Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis

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Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis
Erkennen - Untersuchen - Behandeln
von
Ulrike Schäfer, Eckart Rüther
1. Auflage
Thieme 2005
Verlag C.H. Beck im Internet:
www.beck.de
ISBN 978 3 13 141421 2
Zu Inhaltsverzeichnis
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
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Leitsymptome
Es werden folgende Leitsymptome unterschieden:
" Bewusstseinsstörungen,
" Denkstörungen,
" Wahn,
" Angst,
" Zwang,
" Sinnestäuschungen,
" Ich-Störungen,
" Störungen der Affektivität,
" Antriebs- und psychomotorische Störungen,
" Schlafstörungen
" Suizidalität,
" Selbstbeschädigung.
6.1
Beispiel
Der 73-jährige Patient
bei erstmaligem Kontakt:
¹Was soll ich denn hier?
Wer sind Sie überhaupt?
Ich will nach Hause,
muss doch meiner Mutter
Bescheid sagen, ich kenne
Sie gar nicht. Wir wollen
in den Garten, na ja.
Was ± krank? Ach so,
nun ist es aber gut.
Welches Datum? Also, das ist
doch Mai, oder? Also
vielleicht auch später ¼ª
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Bewusstseinsstörungen
Orientierungsstörungen sind häufig bei Patienten mit organisch
bedingten Störungen, so beispielsweise bei dementiven Erkrankungen (s. Kap. 12.16). Sie kommen auch bei Suchterkrankungen,
zum Beispiel beim Alkoholentzugsdelir, vor.
Zu prüfen sind die Orientierung zur Zeit (Datum, Tag, Monat,
Jahr, Wochentag und/oder Jahreszeit), die örtliche Orientierung,
wie gegenwärtiger Aufenthaltsort (Praxis, Klinik, Ambulanz), die
situative Orientierung (Bedeutung der gegenwärtigen Situation)
sowie die Orientierung zur eigenen Person und zur aktuellen persönlichen Situation. Liegt eine Bewusstseinsstörung vor, so ist zu
differenzieren zwischen Benommenheit, Somnolenz, Sopor und
Koma. Ist es zu einer qualitativen Bewusstseinsstörung gekommen,
so sind Bewusstseinseintrübung (z. B. unmittelbar nach einer Operation) und Bewusstseinseinengung sowie Bewusstseinsverschiebung zu unterscheiden. Bei der Bewusstseinseinengung kommt es
zur unzureichenden Wahrnehmung, das Erleben ist eingeschränkt,
z. B. nach Autounfällen oder im Dämmerzustand bei Epilepsien. Bei
der Bewusstseinsverschiebung scheint subjektiv die Auûenwelt intensiver zu sein, so beispielsweise im Drogenrausch, aber auch bei
schizophrenen oder manischen Erkrankungen.
Als weiteres Leitsymptom ist die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung zu nennen. Es werden die Auffassung, die Konzentration, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis geprüft. Konfabulationen kommen insbesondere beim Korsakow-Syndrom vor,
Paramnesien (falsches Wiedererkennen) insbesondere bei organisch bedingten psychischen Störungen (s. Kap. 12.16).
Schäfer, Rüther, Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis
(ISBN 3131414219), 2005 Georg Thieme Verlag KG
6.2 Denkstörungen
6.2
Denkstörungen
Diese fallen besonders bei schizophrenen Patienten auf
(s. Kap. 12.9). Es besteht ein gestörter Gedankenablauf. Denkhemmungen kommen auch bei Depressionen vor (s. Kap. 12.1), eine
Verlangsamung im Gedankengang ebenfalls. Auch kann das Denken auf bestimmte Inhalte und wenige Themen eingeengt sein.
Perseverationen (Wiederholung gleicher oder ähnlicher Denkinhalte) können vorkommen. Grübeln wie auch dauerhaftes Beschäftigen mit bestimmten Gedanken sind besonders im Rahmen
von depressiven Erkrankungen häufig. Vermehrte Gedanken und
sprunghafte Gedanken sind besonders im Rahmen von maniformen Störungen zu finden, hier auch die Ideenflucht; darunter ist
eine Vermehrung von Einfällen und Ideen zu verstehen, häufig mit
gelockerten Assoziationen einhergehend. Unter ¹Vorbeiredenª
wird verstanden, dass der Patient die Frage unpassend beantwortet. Dies ist häufig im Rahmen von schizophrenen Erkrankungen
zu finden, ebenfalls Gedankenabreiûen oder Gedankensperrung.
Differenzialdiagnostisch ist die Absence oder eine Bewusstseinsstörung auszuschlieûen. Die Denkzerfahrenheit ist überwiegend
Leitsymptom bei organisch bedingten psychischen Störungen oder
schizophrenen Krankheitsbildern. Die Patienten denken und sprechen für den Untersucher nicht mehr im verständlichen Zusammenhang. Im Extremfall kann es zu völligen, scheinbar zufällig
durcheinander geratenen Gedankenbruchstücken kommen.
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Formale Denkstörungen
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Beispiel
27-jähriger Patient:
¹Meine Mutter hat mir
gesagt, ich habe gestern
Sie getroffen, ich war mit
meiner Hose beschäftigt und
habe meine Schuhe nicht
gefunden, heute warte ich
auf den Mond, Ihr Gesicht
ist rot. Warum wollen Sie
mit mir sprechen?
Ich bin gesund ¼ª
Dies sind z. B. überwertige Ideen, die das gesamte Denken in unsachlicher und einseitiger Weise bestimmen, beispielsweise bei
querulatorischen Fehlhaltungen.
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Inhaltliche Denkstörungen
Wahnsymptome sind immer ein Hinweis auf schwerwiegende psychische Probleme, sie kommen sowohl bei organisch bedingten
psychischen Störungen vor als auch bei Abhängigkeitserkrankungen, affektiven Erkrankungen (depressiver Wahn oder Gröûenwahn bei der Manie) und schizophrenen Psychosen. Häufige
Wahnthemen sind:
" Beziehungswahn (das, was geschieht, wird auf die eigene Person bezogen),
" Beeinträchtigungs- oder Verfolgungswahn (der Patient erlebt
sich verfolgt oder von Auûenstehenden beeinträchtigt; dieser
Wahn ist besonders häufig bei schizophrenen Psychosen),
" Eifersuchtswahn (wahnhafte Überzeugung, betrogen zu werden, insbesondere bei männlichen Alkoholikern vorkommend),
" Schuldwahn (der Patient fühlt sich schuldig, er ist überzeugt, die
Gebote oder Gesetze nicht eingehalten zu haben; häufig bei Depressionen vorkommend),
" Verarmungswahn (der Betroffene glaubt sich am finanziellen
Ruin stehend, besonders bei Depressionen vorkommend),
" hypochondrischer Wahn (der Patient glaubt, unheilbar krank zu
sein oder eine körperliche Erkrankung zu haben; ebenfalls häufig bei Depressionen vorkommend),
" Gröûenwahn (Selbstüberschätzung bis hin zur wahnhaften
Identifizierung mit berühmten Persönlichkeiten, Überzeugun-
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Wahn
Schäfer, Rüther, Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis
(ISBN 3131414219), 2005 Georg Thieme Verlag KG
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Leitsymptome
gen von ungeheurer Machtfülle und unermesslichem Reichtum,
Vorstellungen, Retter der Welt zu sein; insbesondere bei Manien
vorkommend).
6.3
Beispiel
24-jährige Patientin:
¹Plötzlich wird mir ganz
heiû, schwindelig, mein
Herz schlägt bis zum Hals, alles wird so unwirklich.ª
Angst als Leitsymptom ist meist mit körperlichen Beschwerden,
wie vermehrtes Schwitzen, Puls- und Blutdruckerhöhung, verbunden. Oft beklagen die Patienten auch Bauchschmerzen, Engegefühl
im Hals, Herzstechen und Luftnot. Insbesondere ist die Angst
Hauptsymptom bei den Angsterkrankungen (s. Kap. 12.7), die meist
als Panikattacke Anlass zur notfallmäûigen Vorstellung sind. Davon
abzugrenzen sind ängstliche, unsichere, misstrauische Verhaltensweisen (s. Kap. 12.14, ¾ngstliche Persönlichkeitsstörungen) sowie
Phobien, bei denen die Angst gerichtet ist (Angst vor bestimmten
Situationen oder Objekten, z. B. Spinnenphobie).
6.4
Beispiel
28-jähriger Patient:
¹Komme fast regelmäûig
zu spät zur Arbeit, stehe zwei
Stunden früher auf, muss
20-mal kontrollieren,
ob alle Lichter aus sind,
die Fenster zu sind,
die Türen abgeschlossen,
der Herd aus ist usw. ¼ª
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Zwang
Als Leitsymptom sind Zwangserscheinungen Kernsymptome bei
Zwangsstörungen (s. dort). Zwangssymptome begleiten aber auch
andere psychiatrische Erkrankungen, wie beispielsweise die Depression oder schizophrene Erkrankungen. Zwangsgedanken sind
von Zwangshandlungen zu unterscheiden; dies sind Gedanken,
die der Patient als unsinnig erkennt, die sich ihm jedoch quälend
aufdrängen und gegen die er sich nicht wehren kann. Zwangshandlungen sind Handlungen, die der Patient immer wiederkehrend
durchführen muss ± meist um ¾ngste abzuwehren ± und die sich
ihm in Form von Zwangsimpulsen ankündigen. Er erlebt es als aufdrängenden Impuls, bestimmte Handlungen immer wieder durchzuführen, obwohl er sie als unsinnig empfindet.
6.5
Beispiel
28-jähriger Patient:
¹¼ und die Stimme sagt
mir dann ,Lass es, mach es
nicht oder sie lacht oder
beschimpft mich. Manchmal
sagt sie, was ich tun soll,
oder sie verbietet mir, mit
jemandem zu sprechen.
Manchmal sind auch viele
Stimmen da, die sich
unterhalten oder durcheinander schreien ±
ich halte mir die Ohren zu,
aber die Stimmen bleiben
schrecklich laut.ª
Angst
Sinnestäuschungen
Hier werden Illusion, Halluzination und Pseudohalluzination unterschieden. Bei den Illusionen werden Sinneswahrnehmungen
verkannt oder falsch gedeutet (im Dunkeln wird der Baum zu einem bedrohlichen Monster). Illusionen kommen unspezifisch vor,
auch bei Gesunden. Halluzinationen sind Trugwahrnehmungen,
die je nach Sinnesmodalität akustisch, optisch, Geruch/Geschmack
betreffend oder taktil sind. Sie kommen bei organisch bedingten
Störungen (s. Kap. 12.16), z. B. Intoxikationen, Delir oder Demenzen
vor. Selten auch bei affektiven Störungen (s. Kap. 12.1), häufig bei
schizophrenen Erkrankungen (s. Kap. 12.9). Insbesondere bei schizophrenen Psychosen sind die akustischen Halluzinationen (Stimmenhören) häufig, es kann auch zu optischen Halluzinationen mit
Wahrnehmung von Mustern, Gegenständen oder Szenen kommen.
Störungen des Leibempfindens (Zoenästhesie) kommen ebenfalls
häufig bei schizophrenen Psychosen vor, wie beispielsweise ¹Mein
Gehirn zieht sich zusammen, Strom flieût durch mein Herz.ª
Schäfer, Rüther, Psychiatrische Patienten in der Hausarztpraxis
(ISBN 3131414219), 2005 Georg Thieme Verlag KG
6.8 Antriebs- und psychomotrische Störungen
6.6
Ich-Störungen
Darunter werden Störungen des Erlebens der eigenen Person, anderer Personen oder der Umwelt verstanden. Ich-Störungen kommen bei organisch bedingten Störungen (s. Kap. 12.16) vor sowie
bei schizophrenen (s. Kap. 12.9) und schizoaffektiven Erkrankungen. Typisch für schizophrene Erkrankungen sind insbesondere
Derealisation und Depersonalisation. Unter der Derealisation wird
verstanden, dass Personen und Gegenstände der Umgebung fremd
erlebt werden oder unwirklich erscheinen, bei der Depersonalisation erlebt der Kranke sich selbst im Augenblick als fremd oder unwirklich, als stehe er neben sich. Bei der Gedankenausbreitung
glaubt der Patient, andere wissen, was er denkt. Beim Gedankenentzug meint der Betroffene, seine Gedanken werden ihm abgezogen, weggenommen. Bei der Gedankeneingebung glaubt der Patient, die Gedanken und Vorstellungen werden von auûen gemacht.
6.7
Beispiel
32-jähriger Patient:
¹Die Gedanken in meinem
Kopf kommen von der
Stimme aus dem Radio ¼ª
3
Beispiel
25-jährige Patientin:
¹Ich kann mich nicht mehr
freuen, muss grundlos
weinen, alles ist so leer,
gleichgültig, ich empfinde
nichts mehr.ª
3
Beispiel
30-jährige depressive
Patientin: ¹Ich schaffe
meinen Haushalt nicht
mehr, alles geht mir schwer
von der Hand, der Alltag
steht wie ein Berg vor mir.
Nichts schaffe ich mehr.ª
Störungen der Affektivität
Störungen der Affektivität kommen bei Gesunden vor, und sie sind
im Rahmen aller psychiatrischen Erkrankungen möglich. Je nach
Ausprägung haben sie Krankheitswert. Affektlabilität und Affektinkontinenz kommen besonders bei organisch bedingten psychischen Störungen vor (s. Kap. 12.16). Ein Gefühl der Gefühllosigkeit,
ein Gefühl der Leere und Störungen der Vitalgefühle sind Leitsymptome bei depressiven Krankheitsbildern, Reizbarkeit und Euphorie bei Manien (s. Kap. 12.1). Ambivalenz und Affektstarre sowie Parathymie (der Gefühlsausdruck und der vom Patienten
berichtete Erlebnisinhalt stimmen nicht überein) kommen bei
schizophrenen Patienten vor (s. Kap. 12.9).
6.8
3
Antriebs- und psychomotrische Störungen
Bei psychisch Gesunden und im Rahmen sämtlicher psychiatrischer Erkrankungen sind Antriebsstörungen möglich. Es wird zwischen Antriebsarmut bzw. Antriebshemmung sowie Antriebssteigerung und -unruhe unterschieden. Antriebsarmut und -hemmung
sind besonders bei depressiven Störungen (s. Kap. 12.1) und bei organisch bedingten psychischen Störungen (s. Kap. 12.16) zu finden.
Antriebssteigerung und Unruhe sind Leitsymptome der maniformen Erkrankung. Stupor, Negativismus und Manierismen sind bei
schizophrenen Erkrankungen häufig (s. Kap. 12.9). Ein Stupor kann
sich aber auch bei einer schweren depressiven Erkrankung zeigen.
Unter Antriebsarmut werden der Mangel an Energie und Anteilnahme sowie ein Initiativmangel verstanden, bei einer Antriebshemmung fühlt sich der Patient in seiner Energie gebremst oder
blockiert. Die Antriebssteigerung geht mit einem erhöhten Maû
an Vitalität, Schwung und Tatendrang einher. Bei der motorischen
Unruhe ist die Aktivität ungerichtet, es kommt zu nervösem Hinund Herlaufen, Nestelbewegungen bis hin zur Steigerung zu extremer Tobsucht. Veränderungen des Sprechens mit Mutismus auf der
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(ISBN 3131414219), 2005 Georg Thieme Verlag KG
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