-Regierung reduzieren. Das Problem ist, wie in der brasilianischen Arbeiterklasse die demokratische, sozialistische und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen Dynamik wieder aufgenommen werden kann, die diese seit dem Ende der 70er Jahre und die 80er Jahre hindurch geleitet hat. Weite Teile der sozialen Bewegungen in Brasilien, angefangen bei den Gewerkschaften, stehen heute unter der Hegemonie des gemäßigten Teils der PT und des Gewerkschaftsdachverbands CUT. Ein anderer Teil steht unter dem Einfluss von AktivistInnen, die der Partei gegenüber so kritisch eingestellt sind, dass sie agieren, als wären die „sozialen Bewegungen“ in der Lage, das Problem der Machteroberung und des Aufbaus des Sozialismus zu lösen. Ist es möglich, das Land zu ändern, ohne die Machtfrage, die Frage des Staates zu stellen? Ist es möglich, die Machtprobleme ohne Kämpfe und politische Parteien zu lösen? Wie kann unter den gegebenen politischen Bedingungen verhindert werden, dass eine Linkspartei von der bürgerlichen Ordnung vereinnahmt wird? Oder dass sie auf die Rolle einer „ewigen Minderheit“ reduziert bleibt, wie das für die meisten sozialistischen oder revolutionären Parteien der Fall ist? Diese Fragen werden nicht beantwortet, indem wir die Ungeduld zu einem theoretischen Argument erheben, und auch nicht, indem wir vergessen, dass unser Feind die Rechte ist. Es braucht eine politische und gesellschaftliche Kraft, die eine alternative Strategie und ein alternatives Programm verwirklichen kann. Eine solche Kraft wird nicht aus der Niederlage unserer Regierung hervorgehen. Denn eine allfällige Niederlage der Lula-Regierung wird in der brasilianischen Politik zu einem gravierenden Einbruch der Kräfte des Sozialismus und der Freiheit führen. Aus all diesen Gründen werden wir uns bei vollem Respekt des Entscheids derer, die lieber einem anderen Weg folgen, so gut wie möglich weiter dafür einsetzen, die Regierung und die PT zu einem Kurswechsel zu bewegen. Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib Valter Pomar, dritter nationaler Vizepräsident der Arbeiterpartei (PT), ist Mitglied der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT. Der aus einem Bruch der historischen PTFührung Anfang der 90er Jahre hervorgegangene Linke Zusammenschluss ist nach der Sozialistischen Demokratie die zweitstärkste Strömung sozialistischer Linker in der PT. Beide Tendenzen haben ihre Zusammenarbeit kürzlich intensiviert und halten gemeinsame programmatische Seminare ab. Übernommen aus Inprecor América Latina, elektronische Publikation der Vierten Internationale für Lateinamerika und die Karibik <[email protected]>. INPREKORR 396/397 BRASILIEN Eine neue sozialistische Partei Correio da Cidadania Die GründerInnen der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) verdienen den Respekt der Nation. Es sind seriöse, mutige politische AktivistInnen, die es ablehnen, den Rechtsrutsch der Arbeiterpartei (PT) mitzumachen. Trotz des Respekts, den wir ihnen zollen, scheint uns, dass sie politisch die falsche Entscheidung getroffen haben. Das offenkundige Abdriften der ideologischen Haltung der PT und die Nutzlosigkeit des Versuchs, angesichts der monolithischen Mehrheit, die sich rund um eine regelrechte politische Wahlmaschinerie etabliert hat, in den Parteistrukturen für eine Kurskorrektur zu kämpfen, reichen als Grund noch nicht aus, um in Brasilien eine neue sozialistische Partei zu gründen. Es gibt eine vorrangigere Aufgabe, die unter dem überstürzten Versuch leiden wird, die Partei zu legalisieren, um an den Wahlen teilnehmen zu können. Bevor eine neue Partei lanciert wird, müssten die Ursachen für das Abdriften der PT genau analysiert werden. Diese Auseinandersetzung wird lang und schmerzhaft sein, die nicht nur die Bereitschaft zu einer intellektuellen Analyse, sondern auch den Willen zum Ausprobieren neuer politischer Aktionsformen voraussetzt, wenn man nicht Gefahr laufen will, dieselben Fehler zu reproduzieren, die die PT in die gegenwärtige Situation geführt haben. Es ist eine Sache, diese Fragen zu diskutieren, ohne unter dem Druck zu stehen, ein politisches Programm verfassen und Wahltermine einhalten zu müssen, die von Gegnern des Sozialismus festgelegt wurden. Eine andere Sache ist es, dies unter den Zwängen zu tun, die solche Termine mit sich bringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Beteiligung von SozialistInnen in den bürgerlichen Institutionen einen Widerspruch darstellt, der sich erst auflösen lässt, wenn der Sozialismus den Kapitalismus als Organisationsform für Wirtschaft und Gesellschaft abgelöst haben wird. Bis dorthin wird es für die Beteiligung von SozialistInnen an INPREKORR 396/397 der institutionellen bürgerlichen Politik nur vorübergehende Teillösungen geben, die von den konkreten Umständen abhängen werden. Die PT, die kurz nach dem Scheitern der Strategie des bewaffneten Kampfes gegründet wurde, hat eine Strategie des institutionellen Kampfs Mit dieser Kritik wollen wir die PSoL nicht abschießen oder die solidarische Diskussion blockieren, die die SozialistInnen untereinander führen müssen, wenn sie sich gemeinsam der tiefen Krise stellen wollen, die das Land bedroht. Wir erkennen im Gegenteil die Reinheit der Motive der Grün- Die PT hat eine Strategie des institutionellen Kampfs eingeschlagen eingeschlagen, der auf zwei Stützen beruhte: der Wahlbeteiligung und dem direkten Druck der Massen, der sich oft am Rande der Legalität bewegte. Diese Strategie ist aus verschiedenen Gründen gescheitert. Seither hat sich die Ausgangslage, die dieser Strategie zugrunde lag, aufgrund der Veränderungen, die der Kapitalismus in Brasilien und in der Welt vollzogen hat, grundlegend geändert. Unter diesen Umständen scheint es uns unvorsichtig, alles von vorne beginnen zu wollen, ohne zuvor in einer breiten nationalen Diskussion mit den betroffenen sozialen Kräften darüber zu diskutieren, wie dem brasilianischen Volk ein neuer sozialistischer Vorschlag vorgelegt werden kann. derInnen dieser Partei an, deren Ziel es ist, den Dialog zu eröffnen, um einen neuen Zusammenschluss zu bilden. Selbstverständlich stehen die Spalten des Correio gegenteiligen Meinungen offen. Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib Editorial der Wochenzeitung Correio da Cidadania Nr. 402 (19.–26. Juni 2004). Diese von Linkskatholiken herausgegebene Zeitschrift steht den radikalen sozialen Bewegungen in Brasilien sehr nahe. Übernommen aus Inprecor América Latina, elektronische Publikation der Vierten Internationale für Lateinamerika und die Karibik <[email protected]>. 39 BRASILIEN Die neue Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) Jornal Democracia Socialista Die Parlamentsabgeordneten Babá, Luciana [Genro] und João Fontes kündigten die Gründung der Partei an, bevor sie noch aus der PT ausgeschlossen waren. Unterdessen hat die „neue Partei“ einen Namen, Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL). Senatorin Heloísa Helena ist die wichtigste Sprecherin des neuen Zusammenschlusses. Die AktivistInnen der PSoL kommen vor allem aus den politischen Strömungen Movimento de Esquerda Socialista (MES, Bewegung der sozialistischen Linken) und Corrente Socialista dos Trabalhadores (CST, Sozialistische Strömung der ArbeiterInnen). Beide Organisationen gehören der morenistischen trotzkistischen Tradition an. Sie waren unter der Bezeichnung CST in der damals noch vereinten PT geblieben, als die Mehrheit des damaligen Sozialistischen Zusammenschlusses die Vereinte Sozialistische Arbeiterpartei (PSTU) gründete. Ehemalige führende GenossInnen der PSTU wie Junia Gouvêa und Martiniano Cavalcante, die diese Partei zu unterschiedlichen Zeitpunkten verlassen hatten, sind heute in der Leitung der PSoL. Eine limitierte Gruppe von AktivistInnen, die sich nicht an die Entscheidungen der Nationalen Konferenz der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS) hielten, haben sich in der „Liberdade Vermelha“ (Rote Freiheit) zusammengeschlossen und entschieden, der PSoL beizutreten. Diese Entscheidung wurde in der DS nie kollektiv zur Diskussion gestellt. Milton Temer und Carlos Nelson Coutinho, die uns Gramsci und das Konzept des Prozesses in der Revolution vermittelt haben, finden sich eben- 40 falls in der neuen Partei; desgleichen Francisco de Oliveira. Die Enttäuschung über die Regierung Lula und die Unzufriedenheit mit der PT-Entwicklung können verschiedene politische Traditionen dazu führen, sich zu vereinen und eine neue Partei auszurufen. Doch im Lichte der Erfahrungen der PT wissen wir, dass das für den Aufbau eines politischen Instruments nicht ausreicht. Dabei reden wir nicht von den 438 000 Unterschriften, die nötig sind, um sich ins Wählerregister eintragen zu lassen,1 sondern vom Fehlen eines „heißen“ oder ausreichenden sozialen und politischen Umfelds, das die verschiedenen Vorstellungen zu einem gemeinsamen Programm zusammenschweißen könnte, um politisch verändernd eingreifen zu können. An der 7. Nationalen Konferenz der DS im Dezember 2003 wurde folgende Resolution angenommen: „Wir erachten es als legitim, die positiven Werte aus der Geschichte der PT zu verteidigen (den programmatischen Beitrag, das Tendenzrecht und die interne Demokratie, die feministischen Errungenschaften, die Synthese der linken Erfahrungen und Kräfte). In diesem Zu1 In einem unter Präsident Fernando Henrique Cardoso verabschiedeten Gesetz wurden die Bedingungen zur Gründung politischer Parteien verändert. Während die früheren, vor der Verabschiedung des Gesetzes registrierten Parteien, deren Existenz oft reichlich fiktiv ist, nach wie vor als legal gelten und damit bei allen möglichen Wahlen KandidatInnen aufstellen können, müssen neue Parteien eine beachtliche Zahl an Unterschriften (438 000 auf Bundesebene) zusammenbringen, um an Wahlen teilnehmen zu können. Es sei daran erinnert, dass bei der Gründung der Arbeiterpartei die Bedingungen zur Legalisierung einer politischen Partei weniger scharf waren. sammenhang ist es auch richtig, die Beziehungen zwischen der Partei und der breiten politisch-sozialen Bewegung, die sich rund um die PT gebildet hat, wieder aufzugreifen. Wir versuchen, in den Prozess der Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Partei einzugreifen und stützen uns dabei auf die legitime Verteidigung dieses historischen, strategischen Projekts einer sozialistischen, demokratischen Partei. Angesichts der konfliktgeladenen Entwicklung der Partei ist es umso notwendiger, eine breite linke Strömung als Bezugspol für den Wiederaufbau und das Funktionieren der PT als demokratischer und sozialistischer Partei zu bilden. Der Aufbau dieser Strömung und der Einsatz für den sozialistischen Wiederaufbau der PT stellen sowohl angesichts des massiven Drucks zur Aufgabe ihres programmatischen Charakters als auch des Drucks gegenüber den GenossInnen, die die PT verlassen wollen und sich auf ein sektiererisches Parteiprojekt orientieren, eine Alternative dar. Denn beide Orientierungen verzichten auf die Erfahrung des Aufbaus einer sozialistischen, demokratischen Massenpartei.“ Dieser Artikel wurde der Monatszeitschrift Jornal Democracia Socialista 4 von Juli 2004 entnommen. Die Zeitschrift wird von der Tendenz Sozialistische Demokratie herausgegeben, die innerhalb der Arbeiterpartei die AktivistInnen der Vierten Internationale organisiert. Übersetzung aus dem Bras.-Portugiesischen: Tigrib INPREKORR 396/397 ANTIKRIEGSBEWEGUNG Thesen über die gegenwärtige Periode, den Krieg und die Antikriegsbewegung Gilbert Achcar 1. Die Besetzung des Irak gehört ganz und gar zur „großen Strategie“ des Expansionismus, wie sie von den USA sofort nach dem Ende des Kalten Krieges eingeleitet wurde. Das Ende der UdSSR stellte einen großen historischen Wendepunkt dar, der in seiner Bedeutung mit dem jeweiligen Ende der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist. Alle diese Wendepunkte boten die Gelegenheit, eine neue Etappe der imperialistischen Expansion der USA einzuleiten: Übergang vom Rang einer Regional- oder kleineren Weltmacht in den Rang einer größeren Weltmacht nach Ende des Ersten Weltkriegs, Übergang in den Rang einer Supermacht am Ende des Zweiten Weltkriegs im Rahmen einer bipolaren Welt, die unter die beiden Imperien des Kalten Kriegs aufgeteilt war. Die Agonie und schließlich der Zusammenbruch der UdSSR konfrontierten die USA mit der Notwendigkeit, sich nach Ende des Kalten Krieges zwischen zwei großen strategischen Optionen zur „Gestaltung der Welt“ (shaping the world) entscheiden zu müssen. Washington hat sich in einer Welt, die nun auf militärischer Ebene unipolar geworden war, für die Fortsetzung seiner Suprematie (Überlegenheit) entschieden; die militärische Überlegenheit stellt das wichtigste Unterpfand der USA in der weltweiten inner-imperialistischen Konkurrenz dar. Die Ära der riesigen Überlegenheit der USA wurde von der Regierung Bush Vater durch den Krieg gegen den Irak (GolfKrieg vom Januar bis Februar 1991) eingeleitet, der genau im Jahr des Zusammenbruchs der UdSSR stattfand. Dieser Krieg war für die neue „Gestaltung der Welt“ entscheidend, denn er ermöglichte es, gleichzeitig mehrere INPREKORR 396/397 wichtige strategische Ziele zu realisieren: • Die neuerliche direkte militärische Verankerung der USA in der GolfRegion, die über zwei Drittel der weltweiten Ölreserven verfügt. Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts, das von einer zunehmenden Verknappung und schließlich wohl Erschöpfung der wichtigsten strategischen Ressource gekennzeichnet sein wird, versetzt diese neuerliche Verankerung die USA in eine dominante Position sowohl gegenüber ihren möglichen Rivalen wie auch gegenüber den Verbündeten, die (mit Ausnahme Russlands) alle vom Öl des Nahen Ostens abhängen. • Die schneidende Demonstration der riesigen Überlegenheit der USamerikanischen Waffensysteme angesichts der neuen, auf der kapitalistischen Weltordnung lastenden Gefahren durch die „Schurkenstaaten“ (rogue states) – Risiken, wie sie durch das Verhalten des die „islamische Revolution“ im Iran zu Beutezügen ausnützenden BaathRegimes im Irak illustriert wurden; dabei hatte jene Revolution im Iran zur Errichtung eines Regimes geführt, welches sich der Kontrolle durch die beiden Supermächte des Kalten Krieges entzog. Diese Machtdemonstration trug stark dazu bei, die europäischen Mächte und Japan, die wichtigsten Verbündeten von Washington, zu überzeugen, ihre Abhängigkeit als Vasallen zu erneuern, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der USamerikanischen Vormacht etabliert hatten. Die Beibehaltung der NATO und ihre Verwandlung in eine „Sicherheitsorganisation“ zeigen die Neuformierung jener hierarchischen Beziehung. • Gleichzeitig eröffnet die Rückkehr der USA in den Nahen Osten eine neue und letzte historische Phase der Expansion des von den USA geleiteten Imperiums: Die Ausweitung des Netzes von Militärbündnissen und basen, mit denen Washington die Welt umgibt, in Regionen, auf die sie bisher keinen Zugriff hatten, weil sie von Moskau dominiert wurden. Die Ausweitung der NATO nach Osteuropa, die militärischen Interventionen in Bosnien und danach der Kosovo-Krieg waren die ersten Etappen jener Ausweitung der imperialistischen Globalisierung, wie sie unter der Regierung Clinton realisiert wurden. Das Weiterbetreiben dieses Prozesses ist an günstige Bedingungen gebunden, besonders im Hinblick auf das weiterhin bestehende „Vietnam-Syndrom“, das die militärischen und expansionistischen Ambitionen Washingtons bremst. 2. Die Attentate des 11. September 2001 gaben der Bush-II-Administration die historische Gelegenheit, diesen Prozess im Namen des „Krieges gegen den Terrorismus“ massiv zu beschleunigen und voranzubringen. Die Invasion in Afghanistan und der Krieg gegen das Netzwerk Al-Qaida waren zugleich der ideale Vorwand, die militärische Präsenz der USA ins Zentrum des früher sowjetischen Mittelasien (Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan) und bis in den Kaukasus (Georgien) auszuweiten. Neben dem Reichtum an Erdöl und -gas des kaspischen Beckens ist Mittelasien von unschätzbarem strategischem Interesse, weil es in der Mitte der eurasischen Landmasse liegt, genau zwischen Russland und China, den bei41 ANTIKRIEGSBEWEGUNG den wichtigsten möglichen Rivalen gegen die politisch-militärische Hegemonie der USA. Die Invasion des Irak, die im Gefolge der vorangegangenen realisiert wurde, versuchte zu vollenden, was 1991 noch unvollendet geblieben war, weil man aus Gründen der internationalen Politik (begrenztes Mandat der UNO, Existenz der UdSSR) wie aus Gründen der Innenpolitik (Widerstand in der öffentlichen Meinung, begrenztes Mandat des Kongresses) das Land nicht auf Dauer besetzten konnte. Mit der Besetzung des Irak neben ihrer Stellung als Schutzmacht des saudischen Königreichs und der Errichtung von Militärstützpunkten in den anderen Emiraten der Golfregion üben die USA gegenwärtig eine direkte Kontrolle über mehr als die Hälfte der weltweiten Ölreserven aus, einmal abgesehen von ihren eigenen Reserven zu Hause. Washington versucht aktiv, diesen planetarischen Zugriff auf das Öl dadurch zu vervollständigen, dass es seine Hegemonie auch auf den Iran und auf Venezuela ausweitet, den beiden wichtigsten Zielen nach dem Irak. 3. Die strategische Option der Vollendung der unipolaren Herrschaft der USA über die Welt stellt das Gegenstück zur neoliberalen Option dar, wie sie vom weltweiten Kapitalismus eingeschlagen und im Rahmen des Prozesses, der unter dem Namen „Globalisierung“ bekannt ist, auf den ganzen Planeten ausgeweitet werden soll. Um den freien Zugang der USA und ihrer Partner im weltweiten imperialistischen System zu den Ressourcen und Märkten der übrigen Welt zu garantieren, aber auch um sich gegen die außerökonomischen Risiken einer Destabilisierung des Systems und der Märkte abzusichern, wie sie der neoliberalen Prekarisierung der Welt innewohnen (Abbau der sozialen Errungenschaften, verschärfte Privatisierung, wilde Konkurrenz), ist die Existenz und die Unterhaltung einer Militärmacht, die auf der Höhe dieser Aufgaben ist, unverzichtbar. Washington hat entschieden, die USA zur „unverzichtbaren Nation“ des Weltsystems zu machen: Der militärische Graben zwischen den USA und dem Rest der Welt wird unaufhör42 lich breiter. Von einem Drittel der weltweiten Rüstungsausgaben am Ende des Kalten Krieges haben es die USA nun geschafft, mehr für ihre Rüstung auszugeben als alle übrigen Staaten des Planeten zusammen. Diese riesige militärische Überlegenheit der US-Hypermacht zeigt, dass der „Militarismus“ dem Konzept des Imperialismus inhärent ist, wie es erstmals (von Hobson 1903) systematisch definiert wurde und wie er nach dem Zweiten Weltkrieg durch die hierarchische Struktur feudaler Art (Herrscher/ Vasallen) ausgeweitet wurde. Aufgrund dieser Struktur übernahm nunmehr eine Schutz gewährende Supermacht den entscheidenden Part der Verteidigung des kapitalistischen Systems, welches durch eine institutionalisierte subjektive Solidarität seine objektive Solidarität vervollständigte. Die wirtschaftliche und politische Erfahrung der Großen Depression (nach 1929) hatte – ex negativo – deren Notwendigkeit deutlich werden lassen, bevor sie durch die weltweite Konfrontation mit dem stalinistischen System offensichtlich geworden war. Damit aus jener hierarchischen Struktur ein einziges, planetarisches imperialistisches System würde und es blieb, musste die zur Hypermacht gewordene Supermacht militärische Mittel unterhalten, die auf der Höhe der gestellten Aufgaben liegen. Die neuerliche Bekräftigung der Rolle der USA als Übermacht und ihr Aufstieg in den Rang einer militärischen Hypermacht durch den Aufbau einer Asymmetrie zwischen ihren militärischen Mitteln und denen des Restes der Welt stand im Zentrum des Projektes der Reagan-Administration mit ihrer außerordentlichen Steigerung der Rüstungsausgaben auf ein (in „Friedenszeiten“) Rekordniveau. Das Ende des Kalten Krieges sowie die wirtschaftlichen Zwänge der in ein gefährliches Defizit geratenen öffentlichen Finanzen hatten eine Reduzierung und sodann ein Einfrieren der Rüstungsausgaben der USA in der ersten Hälfte der 90er Jahre bewirkt. Das neuerliche Auftauchen russischer (post-sowjetischer) Anfechtung der Washingtoner Ziele im Rahmen der Osterweiterung der NATO (ab 1994), sodann die Krisen auf dem Balkan (1994-1999) sowie das Auftauchen einer chinesischen (post-maoistischen) Herausforderung, wie sie durch Pekings harte Haltung zur Taiwan-Frage (1996) illustriert wird, wobei dies alles auf dem Hintergrund einer wachsenden militärischen Kooperation zwischen Moskau und Peking ablief, führten die ClintonAdministration ab 1998 dazu, eine langfristige Steigerung der Rüstungsausgaben der USA vorzunehmen. 4. Der neue Kurs der USA hin zu einer Überbewaffnung im Vergleich zur übrigen Welt, wie er auf den Rüstungswettlauf mit der UdSSR zur Zeit des Kalten Krieges folgte, wurde von einer Änderung der Haltung der USA in Fragen der internationalen Beziehungen begleitet. Die Idylle mit der UNO bei der Golfkrise 1990 sowie der Glaube an die Möglichkeit, die imperialistische Rolle der USA systematisch im Rahmen der internationalen Legalität, die zugunsten Washingtons „gedreht“ wurde (Irak, Somalia, Haiti), entfalten zu können, wurden zunächst zugunsten einer unilateralen Aktion der NATO auf dem Balkan aufgegeben. Das Vetorecht Russlands und Chinas im Sicherheitsrat der UNO wurden so durch eine unilaterale Aktion einer von Washington geführten militärischen Struktur im Namen der Sorge um „humanitäre Rechte“ ausgehebelt. Die neuerliche massive Steigerung der Rüstungsausgaben, wie sie durch den 11. September 2001 ermöglicht wurde, der neue Konsens, der durch diese Attentate zugunsten der Militärexpeditionen Washingtons geschaffen wurde, sowie die „unilateralistischen“ Neigungen, wie sie der Bush-II-Administration eigen sind, führten letztere dazu, sich bei der Ausdehnung der imperialistischen Expansion der USA jeder institutionellen Struktur zu entledigen. Die Koalitionen mit steuerbaren Partnern (coalitions of the willing) unter Washingtons nicht zu diskutierender Fuchtel ersetzten die NATO selbst, in der das Prinzip der Einstimmigkeit einem Vetorecht gleichkommt, das allen ihren Mitgliedsstaaten zugestanden wird. Der Invasionskrieg im Irak war die Gelegenheit par excellence zur Durchsetzung des unilateralistischen Prinzips: Beim Irak-Dossier befanden sich der Gesichtspunkt und die Interessen der USA nicht nur im Konflikt mit den perINPREKORR 396/397 ANTIKRIEGSBEWEGUNG manenten Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates wie Russland und China, die sich allgemein der weltweiten Hegemonie der USA widersetzen, sondern auch mit denen von traditionellen Verbündeten von Washington und NATO-Mitgliedsländern wie Frankreich und Deutschland. Das Zusammentreffen der Interessen und der Gesichtspunkte zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich ermöglichte es den beiden Ländern, die Invasion gemeinsam vorzunehmen, wobei sich einige Mitgliedsländer der NATO sowie weitere gelehrige oder übereifrige Verbündete Washington anschlossen. Die Verwicklungen der USA und ihrer Koalition im Irak und die Schwierigkeiten der Bush-II-Administration, die Besatzung des Landes zu organisieren, haben eine scharfe Demonstration der Unfähigkeit ihres arroganten Unilateralismus erzeugt, was ihr nun von einer größeren Fraktion des US-amerikanischen Establishments bis in die Reihen der Republikaner und der Umgebung von Bush I vorgehalten wird. 5. Der Misserfolg im Irak hat die Notwendigkeit betont, zu einer subtileren Kombination zwischen der Überlegenheit bei der militärischen Macht und der Beibehaltung eines minimalen Konsenses mit den traditionell verbündeten Mächte (NATO, Japan) zu kommen, wenn nicht mit der Gesamtheit der übrigen Mächten im Rahmen der UNO. Dieser Konsens hat natürlich seinen Preis: die USA müssen zumindest ein bisschen die Interessen ihrer Partner achten, auch wenn sie sich den Löwenanteil sichern. Seit der Wende von 1990/1991 ist Washington davon ausgegangen, dass die UNO mit ihrer Rolle als Ort des Auslotens und Verwaltens des Konsenses zwischen den Großmächten, die sie zur Zeit des Kalten Krieges gespielt hatte, nun überflüssig geworden sei. Die Gleichheit (im Vetorecht) zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates schien ihr in einer unipolaren Welt, in der einzig die USA in der Lage sind, in Fragen der internationalen „Sicherheit“ ein wirkliches Vetorecht auszuspielen, INPREKORR 396/397 überholt zu sein. Doch paradoxerweise ging der Umsturz der Weltordnung über den politischen Einsatz der UNO durch Bush I, um für seinen Krieg gegen den Irak die Zustimmung im eigenen Land zu erreichen. Unter Clinton wurde auf dem Balkan die Rolle der UNO in Verbindung mit der Nato auf die Nachkriegsverwaltung der Territorien, die von letztgenannter Organisation besetzt worden waren, reduziert – unter der Führung der USA. In Afghanistan wurde sogar diese Formel der Nachkriegsverwaltung (durch die UNO) aufgegeben und die Invasion von Washington unilateral ausgeführt. Da die USA nach der Invasion des Irak nun mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, die Besatzung zu organisieren, versuchen sie, zum afghanischen Szenario zu kommen. Die Buchstaben und mehr noch der Geist der UN-Charta werden mit Füßen getreten. Im Hinblick auf die Charta sind Invasionskriege illegal, sofern sie nicht vom Sicherheitsrat beschlossen werden: In diesem Sinn sind Washingtons Kriege nicht einmal legal, ganz zu schweigen von gerecht oder legitim. Der Krieg von 1991 wurde im Namen der UNO geführt, doch nicht von der UNO, wie sich der Generalsekretär jener Organisation selbst ausgedrückt hat. Jedenfalls sieht Washington die Zuhilfenahme der UNO wie auch der NATO oder einer anderen kollektiven Struktur nur unter der Bedingung vor, dass sie ihm nützlich ist. Die USA haben sich immer die Möglichkeit gesichert, unilateral zu handeln, wenn die Verteidigung ihrer Interessen dies verlangt. Die Erpressung mit dem Unilateralismus wird gegen alle internationalen Organisationen dauerhaft vollführt. Sie steht am Ursprung jener starken Entwertung der UN-Charta seit dem Ende des Kalten Krieges. 6. Die großen Optionen des von den USA geführten imperialistischen Weltsystems nach Ende des Kalten Krieges haben eine lange historische Periode des ungezähmten militärischen Interventionismus eröffnet. Die einzige Kraft, die in der Lage ist, diesen Lauf der Dinge zu ändern, ist die Antikriegsbewegung. Die Entwicklung der weltweiten militärischen Kräfteverhältnisse seit dem Ende der UdSSR hat die Hemmungen vor imperialistischen Interventionen auf ein Minimum reduziert: Abgesehen von der nuklearen Abschreckung, die nur ein selbstmörderischer Staat gegen die USA in Stellung bringen kann (im Fall eines geheimen terroristischen Netzwerkes, das nicht an ein Territorium gebunden wäre, das Repressalien zu erwarten hätte, läge der Sachverhalt anders), ist keine militärische Macht der Erde in der Lage, die Dampfwalze der US-Supermacht aufzuhalten, wenn sie einmal beschlossen hat, ein Gebiet mit einer Invasion zu überziehen. Die einzige große Macht, die die imperialistische Kriegsmaschine aufhalten kann, ist die öffentliche Meinung und ihr Vortrupp, die Antikriegsbewegung. Es ist nur logisch, dass in dieser Frage der Bevölkerung der USA die entscheidende Rolle zukommt. Das „Vietnam-Syndrom“, mit andern Worten die Wirkung der bedeutenden Antikriegsbewegung, die erheblich zur Beendigung der Besatzung Vietnams durch die USA beigetragen hat, hat das Imperium fünfzehn Jahre lang – zwischen dem überstürzten Rückzug aus Vietnam 1973 bis zur Invasion in Panama 1989 – militärisch gelähmt. Sodann hat sich Washington ab der militärischen Aktion gegen die Diktatur in Panama einfache Ziele vorgenommen, die man in den Augen der Öffentlichkeit leicht verteufeln konnte, weil sie über ein hässliches, diktatorisches Antlitz verfügten: Noriega, Milosevic, Saddam Hussein usw. Wenn nötig, verstärkten die staatliche und die Medienpropaganda die Züge einer zu wenig dem verteufelten Bild entsprechenden Realität, vor allem im Vergleich mit den Verbündeten des Westens. Dies gilt für Milosevic (im Vergleich zu seinem kroatischen Gegenspieler Tudjman) oder für das Regime im Iran (im Vergleich mit dem weit obskurantistischeren und mittelalterlichen Fundamentalismus der saudischen Monarchie); nunmehr versucht man dies auch mit Hugo Chavez in Venezuela. Dennoch zeugen die Schwierigkeiten von Bush I 1990, für seine Militäroperation am Golf grünes Licht zu erhalten, trotz der irakischen Besetzung 43 ANTIKRIEGSBEWEGUNG von Kuwait, wie auch die Probleme der Clinton-Administration bei ihren Interventionen auf dem Balkan, des weiteren der überstürzte Rückzug der Truppen der USA aus Somalia, vom fortwährenden und starken Widerstand der öffentlichen Meinung und dem Druck bei Wahlen. Die Attentate vom 11. September 2001 verschafften der Bush-II-Administration die Illusion eines massiven und bedingungslosen Aufgreifens der im „Krieg gegen den Terrorismus“ versteckten expansionistischen Pläne durch die westliche öffentliche Meinung. Diese Illusion währte nur kurz: 17 Monate nach den Attentaten gab es am 15. Februar 2003 in den USA und weltweit die größten Mobilisierungen gegen den Krieg seit Vietnam – ja sogar die größte weltweite Mobilisierung aller Zeiten. Sie war Ausdruck einer massiven Ablehnung der drohenden Invasion in den Irak durch die weltweite öffentliche Meinung, blieb jedoch in den USA selbst noch in der Minderheit. Die internationale Bewegung hatte – wie früher schon – erheblich zur Verstärkung der Bewegung in den USA beigetragen, doch die Auswirkungen des 11. September zusammen mit der Desinformationskampagne der Bush-Administration, konnten noch nicht ausreichend zurückgedrängt werden. 7. Die Enttäuschung der Erwartungen, die in die US-Besetzung des Irak gesetzt wurden, haben günstige Bedingungen dafür geschaffen, dass sich die öffentliche Meinung in den USA mehrheitlich in eine mächtige und unerbittliche Bewegung für die Rückführung der Truppen verwandeln könnte. Diesmal besteht das Problem darin, dass die friedensbewegte Avantgarde seit der Invasion weniger Aktivitäten entwickelt hat, während sie eigentlich voranschreiten sollte. Die von einer zu kurzfristigen Sicht herrührende Demoralisierung, wo es doch angesichts der Bedeutung, die die Sache für Washington hatte, höchst unwahrscheinlich war, dass die Bewegung den Krieg verhindern könnte; der Glaube an die Wahlen in den USA, also daran, das Problem durch die Wahlurnen lösen zu können, während doch allein der Druck 44 der Bevölkerung den Rückzug der USTruppen aus dem Irak erzwingen kann, weil es einen Konsens der beiden großen Parteien über die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Sache gibt; sodann die Illusion, die bewaffneten Aktionen aller Art, denen die Okkupationstruppen ausgesetzt sind, würden allein genügen, der Besatzung ein Ende zu bereiten – hierin liegen die wichtigsten Gründe für den ganz unpassenden Rückgang der Aktivitäten der Antikriegsbewegung. Diese Gründe verkennen allesamt die vietnamesischen Erfahrungen, die für die neuen Generationen zu weit weg sind, als dass ihre Lektionen im kollektiven Gedächtnis verblieben wären, weil es keine Kontinuität der Antikriegsbewegung gibt, die sie weitergeben könnte. Die Bewegung, die schließlich der US-amerikanischen Besatzung Vietnams ein Ende gesetzt hat, hatte sich als Bewegung mit langem Atem langfristig aufgebaut, und eben nicht als Mobilisierung vor dem Beginn des Krieges, die mit dem Beginn der Invasion verstört ist. Jene Bewegung machte sich umso weniger Illusionen über eine Lösung des Problems durch die Wahlen, weil sie in der Zeit der demokratischen Johnson-Administration entstanden war, bevor sie ihren Höhepunkt zur Zeit von Nixons republikanischer Administration fand. Für jene Bewegung war klar, dass trotz des starken Widerstandes, der erheblich umfänglicher und wirksamer war als der gegen den Irakkrieg, die Vietnamesen in ihrer tragischen militärischen Isolierung nicht über die Mittel verfügten, den USA eine militärische Niederlage à la Dien Bien Phû zu bereiten – also eine Niederlage vom Ausmaß derjenigen, die der französischen Besatzung des Landes 1954 ein Ende bereitete. Dies gilt für den Irak noch weit mehr: Außer der Heterogenität der Quellen und Formen gewaltsamer Aktionen in diesem Land, wo sich terroristische Attentate gegen die Zivilbevölkerung mit teilweise konfessionellem Hintergrund mit legitimen Aktionen gegen die Besatzungstruppen und ihre lokalen Hilfssheriffs vermischen, macht allein schon das Terrain es unmöglich, der Supermacht USA eine militärische Niederlage beizubringen. Deshalb fürchten die Besatzer eher die Massenmobilisierungen der irakischen Bevölkerung, wie diejenigen, die die Entscheidung durchgedrückt haben, spätestens im Januar 2005 allgemeine Wahlen abzuhalten. Nur ein massiver Schub der Antikriegsbewegung und ihr Echo in der öffentlichen Meinung der USA und weltweit, die zum Druck von Seiten der irakischen Bevölkerung hinzutreten, werden in der Lage sein, Washington zu zwingen, seinen Zugriff auf ein Land aufzugeben, dessen wirtschaftliche und strategische Bedeutung unendlich viel größer ist als die Vietnams und dessen Invasion und Besatzung die USA schon so viele Milliarden Dollar gekostet haben. Wenn der Irak heute das Potential für ein „neues Vietnam“ hat, dann nicht hinsichtlich eines militärischen Vergleichs der beiden Okkupationen, sondern nur im politischen Vergleich. Denn es handelt sich um die tiefste Verstrickung der USA seit 1973, eine Verstrickung, deren Auswirkungen durch die Erinnerung an Vietnam verstärkt werden (was beweist, dass das „Vietnam-Syndrom“ anhält), aber auch durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel seither. Es gibt hier eine historische Chance, am Elan des 15. Februar 2003 anzuknüpfen und eine Antikriegsbewegung mit langem Atem aufzubauen, die in der Lage ist, das irakische Kriegsabenteuer der USA und ihrer Verbündeten politisch in ein neues Vietnam zu verwandeln, also in eine neue langfristige Blockierung ihrer imperialistischen Kriegsmaschine. Eine solche Perspektive, verbunden mit Fortschritten in der weltweiten Mobilisierung gegen den Neoliberalismus, ermöglichte es, den Weg für tiefgreifende soziale und politische Veränderungen zu eröffnen, nach denen eine Welt verlangt, in der die Ungleichheiten massiv anwachsen. 24. August 2004 Gilbert Achcar ist Mitglied von „Agir contre la guerre“ (ACG) und Autor von Der Schock der Barbarei. Der 11. September und die „neue Weltordnung“, Köln (ISP) 2002, sowie Eastern Cauldron. Islam, Afghanistan, Palestine and Iraq in a Marxist Mirror, London 2004. Übersetzung: Paul B. Kleiser INPREKORR 396/397 NACHRUF Gérard de Verbizier (1942–2004) – Vergeat Friedrich Dorn Am 25. Juli, seinem 62. Geburtstag, ist Gérard de Verbizier in Paris verstorben; viele kannten ihn eher als „Vergeat“ (oder Verjat). Er ist in Montbéliard (Département Doubs) geboren , wo sein Vater Unterpräfekt war. Gérard schlug mehr nach seinem Großvater väterlicherseits, der bei dem berühmten Parteitag von Tours (Dezember 1920), auf dem die sozialistische Partei (SFIO) sich in die sozialdemokratische und die kommunistische Partei spaltete, einer der Delegierten war und mit der Mehrheit für den Anschluss an die Kommunistische Internationale votierte. Gérard de Verbizier begann in Paris ein Geschichtsstudium und trat 1963 dem kommunistischen Studentenverband (UEC) bei. Sehr rasch schloss er sich erst der „italienischen“ Opposition an (das heißt der Strömung, die mit der vorsichtigen Öffnung und Kritik am Stalinismus von Palmiro Togliatti, dem damaligen Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei, sympathisierte), dann 1965 der trotzkistisch beeinflussten linken Opposition in der UEC. Als dieser Sektor der UEC offen mit der PCF-Führung brach und 1966 ausgeschlossen wurde – ein Prozess, der zur Gründung der „Jeunesse communiste révolutionnaire“ (JCR) im März 1967 führte –, stand er weniger im Rampenlicht als Alain Krivine oder Henri Weber; dennoch gehörte er zu den führenden Köpfen dieser Strömung und war wie sie bereits der französischen Sektion der IV. Internationale beigetreten. Er betreute die ersten Kerne der JCR unter der Schülerschaft. Die JCR spielte eine bedeutende Rolle im „Mai 68“ und wurde wie eine Reihe weiterer Organisationen im Juni 1968 verboten. 1970 wurde er von der Leitung der an Ostern 1969 gegründeten INPREKORR 396/397 „Ligue communiste“ nach Brüssel abgegeben; bis im August 1971 entdeckt wurde, dass er eine seltene und unheilbare, genetisch bedingte Form von Diabetes hatte, war er damals der einzige Hauptamtliche der IV. Internationale. Er hat wenig geschrieben, berichtet Daniel Bensaïd, war aber „ein Virtuose im mündlichen Vortrag“. Für Schulungskurse arbeitete er lange Referate aus, gestützt auf einige wenige Notizen – über den Algerienkrieg, den Nahen Osten und die Palästinafrage, Sri Lanka oder die antikolonialen Bewegungen in Vietnam. „Manchmal sprach er mehr als sechs Stunden. Und die Zuhörerschaft wollte noch mehr hören. Man hätte glauben mögen, er habe es verstanden, sich wie ein geschickter politischer 'profiler' in die Denkweise von Ho Chi Minh oder Giap1 hineinzuwuseln, um die Feinheiten ihrer Denkvorgänge genau zu begreifen. Gérard war dadurch ausschlaggebend dafür, dass unsere Kultur von Anfang an in einem Internationalismus von Fleisch und Blut verankert war.“ Nach und nach stellte er seine politischen Aktivitäten ein. Er widmete sich dem Filmemachen und arbeitete an mehreren Dokumentarfilmen mit. Zeitweilig war er bei „Arte“ beschäftigt, und er konnte sich für die Herstel- lung einer als perfekt gelobten französischen Fassung des Films „Operation Nikolai“2 und für dessen Verbreitung in Frankreich und in anderen europäischen Ländern einsetzen. Außerdem beschäftigte er sich mit der vernichteten revolutionären jiddischen Kultur; er schrieb ein Buch über eine Einheit der jugendlichen, vorwiegend jüdischen ImmigrantInnen, die einen bedeutenden und später parteioffiziell heruntergespielten Anteil am bewaffneten kommunistischen Widerstandskampf gegen die Nazi-Okkupanten hatten.3 Gérard de Verbizier machte sich den jüdischen Humor zu eigen und sagte, er „arbeite im Audiovisuellen“ – er, den seine Krankheit hatte taub und blind werden lassen. Diesem Nachruf liegen im wesentlichen die Artikel von Paul Benkimoun in Le Monde vom 29. Juli 2004 und von Daniel Bensaïd in Rouge vom 2. September 2004 zugrunde. Herangezogen wurden außerdem ein Nachruf im Boletin electronico de la Fundacion Andreu Nin, Nr. 36, September 2004, sowie das halbautobiographische Buch Une lente impatience von Daniel Bensaïd (Paris: Éditions Stock, 2004). 2 1 Der vietnamesische General Vô Nguyen Giap (geboren 1912) war von Jugend an in der revolutionären antikolonialen Bewegung aktiv, trat der kommunistischen Partei bei, hatte ab 1944 führende Positionen, leitete von 1946 bis zum Sieg bei Dien Bien Phu den bewaffneten Kampf gegen die zahlenmäßig und technisch überlegenen französischen Truppen; 1960 bis 1980 Minister für Nationale Verteidigung der Demokratischen Republik Vietnam bzw. ab 1976 der Sozialistischen Republik Vietnam; bis 1982 Mitglied des Politischen Büro. Er gilt allgemein als brillanter Militärstratege und taktiker; verfasste eine Reihe von Artikeln, die zu dem Buch Volkskrieg, Volksarmee zusammengestellt wurden (Hanoi 1961; dt. München 1968). „Operación Nikolai“ dokumentiert die Ermordung des katalanischen Linksoppositionellen und POUM-Führers Andreu Nin im Juni 1937 und wurde von Journalisten des katalanischen Fernsehens erarbeitet; sie konnten herausfinden, wann, wo, von wem und warum der Mord durchgeführt wurde (vgl. die Einzelheiten und Nachweise bei Reiner Tosstorff, „Andreu Nin und Joaquín Maurín. Vom revolutionären Syndikalismus zum antistalinistischen Kommunismus“, in: Theodor Bergmann / Mario Keßler (Hrsg.), Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, 2. Ausg., Hamburg: VSA-Verlag, 2000, S. 218–241, hier S. 226/227). 3 Gérard de Verbizier, Ni travail, ni famille, ni patrie. Journal d’une brigade F.T.P.-M.O.I. Toulouse 1942-1944, Paris: Calmann-Lévy, 1994. 45 NACHRUF Pierre Le Grève (1916–2004) Georges Dobbeleer Pierre Le Grève ist am 1. August im Alter von 88 Jahren in Brüssel gestorben. Sein ganzes Leben lang ist er ein Beispiel für einen selbstlosen, großzügigen und wirkungsvoll handelnden Marxisten gewesen. Neben Ernest Mandel ist er als derjenige zu nennen, der sowohl im politischen, im gewerkschaftlichen und vor allem im internationalen Bereich seit Ende der dreißiger Jahre in der belgischen revolutionär-marxistischen Bewegung kontinuierlich aktiv gewesen ist – eine Aktivität, die unsere Achtung und Bewunderung verdient hat. Er kam in einer bürgerlichen Familie auf die Welt, brach aber noch sehr jung mit den Ideen und den Verhaltensweisen dieser Umgebung. 1934 begann er an der Universität von Brüssel ein Lizenziatsstudium in Philosophie und trat dort den „Étudiants socialistes“ bei; er sympathisierte mit dem Kommunismus und arbeitete mit dem kommunistischen Jugendverband zusammen. Aber Stalins Rechtswende zugunsten der Volksfronten führte von der Perspektive der sozialistischen Revolution weg, was Pierre nicht hinnehmen wollte. Damals begegnete er Georges Vereeken, Organisator einer Gewerkschaft der Taxifahrer und eine der führenden Personen in der belgischen trotzkistischen Bewegung1. Er erklärte ihm die bürokratische Entartung der stalinistischen UdSSR und überzeugte ihn recht schnell. Als Pierre Le Grève als Freiwilliger nach Spanien gehen wollte, um gegen Franco zu kämpfen, wurde er ab1 Georges Vereeken (1898–1978) war von Beruf Taxifahrer, trat 1922 der belgischen kommunistischen Partei bei, war einer der Mitbegründer der antistalinistischen Opposition in Belgien, lehnte 1934/35 die Taktik des Eintritts in die Sozialdemokratie („Entrismus“) ab und führte eine eigene Gruppe, die sich 1936 mit der belgischen Sektion wiedervereinigte; G. Vereeken wurde in der „Parti Socialiste Révolutionnaire“ Organisationssekretär, 1937 wurde er politischer Sekretär und Hauptamtlicher; 1938 verließ er die PSR erneut, wegen Differenzen über die Haltung zur spanischen POUM und Kritiken am Internationalen Sekretariat, er bildete eine eigene Gruppe, die eng mit der niederländischen RSAP zusammenarbeitete; 1964 verließ er die belgische Sektion ein letztes Mal, zusammen mit der von Michel Pablo geführten Internationalen Revolutionären Marxistischen Tendenz. 46 gelehnt. Er ist sicher, dass das darauf zurückgeht, dass er als Trotzkist eingestuft wurde. Vereekens Gruppe, die das Organ Contre le courant herausgab, beteiligte sich 1938 nicht an der Gründung der IV. Internationale; sie hielt das für verfrüht. KRIEG UND NACHKRIEGSZEIT Im Februar 1940 trat Pierre Le Grève den Militärdienst an. Dadurch entging er der Festnahme durch den belgischen Staatssicherheitsdienst bei Kriegsbeginn im Mai. Er verließ dann in der Nähe von Montpellier ein Regiment2, das in einem deutschen „Stalag“3 landete; kaum war er im Sommer desselben Jahres in Belgien zurück, begann er wieder mit der politischen Aktivität und der Verbreitung von Contre le courant; er war gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Die Stalinisten stuften diese Zeitung zunächst als Organ von Helfershelfern des angelsächsischen Imperialismus ein, nach dem Einfall der Nazis in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 sprachen sie dann vom „Hitlero-Trotzkismus“. Unmittelbar nach dem Krieg vereinigten sich die beiden unterschiedlichen trotzkistischen Gruppen, sie gründeten die „Parti Communiste Internationaliste“, die belgische Sektion der IV. Internationale. Pierre kam sofort in das Politische Büro der Partei, in dem er 30 Jahre lang aktiv mitarbeiten sollte. 2 Auf die Invasion Polens im September 1939, die zur Kriegserklärung von Großbritannien und Frankreich an das Deutsche Reich führte, folgten im April 1940 der Überfall auf Dänemark und Norwegen und am 10. Mai 1940 der siebenwöchige „Blitzkrieg“ gegen die Niederlande und Belgien (dessen Regierung ab Mitte der dreißiger Jahre eine Hitler-freundliche „Neutralitätspolitik“ betrieben hatte); während der belgische König Leopold III. (1934–1951) am 28. Mai die Kapitulation unterzeichnete, hatte die belgische Regierung England und Frankreich um Unterstützung angesucht, Teile der belgischen Armee zogen sich daher mit den französischen Truppen vor der vorrückenden deutschen Wehrmacht zurück. 3 „Stalag“ – Abkürzung für Stammlager, im Zweiten Weltkrieg für kriegsgefangene Mannschaften und Unteroffiziere. Zunächst arbeitete er in Charleroi als Fabrikarbeiter, dann als Handelsvertreter, schließlich fand er eine Stelle als Gymnasiallehrer für „morale laïque“4 in dem staatlichen Unterrichtswesen in Ixelles (Brüssel). Ab 1951 praktizierten die belgischen Trotzkisten den Entrismus in der sozialistischen Partei. Nicht ohne Schwierigkeiten wurde er zu dem Ortsverein in Uccle (Brüssel) zugelassen. Er war Mitglied der „Association des Enseignants Socialistes“ (Sozialistischer Lehrerverband); er trat überzeugend auf und konnte 1955 auf dem Brüsseler Verbandstag und 1957 auf dem nationalen Verbandstag ein umfassendes Programm für eine „Gemeinschaftsschule von 12 bis 18 Jahren“ durchbringen, die den Arbeiterkindern eine allgemeine Bildung und nicht mehr nur eine Berufsausbildung ermöglichen sollte. Das war eine Anwendung der Forderungen aus dem 1938 von Trotzki ausgearbeiteten „Übergangsprogramm“ auf den Bildungsbereich. 1983 wurde dieses Programm von einem Grundsatzkongress der CGSP-FGTB5 übernommen. KONGO, ALGERIEN, VIETNAM... Im Juli 1956 hielt die Belgische Sozialistische Partei (PSB) einen Parteitag zur Festlegung ihrer Position zur Zukunft des belgischen Kongo ab. Als Widersacher eines sehr gemäßigten Berichts erhielt Pierre die Unterstützung der Parteitagsmehrheit und sogar des Parteivorsitzenden Max Buset, als er sofortige demokratische Freiheiten für den Kongo forderte. Am 1. November 1954 begann die „Front de Libération Nationale“ (FLN) den Aufstand gegen den französischen Kolonialismus in Algerien. Die recht 4 in etwa vergleichbar dem brandenburgischen LER (Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde) 5 Die „Centrale Générale des Services Publics“ (CGSP) ist die Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, die dem sozialdemokratisch orientierten Dachverband „Fédération Générale du Travail de Belgique“ (FGTB) angehört. INPREKORR 396/397 NACHRUF Frankreich-freundliche öffentliche Meinung in Belgien lehnte diese Revolution ab. 1955 gründete Pierre ein „Komitee für den Frieden in Algerien“. Die zurückhaltende Bezeichnung stand nicht nur für Verbreitung von Informationen durch Veranstaltungen und Schriften, sondern auch für konkrete Hilfeleistungen für algerische Aktivisten auf der Durchreise. In dem Buch Le front du Nord von J. Doneux und H. Le Paige über Belgier im Algerienkrieg hat Pierre Le Grève, der dynamische und fähige Organisator, die verdiente Ehrung erfahren.6 Die französischen Geheimdienste wollten diese Aktivität mit terroristischen Akten unterbinden. Am 9. März 1960 wurde der algerische Student Akli Aîssiou in Brüssel ermordet. Kurz darauf wurde der Gymnasiallehrer Laperches in Lüttich von einer Paketbombe getötet. Pierre erhielt ein eben solches Paket, machte es aber nicht auf und kam davon. Dann wandte sich die öffentliche Meinung in Belgien von dem gaullistischen Frankreich ab. Pierre organisierte eine Kundgebung gegen den Algerienkrieg mit Jean-Paul Sartre, die am 12. März 1962 in Brüssel stattfand und zu einem enormen Erfolg wurde. Kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens nahm Pierre in Algier an einer „europäischen Konferenz für Nichtregierungshilfe für Algerien“ teil, die dazu beitragen sollte, dass die unabhängig gewordene algerische Nation aus der dramatischen Situation herauskommen sollte. Das Algerien-Komitee verwandelte sich in ein „Komitee gegen Neokolonialismus und Faschismus“ und half vor allem Aktiven der marokkanischen Linken. Pierre war Mitbegründer des Vietnam-Komitees, das riesige Demonstrationen organisierte. Er führte auch eine erfolgreiche Kampagne gegen die Auslieferung des Anarchisten Francisco Abarca an Franco-Spanien. GEWERKSCHAFTSARBEIT UND POLITISCHE ARBEIT Pierre gehörte zu denen, denen es während des Generalstreiks von 1960/61 gelang, den Vorstand in der Region Brüssel der Abteilung Unterrichtswesen in der Gewerkschaft des Öffentli6 Jean L. Doneux u. Hugues Le Paige, Le front du Nord. Des Belges dans la guerre d’Algérie (1954–1962), Paris u. Bruxelles: De Boeck Université, 1992. INPREKORR 396/397 chen Diensts, der sich wenig um die innergewerkschaftliche Demokratie scherte, zu stürzen. Von da an befanden nur Vollversammlungen über den Kurs und Aktionen der Gewerkschaft. In seinen „Erinnerungen eines antistalinistischen Marxisten“ schrieb Pierre: „Ich bin immer für eine Gewerkschaftsbewegung eingetreten, die sich an einem Klassenideal orientiert.“ 7 Er war ein brillanter Redner und hat stets in diesem Sinne gesprochen und gehandelt. Zusammen mit Ernest Mandel gehörte er zu den Mitbegründern der Wochenzeitung La Gauche, deren Ziel es war, den linken Flügel der Sozialistischen Partei zusammenzufassen. Im April 1964 beschloss der Parteitag der PSB jedoch den Ausschluss der Redakteure dieser Zeitung. Dem sozialistischen linken Flügel gelang es, in Wallonien die „Parti Wallon des Travailleurs“ (PWT) und in Brüssel die „Union de la Gauche Socialiste“ (UGS) zu gründen, die eine Föderation bildeten. Ein Wahlbündnis mit der kommunistischen Partei machte es 1965 möglich, dass Pierre in Brüssel zum Abgeordneten gewählt wurde. Das zwang ihn zur Aufgabe seiner Lehrerstelle, die er nach Ende des Mandats [Anfang 1968] nur unter großen Schwierigkeiten zurück bekommen konnte. Im Parlament trat er zugunsten der Rechte von AusländerInnen, für die streikenden Bergleute in Limburg, gegen den Putsch der griechischen Obristen und gegen das NATO-Hauptquartier in Belgien auf. Mitte der siebziger Jahre stellte er die Aktivitäten in der belgischen trotzkistischen Organisation ein, während er seinen Überzeugungen treu blieb. Seit einiger Zeit hat sein Gesundheitszustand es nicht mehr erlaubt, aktiv zu handeln; am Schluss seiner Erinnerungen bekräftigte er jedoch: „Seit langem bin ich Anhänger des Marxismus, ich bleibe es; bin ich Kommunist, ich bleibe es; bin ich Trotzkist, ich bleibe es.“ Wir haben einen Genossen verloren. Wir werden Pierre Le Grève als einen vorbildlichen revolutionär-marxistischen Genossen in Erinnerung behalten. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Dorn. Die Anmerkungen wurden von dem Übersetzer hinzugefügt. 7 Pierre Le Grève, Souvenirs d’un marxiste antistalinien, Paris: La Pensée universelle, 1996. ABOBESTELLUNG Ich bestelle r Jahresabo (6 Doppelhefte) r Solidarabo (ab € 40) r Sozialabo r Probeabo (3 Doppelhefte) r Auslandsabo € 26 € .... € 15 € 10 € 40 Name, Vorname Straße, Hausnummer PLZ, Ort Vertrauensgarantie Mir ist bekannt, dass ich diese Bestellung ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Tagen bei inprekorr, Neuer Kurs GmbH, Dasselstraße 75–77, D–50674 Köln, schriftlich widerrufen kann. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Im Falle einer Adressenänderung bin ich damit einverstanden, dass die Deutsche Bundespost Postdienst meine neue Anschrift dem Verlag mitteilt. Datum, Unterschrift Überweisung an Neuer Kurs GmbH, Postbank Frankfurt/M. (BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604 Zahlung per Bankeinzug Hiermit erteile ich bis auf Widerruf die Einzugsermächtigung für mein Bank-/ Postgirokonto bei in Konto-Nr. BLZ Datum, Unterschrift Das Abonnement (außer Geschenkabo) verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht vier Wochen vor Ablauf schriftlich gekündigt wird. 47 G 9861 „Wir kämpfen für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert “ Aufruf der Versammlung sozialer Bewegungen auf dem Dritten Europäischen Sozialforum London, 17. Oktober 2004 Wir kommen von allen Kampagnen und sozialen Bewegungen, vereinbar mit unseren Vorstellungen. Dieser Verfassungsver„Keine Stimme“ („no vox“)-Organisationen, Gewerkschaften, trag erhebt den Neoliberalismus zur offiziellen Doktrin der EU; Menschenrechtsorganisationen, Organisationen der internatio- er macht den Wettbewerb zur Grundlage des Europäischen Genalen Solidarität, Antikriegs-, Friedens- und Frauenbewegun- meinschaftsrechts und faktisch aller menschlichen Aktivitäten; gen. Wir kommen aus allen Regionen Europas, um uns in Lon- er ignoriert vollständig die Ziele einer ökologisch nachhaltigen don zum dritten Europäischen Sozialforum zu treffen. Wir sind Gesellschaft. Dieser Verfassungsvertrag garantiert weder gleiche Rechte noch das Recht auf Bewegungsfreiheit noch das viele und unsere Stärke ist unsere Vielfalt. Krieg ist heute der hässlichste und realste Ausdruck des Ne- Recht auf Niederlassungsfreiheit und Staatsbürgerschaft für aloliberalismus. Der Krieg und die Besatzung im Irak, die Besat- le, unabhängig von ihrer Nationalität. Der Verfassungsvertrag zung Palästinas, die Massaker in Tschetschenien und die ver- räumt der NATO eine Rolle in der europäischen Außen- und steckten Kriege in Afrika zerstören die Zukunft der Menschheit. Verteidigungspolitik ein drängt auf die Militarisierung der EU. Der Irakkrieg war mit Lügen gerechtfertigt worden. Heute ist Schließlich rückt er den Markt an die erste Stelle, drängt das Soder Irak erniedrigt und zerstört. Die Iraker sind Gefangene des ziale an den Rand und beschleunigt er die Zerstörung der öffentKrieges und des Terrors. Die Besatzung hat weder Freiheit noch lichen Dienstleistungen. Wir kämpfen für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert, eine Besserung der Lebensbedingungen gebracht. Im Gegenteil: Die Vertreter der These vom „Zusammenstoß der Kulturen“ für einen Kontinent der internationalen Solidarität und für eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft. Wir kämpfen für Abrüs(„clash of civilisations“) sind heute gestärkt. Wir kämpfen für den Abzug der Besatzungstruppen aus dem tung, gegen atomare Waffen und gegen US- und NATO-MiliIrak, für einen sofortigen Stopp der Bombardierungen und für tärstützpunkte. Wir unterstützen all jene, die den Militärdienst die sofortige Wiederherstellung der Souveränität der irakischen verweigern. Wir wenden uns gegen die Privatisierung öffentlicher Bevölkerung. Wir unterstützen die palästinensischen und israelischen Be- Dienstleistungen und gemeinsamer Güter wie Wasser. Wir wegungen, die für einen gerechten und dauerhaften Frieden kämpfen für Menschenrechte, für soziale, ökonomische, politikämpfen. Entsprechend dem Urteil des Internationalen Ge- sche und ökologische Rechte zur Abwehr und Überwindung der richtshofes der Vereinten Nationen und dem einstimmigen Vo- Herrschaft des Marktes, der Logik des Profits und der Beherrtum der europäischen Staaten in der UN-Vollversammlung for- schung der Dritten Welt durch die Schuldendienste. Wir wendern wir ein Ende der israelischen Besatzung und die Beseiti- den uns gegen die Instrumentalisierung des „Kriegs gegen den gung der Apartheidmauer. Wir fordern politische und wirt- Terrorismus“ zum Zweck des Angriffs auf demokratische und schaftliche Sanktionen gegen die israelische Regierung, solange Bürgerrechte und um abweichende Meinungen und soziale sie weiterhin internationales Recht und die Menschenrechte der Konflikte zu kriminalisieren. Am 20. März 2005 jährt sich zum zweiten Mal der Beginn palästinensischen Bevölkerung verletzt. Daher werden wir für die internationale Aktionswoche gegen die Apartheidmauer des Krieges gegen Irak. Am 22. und 23. März trifft sich der Euvom 9. bis 16. November, zu europäischen Aktionstagen am 10. ropäische Rat in Brüssel. Wir rufen daher zu landesweiten Mound 11. Dezember, dem Jahrestag der Verabschiedung der UN- bilisierungen in allen europäischen Ländern auf. Für den 19. März rufen wir zu einer zentralen Demonstration nach Brüssel Menschenrechtserklärung, mobilisieren. Im Februar 2005 werden wir uns den Protestaktionen gegen auf: gegen Krieg und Rassismus und gegen ein neoliberales Euden NATO-Gipfel in Nizza anschließen. Wir wenden uns gegen ropa, gegen Privatisierung, gegen das Bolkestein-Projekt und die von den G-8-Staaten angemaßte Übernahme globaler Regie- gegen die Angriffe auf die Arbeitszeit, für ein Europa der Rechrungsfunktionen und einer Politik des Neoliberalismus. Daher te und der Solidarität zwischen den Völkern. Wir rufen alle sobitten wir um massenhafte Mobilisierung anlässlich des G-8- zialen Bewegungen und die europäischen Gewerkschaften auf, an diesem Tag auf die Straße zu gehen. Gipfels in Schottland im Juli 2005. Wir wollen ein anderes Europa, das Sexismus und Gewalt gegen Frauen ablehnt und das Recht auf Abtreibung anerkennt. Der hier vorliegende Text ist ein kurzer Auszug aus dem Aufruf des Wir unterstützen den internationalen Aktionstag gegen Gewalt Treffens der Sozialen Bewegungenen. Ungekürzt nachzulesen im Internet gegen Frauen am 25. November und die Europäische Initiative. unter http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/esfWir unterstützen die Mobilisierung zu den Feiern des Internati- london.html onalen Frauentags am 8. März. Wir unterstützen die Europäische Initiative zum 27./28. Mai in Marseille, die vom weltwei- Übersetzung aus dem Englischen: Peter Strutynski ten Marsch für die Frauen vorgeschlagen wurde. Wir treten ein gegen Rassismus und die Festung Europa und für die Rechte der Einwanderer und AsylNeuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln suchenden; wir sind für Bewegungsfreiheit, für das Postvertriebsstück, DPAG, Entgelt bezahlt Staatsbürgerrecht nach dem Residenzprinzip und für G9861 #5037280137* die Schließung der Abschiebehaftanstalten. Wir wenden uns gegen die Abschiebung von MigrantInnen. Wir schlagen einen Aktionstag am 2. April 2005 vor: gegen Rassismus, für Bewegungsfreiheit und für das Bleiberecht als Alternative zu einem Europa der Exklusion und der Ausbeutung. In der Zeit, in welcher der Entwurf für die Europäische Verfassung ratifiziert werden soll, müssen wir darauf bestehen, dass die Menschen in Europa darüber direkt befragt werden. Der Verfassungsentwurf ist un- 48 INPREKORR 396/397