84 — Drittes Kapitel Wenn wir die tatsächliche Sozialstruktur der gegenwärtigen Wissen schaft untersuchen, so stellen wir fest, daB das von Philosophen, Historikern und anderen Anhängern der Wissenschaft entworfene Bud wissenschafflicher Tatigkeit nicht die normale Art und Weise der Pro duktion wissenschaftlicher Tatigkeit widerspiegelt. Die Manner, denen Frauen gleichgestellt sein rnöchten, sind die Leiter des Wissen em winziger Bruchteil derer, die in der Wissen schaftsbetriebes schaft arbeiten. In soiche Positionen jedoch gelangt man nicht ohne weiteres; eine Bedingung dafür ist, stillschweigend zu akzeptieren, daB die Wissenschaft die rassistische, sexistische und kiassenhierar chische Organisation der Arbeit und des sozialen Status in der Gesamt gesellschaft billigt und untersttitzt. Diese SchluBfolgerungen sind weder politisch noch gefühlsmäBig besonders erhebend. Gerade weil aber die gesellschaftliche Hierarchie tier Wissenschaft der >>äufieren<< Gesellschaftsordnung so genau ent spricht, soilten fortschrittliche soziale Veränderungen in der Wissen schaft sehr rasch auf die Gesamtgesellschaft ubergreifen. Sicher ist Naivität zumeist das Vorrecht junger Leute. Immerhin aber hat Rossi ter uns darauf aufmerksam gemacht, daB die Naivität der Feministin nen des neunzehnten für die Entwicklung der Frauenbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts und ihren Beitrag zu den gesellschafflichen Veranderungen von entscheidender Bedeutung war. Und wir werden sehen, daB einige weibliche Wissenschaftler sich in der gesellschaft lichen Struktur tier Wissenschaft aufeine Weise betatigen konnten, die weitreichende emanzipatorische Folgen gezeitigt hat. Ich habe mich in diesem Kapitel auf die wirkliche gesellschaftliche Struktur der heutigen Wissenschaft konzentriert, urn das abstruse und gefährliche Bud vom isolierten Genie, das in den meisten wissen schaftshistorischen und -theoretischen Veroffentlichungen immer noch vorherrscht, realistischer zu gestalten. Und ich woilte uns die Notwendigkeit vor Augen führen, das soziale Geschlecht nicht nur als einen Wesenszug von Individuen und ihren Verhaltensweisen oder als Organisationsform gesellschafflicher Bedeutungen (als Geschlechter totemismus) zu begreifen. Wir müssen auch darauf achten, wie diese Formen der Geschlechterordnung die kiassen-, rassen- und ge schlechtsspezifischen Arbeitsteilungen formen und durch sie geformt werden. Viertes Kapitel Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — —, — — 85 Tm vorangegangenen Kapitel steilten wir fest, daB die feministische Herausforderung, weiche oftmals als für die Wissenschaft am wenig sten bedrohlich angesehen wird die Forderung nach Gleichberechti gung die radikale Verringerung geschlechtsspezifischer Typisie rungen und Arbeitsteilungen wie auch tier defensiv-labilen männlichen Identitat zur notwendigen Voraussetzung für die Gleichbehandlung von Frauen in der Wissenschaft macht. Möglicherweise ist in den wissenschaftsproduzierenden Gesellschaften sogar die volistandige Beseitigung rassistischer, sexistischer und klassenhierarchischer Strukturen erforderlich. Das geht über eine bloBe Reform gesellschaft licher Verhültnisse weit hinaus. Bedrohlicher als die Antidiskriminierungs-MaBnahmen erscheint die Behauptung, sowohi die definitorische Selektion wissenschaffli cher Probleme als auch die forschungsrelevanten Begriffe, Theorien, Methoden und Interpretationen seien in einseitiger Weise männlich ausgerichtet. Dieser Vorwurf ist gleichermaBen gegen die Biologie wie gegen die Sozialwissenschaften erhoben worden, doch gilt er auch für die physikalischen Wissenschaften? Deren Vertreter und philoso phische Interpreten halten derlei feministische Kritik hinsichtlich ihres Faches für irrelevant (wie sie uberhaupt glauben, daB sie von der Bio logie und den Sozialwissenschaften nichts Nennenswertes lernen kön nen). Von daher ist der feministische Vorwurf mannlicher Einseitig keit zwar für die normale Wissenschaft bedrohlicher als die Forderung nach Gleichberechtigung, doch scheinen die meisten Wissenschaft lerinnen und Wissenschaftler ob sie nun feministisch sind oder nicht davon auszugehen, daB er die Physik, die Chemie und das wissen schaffliche Weitbild nicht trifft (und auch gar nicht treffen kann). Tm zweiten Kapitel sahen wir, daB tier Glaube, Physik, Mathematik und Logik seien ihrern Wesen nach gegen gesellschaffliche Einflüsse immun, unbegrundet ist. Bevor wir die feministische Kritik an der Biologie und den Sozialwissenschaften untersuchen, wollen wir fragen, inwieweit sie für unser Verständnis der Naturwissenschaft insgesamt relevant ist. Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — — In dieser Auseinandersetzung gehen beide Seiten davon aus, daB die Probleme der Sozialwissenschaft, em groBtmogliches MaB an Objek tivität und Wertfreiheit zu erreichen, in den Naturwissenschaften keine Parallele besitzen. Doch kann die Plausibilität dieser Annahme aus verschiedenen Gründen in Zweifel gezogen werden. Erstens haben die Sozialwissenschaften versucht, die der Physik untersteilten leiden schaftslos-objektiven Methoden nachzuahmen. Selbst die in der Mm derheit befindlichen Vertreter hermeneutischer, humanwissenschaft licher und verstehender Methoden der Sozialforschung (also der Hauptrichtungen innerhaib des Intentionalismus) legen immer noch Wert auf Objektivitiit und empirische Ubereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung, die als Stärke der Naturwissenschaften gel ten, und sie glauben, daB verschiedene Arten von Methoden und eine andersgeartete Ontologie am geeignetsten sind, urn die Forschungs ergebnisse vom verzerrenden EinfluB der Wertvorstellungen des For schers (oder der Forscherin) freizuhalten. Doch können wir immer noch begrundeterweise fragen, ob die Verzerrungen und Einseitig keiten in den Sozialwissenschaften einzig aus ihrem Unterschied zu den Naturwissenschaften sich herleiten. Enthüllt sich in ihnen nicht vielmehr eine grundsatzliche Lücke zwischen der expliziten Erkennt nistheorie wie den praskriptiven Methodologien der Naturwissen schaften und den wirklichen Bahnen, in denen jede Forschung sei verlaufen ist und verlaufen sie gesellschafts- oder naturbezogen muB? Sicher sind die oben erwähnten Probleme nicht aus der Luft Zweitens, so behauptet der Naturalismus weiter, muB die Erklarung gesellschaftlicher Phänomene mehr Variablen in Betracht ziehen als die Erklarung von Naturphanomenen. Sozialforschung ist einfach mUhseliger als die Erforschung der Natur. Drittens sind die Sozial wissenschaften jünger und unreifer als die Naturwissenschaften; zu gegebener Zeit werden sie aus dem vorparadigmatischen Stadium des Faktensammelns und der Grundsatzdiskussion heraustreten und, was theoretische Annahmen, methodologische Beschränkungen und For schungsprogramme betrifft, sich in Ubereinstimmung mit >>normal wissenschaftlichen<< Paradigmen befinden. Doch der Intentionalismus bestreitet auch diese vermeintlichen Ursprunge der Wertbezogenheit von Sozialwissenschaft. 87 86 Viertes Kapitel Sind sozialwissenschaftliche Ergebnisse für die Durch fuhrung naturwissenschaftlicher Forschungen irrelevant? ‘ zu anderen gesellschaftliche Bedeutung beimessen? Und wenn wir ethnozentrische Verzerrungen in unseren Beobachtungen vermeiden wollen, mUssen wir die von den Beteiigten selbst vorgenommenen Be deutungszuschreibungen berucksichtigen, nicht etwa die der For schenden. In der langen Geschichte der Philosophie der Sozialwissenschaften gibt es eine Argumentation, die behauptet, daI der wertbezogene Cha rakter der Sozialwissenschaften dreifachen Ursprungs sei, derenjeder für sich es unratsam erscheinen lasse, die Sozialforschung als Modell auf die Physik abzubilden. Diese Philosophen gehen davon aus, daB die Philosophie der Naturwissenschaften für die Phiosophie der So zialwissenschaft keinerlei Bedeutung besitze, scheinen aber mit ihren Gegnern darin ubereinzustimmen, daB die Sozialforschung ihrerseits 1 Diese Behauptung er für die Erforschung der Natur ohne Belang sei. fordert getremite Argumentationslinien, derer sich keine Seite je be dient hat. — — Sowohi der >>Naturalisrnus<< als auch sein Gegner, der >>Intentionalis wie die an diesem Streit beteiligten Parteien genannt worden mus<< sind sind sich darin einig, daB die Sozialwissenschaften und die Na turwissenschaften sich auf je unterschiedlich strukturierte Gegen standsbereiche beziehen: die Sozialwissenschaften befassen sich mit Menschen und Kulturen, die, im Gegensatz zur unbelebten Materie, sich durch Geschichte, Bedeutungen und Zeichensysteme konstituie ren. Unglucklicherweise würden, so argumentiert der Naturalismus, die diesen Thernenbereich kennzeichnenden gesellschaftlichen Bedeu tungen und Werte nur zu oft in die Forschungsresultate einsickern. Nichtsdestotrotz könnten gesellschaftliche Phänornene ebenso kausal erklärt werden wie rein physilcalische Erscheinungen, und die strengere Beachtung methodologischer Verlährensweisen, weiche in der Physik als so wirkungsvoll sich erwiesen haben, würde erfoigreich dazu bei tragen, gesellschaftliche Werte aus der Sozialforschung zu eliminie ren. Es gibt (so der naturalistische Standpunkt) nur eine wissenschaft liche Metaphysik und nur eine wissenschaftliche Methode: nämlich die der Physik. Der Intentionalismus erwidert, daB das Unzutragliche an der Sozial forschung gerade ihre Tendenz sei, dieses wesensfremde, physikalisti sche Begriffsschema dem Selbstverständnis, das die Menschen von ilirer eigenen Kultur und Tatigkeit haben, uberzustUlpen. Statt dessen, sagt er, müssen die Forscher und Forscherinnen ihr eigenes Wert- und BedeutungsgefUge in die Wagschale werfen, urn gesellschaffliche Vor gange und Ereignisse aflererst von natürlichen unterscheiden zu können. Woher wissen wir, daB wir einen Flaggensalut beobachten und nicht einen bloBen Muskeireflex, wenn wir einigen Ereignissen im Gegensatz 88 Viertes Kapitel gegriffen, aber reichen sie aus, urn alle Aspekte der für die Sozial forschung als stOrend ernpfundenen Wertbezogenheit abzudecken? — — Wichtiger noch ist die von uns bereits diskutierte Tatsache, daB die Naturwissenschaft em gesellschaftliches Phänomen darsteilt. Zu be stimmten historischen Zeitpunkten ist sie in bestimmten Kulturen entstanden, weiterentwickelt, und mit gesellschafflicher Bedeutung versehen worden. Feministinnen haben dargesteilt, auf weiche Weise weiBe Manner aus dem politischen und okonomischen Herrschafts apparat gesellschaftliche Phänomene begrifflich konstruieren. Viele Elemente dieser Kritik können auf die Geschichte der Naturwissen schaft, wie sie von wissenschaftshistorischen und -theoretischen Handbüchern, von wissenschafflichen Texten und von den >>groBen Persönhichkeiten<< der modernen Wissenschaft erzählt wird, direkt ubertragen werden. Wenn das soziale Geschlecht eine Variable dar stelit, die noch in den formaisten Strukturen theoretischer Annahmen uber die Grenzen zwischen Natur und Kultur oder uber die fundamen talen Bestandteile gesellschafflich konstruierter Realitäten eine Rolle spielt, warurn soliten wir dann davon ausgehen, daB die formalen Strukturen naturwissenschaftlicher Annahrnen dagegen immun sind? Die Sozialwissenschaften sind, was Auswahl und Definition der Pro blemstellungen wie auch Planung und Durchfuhrung von Forschungs projekten angeht, nicht arm an Einseitigkeiten, die ihrerseits in den bevorzugten Darstellungen der Geschichte und Sozialstrulctur der Wissenschaft ebenso wieder auftauchen wie in der partiellen und ver zerrten Selbstrefiexion der Phiosophie der Sozial- und Naturwissen schaften. Die gesellschaftliche Praxis der Naturwissenschaft ist, eben so wie das, was an Annahmen über die Naturwissenschaft zirkuliert, em angemessenes Therna für die Sozialforschung. Urn aber zu objek tiven Verstehensweisen und Erklarungen zu gelangen, bedarf es der Entgeschlechtlichung der Sozialwissenschaften und ihrer philosophi schen Theorien. Woran hapert es bei einer Wissenschaftstheorie, die sich über die offensichtlichen Erfolge und Grenzen jenes Unterfangens, das sie er klären und dadurch lenken und leiten möchte, keine Rechenschaft ablegen kann? Wenn man sich bei der Erklärung der historischen Erfolge wie auch der zeitweiligen Stagnation des >>Erkenntniswachs tums<< auf die Bedeutung wirtschafflicher, politischer, psychologischer und gesellschafflicher GesetzmaBigkeiten beruft, dann wird man im Zentrum dieser GesetzmaBigkeiten auch das soziale Geschlecht in seiner dreifachen Ausdrucksform als Totalität der gesellschafflichen finden. Geschlechterverhältnisse •1 4 L Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 89 Aus diesen Grunden ist die feministische Kritik der Einseitigkeit und Verzerrung in den Sozialwissenschaften weit über ihr unmittel bares Thema hinaus von Bedeutung, weil sie sich auf unsere Analyse der Wissenschaft insgesamt beziehen laBt. Fünf Quellen des Androzentrismus in der Sozialforschung — — ... ... In ihrer Einleitung zu dem Buch Another Voice: Feminist Perspectives on Social Lfe and Social Science eine fruhe Sammiung feministi scher Essays zur Kritik der Sozialwissenschaften weisen Marcia Miiman und Rosabeth Moss Kanter sechs problernatische Grundan nahmen auf, von denen die soziologische Forschung sich hat leiten las2 Weil diese Annahmen auch in anderen Sozialwissenschaften zu sen. fmden sind, können wir fünfder sechs Kategorien verwenden, urn das AusmaB des feministischen Vorwurfs zu begreifen, der besagt, daB männliche Einseitigkeit in der Sozialforschung das Leben der Frauen permanent unsichtbar gemacht hat, und daB wir aufgrund dieser Em seitigkeit weder das Handeln und Denken der Geschlechter noch die gesellschaftlichen Strukturen, in denen dies Handeln und Denken sich vollzieht, angemessen verstehen können. (Die sechste Annahme be zieht sich auf die Ziele der Sozialforschung; diesen Gesichtspunkt werde ich weiter unten diskutieren.) Anhand dieser fruhen kritischen Ansätze kann man sich gut vor Augen führen, was heute zurn Alige meingut feministischer Wissenschafflerinnen geworden ist. Die in dem Buch versammelten Analysen sind ausgearbeitet und verfeinert wor den, doch stehen die darin aufgeworfenen Probleme immer noch im Brennpunkt feministischen Interesses. Zuerst heben Millman und Kanter hervor, daB >>aufgrund der Ver wendung bestimmter konventioneller Definitionsmodelle wichtige Be reiche der soziologischen Feldforschung Ubersehen worden sind<< (Miiman und Kanter 1975, IX). Soziologische Analysen beispielsweise, die sich ausschlieBlich auf die Funktion der Weberschen Rationalität konzentrieren, neigen dazu, die gesellschaftliche Rolle der Emotionen nahezu vollstandig auszublenden. Ihre Entwürfe beschränken sich auf zwei Typen gesellschaftlicher Akteure, bei denen Gefühl und Emotion vom selbstbewuBten Denken und Handein abgekoppelt sind. Es gibt entweder den bewuBten, kognitiv eingestellten Handlungstyp, der bewuBt etwas will (z.B. Geld oder Status), und der bewuBt den Wert verschiedener Mittel für die Erreichung eines Zwecks kalkuliert<<, oder den >>unbewuBten, emotional eingestellten Handlungstyp, der I :,‘.. 90 Viertes Kapitel durch eine begrenzte Anzahl von ‘Instinkten’, ‘Impulsen’ oder ‘Bedürf nissen’ dazu ‘getrieben’ oder ‘veranlaBt’ wird, irgendeine Reihe von Dingen zu erreichen, zu verbinden oder zu tun, die nur auf der Ober 3 In keinem Fall fläche als Mittel oder Zwecke ausgewiesen werderi.<< wird die BewuBtheit von Gefühlen mid Emotionen als em für die Grün de und Ursachen menschlichen Denkens und Handeins oder für die GesellschaftSStrUktUr bedeutsameS Element gesehen, obwohl ihre Pta senz im eigenen Denken und Verhalten wie auch in dem der anderen Menschen offensichtlich von Wichtigkeit zu sein scheint. Man kann sich fragen, ob die Leugnung der Rolle bewuBter Gefühle durch die Verbindung eines kulturellen Stereotyps mit einer zweiten soziologi schen Annahnie in ihrer Tendenz nicht noch verschärft wird. Einer seits gehen GescblechterstereOtYPefl davon aus, daB nur bei Frauen die MotivationsstmktUr durch bewuBte Gefühle bestimmt wird, wahrend Manner sich durch kalkulatorische, instrumentelle oder andere >>ratio nale*c Erwagungen leiten lassen. Andererseits nimmt die Sozialwissen schaft an, daB die gesellschaffliche Struktur vor allem durch das Denken und Handein der Manner hervorgebracht wird. Aber lassen sich mcht Manner mid Frauen gleichermaBen durch em BewuBtsein ihrer Gefilhle von Liebe, Zuneigung, Zorn oder Ablehnung leiten, wenn sie Denk- und Handlungsforniefl sich aneignen oder politische Kräfte und Institutionen unterstutzen? Zweitens >>hat sich die Soziologie auf öffentliches, offizielles, sicht bares und/oder darstellungsoriefltierteS Rollenverhalten mid ent sprechende SituationsdefiflitiOflen konzentriert, wiihrend inoffizielle, weniger darstellungsoriefltierte, private, unsichtbare und karitative Be reiche der Gesellschaft gleichermaBen wichtig sein könnew< (ebd., X). Wenn der Bereich gesellschaftlichen Handeins in dieser Weise em geengt wird, können wir nur sehr schwer em angemesseneS Bud des gesellschaftlichen Lebens entwickeln. Solche und ahnliche Einschrän kungen führen zum Beispiel dazu, die Art und Weise, wie Frauen in formelle Macht errungen haben, unsichtbar zu machen. Sie verbergeri die informellen Systeme männlicher SchirmherrsChaft und Patronage, die die begehrten Karrierewege für Manner freihalten, wahrend sie weibliche Angestelite zugleich isolieren mid dadurch die auf Anti diskriminieruflg zielenden Programme umgehen. Verborgen bleibt auch die analytisch mcbt greifbare Substruktur der von Frauen ge schaffenen karitativen Vernetzungefl, ohne die es in Kunst, Literatur, Politikund Wissenschaft keine >>Genies<< gegeben hätte (ebd., 33). Und schlieBlich wird auch die Bedeutung der geseilsehafflichen Interaktio nen in den lokalen und regionalen Strukturen des GemeinschaftSlebenS ‘: Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 91 unsichtbar gemacht. Gerade hier aber kommt den Frauen eine Vor rangstellung zu, hier werden die verbindlichen Formen der Interaktion und Politik herausgebildet, in denen Manner als die Schopfer der Ge sellschaftsstruktur erscheinen (ebd., XII). Drittens geht die Soziologie oft von der für Maimer und Frauen gleichermafien gultigen Existenz einer ‘einheitlichen Gesellschaft’ aus, bezüglich derer sich für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen verallgemeinernde Behauptungen aufstellen lassen. Tatsächlich aber können Manner und Frauen in je verschiedenen gesellschafflichen Welten zu Hause sein<, und diese Differenz wird nicht in Rechnung ge steilt (ebd., Xffl). argurnentiert So etwa Jessie Bernard, daB aus em und derselben Heirat für den Mann und die Frau verschiedene Wirk lichkeiten resukieren können, mid diese Tatsache macht alle Verall gemeinerungen über Heirat und Familienlebe n hinfällig, die die posi lions- und interessenbedingten Unterschiede mcht 4 berücksichtigen. In ähnlicher Weise macht die Wirtschaftswissenschaftlerin Heidi Hart mann auf den >>Geschlechterkampf<< aufmerksarn, der in der Familie urn die Hausarbeit gefuhrt wird, und der die Verantwortung dafftr trägt, daB Manner und Frauen in weiten Bereichen öffentlicher Politik unterschiedliche Interessen vertreten. 5 Weitere Analysen decken viele andere Institutionen und Interaktionsformen auf, in denen Frauen weit eher als Manner gezwungen sind, ihre Erwartungen herabzuschrauben und ihr Unbehagen zu rationalisieren, urn äkonomische oder gesell schaftspolitische Vorteile zu erlangen. Das soziologische Problem der >>einen, einheitlichen Gesellschaft<< laBt sich auf begriffliche Schwierigkeiten in den Sozialwissenschaften beziehen, die von anderen Feministinnen bemerkt worden sind. Die geläufige Annahme, daB eine bestimmte Gesellschaftsstruktur oder Verhaltensweise für die Handelnden oder die Gesellschaft funktional ist, ignoriert für gewOhnlich das MiBverhältnis zwischen dem BewuBt sein, den Wünschen und Bedürfnissen der Frauen und der ihnen zuge schriebenen Rolle. 6 Uber das Sich-Einfugen in Rassen- und Kiassen hierarchien hinaus müssen Frauen gezwungenermaBen ihr Wesen und ihre Tätigkeiten an Beschränkungen anpassen, die sie nicht selbst ge wãhlt haben. Es ist die Kiuft zwischen ihrem (Selbst-)BewuBtsein und den von ihnen erwarteten Verhaltensweisen, welche die der Selbst erfahrung sich verdankenden Errungenschaften der Frauenbewegung zu einer in wissenschaftlicher wie politischer Hinsicht wichtigen Ressource gemacht hat. Männlich dominierte gesellschaffliche An! Ordnungen sind für Frauen nicht funktional, doch laBt sich diese Tat sache einfach am Verhalten der Frauen selbst ablesen. ii :1 Viertes Kapitel — — 93 Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — 92 — — Meine parenthetisehe Bemerkung im vorhergehenden Absatz weist darauf hin, daB die Problematik des sozialen Geschlechts als Variable im historischen und gegenwärtigen sozialen Leben auf ebenso verwir rende wie nahe-liegende Weise mit Diskussionen über die Bedeutung des biologischen Geschlechts für das gesellschaftliche Handein ver knüpft ist. Die Historilcerin Joan Kelly-Gadol hebt hervor, daB auch in der Geschichtswjssenschaft feministische Gelehrte auf die Ignoranz aufmerksam gemacht haben, die dern >>biologischen Geschlecht<< als Faktor gesellschafthichen Handeins zuteil geworden ist, obwohl es Viertens wird >>in verschiedenen Feldstudien das biologische Ge schlecht als Verhaltensfaktor nicht berucksichtigt, obwohl es in expla natorischer Hinsicht zu den wichtigsten Variablen gehoren könnte<< (ebd., XIV; aus der von mir vertretenen theoretischen Perspektive geht es Miliman und Kanter urn die soziale, nicht urn die biologische Ge schlechterdifferenz). Weichen Einfluli hat zum Beispiel das soziale Geschlecht in Lehrerschaft und Arztestand auf die Interaktion mit Schülern und Patienten? Wie wirken sich lclischeehaft rnännliche Modeilvorstellungen des Künstlers, des Wissenschaftlers oder der er foigreichen Persönlichkejt auf die Motivation der Frauen aus, traditio nell männliche Bereiche zu betreten und in ihnen als erfoigreich an erkannt zu werden? Soiche und ähnliche Fragen werden in soziologi schen Analysen oftrnals ignoriert. — Ahnlich problematische Implikationen ergeben sich in der Anthro pologie. Hier wird zum Beispiel behauptet, dali die Geseilschafts modelle (de facto Modelle der Grenzen des Gesellschaftlichen selbst), von denen Manner in alien Kuituren ausgehen, mit den anthropolo gischen Modellen westlich-männlicher Forscher auf besondere Weise 7 Frauen als geselischaftlich Handeinde übereinzustimmen scheinen. un Gegensatz zu Männern ihrer eigenen Kultur und zu scheinen (männiichen) Sozialwissenschaftlern signifikant andere und weiter gefafite Vorstellungen von den Bedingungen geseilsehafflicher Interak tion und Struktur zu haben. Nicht unwichtig für unsere Interessen ist die offenkundige Tatsache, daB vieles, was Manner zur Natur zählen (zu dem, was jenseits der iculturellen Grenzen liegt), für die Frauen Bestandteil der Kultur ist. Des weiteren kommt die Zweiteilung der menschlichen Aktivitäten in bezahite Arbeit und individuell geregelte Freizeit den Vertretern ad ministrativer Herrschaft in den industrialisierten Gesellschaften sehr gelegen. Da das Freizeitverhaiten als Privatsache des Individuums Die Soziologin Dorothy Smith hat analysiert, wie die Begriffsstruk tur der Soziologie sich mit administrativen Modellen der Gesell schaftsstruktur und den administrativen Interessen und Persönlichkeits typen, die Manner aller Kiassen in unserer Kultur für erstrebenswert zusammenfugt. Für sie ist der Begriffsapparat der Soziologie halten, 8 Bestandteil eines umfkssenderen Begriffsapparates, der für Gesell schaften nut männiich dorninierter, administrativ ausgerichteter Herr schaft typisch ist. So weist sie zum Beispiel darauf hin, daB die sozio iogische Kategorie der Hausarbeit<< in em Begriffsschema eingefugt worden ist, das alle menschlichen Aktivitäten einer Dichotomie von >>Arbeit<< und >>Freizeit<< subsumiert, die für männliche Lebenszusam menhänge sehr viel eher zutrifft als für weibliche. Kindererziehung, Kochen, Saubermachen etc. sind sicherlich Betatigungen im Sinne ge sellschaftiich nützlicher Arbeit und stellen zugleich gewisse Aspekte von Freizeitverhalten im Sinne einer öfter ausgeubten und angenehmen Tatigkeit dar. Doch für Frauen ist damit zugleich mehr und weniger vermacht, als es diese Kategorien nahelegen. Vor allem die Kinder erziehung scheint durch diese Dichotomie uberhaupt mcht adaquat er faflt werden zu können. Sie ist weniger >>Arbeit<< ais das Babysitten mit seiner festgelegten Zeit, seiner begrenzten Verantwortlichkeit und seinem (wenn auch geringen) ökonomischen Entgelt. Doch ist die Kindererziehung für Frauen (ganz zu schweigen von der Gesellschaft) von ungleich grolierem Wert als eine Bridgepartie, em Strandausfiug oder die meisten Formen der Lohnarbeit. gilt, bedarf weim überhaupt nur die Lohnarbeit der Einbindung in staatliche Sozialprograimne. Obgleich der sozialstaatliche Kapita lismus wachsenden Forderungen nach staatlicher Unterstutzung für Frauen, Kinder, Alte, Kranke und Arbeitsiose hat nachgeben müssen, gilt den politischen Praktikern und Theoretikern dies mimer noch als reine Sozialprogrammatik, während die wirkiich politischen Weichen stellungen im Bereich der Arbeits- und Aulienpolitik erfolgen. Smith geht davon aus, daB die Soziologie durch ihre Reproduktion der erkenntnisleitenden Kategorien des Industriekapjtaljsrnus in dessen Herrschaftsforrn integriert worden ist. (Es ware auch zu fragen, ob der Marxismus durch seine Tendenz, den eigentlichen Ort des Politischen der auf den Produktionsberejch eingeengten Okonornie zuzuwei sen, nicht ebenfalls die Begriffswelt des Kapitalismus reproduziert und ihr dadurch Schützenhilfe gibt. 9) Dorothy Smiths Argumente lassen sich auf viele Begriffsstrukturen anderer Sozialwissenschaften über tragen. Frauen und Manner leben durchaus nicht in einer für alle glei chermalien einheitlichen Gesellschaft, sondern offenbar in verschiede nen Welten. Doch nur die der Manner wird von der Sozialwjssenschaft für die eigentlich gesellschaffliche Welt gehalten. AI .4 I 4 I 94 Viertes Kapitel moglicherweise die einzige Variable in der Geschichte darsteilt, die wiridich von Bedeutung ist. Es geht ihr nicht urn den Nachweis, daB biologische Geschlechterdifferenzen den Verlauf der Geschichte be stimmt haben, sondern urn die Ausarbeitung der Behauptung von Simone de Beauvoir, daB >>die Frau mcht geboren, sondern gernacht wird<. Gesellschaffliche Konstruktionen von Sexualität und sozialem Geschlecht haben dazu geführt, daB Frauen und Männern je verschie dene Rollen in der Gesellschaft zugewiesen wurden. Auch Manner werden mithin >>nicht geboren, sondern gemacht<<, und sie sind unver kennbar Manner im geschlechtsspezifischen Sinn, d.h. keine Reprä sentanten der >>Menschheit<<. Kelly-Gadol argumentiert, daB der Ge schichtsverlauf nicht nur durch unverwechselbar männliche Wünsche und Bedürfnisse, sondern auch durch die gesellschaftlich konstruier ten Tatigkeiten der Frauen geprägt worden ist. Die Behauptung, Wesensformen und Tatigkeiten der Frauen seien grundsätzlich biologi schen, die der Manner dagegen gesellschaftlichen Ursprungs und daher für die sozialen Strukturen you und ganz verantwortlich, ent stelit die Frauen, die Manner und die Gesellschaft auf doppelte Weise. Noch emma! Miliman und Kanter: >>Wenn mànnliche Sozio logen (oder Manner überhaupt) bei der Sitzung eines ausschlieliuich aus Männern bestehenden Aufsichtsrats zugegen sind, so denken sie, daB sie sich in einer geschlechtsneutralen oder geschlechtslosen, nicht aber einer rnännlichen Welt befinden<< (ebd., XIV). Wenn wir >>ge schlechtslos<< (sexless) durch ungeschlechtlich<< (genderless) ersetzen, dann sehen wir das Problem, auf das die Kritikerinnen abzielen: Frauen (und nur sie) repräsentieren das >>soziale Geschlecht<<, Manner dagegen (und nur sie) die Kultur. Fünftens >>können bestimmte (häufig quantitativ orientierte) Metho dologien und Forschungssituationen (in denen zum Beispiel männliche Sozialwissenschaftler Bereiche untersuchen, die Frauen einschliefien) sich der Kenntnisnahme bestimrnter Informationen systematisch ver schlieBen. Gerade diese Informationen können aber für die Erklärung des untersuchten Phänornens von höchster Bedeutung sein<< (ebd., XV). Sicherlich ist die Kritik an der exzessiven Bevorzugung quantita tiver Methoden nicht erst mit dein Feminismus entstanden. Neu an der feministisehen Kritik ist der (bereits erwähnte) Verdacht, daB die Vor liebe für Variablen anstelle von Personen >>mit einem unerfreulich ubertriebenen männlichen Stil der Manipulation und Kontrolle in Ver bindung gebracht werden kann<< (ebd., XVI). Der EinfluB, den das soziale Geschlecht des Forschenden auf die Angemessenheit der Forschungsergebnisse ausübt, hat verschiedene A F : ‘ Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 95 Dimensionen. Da ist einmal das offensichtliche Problem, daB Manner aus gesellschaftlichen Gründen zu vielen >>weiblichen<< Lebensberei chen keinen wirldichen Zugang haben, das gilt für unsere Gesellschaft ebenso wie für andere Kulturen. Em indirekter Zugang eröffnet sich ilinen vor allern durch männliche Gewithrsleute, deren Kenntnis dieser Lebensbereiche begrenzt und durch regionale ideologische Vorstellun gen gepragt ist. Wenn thnen em direkter Zugang errnoglicht wird, ver ändert ihre Anwesenheit die Situation, die sie beobachten oder die Antworten, die thnen gegeben werden, aufeine Weise, weiche über die für em Interview oder eine Beobachtersituation spezifischen Verzer rungen weit hinausgeht. Diese Rethe von methodologischen Proble men erklärt zum Teil, warurn die Sozialwissenschaft sich fast aus schlieBlich auf offizielle, sichtbare, und/oder darstellungsorientierte Handlungstrager und -situationen konzenthert, denn (mannliche) Be obachter haben in erster Linie zu dieser Welt Zugang, und eben diese Welt und ihre Akteure werden von den männlichen Gewährsleuten in den untersuchten Kulturen für vorrangig wichtig gehalten. Die historischen Dimensionen dieses Problems sind Gegenstand fortwährender Diskussionen in der Anthropologie, denn die idassi schen ethnographischen Darstellungen stammen in erster Linie von Männern, die zu >>eingeborenen<< Frauen und ihren Aktivitaten nur einen auBerst beschränkten und mittelbaren Zugang hatten. 11 Der gestalt sind die Berichte daruber, wie Frauen wirklich denken und handein, sehr vie! unzuverlassiger als in bezug auf das Denken und Verhalten der Manner. Doch auch hier gibt es fragwUrdige Aspekte, dean die Manner sind ja von der Vergeschlechtlichung nicht ausge nommen, und es ist aligemein bekannt, daB Manner ihresgleichen an dere Facetten ihres Denkens, Fühlens und Verhaltens mitteilen als sie dies Frauen gegenuber tun. Selektive und verzerrte Kommunikation findet also zwischen Männern ebenso statt wie zwischen Mannern und Frauen. Alle diese methodologischen Schranken verweisen erneut auf die Frage nach dem verdachtigen Zusani.menspie! zwischen den von der Sozialwissenschaft bevorzugten Theorien und Begriffen und denen, die von Männern aller Kulturen favorisiert werden. Diese fünf Schlaglichter feministischer Kritilc sollen nicht als you ständige Liste der Formen und Strukturen mannlicher Verzerrung in den Sozialwjssenschaften verstanden werden. Unsere kurze Ubersicht kann bei weitem nicht alle Probleme der Soziologie ansprechen, und die Psychologie, die Anthropologie, die Geschichts- und Wirtschaftswissen schaft besitzen ihre je eigenen Methodologien und Themenbereiche, in denen es auf gleiche Weise zu Verzerrungen und Einseitigkeiten in der 96 — — Viertes Kapitel Analyse gesellschaftlicher Strukturen kommt. Doch soilte diese kurze Skizze für den Nachweis genUgen, daB die Selbstwahrnehmung der Sozialwissenschaft hinsichtlich ihres Versuchs, wertfrei, objektiv und leidenschaftslos zu sein, durch die feministische Kritik ernsthaft in Frage gestelit wird. Es ist, wie ich bereits andeutete, durchaus un klar, ob diese Probleme einzig und allein daraus resultieren, daB die Sozialwissenschaft sich in ihren Themenbereichen, in der Vielschich tigkeit der Variablen und in der geringeren Ausgereiftheit von den Naturwissenschaften unterscheidet. Von groBerer Wichtigkeit für diese Studie ist die Tatsache, daB all diese Probleme in den auserwählten Arbeiten zur Philosophie, Ge schichte und Soziologie der Naturwissenschaft, d.h. in ihren sozial wissenschaftlichen Aspekten, ebenso wieder auftauchen wie in den popularen Auffassungen von Wissenschaft. Auch in den Naturwissen schaften sind gesellschaftsrelevante Bereiche >>aufgrund der Verwen dung konventioneller Definitionsmodelle<< Ubersehen worden. Auch hier haben sich traditionelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen auf >>öffentliche, offizielle, sichtbare und/oder darstel1ungsorientierte Aspekte konzentriert, was auf Kosten der vielleicht gleichermaBen wichtigen >>inoffiziellen, weniger darstellungsorientierten, unsicht baren, privaten und karitativen Bereiche sozialer Lebensformen<< ge schah. Auch in bezug auf die Naturwissenschaften wird oft von einer >>einheitlichen Gesellschaft<< ausgegangen, >>bezuglich derer sich für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen verallgemeinernde Behauptun gen aufstellen lassen, während Manner und Frauen tatsachlich in ver schiedenen Welten leben können<. GleichermaBen gilt, daB das soziale Geschlecht >>als Verhaltensfaktor nicht berücksichtigt wird, obwohl es in explanatorischer Hinsicht zu den wichtigsten Variablen zählen kann.<< Und schlieBlich können auch in den Naturwissenschaften methodologische Verfahrensweisen und Forschungssituationen >>sich der Kenntnisnahme bestimmter Informationen systematisch ver schlieBen<<, obwohl diese Informationen >>fUr die Erklarung des unter suchten Phänomens von groBter Bedeutung sein können<<. im Gegensatz zu den Dogmen des Mein Argument war, daB Empirismus für das Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft die gleichen analytischen Kategorien angewendet werden können, und daB die Wissenschaft nicht einfach em besonderes Ensemble von Aus sagesätzen oder eine eindeutig festgelegte Methode darstelit, sondern sich als eine umfassende Reihe bedeutungstragender gesellschafflicher Praxisformen erweist. Wenn diese Praxisformen durch das Selbstver stAndnis geprägt werden, das die Wissenschaft von ihrer Wesensart S ; 5 L Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — — 97 und ihren Zweckbestimmungen hat, dann soilten entgegen den empiristischen Dogmen die von Physik und Chemie produzierten Behauptungen und Uberzeugungen auf die gleiche Art erklärt werden wie jene, die aus anthropologischer, soziologischer, psychologischer, Okonomischer, politischer und historischer’ Forschung resultieren. Wunde Punkte in der biologischen Forschung — —, Von der Biologie wird angenommen, daB sie (wenigstens dem Prinzip nach) den sozialen Leidenschaften, deren Wellen am Gebäude der Ge sellschaftsforschung nagen, weniger ausgesetzt ist. Es ware allerdings nicht schwierig, der soeben ersteilten Liste von Verzerrungen in der Sozialwissenschaft etwas für die Biologie Passendes an die Seite zu stellen. D Doch will ich in diesem Kapitel nicht die umfassende Litera tur zu männlichen Desorientierungen Revue passieren lassen, sondern vor Augen führen, daB soiche Verzerrungen vorkommen, und ich möchte zum Nachdenken über Ursachen und Losungsmoglichkeiten anregen. Von daher besteht meine Strategie in der Betrachtung einer erhellenden Analyse jener Schwachstellen, an denen männliche Ver zerrungen in der biologischen Forschung ihre Wirkung entfalten. Zu gleich werde ich die wissenschafts- und geschlechtsspezifischen An nahmen, von denen diese Analyse sich leiten lãBt, kritisch reflektieren. Es gibt, so wird in der Biologie argumentiert, zwei Arten von Unter suchungen zur biologischen Geschlechterdifferenz evolutions theoretischer und neuro-endokrinologischer Provenienz deren Forschungsergebnisse sich auf eine Weise überschneiden, daB die An nahme biologisch determinierter Geschlechterrollen nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Die feministische Kritik hat sich dieser Unter suchungen in besonderem MaBe angenommen und dabei auch die mut mafilichen Implikationen, die sich aus der Uberschneidung der For schungsergebnisse ableiten, zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. Trafe zu, was die Untersuchungen behaupten, so lieBe sich das Argument, moralische Erwagungen und aufgeldarte Politik müB ten der männlichen Vorherrschaft und der Einschränkung weiblicher Moglichkeiten em Ende setzen, noch schwerer vorbringen als bisher. Ja, soilte dieser biologische Determinismus sich bewahrheiten, dann müfite em >>weiblicher Wissenschaftler<< em Widerspruch in sich sein. (Ich stimme, um hier einmal vorzugreifen, mit dieser deterministi schen Argumentation darin überein, daB es einen Widerspruch gibt, doch ziehe ich daraus andere SchluBfolgerungen.) 98 — Viertes Kapitel — Diese Untersuchungen überschneiden sich nun auf folgende Weise. biologi Einige NeuroEndokrinOlogefl behaupten, sie könnten die schen Determinanten menschlicher Verhaltensformen nachweisen. Von traditionell androzentrisch ausgerichteten Evolutionstheoriefl ge wiederum wird erklärt, daB die Wurzeln einiger (vor allem mit der schlechterspezifiSChen Arbeitsteilung vermachter) menschlicher Ver haltensformen in der Geschichte der menschlichen Evolution zu finden aus, sind Einige hervorragende Wissenschaffler gehen sogar davon die daB die heutigen Lebensformen der westlichen Mittelschichten, den Frauen die Hausarbeit und den Männern die öffentlich-rechtlichefl HerrschaftspositiOnefl zuweisen, ihren Ursprung im Bündnis des >>männlichen Jagers<< nut anderen Männern zum Zwecke der Grofiwild urn jagd besitzt, derweil die Frauen in der heimischen Höhle blieben, 14 sich der Hege und Pflege der Kinder zu widmen. —, -tendenzen zu >>Wenn diese eher ailgemein beschriebenen Verhaltensformen oder Verhaltensformen den von der Neuro-EndokrinOlogie untersuchten spezielleren wurde em Bild biolo und -dispositionen in Beziehung gesetzt werden könnten, entstehen. Evolu gisch determinierter Universalien menschlichen Verhaltens biolo tionstheoretische Untersuchungen wurden die Universalien bereitstellen Gattungsgeschichte gische und gesellschaftliche GeschlechterrOllefl, die durch die wahrend die Neuro-EndokrinOlOgie den bio hindurch konstant geblieben sind dieser speziellen logischen Determinismus untermauert d.h. die Abhängigkeit HormonausschüttLlng Verhaltensformen und -dispositionen von der pranatalen )Th 223 nachweist.<< (Longino und Doell 1983, Wenn also die tragenden Hypothesen für jeden der beiden Bereiche der nicht verifiziert werden können, ist auch thre Verbindung hinfällig: biologische Determinismus bedarf einleuchtender Argumente sowohi Verhal für die Existenz kulturubergreifender geschlechtsspezifischer tensuniversalien als auch für die im Individuum liegenden genetischen ist Ursprünge dieser Verhaltensformen. Keine von diesen Hypothesen femini in der Biologie unumstritten gewesen, ob die Kritik daran nun stisch war oder mcht. Ich werde mich im folgenden auf die evolutions hier theoretische Hypothese konzentrieren, weil die Zusammenhänge dar kürzer und (für Nicht-Biologinnefl und -biologen) verständlicher gestelit werden können. Helen Longino und Ruth Doell geben eine nützliche Ubersicht über die Schwachstellen, an denen evolutionstheoretische Untersuchungen können. dem Vorwurf androzentrischer Einseitigkeit ausgesetzt werden (und Ich werde ihre Studie durch die Argumente anderer Biologinnen Biologen) ergänzen. Aufdiese Weise kann die schematisierte >>Geschich nur Bei te<< einer Forschungsrichtung als Leitfaden dienen, der nicht Hand spiele für weit verbreitete Formen mannlicher Verzerrung an die gibt, sondern auch einen genaueren Buck auf den ForschungsprozeB Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 99 und die verschiedenen Möglichkeiten erlaubt, mittels derer kulturell bedingte Einseitigkeiten die Forschungsergebnisse beeinflussen können. Longino und Doell zeigen, daB männliche Verzerrungen an verschie denen Punkten in die evolutionstheoretische wie auch die endokrinolo gische Forschung eindringen können, wenn es nämlich darum geht, sweiche Fragen gestelit werden; weiche Arten von Daten verfügbar und bedeutungsvoll sind und als Beweismaterial für verschiedene Fragetypen herangezogen werden; weiche Hypothesen als Antworten auf diese Fragen angeboten werden; wie weit Beweismaterial und Hypothese in jeder Kategorie auseinanderkiaffen; und, schlieBlich, wie dieser Abstand überbrückt wird<< (ebd., 210). Für uns jedoch ist die Analyse von Longino und Doell aus GrUnden interessant, die über die Dokumentation androzentrischer Angriffs punkte hinausflihrt. Obwohl sie meinen, daB die feministische Kritik keinen Unterschied zwischen >>schlechter<< und >>normaler<< Wissen schaft machen müsse, fassen sie de facto die von thnen dokumentierten Fälle von Androzentrismus in erster Lime als Beispiele für schlechte Wissenschaft auf. Sie scheinen zu glauben, daB die methodologischen Normen der Biologie selbst nicht problematisch sind und Reformen in diesem Bereich zur Beseitigung des Androzentrismus fuhren können. Ihre Analyse versteht sich als Widerlegung soicher feministischen Argumente, weiche die wissenschaffliche Methode an sich für andro zentrisch beeinfluBt halten. — ... In evolutionstheoretischen Untersuchungen geht es urn die Frage nach der Entwicklung von anatomischen Elernenten und Verhaltens formen und nach dern Zusammenhang zwischen beiden: Weiche ana tomischen Entwicklungen haben weiche Verhaltensformen beeinfluBt und vice versa? Soiche Fragen scheinen nicht besonders androzen trisch zu sein auBer wenn sie sich auf die Rolle biologisch determi nierter Geschlechtsdifferenzen in der menschlichen Evolution konzen trieren. Diese Ausnahme ist allerdings nicht ohne Bedeutung. Longino und Doell weisen daraufhin, finden siejedoch nicht besonders proble matisch: >>Einige feministische Kritikerinnen [wie etwa Ruth Hubbard] haben vorgeschlagen, die ganze Kategorie des ‘biologischen Ge schlechtsunterschieds’ als Erfmdung zu betrachten, die durch den Sexisrnus und durch analytische Tendenzen in der Wissenschaft, die aufUnterschiede statt aufAhnlichkeiten abheben, gestützt worden ist. In gemäBigterer Form kann argumentiert werden, daB der [in neuro endokrinologischen Untersuchungen auftauchende] Begriff des ‘Wild fangs’ (tomboy) einen geringen Unterschied in den Verhaltensforrnen Aus anderer junger Mädchen bezeichnet und zugleich mystifiziert. 100 ... Viertes Kapitel Perspektive könnte eine Bezeichnung für junge Mädchen gefunden werden, die sich nicht wie em Wildfang benehmen, und man könnte machen<< die Determflaflten ihres besonderen Verhaltens ausfindig ar (ebd., 226). Alinlich könnten sie in bezug auf die EvolutionstheOrie gumentieren, daB die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Beschrei Sprache der Brautwerbung, die gewohnlicherWeiSe bei der bung des PaarungsverhalteflS von Affen und anderen Tieren (wie auch erset von Menschen) verwendet wird, durch eine wertfreie Sprache zu problema zen ware. Doch wird die Frage der Definition dessen, was (z.B. tisch ist und von daher der wissenschaftlichefl Erklärung bedarf Gegensatz das Problem des biologischen GeschlechtsUflterSChleds im dadurch zu GeschlechterãhflhiChkeiten wie auch GattungsdiffereflZen) durch gelost, daB man eine offensichtlicb androzentrisChe Sprache Biologie eine für rein deskriptiv gehaltene ersetzt? Könnte nicht die bedienen sich einer voffig wertfreien Sprache (wean es sie denn gibt) ForschungsprOble mid dennoch in ihrer Auswahl und Definition von men androzentrisCh sein? Die für die Beantwortung der anatomischen (und physiologischefl) Fossiien, Fragen verfügbaren Daten stammen in erster Lime von be wobei wit uber die fruhesten Hominiden mcht sehr viel Material moderne sitzen. Doch weisen Longino und Dod darauf hin, daB Datierungsmethodefl die relativ verläBliche Zuordnung von Fossilien Datengrundlage zu einer evolutionärefl Sequenz gestatten. Auch die korperlicher für SchluBfolgeruflgen hinsichtlich individueller oder rein VerbaltensweiSefl (wie Ernahrung und FortbewegUflg) 1st relativ ver läBlich. die Die meisten Kontroversen entzunden sich an den >>Daten, die für Evolution gesellschaftlich-iflteraktivefl Verhaltens in seinem Verhält sind ms zur Entwicklung der menschlichen Anatomie von Bedeutung drei (ebd., 212). Die hier für relevant gehaltenen Daten stainmen aus QuailQuellen: Fossilien (unter EinschluB der >>geschätzten GröBe und gegen that der Uberreste in Siedlungsbereichen von Hominiden<<); gegenwärtig wärtig existierende Jäger- und sammlergesellschaftefl; existierende primatengemeinschaften. >>Da es zwischen menschlichen Unterschiede wie mcht-menschliChefl PrrniatengrUPpen beträchtliche Ver gibt, ist die Bedeutung des in allen diesen Gruppen beobachteten Homini haltens für die Rekonstruktion der Verhaltensformen fruher Das Verhalten gegenwartig den standigern Zweifel ausgesetzt. darstellen, lebender Affen, die keine ursprungliche Gattung mehr em frag sondern sich evolutionär weiterentwickelt haben, 1st ohnehin Vorfahren wurdiges Modell für das Verhalten unserer hominiden Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 101 (ebd.). Allerdings 1st die Tatsache, daB Affen und Mitglieder moder ner Jäger- und Samnilergesellschaften sich als entwickelte Gattungen von den Horniniden unterscheiden, nicht das einzige Problem, wean man Beobachtungen an Affen als Material für Verailgerneirierungen über frühe oder moderne menschliche Kulturen benutzt. Longino und Doell vermerken nicht, daB die meisten Untersuchungen in dieser Richtung bis in die jtingste Gegenwart durchgeführt worden sind, ohne daB em BewuBtsein über die Notwendigkeit bestand, androzentrische Sichtweisen zu vermeiden. Foiglich weisen diese Untersuchungen die unverkennbare Tendenz auf, in das >>Wesen< und die Sozialbeziehun gen von Affen rassistische und sexistische Strukturen jener Gesell schaft(en) hineinzuprojizieren, in denen die Forscher und Beobachter zu Hause sind. 16 Daruber hinaus kann nicht nur die menschliche Gattung aus Erfahrungen lernen mid sich Veranderungen der Urnwelt schopferisch anpassen. Seleictives Sammeln, Interpretieren und Ver wenden von Daten über Affengemeinschaften ftihrt zur falschen Vor stellung, daB das soziale Leben der Affen selbst bereits vollig biologisch determiniert sei, wornit man an der eigentlichen Frage vorbeigeht. 17 — — GleichermaBen skeptisch verhalten sich Anthropologinnen gegen über der Annahme, daB die sozialen Strukturen zeitgenossischer Jäger- und Saninilergesellschaften die gleichen sind wie die unserer Vorfahren zu Beginn der rnenschlichen Geschichte. Sie zeigen, daB selbst die fruhesten Beobachtungen westlicher Forscher dem Irrtum unterlagen, sie hätten es mit von westlicher Ziviisation völlig unbe ruhrten Menschen zu tan. Tatsächlich nämlich handelte es sich urn Gruppen und Gemeinschaften, die bereits zur Ubernalime westlich kultureller Muster gezwungen worden waren. Eleanor Leacock weist zum Beispiel darauf inn, daB die von westlichen Forschern des acht zehnten Jahrhunderts beschriebene Vorherrschaft der Manner in den Jäger- und Samnilergesellschaften Kanadas eine durch und durch kunstliche Konstruktion darsteilte, die aus der Kombination zweier Faktoren resultierte: zum einen waren es androzentrische Erwartungen seitens der Beobachter (die nicht nur das selektive Sammein und Inter pretieren der Beobachtungen beeinfluBten, sondern auch das tatsäch liche Verhalten bestimmten, das die Jager und Sammler den Forschern vorfiihrten), zurn anderen hatten diese Gesellschaften aufgrund ihrer Nachbarschaft zu westlichen Menschen und der daraus resultie renden Veranderung threr wirtschaftlichen Aktivitäten bereits ge wisse Anpassungsleistungen vollbracht. 18 Die Annahme (so Eleanor Leacock) einer universellen Vorherrschaft der Manner sei falsch, viele Kulturen wären in bezug auf die Geschlechter egalitar gewesen, bevor 102 Viertes Kapitel der Westen sic beeinfluBt habe. Dies Argument findet in der Anthro pologic keine ungeteilte Zustimmung, doch es ist em Korrektiv für die untersteilte UrsprUnglichkeit auch heutiger Jager- und Sainmler kulturen. Was mithin das Sammein, Interpretieren und Verwenden von Daten Uber die Frühzeit der menschlichen Geschichte angeht, scheinen an drozentrische Annahmen sehr viel haufiger und gelaufiger zu scm als der Bericht von Doell und Longino vermuten läBt. Wie viele dieser Annahmen lassen sich durch alternative Darstellungen und durch die strengere Beachtung der real existierenden methodologischen MaB stãbe biologischer Forschung beseitigen? Wohi haben Manner wie Frauen zur Kritik am Androzentrismus in der Biologic beigetragen, was aber bedeutet die Tatsache, daB die alternativen Darstellungen von Forscherinnen stammen, mitten in der zweiten Welle der Frauenbewe gung? Longino und Doell weisen daraufhin, daB Feministinnen im Gegen satz zur Hypothese vom >>männlichen Jager<< eine >>umfassendere und kohärentere< Theorie entwickelt haben (ebd., 216). Der >>männliche Jäger*c, so wird behauptet, sei für die Entwicklung von Werkzeugen als Hilfsmitteln bei der Jagd verantwortlich gewesen. Und genau dieser (vermutlich auf Manner beschränkte) Werkzeuggebrauch habe die Entwickkmg des aufrechten Gangs gefordert und in der Folge effek tivere Jagdstrategien hervorgebracht, die sich threrseits durch groBere Kooperation mittels Arbeitsteilung zwischen den Jagern ausgezeichnet hätten. Ferner konnte sich dadurch die GebiBform verändern, denn nun konnten die Manner aggressives Verhalten demonstrieren, >>indem sIc nicht mehr die Eckzähne zeigten oder benutzten, sondern mit Ge genständen drohten und warfen<. Diese Veränderungen führten wiederum zur Aufnahme energiereicherer Nahrung. Manche Vertei diger dieser Theorie behaupten, das männliche Jagdverhalten sei der evolutionäre Ursprung der ‘Männerbünde<< in der heutigen Gesell schaft, und von daher gäbe es gute evolutionäre Grunde, warum Manncr die Frauen aus ihren wirtschafflichen Aktivitäten (wie etwa der Wissenschaft) auszuschlieBen suchen. In einer soichen Hypothese er scheinen Manner als die alleinigen Schopfer des Ubergangs von der vormenschlichen zur menschlichen Kultur. DarUber hinaus wird der immense kulturelle Abstand zwischen fruhmenschlichen Kulturen und dem Industriekapitalismus damit erklärt, daB er ganz und gar aus der kontinuierlichen Verarbeitung biologischer Jmperative<< resultiere, die den Mann zur Erschaffung der Kultur getrieben hätten. Die Tatig keiten der Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft (ausgenommen I Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — — — 103 — natürlich die der >>unnatürlichen Frauen<< wie etwa Feministinnen) werden den Tätigkeiten der >>Weibchen<< in den vormenschlichen Grup pen zur Seite gesteilt: grundsátzlich besteht die so Behauptung zwischen beiden kein Unterschied. Diese Art der Darstellung an der auch Darwin nicht unschuldig ist erweckt, wie eine Biologin vermerkt, den Eindruck, nur dem Glücksfall der Vererbung des väter lichen Genmaterials auf Söhne und Töchter sei es zu verdanken, daB die heutigen Manner sich nicht mit weiblichen Affen paaren müssen. So fragt denn auch diese Biologin im Titel eines Aufsatzes, ob nur Manner der Evolution teilhaftig geworden seien. 20 — — — — — — Longino und Doell diskutieren auch die alternative Hypothese der weiblichen Sammlerin<<, die von einigen Anthropologinnen eat wickelt worden ist. 21 Während der männliche Jäger vorwiegend Werkzeuge aus Stein erfand, haben die Frauen wahrscheinlich bereits vorher Werkzeuge aus organischen Materialien wie Holzstöcken und Gräsern entwickelt. Dies sei, so wird vermutet, eeine Reaktion auf den groBeren, ernahrungsbedingten StreB gewesen, dem Frauen zunächst in der Schwangerschaft, spater dann während der Stilizeit und bei der Fütterung der Kleinkinder mit in der Savanne gesammelten Nahrungs mittein ausgesetzt gewesen sind<< (ebd., 213). Andere Theorien gehen davon aus, daB die aufrecht-zweifuflige Haltung evolutionsgeschicht lich zu dem so genannten >>Entbindungsdilemma<< fUhrte: durch diese Haltung verengte sich der Geburtskanal, während der Gebrauch von Werkzeugen den selektiven Druck bezuglich der Erweiterung des Gehirnvolumens und damit auch der SchadelgrOBe verstärkte. Die Losung dieses Dilemmas bestand darin, die menschlichen Sauglinge in einem für Primaten sonst nicht typischen unreiferen Stadium zur Welt kommen zu lassen. Das wiederum machte eine umfang reichere und längere Hege und Pflege durch Erwachsene die nicht notwendigerweise Frauen scm muBten erforderlich, woraus em moglicherweise verrnehrter ernährungsbe dingter StreB auf seiten der Frauen resultierte. (Andererseits ermöglicht dies intensive Stadium enger Verbundenheit mit Erwachsenen auch eine irn Vergleich zu anderen Primatenbabies umfassendere Sozialisation der Neuge borenen.) Diese gynozentrische Auffassung der Ursprünge rnenschlicher Kul tur zeichnet >>Frauen als Erfinderinnen, die zur Entwicklung soicher angeblich rnenschlichen Charakterzuge wie groBerer Intelligenz und Flexibilität rnehr beigetragen haben als die Manner. Frauen haben, so heiBt es, den Gebrauch von Werkzeugen erfunden, urn sich während des Sammeins gegen Raubtiere verteidigen zu können, und sic haben 104 Viertes Kapitel Gegenstände entworfen, die zum Graben, zum Tragen und für die Nahrungszubereitung dienlich waren<< (ebd.). Weiche von diesen Geschichten könnte uns nun plausibel erschei nen? Longmo und Doell weisen darauf hin, daB der >>Abstand zwischen Hypothese und Beweismateria1< in bezug auf die >>weibliche Samm lerin<< kleiner (wenn auch nicht sehr viel kleiner) ist als in bezug auf den >>männlichen Jager<<; d.h. die erste Hypothese wird durch das Be weismaterial em biBchen besser gestutzt als die zweite (wobei das Beweismaterial in beiden Fallen unterschiedlich 1st). In jedem Fall filhrt der Weg vom Beweismaterial zur Hypothese über Verafigemeine rungen bezuglich des Gebrauchs und der Benutzer und Benutzerimien von Werkzeugen, und diese Veraligemeinerungen werden durch Ana logien mit gegenwartig existierenden Sager- und Sarnmlerkulturen ge stUtzt. Doch sind, wie Longino und Doell bemerken, >das Verhalten und die sozialen Organisationsformen dieser Völlcer so unterschied lich, daB sich, je nach der Gesellschaft, die man auswählt, sehr ver schiedene Bilder des Australopithecus und des Homo erectus ergeben (ebd., 215). Alle erhalten gebliebenen Werkzeuge sind aus Stein, denn die organischen Materialien, aus denen viele mutmaBlich von Frauen verfertigten Werkzeuge bestanden haben, sind natürlich nicht mehr auffmdbar. Aber auch Frauen könnten Steine benutzt haben, ... ... >um Tiere zu töten und zu zerlegen, Fell zu schaben, Wurzeln auszugraben, Samenkapseln aufzubrechen, oder urn zähe Wurzeln und BlAtter fUr die Nahrungs zubereitung weichzuklopfen. Wenn das weibliche Sammelverhalten als die zen trale verhaltensbezogene Umstellung verstanden wird, dann sind die Steine em Beweis dafUr, da6 die Frauen zusätzlich zu den für die Nahrungssarninlung und -zubereitung bereits in Gebrauch befindlichen organischen Werlczeugen soiche aus Stein entwickelt haben. Wird dagegen das mannliche Jagdverhalten in den Mittel punkt geruckt, dann sind die Steine em Beweis dafUr, daB Manner Steinwerkzeuge Es erfunden haben, urn sie zur Jagd und Verarbeitung von Tieren zu benutzen. thrum, ob man einen manner- oder frauenzentrierten Interpretations geht ralimen wählt, auf dessen Basis den Daten dann beweisfOnnige Bedeutung zuge schrieben wird. (Ebd., 215) aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnten. Woher solite sol Letztlich gibt es keine Moglichkeit, aus den steinernen Werkzeugfrag menten überzeugendere Beweise für die eine oder die andere Hypo these herauszuschlagen. Ebenso wenig laBt sich zusätzliches Beweis material beibringen, durch das die Wagschalen der Evidenz em wenig 22 Aber wenn wir auch weder ches Beweismaterial auch kommen? heute noch vielleicht in Zukunft in der Lage sein werden, die eine Hypothese zuungunsten der anderen zu bestätigen, so hat doch, wie Longino und Doell hervorheben, die feministische Kritilc eine nutz liche Funktion gehabt, indem sie an einer Reihe von Punkten zeigen Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 105 konnte, wie der Androzentrismus die Theorie vom >>männlichen Jager<< gepragt hat. Die androzentrische Verzerrung äuBert sich unmittelbar im Interpretationsrahmen der Daten: nur im Rahmen einer Theorie, die männhiches Verhalten als zentrales Moment der Gattungsevolution wie auch des Uberlebens jeglicher Gruppe innerhaib dieser Gattung ansieht, werden die bearbeiteten Steine als unzweideutige Beweise für das Sagdverhaken von Männern interpretiert.<< (Ebd., 224) Die Ent wicklung eines akernativen Rahmens >>mag vielleicht nicht das letzte Wort in der Evolutionstheorje darstellen, doch sie enthUllt die erkennt nistheoretische Beliebigkeit dieser androzentrischen Annahinen und weist den Weg zu weniger beschrankten Verstehensweisen mensch licher Mog1ichkeiten< (225). ... Longino und Doell bemerken auch, daB >>die Annahme einer gat tungsübergreifenden Uniformitiit und der Angemessenheit tierischer Verhaltensmuster äuBerst fragwUrdig ist, wenn sie auf menschliches Verhalten bezogen werden soll<< (226). Doch weisen sie nicht darauf bin, daB die besonderen Formen dieser Annahmen in biologisch-deter ministisch orientierten Darstellungen nicht einfach nur fragwurdig, sondern androzentrisch zu sein scheinen. Es 1st (wie eine Biologin her vorhebt) plausibler, anzunehmen, daB Manner mid Frauen sehr viel mehr miteinander gemein haben als Menschen generell mit Repräsen tanten anderer Gattungen. Und was die menschliche Gattung insge saint auszeichnet, ist thre immense Wandlungsfiihigkeit, ihre Erfin dungsgabe und ihre bewuBte Anpassungsfähigkeit. Se1bst wenn man einige aus dem biologischen Geschlecht resultierende Verhal tensformen linden wurde, die alien nicht-menschiichen Primaten oder gar alien Saugern gemein sind, müBten veraligemeinernde SchluBfolgerungen in bezug auf menschliches Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse fünf Miilionen Jahre evolutionärer Entwicklung des menschlmchen Gehmrns ignorieren, deren Ergebnis eine von anderen Primaten quantitativ wie qualitativ sich unterscheidende GroB hirnrinde ist. Mitteis ihrer kdnnen wir Begriffe bilden, abstrahieren, symboimsie ren, verbal kommunizieren, planen, lernen, em Gedächtnis formen. Sie ermdg licht em unendlich reiches und ständig wandelbares Verhaltensrepertoire, und befreit uns, wean wir nur wollen, von stereotypen Verhaliensmustern. Es gibt bei unseren nächsten Verwandten, den nicht-menschlichen Primaten, kein univer selles Verhaltensmerkinal oder -repertoire, das als primitiver’ Prototyp oder Vor läufrr der menschlichen ‘Natur’ untersucht werden könnte. Mehr noch: es gibt keine menschliche Natur, kein definierbares universell-menschljches Verhaltens merkmal oder -repertoire, mit Ausnahme unserer enormen Lerntlihigkeit und Ver ha1tensflexmbijfUt. 23 den, dann lautet die Antwort: >>Männer<<. GleichermaBen waren es Wenn wir aber (und das ist hier der springende Punkt) fragen, weiche vergeschIechtlichten Menschen historisch geradezu darauf versessen waren, sich von Mitgliedern des anderen Geschlechts zu unterschei ii 106 — — Viertes Kapitel Manner, die sich bemüht haben, gattungsubergreifende Kontinuitäten zwischen Männern und Männchen bzw. Frauen und Weibchen zu ent decken. Von daher läBt sich begründeterweise annehrnen, daB die selektive Konzentration auf eine gattungsubergreifende Gleichheit der Geschlechter und auf gattungsinterne Geschlechtsunterschiede nicht nur fragwurdig ist, sondern auch eine deuffich erkennbare Konse quenz des Androzentrismus darsteilt. Es handelt sich hier ganz sicher mcht urn em Beispiel für den reinen (d.h. geschlechtsneutralen) Intel lekt, der naturgeschaffene Forschungsprobleme verfolgt. Diese aus schlieBliche Konzentration auf gattungsubergreifende Ahnlichkeiten und gattungsinterne Unterschiede zwischen den biologischen/sozialen Geschlechtern verdankt sich offenkundig nur dem männlichen Interes se an der vorgeblichen evolutionaren Differenz zwischen Männern und Frauen, die den letzteren mimer noch die naturbelassene Seite der Tatigkeiten zuweist, während die Manner sich weiterentwickelt und es zu etwas gebracht haben. Auf diese Weise zeigen Longino und Doell, wie der Androzentrismus in die Evolutionstheorie Eingang gefunden hat: durch seine Kriterien zur Auswahl wissenschaftlicher Probleme, durch seine Begriffe und Theorien, durch seine Methoden der Datensaninilung und -sichtung, und durch seine Interpretation der Forschungsergebnisse. Wenn nun wie ich oben schon bemerkte die evolutionstheoretischen Hypo thesen nicht plausibel sind, dann werden auch die biologisch-determi nistischen Behauptungen hinfállig, die von der Verbindung dieser Hypothesen mit denen der Neuro-Endokrinologie abhangen. Doch soilten diese Androzentrismen nicht mehr sein als nur em Bei spiel für >>unseriöse Wissenschaft<<? Spiegein sich in ihnen nicht funda mentale Charakterzuge der modernen westlichen Wissenschaft? Bevor ich diesem Gesichtspunkt weiter nachgehe, will ich noch auf eine Art aligemeiner Begriffverwirrung hinweisen, die für alle Ver suche (etwa der neuro-endokrinologischen Forschung), menschliches Verhalten auf angeborene Merkmale oder genetische Vererbungsfakto ren zuruckzuführen, verhangnisvoll ist. Die Kritilc an dieser Art von biologischem Determinismus weist darauf hin, daB durch genetische Vererbungsfaktoren Moglichkeitsbereiche festgelegt werden. Weiche von diesen Möglichkeiten in Verhaltensformen oder -dispositionen ihren Ausdruck finden, hangt von der Umwelt ab, in der die Gene situiert sind. >>Verhalten resultiert aus der vielschichtigen und nicht linearen Kooperation von Genen und Umweltfaktoren, die für ver schiedene Eigenschaften verschieden ist und sich nicht vorherbestim 24 Es ist also sinnios, die genetischen Komponenten des men laBt.<< : • Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 107 Verhaltens von den umweltbedingten zu trennen und jeweils getrennt zu diskutieren, wie es der biologische Determinismus tut. .Angesichts des fehienden Wissens über das Zusammenspiel dieser Komponenten hinsichtlich aller besonderen Eigenschaften (wie auch hinsichtlich einer einzelnen beobachtbaren Verhaltensweise Uberhaupt) kann sinnvollerwejse nur danach ge fragt werden, wieviel von den beobachteten Variationen inije individuellen Verhal ten durch genetische Paktoren und wieviel durch die Umwelt verursacht wird. Diese begrenztere Fragestellung sagt nichts über das Verhältnis zwischen geneti schen und umwelcbedingten Faktoren für das Verhalten selbst aus, und es sagt uns auch nichts über die Proportion, in der diese Faktoren zur Variationsbrejte anderer Eigenschaften beitragen.<? 5 S Und selbst wenn wir das Teilungsverhaftnis der Variation für jede be stimmte Eigenschaft angeben könnten, wUrde uns dies KunststUck nicht in die Lage versetzen, vorherzusagen, daB das Teilungsverhaltnis unter veränderten Umweltbedingungen gleich bliebe, weil sich mit diesen wahrscheinlich auch das Verhäknis von genetischen und Urn weltfaktoren ändert. >>Wenn man zwei genetisch verschiedene Gruppen miteinander vergleicht, wird es im Falle auch nur ansatzweise unter schiedlicher Umweltbedingungen unmöglich sein, zwischen den gene tischen und den umweltbedingten Ursachen gruppenspezifiseher Ver haltensdifferenzen zu 26 unterscheiden.<< Bleibt also die Tatsache, daB die geschlechterbezogenen Verhaltensformen (nicht nur) in unserer Kultur sich voneinander unterscheiden, und wir grundsatzlich nicht in :. der Lage sind, die genetischen Ursachen von den umweltspezifischen zu trennen. Wir können höchstens versuchen, das Zusanimenspiel zwischen genetischen Vererbungsfalctoren und Umweltbedingungen fir geschichtlich je besondere Verhaltensformen aufzuzeigen. Doch cbs unterscheidet sich grundlegenci vom Projekt des biologischen De terminismus. Wie wir noch sehen werden, sind in bezug auf unsere Kultur alle Verteidigungslinien zwischen den Begriffen des Mensch lichen und des hlichen Nicht-Mensc endgultig obsolet geworden. Doch 1st der biologische us nicht die einzig mogliche Antwort Determinism auf diese heraufdammernde Erkenntnis. 27 Unseriöse<< vs. >>normale<< Wissenschaft? Der Aufsatz von Longino und Doell ist zum Teil auch em Versuch, cbs Paradox aufzulosen, weiches vielen feministischen Ansätzen offensichtlich zugrundeliegt. Hdufiger als in den Sozialwissenschaften steilt die feministische Kritik an der Biologie dan gesamte methodolo gische Ethos von Objektivität, Wertfreiheit, leidenschaftsloser For schung usw. in Frage, behauptet aber zugleich, objektive, wertfreie und I 108 — Viertes Kapitel leidenschaftslose Tatsachen über Natur und Gesellschaft vorzubrin gen. Einerseits haben sich Feministinnen der von Kuhn entwickelten Argumentationsstrategie bedient und behauptet, daB Beobachtungen von Theorien, Theorien von Paradigmen und Paradigmen von kultu rellen Strukturen abhängen, und es von daher keine wertfreien und ob jektiven Tatsachen gibt und geben kann. 28 Andererseits gelten diesen gleichen Kritikerinnen ihre alternativen Beschreibungen und Erklä rungen natürlicher und sozialer Phänomene als tatsachengebunden oder wahr und nicht einfach als von einer anderen Kultur abhangig. (Natürlich kann dieser Vorwurf auch gegen Kuhns eigene Analyse vor gebracht werden.) Doch gehen Feministinnen nicht von einer explanatorischen Gleich berechtigung feministischer und androzentrischer Darstellungsweisen aus (so daB es gleichermaBen vernunftige Grunde gäbe, sich für die eine oder die andere zu entscheiden), wie auch Kuhn keineswegs be hauptet, seine Kritik sei ebenso plausibel wie das, woraufsie sich rich tet. Wir können nicht sowohi die Hypothese vom >>männlichen Jager als auch die von der >>weiblichen Sammlerin<< für das letzte Wort in der Evolutionstheorie halten, denn beide widerstreiten einander. Die femi nistischen Thcoretilcerinnen weisen auf den Androzentrismus der Hypothese vom >>männlichen Jager<< hin, denken aber, daB thre Dar stellung keiner ebenso geschlechtsspezifischen Verzerrung unterliegt; sic ist cinfach plausibler, weil sic den Androzentrismus traditioneller Darstellungen transzendiert. Und sic behaupten dies ungeachtet der Tatsache, daB sic (wie sic selbst zugeben) wenigstens zum Teil zu threr Darstellung motiviert wOrden sind, weil sic cs für moralisch und poli tisch falsch hiciten, die Tatigkeit der Frauen so abzuwcrten wie die vorherrschcndc Darstellungsweise cs tat. Jedoch gehen sic davon aus, daB alic vernünftigcn Wisscnschaftler und Wisscnschaftlerinncn thre Darstellung aufgrund des Beweismaterials für plausibler halten soil ten, und nicht deswegen, weil sic fcministischcn moralisch-politischen Erwägungen entsprang oder weil sic der Tätigkeit der Frauen in der kulturellen Evolution eincn höheren Wert beiniiBt. Donna Haraway bringt das Schwankcn des Feminismus zur Sprache, der die androzentrische Wisscnschaft einmal als >>unseriöse<<, daun wiedcr als enormale<< Wissenschaft bezcichnet, ohne cinc Lösung für dies Paradoxon anzubictcn. 29 Longino und Doell abcr denken, daB wir mcht gczwungen sind, hier eine Entschcidung zu treffen. )>Wenn sexistische Wissenschaft schlechte Wissenschaft ist und ihre SchluBfolge rungen aufgrund von unzureichenden Methoden zieht, dann ist damit die Existenz einer guten oder besseren Methodologie impliziert, die mis von einseitigen und • I Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften ... 109 verzerrten Schiufifolgerungen befreien wird. Wenn andererseits sexistische Wis senschaft normale Wissenschaft ist, dann wird uns die beste Methodologie der Welt nicht vor soichen SchluBfolgerungen bewahren, solange wir keinen Paradig menwechsel vornelunen. Die Feministinnen müssen nicht zwischen der Verbes serung der schlechten und der Verwerfung der gesamten Wissenschaften wählen. Die Struktur wissenschaffljcher Erkenntnis und die Verfahrenswejsen der Verzer rtmg sind sehr viel komplexer als jede dieser Antworten es nahelegt.<< (Ebd., 207f.) Dieser Passage licgt cine unzweifelhaft richtige Einsicht zugrunde: die feministische Kritik kann cs sich nicht leisten, übcr korrekturbcdürf tige Beispielc androzcntrischer Verzerrungcn einfach hinwegzusehen, und es kann auch nicht unser Bcstrcben scm, die Wisscnschaft insgc samt ad acta zu lcgen. Doch könntc der in vieler Hinsicht so nützliche Beitrag von Longino und Doell uns glauben machen, daB der Andro zentrismus in der Wissenschaft lcdiglich aus Unwissen und fehierhaf ter Argumentation besteht und daB die einscitigcn Auffassungen von der menschlichcn Evolution verschwindcn, wcnn Biologinnen und Biologcn anderes Bcweismatcrial in Betracht ziehcn, anderc Argu mente ins Feld führen und sich ciner anderen Sprache bedicncn. Derlci kann sicherlich nicht schaden, aber ich möchtc bezweifeln, daB cs zur Beseitigung des Androzcntrismus führt. — — Das Problem der Analyse von Longino und Docli bcstcht in threr falschcn Auffassung davon, was unter Biologic und sozialcm Gcschlecht zu verstehen ist. Sic bcgreifcn die von ihnen kritisicrtc Biologic als eine Reihe von (androzcntrischcn) Aussagesatzen und methodischcn Vorgehenswcisen, die nur durch andere Aussagen und Methoden er setzt werden mUsscn, damit gute Wisscnschaft an die Stclle der schlechten treten kann. Abcr fugt sich die Evolutionsbiologie nicht nalitlos in das Gcwebe der in unscrcr Kultur vorhcrrschendcn gesell schafflichen Projckte em? Zumindest würde eine stabilcre Konzeption von Biologic durchaus übcrzcugend in dicser Richtung argumcn tiercn. Jeder Versuch ciner unverzerrten Darstellung wciblichcr Akti vitätcn und sozialer Geschlechterverhältnjsse wird nicht nur auf unbe absichtigte Lücken und Entstellungen im Text der Wisscnschaft treffen, sondern, wichtiger noch, der nahtlosen Einfügung dcr Wissenschaft in Projekte bcgegnen, die die männliche Vorherrschaft stützen. Für die Auswahl wissenschaftlichcr Probleme und für die in Anschlag ge brachten Hypothesen, für die Bestimmung dessen, was als Beweisma terial gilt und für die Verwendung diescs Materials zur Verifikation oder Falsifikation von Hypothcsen sind Unwisscnheit und falsche An nahmcn seitens einzelncr Forschcr und Forschcrinnen ebcnso verant wortlich wie die gesellschaftlichcn Projekte jener Kulturen, in denen wissenschafflichc Forschung stattfindet. Die Gcschlcchtcr sind, wic I 1 JL 110 Viertes Kapitel ich weiter oben schon betonte, asymmetrisch organisiert: zur Entwiek lung männlicher Geschlechtsidentität gehort auch die Ubernahme einer sozialen Rolle, die höher bewertet wird als die der Frauen. Und wir haben gesehen, daB diese männliche Identität äuBerst bruchig ist. Während Frauen anscheinend mcht davor entrinnen können, als weib lich wahrgenommen zu werden, befürchten Manner offensichtlich, nicht mehr als Manner zu gelten, wenn sie ihre Männlichkeit nicht fortwährend unter Beweis stellen. So wird der Androzentrismus in der Biologie durch die (Mannlichkeit bestatigende) geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ebenso hervorgebracht wie durch die Einbindung von Kindern in individuelle Geschlechteridefltitätefl und durch die asym metrischen Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichiceit im Ge schlechtersymbolisrnUS (oder GeschlechtertoteflhiSrnUS). Solange die Beseitigung dieser drei Ausdrucksforrnen des sozialen Geschlechts nicht in Angriff genommen wird, besteht wenig Hoffnung darauf, daB der Feminismus die Theorie- und Forschungsarbeit in der Biologie verändern kann. Er kann nicht emma! damit rechnen, daB seine Argu mente von der Mehrheit der auf männliche Weise vergeschlechtlichten Biologen als plausibel anerkannt werden. Der Nachweis von MiB ständen reicht, wie Margaret Rossiter hervorgehoben hat, für ihre Be 30 seitigung nicht aus. Longinos und Doells Analysen sind, wie auch die von ihnen unter suchten Arbeiten feministischer Evolutionstheoretikerinflefl, wichtige, ja notwendige Beiträge zu unserem Versuch, die Wissenschaft zu ent geschlechtlichen. Doch hangt ihre Kraft, these Aufgabe zu bewaltigen, von unserer Fahigkeit ab, die GrUnde und Ursachen zu begreifen, aus denen wir derlei Projekte uberhaupt in Angriff nehmen müssen. 1st es rnoglich, eine Evolutionstheorie zu entwickeln, die zeigt, wie sich die rnenschliche Gattung herausgebildet hat, urn! die zugleich den Fehier des AnthropomorphismUS vermeidet? Vielleicht ist es nicht nur das In teresse an biologischen >>Gesch1echtsuflterSChiedefl<, sondern an der menscblichen Evolution selbst, worm sich charakteristisch männliche kulturelle Intentionen widerspiegein. Noch ailgemeiner gefragt: ist mcht die Biologie, am Schnittpunkt von Natur und Kultur, zu einseiti gen Wertungen verdammt? Soilte diese Annahine plausibel sein, dann haben wir offenbar nur die Wahi zwischen einem fundamentalen kulturellen Relativismus in unseren biologischen Erklarungen (der alle Er klärungen betrifft, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserer Geschichte als die glaubwurdigsten erscheinen), oder einer Begriflbestimmung von Objektivität, die in der biologischen Forschung vollig anders aussieht als in der Physik. Eine Alternative läge (wie oben [ Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 111 angedeutet) darin, die Gründe und Ursachen für jegliche Art von Ob jektivitat in der Physik zu überdenken. Longino und Doell haben recht: wir mUssen nicht zwischen unse riöser Wissenschaft und der Verwerfung von Wissenschaft uberhaupt wählen, wir haben noch andere Moglichkeiten. Doch urn deren Bedeu tung erfassen zu können, müssen wir die erkenntnistheoretischen Ge sichtspunkte des Feminismus aufarbeiten. Implilcationen Die weiter oben diskutierten systematischen Verzerrungen scheinen sich auf den ersten Buck nur in den Sozialwissenschaften und in der Biologie zu finden, nicht aber in der Chemie, der Astronomie oder der Physik. Von daher sieht es so aus, als ginge es urn typische Probleme bei der Untersuchung gesellschaftlicher Phanomene, zu denen auch gesellschaftlich konstruierte und mit sozialer Bedeutung versehene Gegenstãnde4< zu zählen wären, während die Erkenntnistheorie oder die Politik des Wissenschaftsbetriebs im ailgemeinen davon nicht be rührt scheinen. Doch wenn auch die ausschlieBlich physikalischen Wissenschaften gegen den Vorwurf des Androzentrismus immun sein mögen, so bleiben die von diesen Untersuchungen aufgeworfenen Fra gen für mein Proj ekt von entscheidender Wichtigkemt. Erstens nämlich gibt es in jenen Forschungsbereichen, weiche von Anfang an den der Physik zugeschriebenen Grad von ObjektivitAt angestrebt haben, androzentrische Verzerrungen, die nicht nur ganz konkret den begrenzten Zugang von Männern zur Welt der Frauen oder die Unsichtbarkeit gesellschaftlicher Analysen dieser Welt be treffen. Sie tauchen auch in äuBerst abstrakten und von daher ganz unschuldig aussehenden Komponenten dieser Wissenschaften auf: in Konstitutionsmodellen gesellschaftlicher Ordnung und charakteristi scher kultureller Tatigkeiten; in Annahmen über das Entsprechungs verhältnis zwischen gesellschaftlichen Akteuren und den ihnen zuge wiesenen Rollen; in der bis dato unbemerkt gebliebenen und verdäch tigen Ubereinstimmung zwischen dern kategorialen Rahmen von Theorien und dem von rnannlichen Gewahrsleuten; in der gleicher mallen verdachtigen tJbereinstimmung zwischen den Kategorien der Sozialwissenschaft und denen der Fuhrungspersonlichkeiten des Indu striekapitalismus; und schlielllich sogar in Annahmen Uber die Bedeut sanikeit von gattungsinternen Geschlechtsunterschieden und gattungs überschreitenden Ahnlichkeiten zwischen den Gesch!echtern. 1I El 112 — — — — Viertes Kapitel — Darüber hinaus wird von feministischer Seite behauptet, daB gerade jene Ansätze in der Sozialwissenschaft androzentrisch geprägt sind, weiche die angeblich objektivitätsfördernden Aspekte der physilcali schen Wissenschaften zum Vorbild nebmen wollen. Die feministische Kritik an der Sozialwissenschaft hat bereits den Verdacht genahrt, daB die Konzentration auf quantitative Methoden und Variablenanalysen, auf unpersOnliche und über die MaBen abstrakte Begriffsschemata eine ausgesprochen männliche Haltung bezeichnet, die aber zugleich ihren vergeschlechtlichten Charakterzug zu verbergen weifi. Wenn in den Sozialwissenschaften die Beschreibung von hierarchischen Struk turen einfachster Differenzformen gegenuber der Beschaftigung mit wechselseitig aufemander einwirkenden Beziehungskomplexen den ist dergleichen dann nicht Aus methodologischen Vorrang erhält druck einer androzentrischen Verzerrung, die ebenso in den Naturwis senschaften auftaucht? Zweitens tragen Biologie und Sozialwissenschaft die hauptsachliche Verantwortung für die Verkündung bestimmter heute als falsch und Auffassungen vom >>Wesen< des sozial rUckschrittlich erkannter Weiblichen und Männlichen und der thnen jeweils angemessenen ge sellschaftlichen Tatigkeit 1st es em Werk des Zufalls, daB viele dieser biologischen und gesellschaftlichen Theorien während des neunzehn ten Jalwhunderts in Amerika und Europa entstanden, zu einer Zeit also, da sich die traditionelle, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung grundlegend wandelte, die Bedeutungs- und Bezugsobjekte der Hetero sexualität sich verschoben und der Kampf der Frauen für die Gleich berechtigung in Ausbildung, Beruf und Wahlrecht begann? Inniitten ahnlicher Veranderungen und Bewegungen sind auch die alternativen feministisehen Darstellungen entstanden. Drittens ist die Erkenntnis, daB einfluBreiche Theorien in der Bio logie und den Sozialwissenschaften ininitten historischer Kämpfe zwischen den Geschlechtern und als Waffen für diese entwickelt wurden, schon an sich und in sich interessant. Da jedoch auch die pbysikalischen Wissenschaften historisch entstandene Formen kulturelle Artefakte sind, nahrt diese Erkenntnis zugleich den Ver dacht, daB im Prinzip keine wissenschaftliche Theorie gegen Beein flussungen mimun ist, ob these nun aus der An/Ordnung des sozialen Geschlechts oder aus Rassen-, Kiassen- und kulturellen Hierarchien sich herleiten. Viertens liegt eine bedeutsame Eigenart der Untersuchungen von Millman und Kanter wie auch von Longino und Doell in der impliziten Spannung zwischen den Direktiven für die Reform der existierenden F. Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften 113 Wissenschaften einerseits und bestimmten Annahmen, die der Er kenntnistheorie dieser Wissenschaften strikt zuwiderlaufen anderer seits. Aus beiden Untersuchungen geht hervor, daB eine deutlichere Präsenz von Feministinnen (und nicht einfach >>Frauen<<) bei der Planting und Durchführung wissenschaftlicher Forschung em urn fassenderes Bud menschlichen Handeins entstehen lassen würde. DaB Frauen zu anderen Daten Zugang haben als Manner ist an sich schon eine wichtige Quelle für die Verbesserung der Wissenschaft. Aber Fe ministinnen (und männliche Frauenforscher) neigen auch dazu, andere Fragen zu stellen; sie haben andere Wahrnehmungen und interpretie ren Daten anders. Darüber hinaus propagieren beide Untersuchungen die positive Auswirkung wenigstens einiger Formen politisierter For schung. Millman und Kanter bemerken zu Beginn ihres Aufsatzes: ... >Soziale Befreiungsbewegungen ermoglichen es den Menschen, die Welt aus einer unifisssenderen Perspektive zu erblicken, weil sie die der Erkenntnis und Be obachtung hinderlichen Tarnungen und Scheuklappen beseitigen. Keine andere soziale Bewegung des letzten Jahrzehnts hatte einen so uberraschenden und folgen reichen EinfluB auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt sehen und in thr handein, wie die Frauenbewegung. Dinge, die immer dagewesen sind, jedoch früher keinerlei Beachtung gefunden haben, können wir heute sehen und mühelos daruber sprechen. Tatsächlich kommt man heute nicht daran vorbei, Eigenschaften des sozialen Lebens wahrzunehmen, die noch vor zehn Jahren vollig unsichtbar waren.< (Milman und Kanter 1975, VII) Implizit unterstützen Longino und Doell diese Analyse, indem sie fort während Ausdrücke wie >>feministische Biologinnen<<, *feministische Kritikerinnen<<, >>alternative Darstellungen von Feministinnen<< be nutzen. Hauptsächlich wollen sie zeigen, daB wir mcht mit der Wahi zwischen >>unseriöser< und >normaler<< Wissenschaft konfrontiert sind. Doch indem sie davon ausgehen, daB die ethischen und politischen Impulse der Frauenbewegung (des >>Feminismus<<) wenigstens teil weise für die umfassendere und kohärentere Theorie der >>weiblichen Sammlerin<< verantwortlich sind, unterstutzen sie eine wissenschaft liche Forschungslogik, die der von traditionellen Darstellungen vertre tenen diametral entgegengesetzt ist. Wie ich bereits bemerkte, gehen die zeitgenossischen Uberreste traditioneller Wissenschaftstheorie vom Unterschied zwischen Entdeckungskontexten und Rechtferti gungskontexten aus; das Erkenntniswachstum, so wird angenommen, vollzieht sich ausschlieBlich mittels rigoroser Begründungs- und Rechtfertigungsverkhren. Doch die von uns herangezogenen Unter suchungen legen nahe, daB politische Forschungsmotivationen einen groBeren EinfluB auf das, was als begründete Annahme gelten darf, ausUben, als alle angeblich wertfreien methodologischen Reflexionen. Immerhin sind diese Motivationen das entscheidende Kriterium dafür, I q 114 — — Viertes Kapitel — weiche Hypothesen dem Rechtfertigungsverfahren ausgesetzt werden, und sie spielen eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Konstitutions merkmale für em rigoroses Verfahren. Einen wichtigen Ursprung androzentrischer Verzerrungen in der Biologie und den Sozialwissen schaften bildet der Entdeckungskontext, d.h. die Auswahl und De finition der Forschungsprobleme. Worm besteht die erwünschte Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik, wenn nicht in der you standigen Trennung der beiden Bereiche, wie sie von Anhangern der Wissensehaft prokiamiert wird? 1st die Entstehungsweise wissen schafflicher Behauptungen sowohi in praktischer wie prinzipieller Hinsicht em wichtiger Faktor für die Legitimitat ihrer Begrundungen? Das heilit, erhalten diese Behauptungen thre Legitimation auch auf grund ihres gesellschaftlichen Urspnings? Und solite dieser Ursprung danu nicht em Faktor sein, der in ihren Recbtfertigungskofflext em geht? 1st es unvernUnftig, anzunehmen, daB aus rassistischen und sexi stischen Projekten resultierende Behauptungen wissenschafflich von sind als solche aus geringerem Wert weil weniger >>realitätsnah<< antirassistischen und antisexistischen Projekten? Die gelaufigen wis senschaftlichen Erkenntnistheorien weisen derlei Annahmen explizit zuruck. Fünftens und letztens ist die Naturwissenschaft selbst em gesell schaftliches Unternehmen, und von daher erfordert em angemessenes Verständnis der Wissenschaftsgeschichte und direr Geschlechterpoli tik eine angemessene Philosophie der Sozialwissenschaften die sich aflerdings nicht aus der Tendenz ergibt, das Problem in der Verbesse rung und Reform *schlechter Wissenschaft< zu sehen. Wit haben bereits gesehen, dali selbst die >>am wenigsten bedroh lichen<< feministischen Herausforderungen, die Malinahmen zur Anti diskriminierung, darauf verweisen, dali wirkliche Gleichberechtigung eine radikale Rückuahme der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Stereotypisierung wie auch der defensiv-labilen mannlichen Iden that erfordert. Vielleicht bedarf es der volistandigen Beseitigung des sozialen Geschlechts (und damit der Geschlechterhierarchie) in den wissenschaftsproduzierdnden Gesellschaften. Und es besteht der drin gende Verdacht, dali die nächste Herausforderung des Feminismus, die Beseitigung androzentrischer Verzerrungen in der Sozialwissenschaft und der biologischen Theorie und Forschung, eine fundamentale Transformation von Begriffen, Methoden und Interpretationen in diesen Bereichen ebenso notwendig macht wie eine kritische Untersu chung wissenschaftlicher Forschungslogik. All dies geht über blolie Reformen weit hinaus. ; ; — Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften — 115 Wenn man die von der eFrauenfrage<< ausgehende Kritik so versteht, daB sie lediglich für Reformbestrebungen in der wissenschafflichen Praxis eintritt, dann sieht man, daB Frauen hier als Gruppe mit beson deren Interessen begriffen werden, deren Bedürfnisse ähnlich wie bei Kindern, Behinderten und Bauern übersehen worden sind und die zu befriedigen eine demokratische Gesellschaft die moralische (nicht aber erkenntnistheoretische) Pflicht hat. Vielleicht wird die von uns untersuchte feministische Kritik so dargesteilt und wahrgenom men, weil eine auf Interessengruppen bezogene Politik in unserer Ge sellschafl eine anerkanute und legitime Form politischen Handeins und Verhandeins ist. Eiue solche Politik geht davon aus, daB Indivi duen, die nun einmal je eigene Interessen verfolgen, in einer pluralisti-. schen Gesellschaft em moralisches und politisches Recht aufAnerken nung haben, wofern sie nicht den Umsturz der Ideen und Institutionen dieser demokratisch-plurauistischen, von Interessengruppen bestimm ten Politik verkünden. Und da die Wissenschaft solchen Idealen offen sichtlich hold und geneigt ist, wird die von der >>Frauenfrage<< ausge hende Kritik nicht als Herausforderung des politischen Modells von Wissenschaft empfunden. Doch wenn man so denkt, dann mull der geschichtsnotorische Widerstand des wissenschaftlichen Establishments gegen diese femini stische Kritik rätselhaft erscheinen. Verdankt er sich einfach einer Abneigung dagegen, vertraute Verhahensmuster aufzugeben und die Begriffe und Theorien fahren zu lassen, zu deren Verteidigung die Manner in die Laufbahn gestiegen sind? Oder steht mehr aufdem Spiel als die Karriere? Diese Art zu denken entstellt auch die feministischen AnsprUche und Behauptungen. Feministinnen argumentieren nicht dahingehend, daB antisexistische Theorie, Forschung und Politik em gleiches Recht darauf haben, neben sexistischer Theorie, Forschung und Politik als legitim oder wünschenswert anerkanut zu werden. Sie treten nicht daflir em, daB Frauen das zweifethafte Geschenk zuteil werden soilte, welches in der Erlaubnis bestünde, an der Seite von Kollegen und innerhalb institutioneller Normen mid Praxen zu arbeiten, die offen sichifich sexistisch sind. Ebensowenig geht es ilinen darum, daB Frauen >Männer werden<<, d.h. mãnuliche PersOnlichkeitsformen und Lebensmuster übernehmen soilten, urn wissenschaftlich tatig sein zu können. Sie argumentieren nicht, daB antisexistische und sexistische Problemstellungen, Begriffe, Theorien, Methoden und Interpretatio nen als wissenschaftlich gleichwertmg angesehen werden soilten. Sie argumentieren aullerhaib einer derartigen pluralistischen Politik, und I 4 I .i 4 Li ill frif i 116 Viertes Kapitel — zwar aus Grunden, die einleuchten soliten. Sexistische Wissenschaft ist moralisch und politisch fàlsch, weil sie jene Wünsche und Inter essen von Männern unterstUtzt, die nur auf Kosten der Frauen als Gruppe befriedigt werden können. Individuen sind nicht durch die Gnade eines biologischen Schopfungsaktes Manner oder Frauen; sie werden durch aufweisbare gesellschaffliche Prozesse als Geschlechter konstituiert. Uberdies ist dieser Pluralismus wissenschaftlich fälsch, weil er tatsächliche Gesetzmäfligkeiten und zugrundeliegende Kausal strukturen in den gesellschafflichen Verhältnissen wie in den Bezie hungen zwischen Mensch und Natur verdeckt. 1st die auf Interessen gruppen gerichtete Politik der Wissenschaft em Hindernis für em an gemessenes Verständnis von Natur und Gesellschaft? Das alles heiBt naturlich nicht, da1 jede Behauptung, die eine Frau aufstellt oder jeder Anspruch, der im Namen des Feminismus erhoben wird, automatisch em höheres Mali an politischer und wissenschaft licher Legitimation besitzt als die auf andere Art entstandenen Auffas sungsweisen. Tatsächlich ist es in dçn meisten konkreten Fallen sehr schwierig zu entscheiden, weiche Behauptungen am ehesten durch moralische und politisehe. oder durch wissenschaftliche Gründe und Beweise gestützt werden. Und für das, was eine Behauptung im Prin zip an Gründen und Beweisen auf sich versammein kann, ist das sozia le Geschlecht der Person, die diese Behauptung aufstellt, oftmals ohne Belang. Scbliefflich haben viele Manner zur feministischen Theorie und Politik ihrer Epoche Aulierordentliches beigetragen (man denke an Plato, Karl Marx, John Stuart Mifi, Frederick Douglass, und an die vielen Zeitgenossen, die als Gelehrte feniinistisch orientiert sind), während zumindest einige Frauen beruchtigte Beiträge zu sexistischer Theorie und Politik geleistet haben (wie etwa Anita Bryant, Marabel Morgan und Phyllis Schiafly). Und wiewohi ich den Ausdruck >Femi nismus< hier so verwendet habe, als würde er einen monolithischen Block von Uberzeugungen und Praxisformen bezeichnen, so sieht doch die Wirklichkeit anders aus: zwischen den Feministinnen gibt es bedeutsaine Unterschiede hinsichtlich dessen, weiche Analysen und Praxisformen als wünschenswert und geeignet angesehen werden (Un terschiede, die grofltenteils eine wichtige Ressource für zukunftige Theorie und Politik bilden). Doch wenn wir uns zu unserer Zufrieden heit davon uberzeugt haben, daB eine feministische Behauptung hin reichend durch Grunde und Beweise gestützt wird, dann soilte diese und nicht Behauptung ihren androzentrischen Widerpart ersetzen gleichrangig mit ihm koexistieren. Wenn die feministische Kritilc nicht langer als Forderung angesehen werden kann, die von den Sozialwissenschaften und der Biologie eine Androzentrisinus in der Biotogie und den Sozialwissenschaften — — —, 117 rigorosere Beachtung ihrer eigenen Vorschriften für objektive, wert freie Forschung verlangt da diese Vorschriften selbst dem Verdacht des Androzentrismus ausgesetzt sind dann hat die feministische Forschung ihre Anspriiche und Behauptungen offensichtlich auf em Pradoxon gegrftndet. Zweifellos hat eine wissenschaffljch rigorosere und objektivere Forschung jenes Beweismaterial zu Tage gefOrdert, aufgrund dessen der Vorwurf des Androzentrismus erhoben werden kann doch ebendieselbe Forschung suggeriert, dali diese Art von Rigorositat und Objektivität androzentrisch ist! Aus diesem Paradox erwächst die Frage nach der Wissenschaft im Feminismus. 9 A 118 Fünftes Kapitel Natürliche Ressourcen Oder: Woher bezieben die vergeschlechtlichten Wissenschaften ihre moralische Unterstützung? — — Feministische Kritikerinnen haben die Tatsache problematisiert, daB die Wissenschaft mehr als drei Jahrhunderte lang sowohi implizit als auch explizit die Geschlechterpolitik als moralische und politische Ressource für ihren eigenen Aufstieg benutzt hat. GleichermaBen problembeladen ist die Erkenntnis, daB die an Geschlechterpolitilc In teressierten threrseits sich fortwährend der Wissenschaft bedient haben, urn die Unterdrückung der Frauen mit der Weihe des Natur gegebenen zu versehen. Diese Art von gegenseitiger Unterstützung findet sich auch in der symbiotischen Beziehung zwischen Rassismus, Kiassenhierarchie und Wissenschaft. In diesem Kapitel will ich zeigen, wie eine Form der Geschlechter politik der GeschlechtersymboliSmUS Ressourcen für den morali schen und politischen Aufstieg wissenschaftlicher Erkenntnisweisen bereitgestellt hat, und wie die Wissenschaft threrseits moderne Formen des GeschlechtersyrnbolismUs befórdert hat. Im weiteren Fortgang soliten wir uns daran erinnern, daB der GeschlechtersymboliSrnUS immer durch tatsächliche geschlechtsspezifische Arheitsteilungen oder durch die Bedrohung derselben in seiner Wirkungsweise unter stützt worden ist. Zudem steht er in vielschichtiger Beziehung zu mdi viduellen biologischen und sozialen Geschlechteridentitäten und zu vorgeschriebenen Verhaltensweisen. Das heiBt, der Geschlechter symbolismus spiegelt die Arbeitsteilungen oder die biologischen und gesellschaftlichen Geschlechteridentitäten in einer Kultur kaum je mals verzerrungsfrei wider. Damit die Leserinnen und Leser nicht im Verdachtbelhngen bleiben, der hier diskutierte Geschlechtersymbolis mus sei in Wirklichkeit einfach em empirisch bestatigter Bericht uber die Welt, wie sie ist, werde ich auch anhand neuerer wissenschafflicher Literatur zeigen, daB nicht nur das Geschlecht sozial konstruiert ist, sondern auch viel von dern, was gewöhnlich als >>biologischer Ge schlechtsunterscbied<< bezeichnet wird. I I Naturliche Ressourcen Solite man Wissenscbaftsgeschichte und -theorie durchleuchten? — —. 119 Diese Frage’ verliert ihren leicht scherzhaften Beildang, wenn wir uns die Metaphern und Modelle der Geschlechterpolitik anschauen, mit tels derer Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker erklärt haben, wie wir aile über Natur und Forschung denken soilten. Beispiele für Geschlechtersymbolisierungen tauchen im ailgemeinen in den Margi nalien and Nebenbemerkungen von Texten auf dort, wo Autoren jene Annahmen und Uberzeugungen unverhüllt aussprechen, von denen sie glauben, sie müfiten sic nicht verteidigen und würden sie mit ihrer Leserschaft teilen. Diese Annahmen gehen in die Richtung, daB die Leserschaft solcher Texte aus Männern besteht, daB Wissenschaft ler und Philosophen Manner sind und daB die besten wissenschaft lichen Tatigkeiten und philosophischen Denkweisen nach dem Vorbild höchst misogyner Beziehungen von Männem zu Frauen geformt werden soilten Vergewaltigung, Folter, Mätressentum, Mutterschaftsideo logic. Wir werden uns zuerst einige Beispiele aus der Wissenschafts geschichte ansehen und uns dann Kommentaren zeitgenossiscber Ver treter aus Wissenschaft und Philosophie zuwenden. Bilder aus der Geschichte — Die gegenwärtige Wissenschaft prasentiert uns ihre Konzeptionen von Natur und Forschung als Wahrheiten, die bei der Entstehung der moder nen Wissenschaft entdeckt worden sind als objektive, universell gui tige Reflexionen der Natur and der Methode, zu eindeutigen Beschrei bungen und Eridarungen zu gelangen. Jedoch weist die Geschichts schreibung darauf hin, daB diese Konzeptionen sich im Lauf der Zeit gewandeit haben und zudern durch die in geschichtlich nachweisbaren Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern verwendeten poli tischen Strategien in hohem MaBe beeinfluflt worden sind. Die Ge schlechterpolitik hat Ressourcen für den Aufstieg der Wissenschaften bereitgestellt und die Wissenschaft Ressourcen für die Forderung männlicher Herrschaft. Ich habe weiter oben schon auf diesen Ge sichtspunkt hingewiesen, als ich fragte, oh die Entwicldung der Sexualwissenschaft im unmittelbaren Gefolge der Frauenbewegung des neunzehnten Jahrhunderts nichts als em reiner Zufail gewesen sei. Diese historisehen Untersuchungen weisen eine Anzahl von Pro blemen auf. Eine Quelie dieser Probleme entspringt aus der mystifi zierenden Sozialphilosophie, an der sic sich orientieren, und hier sind es vor allem irreführende Auffassungen bezuglich der volistandigen a Th 1. 120 FunftesKapitel >>Lebensgeschichte<< der Rolle, die die Metapher in wissenschaftlichen Erldarungen spielt. Eine weitere Queue bilden die unangemessenen geschichtlichen Darstellungen, die wenig über Geschlechterverhält nisse aussagen, und noch weniger darüber, wie das kulturelle Umfeld (eingeschlossen die jeweils zeitgenossischen wissenschaftlichen Denker) Veranderungen in diesen Verhältnissen erfuhr, wahrnahm und darauf reagierte. Die von feministischen Kritikerinnen hervorgehobe nen fünf Hauptprobleme, die mit den Begriffsschemata vermacht sind (siehe das vorige Kapitel), kontaminieren das Historikern heute zu gangliche Quellenmaterial. Ungeachtet soicher Mängel verbessern diese Untersuchungen unsere Wahrnehmung des Stellenwertes, den die Wissenschaft in der jeweiligen Gesellschaft besitzt. Em Phänomen, auf das sich feministische Historikerinnen konzen triert haben, sind die Vergewaltigungs- und Foltermetaphern, die sich in den Schriften von Francis Bacon und anderen begeisterten Anhän gem der neuen wissenschaftlichen Methode (wie etwa Machiavelli) finden lassen. Bei traditionsorientierten Historikern und Philosophen heiBt es, diese Metaphern seien für die wirklichen Bedeutungen und Referenzobjekte wissenschafflicher Begriffe seitens derer, die sie be nutzt haben und seitens der Leserschaft, für die sie schrieben, ohne Bedeutung. Doch wenn es darum geht, die Natur als eine Maschine an zusehen, lautet die Analyse ganz anders: hier namlich soll die Meta pher den Interpretationsrahmen für Newtons Gesetze der Mechanilc bilden: sie führt den Forscher zu fruchtbaren Anwendungsweisen seiner Theorie und legt ihm die angemessenen Forschungsmethoden wie auch die von der neuen Theorie in Anschlag gebrachte Metaphysik 2 Doch warum sollen wir annehmen, daB mechanistische Meta nahe. phern eine grundlegende Komponente der von der neuen Wissenschaft entwickelten Erldarungsweisen gewesen sind, geschlechtsspezifische Metaphern aber nicht? Eine in sich schlussige Analyse würde die Folge rung erlauben, daB eine Sichtweise, die die Natur als eine der Vergewal tigung gleichgultig gegenuberstehende (oder sie sogar begruBende) Frau entwirft, für die Interpretationen dieser neuen Konzeptionen von Natur und Forsehung gleichermaBen grundilegend gewesen ist. Es läBt sich vermuten, daB auch diese Metaphern in pragmatischer, methodologi scher und metaphysischer Hinsicht fruchtbare Konsequenzen für die Wissenschaft gezeitigt haben. Und warum ist in diesem Falle die Be zeichnung >>Newtons Handbuch der ergewa1tigung<< für Newtons Ge setze nicht ebenso erheflend und ehrlich wie >>Newtons Mechanik? Wir können daran sehen, daB Metaphern der Geschlechterpolitik benutzt wurden, urn die neuen Entwürfe von Natur und Forschung, die Natürliche Ressourcen 121 von der experimentellen Methode und der Technikentwicklung der damaligen Zeit benotigt wurden, moralisch und politisch attraktiv zu machen. Die im Mittelalter vorherrschende organische Auffassung von der lebendigen, Gottes Reich zugehorigen Natur war weder für die neuen Experimentalmethoden noch für die technischen Anwendungs formen der Forschungsresultate zu gebrauchen. Carolyn Merchant be zeichnet fünf Veranderungen in den europäischen Denk- und Erfah rungsweisen, die sich vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhun dert volizogen und den charakteristischen Geschlechtersymbolismus des in der Folge sich entwickelnden wissenschaftlichen Weitbildes mit geprägt haben. 3 —, — Erstens. Als die kopernikanische Theorie das geozentrische durch das heliozentrische Universum ersetzte, trat damit auch em andro zentrisches Universum an die Stelle eines gynozentrischen. Für die organische Naturauflhssung der Renaissance und früherer Denkweisen verband sich die Sonne mit Männlichlceit und die Erde mit zwei ent gegengesetzten Aspekten von Weiblichkeit. Einerseits wurde die Natur (und besonders die Erde) mit einer nährenden Mutter identifiziert mit einem >>freundlichen, wohiwollenden weiblichen Wesen, das für die Bedürfnisse der Menschheit in einem geordneten und geplanten Universum Sorge trug<< andererseits galt sie als die >>wilde und un kontrollierbare [weibliche] Natur, weiche Gewalt, Stürme, Dürren und ailgemeines Chaos verbreiten konnte<< (Merchant 1980, 2). In der kopernikanischen Theorie wurde die weibliche Erde, von Gott eigens für die Bedürfnisse des Menschen (man) geschaffen, zum winzigen, von auBen bewegten Planeten, der seine unbedeutende Kreisbahn urn die männliche Sonne zog. Zweitens. Platos Kosmologie band die tätige Kraft im Universum an die lebendige, nährende Mutter Erde, der Aristotelismus dagegen setz te das aktive mit dem männlichen, das passive mit dem weiblichen Prinzip gleich. Diese Auffassung war für die aristotelische Naturtheo tie von zentraler Bedeutung und erlebte in den Kosmologien des sech zehnten Jahrhunderts ihre Wiedergeburt: >>DaB die ‘materielle’, weib liche Erde mit dem männlichen, höherstehenden und ‘immateriellen’ Himmel sich vermählt und durch ihn geschwängert wird, war eine Standardbeschreibung für biologische Fortpflanzung in der Natur.<< Kopernikus selbst bedient sich dieser Metapher: >>Unterdessen emp fiingt die Erde von der Sonne und tragt einmal im Jahr Nachkommen schaft aus<< (ebd., 7). Die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit darüber, ob es moralisch angemessen sei, Mutter Erde so zu behandein, wie neue kommerzielle Tatigkeiten (z.B. der Bergbau) es forderten 1j Ich wies bereits daraufhin, daB diese Art der Analyse eine Reihe von Problemen und Herausforderungen enthält, von denen wir einige in den nächsten Kapitein untersuchen wollen. Offensichtlich aber gibt es Gründe genug, sich mit den intellektuellen, rnoralischen und politischen ... FUnftens. Die aus Politik und Recht entiehnten Metaphern der wissenschafflichen Methode entstammen zumindest teilweise den Hexenprozessen der Zeit Francis Bacons. Dessen Schirmherr war der englische Konig Jakob I., der die Gesetzgebung gegen Frauen und Hexerei sowohi in England wie in Schottland entscheidend förderte. In den Verhören wurden die der Hexerei beschuldigten Frauen geradezu obsessiv über ihre sexuellen Praktiken befragt; verschiedene Folter methoden dienten dazu, herauszufinden, ob sie den Teufel >>fleischlich erkannt<< hätten. In einer an semen Herrscher gerichteten Passage be dient sich Bacon kilhner sexueller Bilder, urn zentrale CharakterzUge der experimentellen Methode als inquisitorische Befragung der Natur zu erldären: >>Denn man muB der Natur bei thren Irrungen folgen und ihr gegebenenfalls nachstellen, und das ist moglich, wenn man sie hin terher an den selben Ort zuruckführt und dorthin treibt. Man soilte auch keine Skrupel haben, jene Höhlen und Nischen zu betreten und zu durchforschen, wenn das einzige Ziel dabei die Erkundung der Wahrheit ist<< (ebd., 168). Es rnag für die rnodernen Leserinnen und Leser nicht unmittelbar ersichtlich sein, daB Bacon auf diese Art die Notwendigkeit aggressiver und kontrollierter Experimente erklart, mittels derer die Forschungsresultate wiederholbar gernacht werden können! 123 Naturliche Ressourcen Funftes Kapitel 122 Teilnahme der Frauen am öffentlichen Leben als Drohung tiefer und weitreichender Veranderungen in den Geschlechterverhältnissen wahrgenommen wurde. Frauen waren in der nordeuropaischen Refor mationsbewegung tatig und Elisabeth I. regierte England langer als alle Herrscher vor ihr. Die Einbildungskraft der Renaissance mufite keinen groflen Sprung tun, urn alle Unordnung in Natur und Gesell schaft mit den Frauen in Verbindung zu bringen; die organische Kos mologie hatte den Boden dafur bereitet, indem sie die wilde und ge walttAtige Natur mit einem Aspekt des Weiblichen assoziierte, zudem fehiten Mare Unterscheidungen zwischen natUrlichen und gesell schaftlichen Phãnomenen. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war die Verbindungslinie in den Lehren über Hexenwesen und Zaube rei endgUltig gezogen worden. Nun wurde den Frauen eine >>Methode der Rache und Kontrolle<< zugeschrieben, >>derer sich physisch wie ge sellschaftlich machtlose Personen in einer Welt bedienen konnten, von der fast jeder annahm, sie sei organisch und belebt<< (ebd., 140). — ‘1 und erforderten, machen den Widerstand gegen die Verschiebung in der gesellschafflichen Bedeutung von Weiblichkeit sichtbar. Doch als der Aufstieg der modernen Wissenschaft und ihrer technischen An wendungsmoglichkeiten den >>Eingriff in den Korper<< der Erde zu einer imnier alltaglicher werdenden Erfahrung machte, gingen die von der älteren organischen Weltanschauung erhobenen rnoralischen Sank tionen gegen soiche Vorgehensweisen allmähuich den Weg alles Irdi schen. Zugleich wurde em Kriterium geschaffen, mit dessen Hilfe das Belebte vom Unbelebten gesondert werden konnte. (Diese Unterschei dung ist em theoretisches Konstrukt der modernen Wissenschaft, das vor ihrem Entstehen den Menschen nicht als etwas durch die Beobach tung Gegebenes vertraut war. Und sie entfremdet sich, wie wir sehen werden, dem >>Alltagsverstanth in zunehmendem Mafie.) Dies Kriterium machte die >>weibliche<< Erde zur passiven, unbewegten Materie, die der Erforschung und Ausbeutung ihres Inneren gleichgultig gegen übersteht. — Drittens. Das neue, von der Wissenschaft erschlossene Universum die mit Unordnung, Verfall und war eines, in dern Veranderung >>Verderbtheit< in Zusammenhang gebracht wurde nicht nur auf der Erde sich volizog, wie es die ptolemäische Zweiweltentheorie nahe legte, sondern auch den Himmel betraf. Für die Schriftsteller der Renaissance und der elisabethanischen Zeit barg diese Entdeclcung die Moglichkeit, daB die Ordnung der Natur zusammenbrechen und das Schicksal der Menschheit dem Chaos anheimgeben könne (ebd., 128). Das Denken der damaligen Zeit ist geprägt von der Wahrnehmung einer ungebandigten, wilden Natur, die sich gegen den Versuch des Menschen (des Mannes), sein Schicksal zu meistern, erhebt. Machia velli bediente sich sexueller Metaphern, urn zu zeigen, daB die Macht des Schicksals niedergerungen werden könne: >>Fortuna ist eine Frau, die, will man sie bezwingen, mit Gewalt erobert werden muB, und sie läBt sich durch Ktilrnheit eher bezwingen als durch kuhles Vorgehen. Und weil sie eine Frau ist, schätzt sie die Jugend, denn diese ist weni ger vorsichtig und ungestürner und bezwingt sie mit groflerem Wage mut<< (ebd., 130). Viertens. Unordnung herrschte nicht nur mm physikalischen Kosmos, sondern auch in den gesellschafflichen Verhältnissen, so daB auch von daher das menschliche Schicksal der Kontrolle zu entgleiten schien. Gleichzeitig mit der Entwicklung des wissensehafflichen Weitbildes f(ihrte der Zusammenbruch der feudalen Gesellschaftsordnung zur Erfahrung weitreichender sozialer Urnwalzungen. Von besonderem Interesse ist hier die Moglichkeit, daB die zunehmende und sichtbare 124 Funftes Kapitel Strukturen der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen, wenn wir daran denken, wie von Beginn an eine frauenfeindliche und ab wehrbereite eschIechterpolitilc mit der uns als wissenschaftliche Methode gelaufigen Abstraktion em Bündnis zur gegenseitigen Unter stiitzung eingegangen ist. Dali Hypothesen durch kontrollierte Mani pulation der Natur einem Härtetest unterzogen werden mUssen und daB soiche Manipulationen notwendig sind, urn die Wiederholbarkeit von Experirnenten zu gewahrleisten, wird vom Vater der wissenschaft lichen Methode in deutlich sexistischen Metaphern ausgedruckt. Natur und Forschung werden nach dem Vorbild von Vergewaltigung und Folter begrifflich erfalit, d.h. auf das gewalttätigste und frauen feindlichste Verhalten von Männern abgebildet und das Ganze als Grund für die Wertschatzung von Wissenschaft angefuhrt. Es ist schwer vorsteilbar, dali Frauen em darikbares Publikum für diese In terpretation der neuen wissenschaftlichen Methode abgeben könnten. Die Indienstnahrne der Geschlechterpolitilc eröffnet Ressourcen für die Wisseuschaft; gilt das auch für den umgekehrten Fall? Weisen die Metaphern nicht in beide Richtungen? Als die Natur mimer mehr einer Maschine zu gleichen schien, wurden da nicht im Gegenzug Maschi nen mimer mehr für etwas Natürliches gehalten? Als die Natur von einer nährenden Mutter zu emer Frau wurde, die man foltern und ver gewaltigen konnte, wurden da Folter und Vergewaltigung nicht zu einem scheinbar natürlichen Verhalten von Männern Frauen gegen über? 1st denn die Anwendung der Wissenschaft bei der Erzeugung okologischer Katastrophen, der Unterstützung des Militarismus, der Verkehrung rnenschlicher Arbeit in eine Korper und Geist verstüm meinde Tatigkeit, der Kontrolle und Herrschaft über >>Andere< (die Frauen, die Armen, die Kolonisierten) nur em Milibrauch angewand ter Wissenschaft? Oder sind Wesen und Ziel der experimentellen Methode, dergestalt in Begriffe gefalit, die Bestätigung dafür, daB es nicht urn sogenannte schlechte oder mifibrauchte, sondem urn eine charakteristisch männliche, normale Wissenschaft geht? Nicht nur Individuen, auch Institutionen agieren oftmals die verdrängten und ungelosten Probleme threr Kindheit aus. Lielie sich das Beharren der heutigen Wissenschaft auf einer im Dienste fortschrittlicher sozialer Verhältnisse stehenden wertfreien und leidenschaftslosen Objektivität nicht als der Versuch eines schuldbewuliten Gewissens begreifen, eini ge dieser frühen, aber noch immer lebendigen Probleme zu lösen? — Die Geschichte der Biologie und der Medizin enthält ähnlich augen fluhige Beispiele dafür, wie der Gescblechtersyrnbolismus dazu benutzt em wurde, die Natur auf neue Weise begrifflich zu konstruieren •.1 I Naturliche Ressourcen 125 Projekt, das die Geschlechterpolitik naturalisierte und zugleich Biolo gie und Medizin der Vergeschlechtlichung unterwarf. L.J. Jordanovas Untersuchung der Biornedizin im Frankreich und England des acht zehnten und neunzehnten Jahrhunderts fand heraus, dali >>die biologi schen Geschlechterrollen (s&x roles) mittels einer wissenschaftlich medizinischen Sprache definiert wurden, während umgekehrt die Naturwissenschaften und die Medizin mit Bilciern des Sexuellen durchsetzt wurden<< (Jordanova 1980, 42). Wissenschaft und Medizin wurden für die Autoren der Aufldarung bei ihrer kritischen Unter suchung der Gesellschaft in dreifacher Hinsicht bedeutsarn: ... Erstens beschaftigten sich Naturphilosophen und medizinische Schriftsteller mit naturbedingten Erscheinungen wie Reproduktion und Fortpflanzung, Paarungsver halten und geschlechtsspezifischen Krankheiten. Zweitens hatten Wissensehaft und Medizm eine privilegierte Position inne, weil ihre Methoden die einzigen zu sein schienen, die von der religiösen Orthodoxie in Richtung auf eine säkularisier te, empirisch gegrundete Erkenntnis von Natur und Gesellschaft führen konnten. SchlieBlich wurden Wissenschaft und Medizin als Tatigkeiten mit sexuellen Metaphern verbunden, die ihren deutlichen Ausdruck im Entwurf der Natur als einer Frau fanden, weiche durch die rnännliche Wissenschaft entschleiert, ent kleidet und durchdrungen werden rnu13te. (Ebd., 45.) Bewulit oder unbewulit weigerten sich die Denker der Aufldärung, die gesellschaftlichen Rollen von Frauen und Männern von der beschrei benden und bildlichen Darstellung physiologischer Unterschiede ab zukoppein. Em ebenso eindrucksvoller wie einflulireicher Ausdruck dieser sozialisierten Biomedizin findet sich in den Wachsmodellen rnenschlicher Gestalten, die als Vorbilder für anatomische Zeichnun gen und als Ausstellungsstücke in Museen dienten. ... *Die weiblichen Figuren nehmen eine liegende Haltung em und smd haufig mit Perlenhalsbändern geschmuckt. Ihr Haar ist lang und bisweilen tragen sie auch Schambeha-arung. Diese ‘Venusgestalten wie sie bezeichnenderweise genannt wurden, when auf samtenen oder seidenen Kissen in einer passiven Haltung, die sexuell einladend anmutet. Vergleichbare männliche Figuren haben eine aufrechte, oftinals Bewegung ausdrückende Position. Die weiblichen Modelle können geoffnet werden, urn die herausnehmbaren Eingeweide zu zeigen; sic enthalten sehr hAufig einen FOtus. Die rnannlichen Modelle dagegen sind in einer Vielfalt von Formen dargesteilt, urn die verschiedenen physiologischen Systeme zu demon strieren. Der Fötus und die volistandige Nacktheit der Frauen portratiert ihre wortwortliche Naturlichkeit, ihre symbolische aber liegt in der ganzen Machart soicher Figuren. Die weibliche Natur war durch die männliche Wissenschaft ent kleidet worden und wurde unter dem prufenden Buck der Ailgemeinheit versteh bar.< (Ebd., 54) Dies Bild >>fand semen expliziten Ausdruck in einer Statue in der Pariser Medizinischen Fakultãt. Dort wird eine junge Frau mit nackten Brftsten dargestelit, die unter dem Schleier, den sie abniinmt, den Kopf leicht geneigt halt. Der Schleier tragt die Aufschrift: ‘Die Natur entschleiert I 126 — — Funfles Kapitel —, sich vor der Wissenschaft’< (ebd.). In anatomischer Hinsicht wurden Manner als aktiv handeinde Vertreter unserer Gattung dargesteilt, Frauen als die Objekte menschlichen (männlichen) Handeins. Frauen korper wurden zugleich als Gegenstande wissenschaftlicher Neugier und als Objekte (gesellschaftlich konstruierten) sexuellen Begehrens dargeboten. Besonders mteressarit ist die Tatsache, daB die Rolle der Frauen in Gesellschaft und Beruf während jener Zeit durchaus facettenreich war und sich nicht auf die vom Klischee vorgeschriebenen Tatigkeiten be schränkte. Diese Vielfalt der AJ.ctivitäten war für jedermann erfahrbar und so auch für die damaligen Mediziner und Wissenschaffler muB denn em soicher GeschlechtersymboliSmUS mehr sein als die em fache Widerspiegelung einer real existierenden geschlechtsspezifi schen Arbeitsteilung in der die Manner umgebenden Gesellschaft. Vielmehr >>weist die Lücke zwischen Idee und Erfahrung deutlich auf die ideologische Funktion hin, weiche die Dichotomie von Natur und Kultur in den GeschlechterverhältfliSSen besitzt. Diese ideologische Botschaft wurde in zunehmendem MaBe durch die Sprache der Me dizin vermittelt<< (ebd. 42). Dergestalt vertiefte die Biomedizin die kulturell bedingte Assoziation, die Natur mit passiver, objektivierter Weiblichkeit und Kultur mit aktiver, objektivierender Männlichkeit und wurde im Gegenzug durch dies Projekt noch starker verband vermännlicht. Eine wachsende Indienstnahme der Geschlechterpolitik hat es auch in jüngerer Zeit inuner wieder gegeben. Untersucht man den Zusam menhang näher, so IaBt sich mutmafien, daB die intensivierten Aus drucksformen von Frauenfeindschaft in der Wissenschaft frUherer Epochen keine Repräsentationen einer frei flottierenden offenen Miso gynie waren, die es dem glucklichen Zufall zu verdanken hatten, daB sie in den zu der Zeit sich herausbildenden wissenschaftlichen Projek ten eine Ressource fanden; wahrscheinlicher ist, daB die Geschlechter verhältnisse sich grundlegend veränderten oder zu verändern drohten. Unverhohiene Frauenfeindschaft kann am besten als AuBerung mannlichen Protestes begriffen werden, denn niemand wird feststellen, was ohnehin offensichtlich ist oder sich für etwas stark machen, was er ohnehin schon besitzt. Aus dieser Perspektive ist das relativ geringe AusmaB an frauenfeindlichen Ausdrucksformen in anderen Geschichts epochen nicht einfach em Indikator für Gleichheit zwischen den Ge schlechtern (obwohl sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten in einem groBeren Umfang existierte als in der westlichen Gesellschaft der letzten Jahrhunderte). Es ist wohi eher so, daB der fehiende Protest : . Naturliche Ressourcen 127 der Manner oftmals die relativ stabile Machtlosigkeit der Frauen an zeigt und von daher als Verweis auf die männliche >>Problemdistanz<< gewertet werden sollte. 5 Bilder aus der Gegenwart Die Vergeschlechtlichung von Natur und Forschung ist nicht nur in erfreulich weit zurückliegenden Jahrhunderten betrieben worden. Vielmehr sind bis auf den heutigen Tag erstaunliche Energien in soiche Unternehmungen eingeflossen. 6 In vielen Kommentaren ist hervor gehoben worden, daB die vertrauten Ausdrucksweisen, derer man sich in popularen und gelehrten Wissenschaftsdiskussionen bedient, zu mindest unterschwellig von Geschlechtersymbolismen gepragt sind. Gelaufige Beispiele sind soiche Dichotomien wie eharte<< und >weiche<< Daten, >sanfte<< und aggressive<< Technologien, Vernunft und Intui tion, Geist und Materie, Natur und Kultur usw., aber auch vertraute Wendungen, in denen von der >durchdringenden Wucht eines Argu ments<< oder von >>fruchtbaren Ideen<< die Rede ist. Doch wollen wir uns einige ausfUhrlichere und gewissenhaftere BemUhungen urn die Sym bolik der Geschlechter ansehen. Mit diesen SchiuBbemerkungen einer vor gar nicht langer Zeit ge haltenen Rede zur Nobelpreisverlethung faBt der Geehrte, em Physi ker, die Geschichte seines preisgekronten Lebenswerkes zusarnmen: Damit fing alles an: die Idee ersehien mir so offensichtlich und elegant, dalI ich mich zutiefst in sie verliebte. Und gleichwie man sich in eine Frau verliebt, so ist es auch in diesem Fall nur moglich, wenn man mcht viel von ihr weffi, so daB man ihre Fehler nicht sieht. Die Fehler werden spater erkenubar, doch dann ist die Liebe stark genug, urn an ihr festzuhalten. So hielt ich denn, ungeachtet aller Schwierigkeiten, durch meinen jugendlichen Enthusiasmus an dieser Theorie test. Und was wurde aus der alten Theorie, in die ich mich als Jugendlicher verliebt hatte? Nun, ich wurde sagen, sie ist eine abe Dame geworden, die nicht mehr alizu viele Reize besitzt, und den jungen Leuten von heute wird das Herz nicht gerade höher schiagen, wenn sic sie noch einmal anschauen. Doch können wir von ihr das beste sagen, was sich uberhaupt von alten Frauen sagen laBt, daB sie nämlich eine gute Mutter geworden ist und einige sehr gute Kinder geboren hat. Und ich danke der Schwedischen Akadernie der Wissenschaften daflir, daB sie ems von diesen Kindern ausgezeichnet hat. 7 Und hier ist der SchluBabschnitt eines haufig zitierten Aufsatzes, der von einem herausragenden zeitgenossischen Wissenschaftstheoretiker stammt: der Autor, Paul Feyerabend, erkiart, warum sein Vorschlag fir eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte dern von Karl Popper vorgezogen werden solite: >>Eine soiche Entwicklung r. 1st alles andere als unerwunscht, denn sie verwandelt die Wissenschaft von einer strengen und fordernden Herrin in eine attraktive und ergebene 128 Funftes Kapitel Kurtisane, die threm Liebhaber jeden Wunsch von den Augen abliest. Naturlich ist es unserer Wahi anheimgestellt, ob wir uns in die Gesell schaft eines Drachens oder eines Schmusekätzchens begeben wollen. 8 Diese Ich glaube, ich muB nicht erklären, wem ich den Vorzug gebe.<< beiden Abschnitte reprasentieren zwei kulturspezifische Vorstellungen von Mannlichkeit: den guten Gatten und Vater und den sexuell ehr geizigen Matratzensportler. — Selbst der Oft, an dem diese moralischen AppeJie an die Geschlech terpolitik im Text plaziert sind, ist erhellend. Sie bilden in beiden Fallen die Schiuflbemerkung und sind die zusammenfassenden Gedan ken, weiche Publikum resp. Leserschaft mit nach Hause tragen sollen. Fur den Fall, daB die Besetzung der erein kognitiven<< Behauptungen mit einem männlichen Akzent unbemerkt geblieben sein soilte, bringt jeder Autor sein Anliegen in der SchluBbotschaft auf den Punkt. Der Wissenschaftler und der Philosoph sind wirklich und wahrhaftig Man ner (trotz threr Erfolge in der zerebralen Karriere? furchten auch Manner sich vor bestimmten Arten des Erfolgs?); das Publilcum des gleichen. Thre Partnerinnen — die Wissenschaft und ihre Theorien sind ausbeutbare Frauen. Bin Vorschlag solite angenommen werden, weil er die Geschlechterpolitik verdoppelt. - ‘ Evelyn Fox Keller weist darauf hin, daB mehr als nur em paar Wis senschaftler und Philosophen ihre Tatigkeiten mit dem proiektiven Ideal einer verteidigungsbereiten Mannlichkeit belegen. Obwohl der Wissenschaftler als hypermännlich gilt, wird ihm doch em geringeres MaB an Sexualität zugeschrieben als Männern in bestimmten anderen Berufen. Bine mit englischen Schuijungen durchgefUhrte Untersuchung J zeigt dan sehr deutlich: eDie schönen Künste und Kunstwissenschaftefl werden mit sexuellem VergnUgen assoziiert, die Naturwissenschaftefl mit sexueller Enthaltung. Wer sich mit den Kunsten befaBt, hat eine gutaussehende und gutgekleidete Frau, mit der er eine enge sexuelle Beziehung pflegt. Der Naturwissenschaffler dagegen ist mit einer (auch in puncto Kleidung) reizlosen und langweiligen Frau verheiratet, an der er kein korperliches Interesse hat. Dennoch gilt der Naturwissenschaftler als männlich, der Kunstfachmann als em bifichen 9 Keller weist darauf hin, daB die Wissenschaft sowohl als feminin.< eAntithese zum Eros*c wie auch als hypermännliche Tätigkeit aufgefai3t worden ist, und daB zwischen beiden Auffassungen eine Beziehung besteht, die sich schon in der Bildwelt ftüherer Denker finden lafit: ‘Wir wollen zwischen dem Geist und der Natur eine keusche und gesetzestreue Ehe stiften schreibt Bacon, und verschreibt damit ein vorschriftsmäBiges Rezept für die Geburt einer neuen Wissenschaft. . , - Naturliche Ressourcen 129 — Diese Verschreibung hat sich bis auf den heutigen Tag gehalten in ihr fmden sich wichtige Hinweise auf die Position des keuschen Bräuti gams, auf seine Beziehung zur Braut und auf die Art und Weise, mit der er semen Auftrag definiert.<< 10 Keller geht davon aus, daB die geistigen Strukturen wie auch die ethischen und politischen Praxen der Wissenschaft den für sie charak teristischen Androzentrismus dadurch angenommen haben, daB Kom petenz und Beherrschung mit Macht, Beherrschung und Macht mit Männlichkeit und diese Konstellation wiederum mit Wissenschaft assoziiert wurden. Solche bildlichen Vorstellungen konstruieren zu gleich das institutionalisierte Ethos der Wissenschaft und der verge schlechtlichten Sexualitat wie auch in der Folge die durch diese Institu tionen strukturierten Praxisformen. Die Wissenschaft bestätigt thre männlich-dominanten Praxisformen und die männliche Vorherrschaft ihre vorgeblich objektiven wissenschaftlichen Begrundungen, indem beide sich kontinuierlich gegenseitig unterstUtzen. Diese Kette von Assoziationen ist nicht nur deswegen anstoi3ig, weil sie sexistisch ist, sie führt auBerdem zu schlechter Wissenschaft, d.h. zu falschen und stark vereinfachten Modellen von Natur und Forschung, die die Exi stenz von Machtverhältnissen und hierarchischen Strukturen behaup ten, wo keine sind oder sein müssen. Für Keller offeriert die Wissenschaftsgeschichte alternative Bildwel ten und Praxisformen, in denen die der Natur eigene Vielschichtigkeit j respektiert wird und die, eher androgyn geprägt, nicht so eng mit der Problematik männlicher Identitat verwoben sind. eWir sind nicht aus schlieBlich auf unsere Phantasie angewiesen, wenn wir Vorstellungen von einer anderen Wissenschaft entwickeln wollen, die dem Drang nach Herrschaft in geringerem MaBe ausgesetzt ist. Wir müssen ledig lich dem thematischen Pluralismus in der Entwicklungsgeschichte unserer eigenen Wissenschaft nachgehen.* 11 Keller weist auf viele Elemente in der Wissenschaftsgeschichte Mn, die nicht durch machi stische Einflüsse geprägt worden sind. In ihrer intellektuellen Bio graphie von Barbara McClintock thematisiert sie unter anderem, auf welche Weise die Nobelpreisträgerin in threr wissenschaftlichen Problemstellung, thren Begriffen, Theorien und Forschungsmethoden das soziale Geschlecht transzendiert. McClintocks eGespUr für den Orga nismusc, ihr Respekt vor den vielfältigen Unterschieden zwischen Individuen, thr Bedurfnis, edem Material thr Ohr zu leihen<< — dies [ alles mid Beispiele für nicht-mannliche Tendenzen, die sich auch anderenorts in der Wissenschaftsgeschichte finden lassen. Die Arbeiten von McClintock bilden, sagt Keller, keine ferninistische Wissenschaft I I—- — Zweitens muB das Denke n vorn FUhle n abgetre nnt werden , andere n 11s könnte die wissenschaffliche Rationalität sich gezwungen sehen, auf die Empfindungen der Mensc hen angesi chts der soziale n Konse quenz der von ihnen oder andere n so erfoigr eich betrieb enen Forsch ung im militarischen, biomedizinischen oder sozialt echnol ogisch en Bereich Rücksicht zu nehmen. >Die Rolle des Wissenschaftlers ist eine andere als die des Burgers, und der Wissen schaftl er (oder die Wissen schaft1erin) muB sich nur als Privatrnensch und Burger sozial verant wortlich oder emotional betroffen 15 fihlen.<< Geschichtlich gesehen ist Das Beharren auf diesen männlich deterrn inierte n Dichot omien ist laut Fee in vierfacher Weise für die Aufrechterhaltung des Glaube ns an die Objektivitat der Wissenschaft entscheidend. Zunäch st muB die Frage nach der Erkenntnisproduktion von der Frage nach der gesells chaft lichen Verwendung von Erkenntnis getrennt werden; anderenfalls könnten die Wissenschaftler sich gezwungen sehen, für solche Ziele mid Zwecke Verantwortung zu übernehmen, die auBerh alb der urn ihrer selbst willen betriebenen Erkenntnissuche liegen. Zudem könnte die Offentlichkeit sich errnutigt fühlen, mehr EinfluB auf die Vertei lung von Forschungsmitteln und die Auswahl forschender Persönlich keiten zu nehmen. — Die Konstruktion unserer politischen Philos ophie und unserer Sichtweisen der menschlichen Natur scheint von einer Reihe geschl echtsspezifischer Dichotomien abzuha ngen, die mit der Konstr uktion von Geschl echterd ifferenzen vermacht sind. So konstruieren wit Rationalität als Gegen satz zu Emotio nalitiit , Objektivität als Gegensatz zu Subjek tivität, Kultur als Gegen satz zu Natur, das Offentliche als Ge gensatz zum Privaten. Ob wir nun Kant, Rousse au, Hegel oder Darwin leseti, überall werden das Weibliche und das Männliche in Form von entgegengesetzten Charak teren begriff en: Frauen lieben die Schdnh eit, Manne r die Wahrheit; Frauen sind passiv, Manner aktiv; Frauen sind emotio nal, Manne r rationa l; Frauen sind seibstios, Manne r egozen trisch und so weiter und so fort durch die ganze Ge schichte der westlichen Phiosophie. Der Mann macht die Geschichte, doch die Frau stelit ihm die Verbin dung zur Natur her; sic ist die vermitteinde Kraft zwi schen Mann und Natur, sic gemahnt din an seine Kindhe it, an den Körper und an SexualitAt, Leidenschaft und menschliche Verbundenhei t. Sic ist die Hüterin des Gefith isleben und s aller nichtra tionale n Eleme nte mensc hlicher Erfahrung. Sic ist bisweilen eine Heiige, bisweilen eine Teufelin; immer aber scheint und erscheint sic als der notwendige Kontrapunkt zum Selbstverständ nis des Mannes als einem Wesen von reiner 1 Vernunft. 131 Naturliche Ressourcen Funftes Kapitel 130 Elizabeth Fee geht, wie Merchant, Jordan ova und Keller, davon aus, daB soiche Dichotomien rnännlich determiniert sind. Fee weist darauf hin, daB sie zwar in der Geschlechterideologie des moder nen Libera lismus aufgespurt werden können, jedoch sehr viel altere Wurzeln besitzen müssen, weil sie die gesamte Geschichte der westlichen Philosophie durchziehen. - aus, gerade well sie das soziale Geschlecht transzendieren. (Aller dings, so spekuliert Keller, könnte McClintock aufgrund ihres eigenen Status als Frau, als AuBenseiterifl und Abweichlerifl in der Wissen schaft leichter zu abweichendefl Formein und Formulierungen in der Molelcularbiologie gekommen sein.)’ 2 Aber hier identifiziert Keller fälschlicherWeiSe den Feminismus mit uberschWanglichefl Projekten weiblicher IdentitatsfindUng und nicht mit eben jener Transzendeflz des sozialen Geschlechts, von der bei ihr die Rede ist. Sicher haben FeministinflerL hier eine Art >>urngekehrter Diskriminierung< betrieben, doch die Mehrheit stand und steht soichen Tendenzen kritisch gegenüber. Darüber hinaus verdoppelt Keller die immanente Ausrichtung traditioneller esehichtssChreibUflg, wenn sie den Pluralismus in der GeistesgeschiChte der Wissenschaft betont, zu gleich aber die sozialen, politischen, psychologischen und wirtschaft lichen Zwänge ignoriert, mittels derer erklart werden kann, warum einige wissenscbaftliche Ideen gesellschaftliche Legitimation erlan gen, andere dagegen nicht. Es gibt gesellschaftliche wie intellektuelle GrUnde clafur, warum die MolekularforSCbuflg zu einem bestimmten Zeitpunkt auf hierarchische Modelle, zu einem anderen Zeitpunkt auf interaictive Modelle groBeren Wert legt. Diese Kritik zielt auf Schwachstellefl in Kellers Darstellung, die gleichwohl für thren Ansatz insgesamt mcht typisch sind. Und es ist schwierig, sich vorzustellen, weiche begrundeten Einwande gegen ihre Behauptung vorgebracht werden könnten, daB AusdrucksfOrmefl von Herrschaft und Kompe tenz, von Männlichkeit und Wissenschaft em wechselseitigeS Beziehungs- und StUtzgeflecht eingegangen sisal, das den Frauen und der Wissenschaft Schaden zufugt. (Und, so können wir hinzufügen, auch den Mannern, die zu ihrer Reifeprüfuflg anstrengenden und deformie renden Vorschriften ausgesetzt sind.) — Merchant, Jordanova und Keller schlieBen sich einer Reihe anderer. Kritikerrnnefl an, deren Angriffspunkt die begriffliche DichotomiSierung das Hauptrnerkmal wissenschaftlicher Ideologie und Praxis ist. Handelt es sich dabei selbst schon urn eine spezifisch mi Tendenz? Einige Kritikerinflefl gehen davon aus, daB thre Wurzeln der jüdischen und christlichen Religion ebenso zu linden sind wie im KapitalismuS und KolonialismUS, und in der europaischen Kultur des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts mit ihrer Theorie des politi schen LiberalismuS. Das siebte Kapitel untersucht Probleme, die mit feministischefl KonstruktiOflSWeisefl soicher Dichotonhiefl verbunden sisal, an dieser Stelle aber wollen wir sehen, was sie dazu zu sagen haben. 132 Funfles Kapitel diese Verschiebung des moralischen Bereichs in das Privatleben nach gewiesenermaBen eine moderne Erfindung. Für Aristoteles und die Griechen war die höchste Form moralischen Handeins nur im Offent lichen Leben erreichbar. Der Status der Wissenschaft ergibt sich aus ihrer paradigmatischen Rolle als der Institution, in weicher diese Tren nung von Rationalität und sozialer Verpflichtung ihren wirkungsvoll sten politischen Ausdruck erlangt hat, während die Ausbreitung wissenschafflicher Rationalität auf alle Institutionen des modernen Lebenszusammenhangs die Wissenschaft mit der Macht ausstattet, diese Trennung in anderen Bereichen der Gesellschaft durchzusetzen. — — Drittens muB das wissenschaftliche Subjekt, der Wissenschaftler von oder die Wissenschaftlerin, vom wissenschaftlichen Objekt getrennt werden. Merchant und dem, was er oder sie untersucht Jordanova haben darauf hingewiesen, daB der erkennende Geist aktiv ist, das Erkenntnisobjelct dagegen passiv. Es ist die Stimme des wis senschafflichen Subjekts, die mit aligemeiner und abstrakter Autorität spricht; die Forschungsobjekte >>sprechen<< nur in den Antworten auf die von den Wissenschafflern gesteilten Fragen, und sie sprechen in der je besonderen Stimme ihrer geschichtsspezifischen Bedingungen und Verortungen. Viertens mufi die Wissenschaft genau deshalb als von der Gesell schaft getrennt gedacht werden, um ihre engen Beziehungen zur politi schen Macht zu verschleiern. Man erzahlt uns, daB die Produktion wissenschafflicher Erkenntnis von politisch inotivierter Beeinflussung oder Lenkung unabhängig sein mufi. Dennoch sehen wir, wie Wissenschaftler standig vor KongreBausschüssen als Zeugen auftreten, wir finden Wissenschaftler in Gerichtsverhandlungefl, wir finden sie in allen Bereichen offentlicher Politik als Diskussionsteilnehmer. Es ist ganz offensichtlich, daB die Experten Partei ergreifen. Ebenso ist offensichtlich, daB diese ‘Experten’ oftmals durch Konzerninteressen materiell gefordert werden und daB es für diejeni gen, deren Forschung die Positionen dieser machtvollen Lobbies unterstUtzt, ver 16 gleichsweise geringe Strafen gibt.” I ‘. Ruth Hubbard hat darauf hingewiesen, daB these Art der Dichotomi sierung die intellektuellen, moralisehen und politischen Projekte der real existierenden Wissenschaft als sexistisch, rassistisch und als Aus 17 Für Hubbard ist die V druck von Klassenherrschaft entlarvt. schaft eine gesellschaftliche Konstruktion, em historisch gewachsenes Unternehmen, das über uns und die uns umgebende Welt Geschichten erzählt. Ms Biologin hat sie sich auf die Geschichten konzentriert, die eine durch Kiassen, Rassen und männliche Herrschaft bestimmte Gesellschaftsordnung über biologische Geschlechtsunterschiede zu er-a zählen beliebt. Ihre Analyse umspannt Themen, die von den Schrifte - Naturliche Ressourcen 133 Darwiis und anderer herausragender Manner der Wissenschaft bis zur zeitgenossischen biologischen Fachliteratur reichen, wobei sie die sexistischen, klassenhierarchischen und rassistischen politischen Ziel vorstellungen aufweist, welche durch die Aufrechterhaltung soicher Dichotomien in der Sexualforschung Uber Geschlechtsunterschiede gestutzt werden. Sie meint, daB die Konzentration aufbiologische Ge scblechtsunterschiede angesichts der geradezu unglaublichen Ahnlich keiten zwischen den (biologischen) Geschlechtern an sich schon eine Widerspiegelung unverkennbar männlicher Vorstellungen sein kOnnte. — Geist im Gegensatz zu Natur und Korperlichkeit, Vernunft irn Gegensatz zu Emotionalität und sozialer Verpflichtung, Subjekt und Objektivität im Gegensatz zu Objekt und Subjektivität, das Ab strakt—Allgemeine im Gegensatz zum Konkret—Besonderen immer geht es darum, daB das erstere das letztere beherrschen muB, damit das menschliche Leben nicht irrationalen und fremden Mächten ausgeliefert wird, die in der Wissenschaft als das >>Weiblichex sym bolisiert werden. Alle diese Dichotomien spielen eine wichtige Rolle in der intellektuellen Struktur der Wissenschaft und scheinen in Ge schichte und Gegenwart mit erkennbar männlichen EntwUrfen biologi scher und sozialer Geschlechteridentität verknupft zu sein. Umgekehrt sind auch das soziale Geschlecht und die menschliche Sexualität durch die Entwürfe einer so gearteten Wissenschaft geformt worden. - — — Die in der Uberschrift dieses Abschnitts gestelite Frage soilte nun weniger überraschend erseheinen. Soilten wir these Wissenschafts geschichte und these Wissenschaftstheorie durchleuchten? Die sexisti schen Bedeutungszuschreibungen für wissenschaffliche Tätigkeit waren ganz offensichtlich wichtige Ressourcen, mittels derer die moderne Wissenschaft sich kulturelle Anerkennung verschaffte und verschafft, denn auf sie beziehen sich auch heute noch Wissenschaffler und Philo sophen, urn ihre Tätigkeiten zu rechtfertigen, zu begründen und zu erklären. Und sie dienen dazu, junge Leute (vor aflem Manner) für Wissenschaft und Wissenschaftstheorie zu begeistern. Wle kann so etwas esozial fortschrittlich<< sein? MUssen wir nicht, fragt die Histori i kerin Joan Kelly-Gadol, wenn wir die Situation der Frauen als ebenso gesellschaftlich determiniert wie die der Manner begreifen, angeblich fortschrittliche Bewegungen hinsichtlich ihres Einflusses auf Frauen wie auf Manner auf >>ihre< wie auf >>seine<< Menschlichkeit neu 18 Warum soilten wir the Herausbildung der modernen Wis bewerten? ft als groBen Fortschritt für die Menschheit betrachten, wenn h der gesellschaffliche Status der Hälfte dieser Menschheit sich entscheidend verschlechtert hat? Warum soilten wir davon ausgehen, 135 Naturliche Ressourcen Funftes Kapitel 134 — — Beginnen wir mit der Biologie. Sexualforscher und -forscherinnen gehen davon aus, daB die menschliche SexuaiitAt grundsätzlich äuBerst formbar ist, und mcht durch genetische oder hormonale Strukmren streng determiniert wird. 21 Kinder werden als bisexuelle oder, mit Freud zu sprechen, >po1ymorph-perverse<< Wesen geboren. Natürlich befruchten die Manner die Eizelle, und die Frauen tragen Kinder aus und stilien sie; die männlichen und weiblichen Entwicklungsprozesse, die diesen Unterschied im Fortpflanzungsverhaiten darsteilen, werden anhand von funf biologischen Kriterien definieft: Gene oder Chromo somen, Hormone, Gonaden, innere Fortpflanzungsorgane, äuBere Geschlechtsorgane. Doch der Abstand zwischen diesem biologischen Geschlechtsunterschied und der voll entfalteten Konstruktion verge schlechtlichter und sexueller Identitäten, Verhaltensweisen, Rollen und Bedürfnisse, die den Erwachsenen ausmachen, ist groB, und er wird von der Kuitur offensichtiich vollständig durchmessen. Forschun gen zur sexuellen Identität von Hermaphroditen zeigen zum Beispiel, daB zwischen dem physiologischen Geschlecht des Kleinkinds end der endgültigen biologisch/sozialen Geschlechtsidentitiit, die das Kind an nimmt, eine vollständige Disjunktion besteht. Nicht des physiologische — daB die frauenfeindlichen Aufierungen zeitgenossischer Nobeipreis träger und herausragender Wissenschaftstheoretiker für die Bedeutung, weiche die Wissensehaft für Wissenschaftler und Offentlichkeit be vor ailem, wenn wir andere Arten von Meta sitzt, unwichtig sind phern in der Wissenschaft als intrinsische Bestandteile des >>Erkennt niswachstums<< zu betrachten aufgefordert sind? Mir scheint, daB die Beweislast für die Schuldiosigkeit der Wissenschaft an der fortschrei tenden Frauenfeindlichkeit bei den Anhangern der Wissenschaft liegt, nicht bei den Opfern dieser vergeschiechtlichten Bedeutungszuschrei bungen. Die gesellschaftliche Konstruktion menschlicher Sexualität — ; Männlichkeit und Weiblichkeit. Diese Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, und so ist es für die meisten von uns schwer zu begrei fen, daB die Formen, in denen die geschlechtiichen und sexuellen IdentitAten, Praxen und Wünsche (die eigenen wie die der anderen) sich manifestieren, nur zu einem sehr geringen Teil naturgegeben sind. Man kann die Rolle des wissenschaftlichen Weitbildes und der einzel nen Wissenschaften bei der Formung des bioiogischen wie des sozia len Geschlechts des Sex/Gender-Systems besser verstehen, wenn man die angeborene Formbarkeit sowohi des biologischen als auch des sozialen Geschlechts der Menschengattung zu begreifen beginnt. Dar über hinaus können wir, wenn wir diese Formbarkeit verstehen, uns besser vorstellen, warum die Uberwindung des sozialen Geschlechts auch danu notwendig ist, wenn die Anti-DiskriminierungsmaBnahnien für Frauen in der Wissensehaft ihr Ziei erreichen soilten. Es gibt also eine ganze Rethe von Gründen, aus denen wir die Herausforderung be greifen soilten, die die Theorie der gesellschaftiichen Konstruktion für den biologischen Determinismus darsteilt. Denn dieser ist nicht die ultirna ratio angesichts der Erosion der Grenzen zwischen Natur und 20 Der Ort der Frauen im Sex/Gender-System ist gesellschaft Kultur. lich konstruiert, doch gilt das auch für die Manner. Für diese Behaup tungen geben biologische, historische, anthropologische und psycho logische Untersuchungen Beweismaterial an die Hand. — Die alltagliche Sinneswahrnehmung hat sich in den letzten Jahrzehnten so sehr verändert, daB die Annahmen des achtzehnten und neunzehn ten Jahrhunderts bezugiich biologischer Geschiechtsunterschiede den Leserinnen und Lesern auf den ersten Buck so fremd und unverständ lich erscheinen mogen wie die Ansichten eines mittelalterlichen Bauern oder der ursprtingiichen >>weiblichen Sammlerin<<. Lillian Faderman schreibt, daB das, was heute ais relativ amateurhaftes Transvestitentum angesehen würde, vor der Popularisierung freudianischer Theorien und androgyner Bekleidungsstile kaum entdeckt werden komite. Klei dung gait ais deutlicher Indikator des Geschiechts: >>Was macht eine nach Freiheit verlangende Frau in einer Epoche, die noch keine ge schiechtsneutraie Mode kennt, in der die Menschen glauben, daB die Kieldung unbezweifelbar das Geschlecht anzeigt mid in der es keine Notwendigkeit gibt, das Geschiecht anhand von Gesichtszügen und Muskulatur Zn bestimmen? Sie kann nur versuchen, für einen Mann gehalten zu werden.<< Unvorstelibar, daB die Kleidung einmal em un zweideutiger Indikator für das Geschlecht gewesen ist! (Warum wir von em paar Stunden hin und wieder abgesehen uns derart mit dem Geschlecht von befreundeten und fremden Personen, die uns begeg nen, beschäftigen soilten, ist eine andere und geheimnisvolle Sache.) Simone de Beauvoirs Analyse in Das andere Geschlecht hat in emi nenter Weise zur Entwicklung aktueller Theorien beigetragen, die untersuchen, auf weiche Weise Sexuaiität, soziales Geschlecht mid wahrgenommene Geschiechterdifferenzen geselischaftlich konstruiert werden. Andere Beiträge zu diesem neuen BewuBtsein stammen von biologischen, historischen, anthropologischen und psychologischen Untersuchungen zur Veranderung und Vielfalt der Bedeutungen von Funftes Kapitel 136 bestinimt für das Geschlecht, sondern die ErwartenshaltUng der Eltern Identität des Erwachse Kleinkind im Vorwege die geschlechtliche den Wissenschafflerfl auf 22 Und was für diese Fälle gilt, die nen. sind zwei his drei grund ihrer Anomalität auffallen (schatzungSWeise durfte auch für den Rest Prozent aller Menschen Herrnaphroditefl), Erwartenshaltung, die von uns wahr sein: es ist die gesellschaftliche Darüber biologisch-sOZiale Geschlechteride11titen hervorbringt. Erwartungefl hinsichtljch hinaus sind, wie bereits angedeutet, unsere Forschungefl zur Biologie der Biologie von sozialen Kräften geprägt. daB die gesellschaftliche und threr Geschichte lassen den Schiufi zu, weiche denen zu nützen Ordnung biologische Konzeptioflefl fOrdert, oder sie besitzen. scheinen, die nach Maclit streben, sie verteidigen Fach Biologie für Entsprechend revanchiert sich das wissenschaftliche gesellschafflichefl Ordnung die Unterstützuflg, die es sich von der leiht. — — . die sich besonders mit In Erganzung zu Merchant und Jordanova, geschichtlichen Verschiebung der Rolle der Wissenschaftefl bei der rnenschlichen Sexualitãt von Bedeutungen und Verhaltensformen der Verschiebungen inner befassen, haben viele andere Autorinnen soiche Sozialgeschichte untersucht. haib des ailgerneineren Rahmens der vor der PopularisierUflg Fadennans Buch analysiert, warurn sich neunzehnteri Jahrhunderts von Freud und vor der Frauenbeweguflg des was heute wohi als Manner und Frauen für das begeistert haben, KulturfOrrnefl galten Lesbentum bezeichnet würde. In diesen fruheren zwischen hetero leidenschaftliChe und lebenslange Freundschaftefl von mãnnlichen Auto sexuellen Frauen als normal und wurden sogar zwischen Men ritäten als moralische Vorbilder für die Freundschaft über deren sexuelle schen uberhaupt angesehen. Diese Beziehungen, wurden erst zwischen Komponente sich nichts mit Sicherheit sagen laBt, 23 Es waren die Jahre, die laut 1880 und 1920 als lesbisch etilcettiert. in denen die F. Rossiter ungefahr mit der Periode zusammenfielen, gleichberechtigtefl Zugang zur ihre erbittertstefl Kampfe urn den 24 Fadermans Untersuchung ist eine senschaft führten und verloren. zu jeder Herausforderung für alle, die glauben, daB HeteroseXUalität VerhaltensweiSefl beziehen Zeit mid an jedem Ort sich auf die gleichen Und wie Merchant und und die gleichen Bedeutungen besitzen muB. Manner vor der gesell Jordanova zeigt Faderman, wie die Angst der in diesem Fall dureb schaftlichen GieichbereChtigung der Frauen (die Jahrhunderts hervorgerufen die FrauenbeWegUflg des neunzehnten Wissenschaften eine für beide wurde) mit den neu sich entwickelnden Psychoanalyse und bio Teile nutzlicbe und wertvolle Allianz einging. . . . I Natllrliche Ressourcen 137 medizinische Forschungen zum Geschlechtsunterschied erhielten ihre gesellschaftliche Legitimitat, indem sie Bündnisse, Freundschaften, Beziehungen usw. zwischen unabhangigen Frauen als pathologisch de fmierten. Andere Historikerinnen und Historiker haben andere Aspekte der Konstruktion von Geschlechteridentitäten und gesellschaftlichen Be deutungen untersucht. Jeffrey Weeks weist nach, wie eine mit dern Freudianismus verbundene repressive Gesetzgebung gegen (mann liche) Homosexuelle urn die Jahrhundertwende in Europa und Amen ka die Herausbildung selbstbewuBter männlich-homosexueller Ge meinschaften befOrdert hat. Michel Foucault beschreibt, auf weiche Weise das masturbierende Kind, die hysterische (etyrnologisch: eine wandernde Gebärmutter<< besitzende) Frau und der hornosexuelle Mann im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als Objekte wis senschaftlicher Forschung allererst geschaffen wurden. Tm Gegensatz zur geläufigen Annahme, das viktorianische Zeitalter habe sich durch eine ungewöhnliche Unterdrückung der Diskurse über Sexualität aus gezeichnet, geht Foucault davon aus, daB die Kultur der damaligen Zeit an kaum etwas anderes habe denken können. — NatUrlich lassen sich (von uns so genannte) masturbatorische, hysterische und hornosexuelle Verhaltensformen auch schon vor dieser Epoche nachweisen, doch war die definitorische Typisierung von Menschen anhand bestimmter (eher untergeordneter) Verhaltens weisen em theoretisches und politisches Kunststuck der Allianz von Wissenschaft und Politilc em erfoigreicher Versuch, zugleich den Status von Wissenschaft anzuheben und all diejenigen mit gesellschaft lichen Sanktionen zu bedrohen, die sich thre personlichen Ausdrucks und Verhaltensforinen nicht von den Bedürfnissen des heraufziehenden Industriekapitalismus diktieren lassen woilten. Judith Walkowitz be schreibt, wie in England eine Gruppe von Menschen geschaffen wurde, die man als Prostituierte bezeichnete. Natürlich war die Prostitution keine Erfindung der jUngeren Geschichte, doch daB eine Kategorie von Personen als, sozusagen, Iebenslangliche Prostituierte begrifflich be stimmt wurde, war ersichtlich eine kulturspezifische Erfindung. (Wie Wallcowitz bemerkt, wurde diese Etilcettiening ironischerweise durch die Bemuhungen von Sozialreforrnern, die Prostitution zu beseitigen, noch unterstutzt.) Die Veränderungen in den gesellschaftlichen Bedeu tungen und Verhaltensweisen, die die westliche Kultur mit >>Mann<< und *Framc, >>rnännlich<< mid >>weiblich<< assoziiert, werden von vielen an deren Untersuchungen hinreichend dokumentiert. 25 138 — — —, Funftes Kapitel —, Die Theorien gesellschaftlicher Konstruktion in der neueren anthro pologischen Literatur hinterlassen den Eindruck, daB es absolut mchts was universell und kul gibt keine Bedeutung und kein Verhalten turiibergreifend mit Männlichkeit oder Weiblichkeit assoziiert werden kann. Was in einigen Gesellschaften für männlich gehalten wird, gilt in anderen als weiblich oder geschlechtsneutral und umgekehrt; die einzige Konstante scheint die Bedeutung der Dichotomie selbst Zn sein. Die ursprünglich von Sherry Ortner vorgetragene Behauptung, in alien Gesellschaften werde Mannlichkeit mit Kultur und Weiblichkeit mit Natur assoziiert was für die von Merchant und Jordanova unter wird in suchten westlichen Geseilschaften ganz offensichtlich ist 26 Diese zwei Aufsatzsamnilungen aufgenommen und weiter erforscht. Untersuchungen geben zu bedenken, daB die Dichotomie von Natur und Kultur selbst genau so modern und westlich ist wie die besondere Art und Weise, auf die sie in unserer Geseilschaft und ihrer Vorstel lung vom sozialen Geschlecht sich vermittelt. Moderne westliche Auf fhssungen vom biologischen und sozialen Geschlecht und die Dichoto mie von Natur und Kultur haben sich wechseiseitig beeinfluBt. Von daher soilten wir auf der Basis dessen, was diese Unterschiede in unse rer Gesellschaft bedeuten und bezeichnen, mit kulturUbergreifenden Verailgemeinerungen mcht zu schnell bei der Hand sein. Einerseits zielen diese Studien darauf ab, die Universalität der Di chotomisierung jener sozialen Verhaltensformen und Bedeutungen, die in der westlichen Kultur mit Männlichkeit und Weiblichkeit asso ziiert werden, in Frage zu stellen. So läBt zum Beispiel der in femini stischen Arbeiten eutwickelte Begriff eines universellen absoluten Patriarchats<< auBer acht, auf weiche manniglaltige Weise verschiedene Kulturen Geschlechteridentitäten oder Praxisformen und Bedeutungen : von Geschlechterverhäitnissen ausgebildet haben. Daruber hinaus scheint die für das feministische Denken so wichtige Dichotomie von biologischem und sozialem Geschlecht dem Dualismus von Natur t Kultur nachgebildet zu sein. Wahrscheinlich sind unsere eigenen am lytischen Kategorien auf verhängnisvolle Weise mit Echos und Spiegelbildern der von uns kritisierten Begriffe und Theorien durchsetzt. Andererseits gibt es keine in diesen anthropologischen Ansátzen Un tersuchte Gesellschaft, in der der Unterschied von sozialem und biolo gischem Geschlecht bedeutungslos ware. Eine kleine, aber eng zusam menhangende Gruppe oppositioneller Anthropologinnen vertritt den Standpunkt, es habe zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten Geschiechterordnungen gegeben, die egaiitiir strukturiert waren (oder sind), well sie auf der Grundlage eines komplementären und r” . Naturliche Ressourcen 139 oppositionellen Geschlechterverhaltnisses konstruiert wurden.V Aber Kompiementaritat laBt sich ohne Differenz nicht denken. Darüber hinaus scheint, selbst wenn diese Anthropologinnen mit ihren Annah men recht haben, männliche Vorherrschaft die Regel zu sein, die durch diese moglichen Ausnahmen höchstens bestatigt wird. — — Auf der eher spekulativen Seite anthropologischer Untersuchungen zur Variabilitãt der Geschlechter fmden sich verschiedene Arbeiten, die zu rekonstruieren suchen, auf weiche Weise männlich-dominante Formen der SexualitAt und des sozialen Geschlechts in den Anfängen der Menschengeschichte entwickelt wurden. Gayle Rubins breit disku tierte Arbeit ist die feministische Neuinterpretation einer Theorie, in der sich Levi-Strauss’ Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen mit einer Lacanschen Lesart von Freuds Analyse der Herausbildung des sozialen Geschlechts in den Individuen verbindet. Für Rubin sind er zwungene Heterosexualität, Heirat/Ehe und die geschlechtsspezifi sche Arbeitsteiiung die Ursachen männlicher Vorherrschaft. Salvatore Cucchiari taucht sogar noch tiefer in das spärliche Material über die Ursprftnge menschlicher Kulturen em, um die Annahmen von LeviStrauss und der feministischen Anthropologinnen, die sich (wie etwa Rubin, Ortner und Michelle Rosaido) aufihn berufen, in Frage zu stel len. Cucchiari nimmt Höhlenmalereien als Beweismaterial dafür, daB die Entdeckung/Einführung biologischer Geschlechtsunterschiede, ausschlieBlich weiblicher Mutterschaft und schliefihicher männlicher Vorherrschaft erst innerhaib der menschlichen Geschichte selbst und nicht davor zum Gegenstand menschlicher Beobachtung und Bedeutung geworden ist. Im Gegensatz zu Levi-Strauss und späteren frministischen Theoretikerinnen geht Cucchiari davon aus, daB die Be schaftigung mit der Dichotomisierung des sozialen Geschlechts nicht mit den Anfangen der menschlichen Kultur zusammenfiel, sondern nach der Erfindung von Werkzeugen und der Entwicklung von Spra che als ungluckliche Lösung einer Spannung auftrat, die zwischen einer ursprünglich einheitlichen Welt menschlichen Denkens und Ver haltens und dem langsam sich entwickelnden BewuBtsein davon, daB nicht jeder Kinder gebären könne, entstand. — Anthropologen beiderlei Geschlechts haben uns schon lange Kiar heit daruber verschafft, daB selbst heute noch nicht jede Kuitur einen Begriff von Vaterschaft besitzt: die >>Hypothese<<, daB Manner irgend etwas mit Empfängnis zu ten haben, ist eine theoretische Errungen schaft. Unsere Kultur ist so besessen von der biologischen und sozia len Differenz der Geschlechter, daB wir uns eine gesellschaftliche Welt, in der genitale Unterschiede und von daher auch die Tatsache, 140 — Funftes Kapitel daB nur Frauen Kinder gebären unbemerkt blieben, nicht vorzustel len vermögen. Vielleicht macht die Anerkennung, daB die Entdeckung der Vaterschaft eine grofie Errungenschaft fruhen theoretischen Den kens gewesen ist, den Vorschlag Cucchiaris plausibler, der besagt, daB die ausschlieBlich weibliche Mutterschaft, ja selbst die Differenz der Geschlechter in der Fortpflanzung vielleicht nicht immer selbstver standliche beobachtbare Gegebenheiten für Menschen gewesen sind. 28 SchlieBlich haben der Freudschen Theorie verpflichtete psychologi sche Studien die gesellschaftliche Konstruktion von Sexualitat und so zialern Geschlecht in bezug auf Individuen und Gruppen untersucht. Eine dieser Richtungen war von besonderern EinfluB auf feministische Wissenschaftskritikerinnen in Amerika, weil sie zeigt, auf weiche Weise Frauen und Manner geschlechtsspezifische Modelle des eige nen Ich, der Anderen und der Natur entwickeln. Es handelt sich hier bei urn die Theorie der >Objektbeziehungen<c, die von D.W. Winnicott, Margaret Mahier, Harry Guntrip und anderen entwickelt wurde. Später ist sie von Nancy Chodorow, Dorothy Dinnerstein und Jane Flax innerhaib eines feministischen Rahmens interpretiert und weiter entwickelt worden. 29 Diese Theorie wird deshaib so genannt, weil sie die gesellschaftlichen/korperlichen Mechanismen beschreibt, mittels derer erwachsene Manner und Frauen sich selbst und ihre Beziehungen zur Welt auf sehr verschiedene Weise modellieren oder vergegenständ lichen. In Kulturen, wo die Hege und Pflege der Kinder uberwiegend in den Händen der Frauen liegt, müssen Kleinkinder rnännlichen wie weiblichen Geschlechts sich ausschlieBlich durch und gegen Frauen zu Individuen entwickeln. Dieser Kampf bringt für die werdenden Jungen und Mädchen unterschiedliche Modelle des Ich und seiner Beziehung zu anderen hervor. Weil die Entstehung des Geschlechts im mensch lichen Individuum mit der Heranbildung des Neugeborenen zu einer gesellschaftlichen Person zusammenfällt, ist unsere je gesellschaft liche Identitilt, die wir als menschliche Wesen besitzen, von unseren biologisch-sexuellen Identitäten als Mann und Frau oder unseren so zialen männlich/weiblichen Geschlechtsidentitäten unabtrennbar. Die Theorie der Objektbeziehungen geht davon aus, daB die biologi-1 sche Geburt des Sauglings em anderer ProzeB ist als die psychologi sche Geburt der gesellschaftlichen Person. Erstere ist em Geschehnis von kurzer Dauer (je nach Auffüssung neun Monate oder em paar Stunden), das von gesellschaftlichen Deterininanten relativ unbeeia fluBt bleibt. Letztere ist em ProzeB, dessen grundlegende Stadien etwa drei Jahre wnfassen und der starken sozialen Umwelteinflüssen unterliegt. Die psychologische Geburt ist die erste genuin menschliche j Naturliche Ressoisrcen 141 Arbeit. Der Saugling ist alles andere als em passiver Empffinger auBe rer Reize, vielmehr kampft er urn die Entbindung aus seiner ursprung lichen Einheit mit der psycho-physischen Umwelt, weiche die Perso nen darstellen, die für jim sorgen. Diese Umwelt wird in Gesellschaf ten wie der unseren, die durch asymmetrisch bewertete geschlechts spezifische Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, durch die Welt der Mut ter dargestelit. Die erste soziale Arbeit des kleinen Kindes ist äuBerst schwierig und schmerzvoll, weil es die symbiotische Einheit mit der mütterlichen Welt nicht verlassen oder aber zu ihr zurückkehren und zugleich eine Person für sich werden möchte. Und das Kleinkind ist den Plänen und Verhaltensweisen seiner primaren Bezugspersonen in hohem MaBe ausgeliefert, es ist seelisch und korperlich in allen Din gen des alltaglichen Lebens und in der Anerkennung seines Kampfes auf sie angewiesen. — Für Kinder beiderlei Geschlechts ist die Welt, der sie entwachsen müssen und gegen die sie ihre eigene autonome Identitüt entdecken und entwickeln, in gewissem Sinne die gleiche: die Mutterwelt. Doch in einem anderen Sinn steilt sich diese Welt für die Kinder je nach Ge schlecht sehr verschieden dar: die geschlechtsspezifisch differenzier ten Erfahrungswelten begirmen mit der Geburt. Hier gehen die Theo retikerinnen davon aus, daB die männliche Persönlichkeit sich durch die Individuation und die Trennung von einer Person entwickelt, die der kleine Junge biologisch nicht werden kann und gegen die er Wiflens und Kontrollrnechanismen entwickeln mufi, urn nicht gesellschafflich das zu werden, was sie ist: eine sozial abgewertete Frau. Ihr Körper, den er als in die ganze Mutterwelt eingebettet erfährt, wird das erste Modell für die Korper und Welten anderer Menschen Personen, von denen er wahrnimmt, daB sie anders sind als er, und gegen die er, mit . dem Risiko des Verlustes seiner Ich-Identität, em starkes Gefuhl für Abgrenzung und Kontrolle entwickeln und aufrechterhalten muB. Seine Ich-Grenzen werden relativ starr. Irn Gegensatz dazu entwickelt sich die weibliche Persönlichkeit irn Kampf des jungen Madchens urn Individuation und Trennung von einer Person, zu der sie nichtsdesto trotz de facto werden wird: eine sozial abgewertete Frau. Ihre Ich Grenzen bleiben relativ dehnbar. Die mütterliche Fürsorge äüBert sich bei Mädchen sichtlich anders s bei Jungen. >>Mütter neigen dazu, in ihren Töchtern eher die Ahn lichkeit mit und Kontinuität zu sich selbst zu sehen. Dementsprechend neigen Mädchen dazu, der dyadisch-symbiotischen Einheit der Mut ter-Kind-Beziehung verhaftet zu bleiben. Das bedeutet, daB die Selbst erfhrung eines Mädchens darin besteht, fortwährend in Prozesse der 143 Natürliche Ressourcen Funftes Kapitel 142 Grundsätze, die wir für Entscheidungen irn gesellschaffljchen Leben insgesamt Zn Rate ziehen. Von daher solite es uns nicht überraschen, in der wissenschaftljchen Methocte und der wissenschafflichen Ratio nalitat rnännliche Konzeptionen der Beziehungen zu finden, die zwi schen dem Ich, den Anderen und der Natur existieren sollten. 32 In einer anderen Untersuchung bezieht sich Isaac Balbus auf die Theorie der Objektbeziehungen, urn darzustellen, daB wir in der Lage sein soilten, historisch und kulturspezjfisch unterschiedliche Entwürfe von Natur und angemessenen menschlichen Beziehungen zur Natur zu er klären mid vorherzusagen, indem wir auf die kukurellen Unterschiede hinsichtlich der Kindererziehung achten. 33 Diese feministischen Neuinterpretationen der Theorie der Objekt beziehungen haben thre Grenzen und sind nicht ohne Widerspruch ge blieben. Sie sind auch nicht die einzigen, die sich auf Freud beziehen, urn auf feministisclie Weise die gesellschaftliche Konstruktion der Ge schlechter und der Sexualität in den Individuen zu beschrejben und zu erklären. Die psychoanalytische Theorie Lacans, die sich enger als die Theorie der Objektbeziehungen an Freuds Entwurf des ödipalen Dra mas anlehnt, ist für französiscfie und englische Feminisfinnen eine wichtige QueUe gewesen. — — Zusammenfassend kann gesagt werden, daB neuere Forschungen in der Biologie, der Geschichtswissenschaf, der Anthropologie und der Psychologie eine Konvergenz ihrer Ergebnisse aufweisen, angesichts derer die Annahme, das soziale Geschlecht und die Sexualität der Menschen seien in alien ihren Formen der Identität, des Verhaltens, der Rollen und des Wunsches oder Begehrens durch die für die Fort pflanzung notwendigen Geschlechtsunterschiede bedingt, absolut un glaubwurdig erscheint. Simone de Beauvoir weist darauf hin, daB Frauen nicht als soiche geboren, sondern dazu gernacht werden; die neuere Literatur zeigt, daB nicht nur Frauen, sondern auch Manner ge sellschafflich konstruierte Wesen sind. In diesem kurzen Uberblick über einige neue Forschungsbeitrage zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und sozialem Geschlecht haben wir gesehen, daB viele dieser Untersuchungen die — Wenn die Mãnnljchkeit der Wissenschaft nicht der Ausdruck biolo gisch gegebener Charakterzuge von Männern, sondern die expressive ,J Form gesellschaftlich konstruierter Identitäten, Praxisformen und Be , dürfnisse ist, und wenn darüber hinaus dieser >>Masku1inisrnus< für j Frauen ebenso gefáhrlich und verabscheuungswurdig ist wie für Man ner gilt ebendies dann auch für die intellektuellen, ethischen und politischen Strukturen der Wissenschaft? [ Vereinigung und Trennung verwickelt und einer Zuneigung verhaftet zu sein, die durch prirnare Identifikation und die Verschmelzung von Identifikation und Objektwahl charakterisiert ist<< Im Gegensatz dazu erfahren Mutter den Sohn als männlichen Gegensatz, so daB Jungen sehr viel eher aus der präodipalen Bindung entlassen werden und die primaren Bande der. Liebe und Zuneigung zur Mutter kappen müs sen<<. Von daher hat die Entwicklung der Jungen >>eine emphatischere Individuation und eine starker auf Verteidigung bedachte Festigung der Ichgrenzenc< zur Folge. Für Jungen, mcht aber für Mädchen >>ver bindet sich der Aspekt der Differenzierung und Individuation mit 30 sexuellen Aspekten<c Diesen Analysen zufolge wird Männlichkeit durch den erfolgrei chen Volizug der Trennung definiert, Weiblichkeit dagegen durch die Aufrechterhaltung von Zuneigung und Verbundenheit. Hier liegt die Ursache für die Bedrohung der männlichen Geschlechtsidentität durch unmittelbare Nähe oder durch die starke Identitikation mit den Bedürf nissen und Interessen bestimmter anderer Menschen, wohingegen die weibliche Identität durch die Trennung von anderen und durch zu ge ringe Identifikation mit den Bedürfnissen mid Interessen anderer Men schen bedroht wird. Die Ausarbeitung von Regein für soziale Inter- I aktion hilft den Jungen, reibungslos funktionierende Beziehungen her zustellen, die zu ihrer Aufrechterhaltung (oder zur Aufrechterhaltung anderer Menschen in thnen) mcht des personlichen Engagements be dürfen. Dinnerstein ist der Ansicht, daB die okologische Katastrophe u die Neigung zum Militarismus auf diesen ProzeB männlicher Verge-i schlechtlichung zurückzuführen sind. Flax hat äuf zentrale Strukturen im Denken von Plato, Descartes, Hobbes und Rousseau hingewiesen, die Ausdrucksformen der >>normalen<< Entwicklungshemmung bei männlichen Kleinlcindern zu sein scheinen. Und Keller vermittelt einen kurzen Uberblick über die Bedeutung der Theorie der Objekt beziehungen für die feministische Auseinandersetzung mit der Wis senschaft. Andere Analysen sind für die feministische Kritik am drozentrismus in der Wissenschaft von Bedeutung: Carol Gilligani Buch über die Theorie moralischer Entwicklung benutzt die feministische Analyse der Objektbeziehungen zur Erklarung der Geschlechts unterschiede, die sie in ihrer Untersuchung über die moralischen Kon zeptionen amerikanischer Kinder und Erwachsener entdeckt hat, sie danach fragte, was em moralisches Problem konstituiert und wie 31 Die Regein der wissen soiche Probleme gelOst werden soflten. schaftlichen Forschung sind ebenso moralische Normen wie C 144, Funftes Kapitel Wissenschaft in bestimmte historische Verschiebungen unmittelbar verwickelt sehen. Diese Verschiebungen betreffen die Bedeutungen und Verhaltensweisen, weiche mit biologischer wie auch gesellschaft licher Männlichkeit und Weiblichkeit assoziiert worden sind oder wer den. Nicht nur in Ausnahmefällen stand die Wissenschaft auf der Seite der stärkeren, das heifit der männlichen und androzentrischen Batail lone und hat ihnen die definitorische Munition geliefert. Die Ge schlechterordnung hat sich dafur des öfteren revanchiert und den sich entwickelnden Wissenschaften bei ihrem Versuch, gesellschaffliche Anerkennung zu finden, tätige Schützenhilfe geleistet. Auf diese Weise verbindet und verbUndet sich die Wissenschaft, indem sie die gesellschaffliche Konstruktion des sozialen Geschlechts und der Sexualitat betreibt, mit einer männlich dominierten Gesellschaftsord nung, welche die wissenschaffliche Autoritit zum Zwecke der Auswei tung gesellschafflicher Macht legitirniert. In der feministischen Kritik an diesem Bündnis wird die Wissenschaft am radikaisten in Frage ge stelit. Gerade die modernen Kulturen haben bestirnmte Geschlechterver hältnisse herausgebildet, die auf der individuellen Ebene der biolo gisch-sozialen Geschlechteridentitäten und -verhaltensweisen, auf der: gesellschaftlichen Ebene der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und auf der Ebene des Geschlechtersymbolisrnus Charakterzuge auf weisen, anhand derer sich die tiefe und vielfältige Verstricktheit der Wissenschaft in die Entwicklung einer androzentrischen Kultur er-i klären läBt. Auch wenn wir hier erst am Anfang stehen, können wir zu begreifen beginnen, wie mystifizierend die Behauptung der Wissen schaft, sie sei objektiv, leidenschaftslos, wertfrei und von daher sozial fortschrittlich, sich ausmacht. Mit Virginia Woolf zu sprechen: >>Wie es aussieht, ist die Wissenschaft mcht geschlechtslos; er ist em Mr em Vater, und zudem verseucht.<< Sechstes Kapitel Feminjstjsche Erkenntnjstheorjen (I): Die Uberwindung des Empirismus — — , 145 Die androzentñsche Ideologie der zeitgenossischen Wissenschaft geht von der Faktizitat und/oder Notwendigkeit einer Reihe von Dualismen aus Kultur vs. Natur, rationaler Geist vs. prärationaler Körper und irrationale Gefühle und Werte, Objektivität vs. Subjektiviiit, das Of fentijehe vs. das Private urn dann den MAnnern und der Männlich keit die erste, den Frauen und der Weiblichjcejt die zweite Hälfte jeder Dichotomje zuzuweisen. Die ferninistische Kritilc geht davon aus, daB eine soiche Dichotomisierung eine Ideologie irn strengen Sinne konsti tuiert: un Gegensatz zu rein wertgebundenen falschen Annahmen, die keinerlei gesellschaffijc Macht besitzen, geht es hierbei urn die Struicturierung von Politikund Praxisformen gese1lschaftljcer Insti tutionen, zu welch letzteren auch die Wissenschaft gehort.’ Könnte es eine alternative Erkenntnismethode geben, die nicht durch soiche Dichotomjen und Dualjsrnen determjniert ist? Viele Feministinnen haben sich zu der Frage, ob eine spezifisch ferninisti sche Wissenschaft oder Erkenntnistheorie rnöglich sei, oder ob wir uns wenigstens vorzustellen vermöchten, wie sie aussehen könnten, zuruckhaltend geãuBert. Die Wissenschaftshjstoijkerin Donna Hara y meint, daB Feniinistinnen sich Problemen wie den folgenden widmen mUBten: - ‘Bildet sich heutzutage eine feminist ische Erkenntnjstheorie heraus, die ähnliche Jmp1flctjonen besitzt wie die aus der griechischen Wissenschaft und der wissen schaftjjchen Revolution des siebzehnten Jahrhunder entstandenen Theorjen? Würde eine die wissenschaffliche Forschung beeinflussencje feminjstjsche Er e sich in die Familje der bereits existierenden reprhsentationalen und istischen Epistemologien einfügen? Oder soliten Femimstinnen eine radikale .,rm der Erkenntnistheorje entwickeln, die die eines objektiven tandpunkts und emes Zugangs zur Realität leugnet?Möglichkeit Würden feministische Mafi Abe der Erkenntnis das Dilemma der Subjekt-Objektspaltg oder der Kiuft i nicht-eingreifende Wissen und Vorhersage/Kontrolle wirldich auf n können? Eröffnet der Feminjsmus eine Einsicht in die Verbindungen zwi len Wissenschaft und Humanjsmus? Haben Feministinnen zu den verwirrenden dehungen zwischen Erkenntnis und Maclit etwas Neues zu sagen? Würden ministische Autoritijt und Macht der Benennung der Welt eine neue Identität, eine neue Geschichte (story) vermittein können?<? 146 Zweideutigkeit und Ubergang — — — Sechstes Kapitel Haraway ist skeptisch, ob die feministische Theorie (zumindest in ihrer Gestalt von 1981, als these herausfordernden Fragen formuliert wurden) darauf antworten kann. Ausgelöst wurden ihre Fragen durch eine Zweideutigkeit, die das feministische Nachdenken über Wissen schaft kennzeichnete, und die immer noch em Problem darsteilt. Eine Form dieser Zweideutigkeit ist die Berufung auf Argumente von Tho mas Kuhn: Manner sehen die Welt auf diese, Frauen aufjene Art; was für Gründe auBer der Loyalitat zum je eigenen Geschlecht ermoglichen uns die Entscheidung zwischen diesen einander widersprechenden Sichtweisen? So gibt es die Ansicht, daB dies zum Beispiel auf den Widerstreit zwischen den Hypothesen vom >>männlichen Jager<< und der >weiblichen Sammlerin<< zutrifft (vgl. Kapitel 4).3 Doch wenn Feministinnen die Moglichkeit eines objektiven Standpunkts und eines Zugangs zur realen Welt leugnen, dann scheinen sie eine entgeschlecht lichte Wissensehaft uberhaupt für unerreichbar zu halten. NatUrlieh sind soiche relativistischen Darstellungen eine Reaktion auf die wohl begrundete Annahme, daB philosophische und wissenschaffliche Appelle an objektive und wertfreie Forschung oftmals nur em Deck mäntelchen für die Weigerung waren, die gesellschafflichen Werte und Zielvorstellungen, die in der Wissenschaftsgeschichte und den geisti gen Strukturen der Wissenschaft eine wichtige Rolle gespielt haben, kritisch zu untersuchen. Doch macht die Anerkennung der Tatsache, daB die Wissenschaft immer em Produkt der Gesellschaft gewesen ist daB mithin ihre Projekte und Erkenntnisanspruche die Fingerab drucke ihrer Produzenten tragen es erforderlich, daB nun der Femi nismus relativistischer Subjektivität sich hingibt? Haraway hinterfragt mit Recht, ob die feministische Kritik des eOb jektivismus<< (d.h. die Annahme, Objektivität sei nur durch Wertfrei heit zu erreichen) uns zum >>Subjektivismus und Relativismus zwingt (d.h. zur Annahme, keine wertbezogene Forschung könne objektiv sein und von daher seien alle Forschungsrichtungen gleichermaBen be grflndbar). Kann dieser Subjektivismus dem von der etablierten Wissenschaft behaupteten Dualismus von Tatsachen und Werten, von >>reiner Wissenschaft<< und moralisch-politischer Gesellschaft über haupt etwas entgegensetzen? SchlieBlich ist die etablierte Wissensehaft aufs engste mit den Projekten eines staatlich-militärisch-industriellen Komplexes verwoben, der bürgerlich, rassistisch und von Männern be herrscht ist. >>Jedem Tierchen sein Pläsierchen<< ist das die wehrhaf teste und machtvollste Antwort auf die lebensbedrohenden Projekte, die von der etablierten Wissenschaft unterstützt werden? F : Die Uberwindung des Empirismus — — 147 — Zudem verfehit der Sprung in den Relativismus den Sinn feministi scher Entwürfe. Die führenden feministischen Theoretikerinnen sind mcht darauf aus, em loyales Verhalten gegenuber dem je eigenen Geschlecht durch em anderes zu ersetzen und >>männerzentrierte<< Hypothesen durch >>frauenzentrierte<< abzulosen. Statt dessen sollen Hypothesen angestrebt werden, die von derlei Loyalitäten überhaupt befreit sind. Sicher müssen wir oft zunächst eine >>frauenzentrierte<< Hypothese entwerfen, um eine geschlechterfreie uberhaupt verstehen zu können. Doch das Ziel feministischer Erkenntnissuche besteht darin, Theorien zu formulieren, in denen die Tätigkeiten von Frauen als gesellschafthiche Tätigkeiten erscheinen, und in denen die Ge schlechterverhältnisse als reale d.h. explanatorisch wichtige Komponenten der menschlichen Geschichte begriffen werden. Em solches Projekt hat nichts >>Subjektives<< an sich, es sei denn, man glaubt, daB die Vorstellung, Frauen seien gesellschaftliche Wesen und Geschlechterverhältnisse seien explanatorische Variablen, em Zerr bild darstelle, weiches einzig dern vergeschlechtlichten Begehren ent springe. Aus der Perspektive feministischer Theorie und Forschung ist das traditionelle Denken subjektivistisch, weil es androzentrisch ent steilt ist eine Behauptung, die Feministinnen unter Berufung auf ganz traditionelle objektivistische Gründe zu verteidigen bereit sind. Diese Zweideutigkeit ergibt sich auch, wenn Ferninistinnen sich auf wissenschaftliche >>Tatsachen<< berufen, urn sexistische >>Tatsachen<<be hauptungen als wissenschaftlich unbegrundet zurückzuweisen, wäh rend sie gleichzeitig die Existenz einer beobachtbaren Wirkiichkeit auBerha1b<< gesellschafflich konstruierter Sprachen und Gedanken systeme leugnen. Haraway weist darauf hin, daB diese ambivalente Haltung oft von denselben feministischen Wissenschaftlerinnen einge nommen wird, die den >>Objektivismus<< am grUndlichsten kritisieren. Wie können wir uns bei der Unterstutzung alternativer Erklärungs weisen, die >>weniger falsch<< oder >>wahrheitsgetreuer<< sind, aufunsere eigene Forschung berufen, wenn wir im gleichen Atemzug dem Argu ment, wissenschaftliche Tatsachen und ihre Erldärungen seien ver nünftigerweise der End- und Ausgangspunkt von Begründungen und Rechtfertigungen, den Boden unter den FüBen wegziehen? Wie kOnnen wir, urn mit Longino und Doell zu sprechen, zugleich die >>schlechte<< .wie auch die enormale<< Wissenschaft in Frage stellen? Em anderes Problem, das Haraways Fragen veranlaBt haben könnte, wird von Elizabeth Fee aufgeworfen. Soliten wir in der Arbeitsweise der Laboratorien, in den von feministischen Wissenschafflerinnen an gewandten Denkweisen und -methoden nach einer neuen Wissenschaft 148 — —, Sechstes Kapitel 1 suchen? Oder, wie einige feindselig eingestellte Skeptiker sich be müBigt fühlen könnten zu fragen: >>Hat der Feminismus eine Alternati- 4 ye zu induktiven und deduktiven Methodologien? Eine Alternative zu Experiment und Beobachtung? Wenn nicht, was könnte mit einer feministisehen Wissenschaft gemeint sein?<< Wir haben uns im zweiten Kapitel mit der verzerrten Wissenschaftsauffassung beschaftigt, die hinter soichen Fragen steht. Mit dem Argument, >>dafi wir zu diesem historischen Zeitpunkt keine feministische Wissenschaft, sondern eine feministische Kritik an der real existierenden Wissenschaft ent wickeln<<, behauptet Fee, daB wir zuerst eine feministische Gesell schaft zustandebringen müssen, ehe wir damit beginnen können, uns eine feministische Wissenschaft uberhaupt vorzustellen. >>Eine sexisti sche Gesellschaft wird erwartungsgemäB eine sexistische Wissen schaft entwickeln; gleichermaBen wird eine feministische Gesellschaft eine feministische Wissenschaft entwickeln. Für uns liegt die Vorstel lung einer feministischen Wissenschaft in einer feministischen Gesell schaft so fern wie für die mittelalterliche Bäuerin die Gentechnologie oder die Produktion einer Raumkapsel; unsere bildlichen Vorstellun4 gen können allerhöchstens umrifihaft und kaum substantiell sein. Fee hat sicher recht, wenn sie die Bedeutung feministischer Praxis für die Theorie betont und auf die daraus folgenden Beschränkungen ver weist, denen imsere Einbildungskraft hinsichtlich der intellektuellen Strukturen einer noch nicht vorhandenen Welt unterliegt. Doch mufi em feministisches Progranim für neue Methoden der Erkenntnissuche auf Sparfiamme kochen, his wir eine feministische Gesellschaft etabliert haben? 1st die Theorie der Praxis vollig nachgeordnet? Oder entwickelt sie sich als fortwährender ProzeB aus den Kämpfen urn die Errichtung einer feministischen.Gesellschaft? Und werden die grund legenden Neuheiten einer feministischen Wissenschaft in ihren we sentlichen Theorien und Technologien liegen, oder in ihrer Erkennt ihrer Theorie der moglichen und erstrebenswerten Ver nistheorie hältnisse zwischen der >>menschlichen Natur<< und der von uns dann oder vielleicht im moglichen Zusammenwirken begriffenen Welt beider? (Wie würden wir diese Fragen hinsichtlich der modernen Wis-. senschaft selbst beantworten?) -. Einige Theoretikerinnen sind der Auffassung, daB Vorläufer oder Merkmale einer feministischen Wissenschaft in den alternativen Praxis formen zeitgenOssischer Wissenschaftlerinnen entdeckt werden kön5 Zweifelsohne wird deutlich, daB viele Frauen gesellschaftliche nen. Interaktionsformen und Umgangsweisen mit der Natur anders kon- ; struieren als die meisten westlichen Manner; darauf deuteten auch [ 149 — Urn die moglichen Richtungen, innerhaib derer eine feministische Wissenschaft entstehen könnte, auszuloten, soilten wir lieber einen Buck auf die bereits entwickelten Erkenntnistheorien werfen. Was uns heute als >>wissenschaffliche Methode<< gilt, hat, urn sich herauszubil den, Jahrhunderte gebraucht. Nur mit Hilfe der grobsten Verallgemei nerungen über Forschungsweisen und ihre Begrundungsstrategien könnte Galileis >>Methode<< mit der Elementarteilchenphysik oder der Genetik in Zusammenhang gebracht werden. (Und, wie wir im zwei ten Kapitel sahen, ist vieles von dem, was wir für eine wissenschaft liche Methode halten, tatsachlich kein Kriterium, urn wissenschaffliche von nicht wissenschaftlich genannten Tatigkeiten zu unterscheiden em Gesichtspunkt, der den philosophischen Diskurs nach Kuhn stark beschftigt hat.) Doch einige der Aussagen über Erkenntnissubjekte, Weibliche Wissenschaffler verstoBen gegen die geschlechtsspezifi sche Arbeitsteilung, die Frauen auf Hausarbeit oder zweitrangige Lohnarbeit beschränkt. Doch wie alternativ können die Praxisformen isolierter Individuen sein, die es auf irgendeine Art geschafft haben, die Kiuft zwischen Arbeit und gesellschafflicher Identität zu über brücken? Die Forschungsprogramme der Naturwissenschaften werden durch internationale Gruppierungen bestimmt, nicht durch isolierte Forscherinnen und Forscher in den vor Ort befindlichen Laboratorien. Die (in Kapitel 3 untersuchte) reale Struktur der Wissenschaft ist em Hindernis für die Entfaltung dessen, was einzelne Wissenschaftlerin nen an einzigartigen Talenten und Fahigkeiten besitzen mögen. Und ist, darüber hinaus, eine feministische Wissenschaft nichts weiter als die Sammiung alternativer Begriffs- und Praxisformen von Wissen schafflerinnen, ohne Berücksichtigung der Verschiebungen, Ziele und unterschiedlichen Auffassungsweisen in der feministischen Theorie und der Frauenbewegung? Kann eine auf die vergeschlechtlichte Iden that von Frauen sich gründende Wissenschaft eine solide Grundlage für eine feministische Wissenschaft abgeben? im vorigen Kapitel angefuhrten feministischen Untersuchungen zur Theorie der Objektbeziehungen hin. Doch es ware, denke ich, em Fehler, in gegenwartigen oder vergangenen Praxisformen einzelner Wissenschaftlerinnen nach den Umrissen einer feministischen Wis senschaft zu suchen. Wir würden dann für die Vision eines wissen schaftlichen Weitbildes vielleicht nicht die Vorstellungen mittelalter licher Bäuerinnen bemühen müssen, statt dessen aber die Einbildungs kraft von Handwerkern oder Künstlern der FrUhrenaissance zu Rate ziehen, deren neue Arbeitsweise die umfassende Anerkennung der 6 lbgenden experimenteller Beobachtung ermOglichte. Die Uberwindung des Empirismus . 150 Sechstes Kapitel die zu erkennende Welt und den ErkenntnisprozeB, mittels derer sich moderne von mittelalterlichen Erkenntnistheorien unterscheiden, sind schon bei Galilei und semen Vorgangern nachzuweisen. Ahnlich haben feministische Theoretikerinnen Begriffe von Erkenntnissubjek ten, der zu erkennenden Welt und dem ErkenntnisprozeB entwickelt, mittels derer sich feministische Erkenntnistheorien von den vorherr schenden westlichen Sichtweisen der letzten Jahrhunderte unterschei den. Und genau diese Erkenntnistheorien sind bereits jetzt für viele feministische Forschungsweisen maBgebend. — Die von uns als erkenntnis- oder wissenschaftstheoretisch anerkann ten Fragen leiten sich in ihrer modernen Form von einer >>Meditation< Uber die Implikationen des Aufstiegs der modernen Wissenschaft selbst her. Descartes, Locke, Hume und Kant unternahmen den Ver such, die von Kopernikus, Galilei und Newton betriebene Methode der Erkenntnissuche als vernunftgemáfi zu begreifen. Die Schopfer der modernen Erkennmistheorien meditierten über das, was sie als Wis senschaft ansahen, die von individuellen >>Kunsthandwerkern<< hervor gebracht worden war. Ihre Wahrnehmungen bezogen sich auf das Wesen und die Tatigkeiten eines, wie sie es auffaBten, individuellen, >>entkörperlichten<<, aber menschlichen Geistes, dem keine soziale Ver pflichtung oblag aufler der eigensinnigen Suche nach Kiarheit, Wahr heit und GewiBheit. Diese Wahrnehmungen sind auch weiterhin die Grundlagen, auf denen die von uns als erkenntnistheoretisch anerkann ten Probleme gedeihen. Wenn wir authören, die modernen westlichen Erkenntms- und Wissenschaftstheorien als phiosophische Gegeben heiten zu betrachten, können wir statt dessen anfangen, sie als histo risch verortete Strategien der Begründung und Rechtfertigung zu un als kulturspezifische Konstruktions- und Ausbeutungs tersuchen methoden kultureller Bedeutungen zur UnterstUtzung neuer Arten von Erkenntnisanspruchen. Immerhin wurde den theologischen Rechtfer tigungen wissenschaftlicher (und mathematischer) Behauptungen und Praktiken durch die Verfahrensweisen der modernen Wissenschaft selbst der legitimatorische Boden entzogen, well diese der Intuition annebmbarer erschienen als die Theologien, die zu ihrer Rechtferti gung herhalten muBten. In ähnlicher Weise gehe ich davon aus, daB der Wesenskern femini stischer Behauptungen und Praktilcen dazu dienen kann, die Legitirni tat der modernen Erkenntmstheorien zu unterhöhlen. Diese Theorien ignorieren explizit den Geschlechterbegriff, während sie implizit spe zifisch männliche Bedeutungszuschreibungen der Erkenntnissuche für ihre Zwecke ausnutzen. Explizit geschlechtsbezogene Uberarbeitungen Die Uberwindung des Empirisinus 151 moderner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien waren für den Femi nismus die hauptsächlichen Ressourcen der Begrundung und Recht fertigung. Dies wird erst jetzt von feministischen Theoretikerinnen in seinem ganzen Umfang erkaunt, obwohl die von uns angeführten Zweideutigkeiten eine Vorläuferfunktion gehabt haben. Ich schiage also vor, feministische Erkenntnistheorien als immer noch ubergangs fOrmige Meditationen über den Wesenskern feministischer Behaup tungen und Praxisformen zu betrachten. Kurz gesagt soilten wir soiche Zweideutigkeiten und Widerspruchlichkeiten nicht nur erwarten, son dern vielleicht sogar hegen und pflegen. In diesem Slime hat Fee recht: wir werden eine mit ihren erkenntnistheoretischen Strategien vollig übereinstimmende feministische Wissenschaft erst in einer feministi schen Gesellschaft besitzen. In diesem und dem nächsten Kapitel werde ich die in Kapitel 1 bereits erwähnten feministischen standpunktorientierten Erkenntnistheorien untersuchen, auf einige Probleme hinweisen, mit denen diese Theo rien sich konfrontiert sehen, und die dadurch hervorgerufene Tendenz zum feministischen Postmodernismus erforschen. Die standpunktorientierten Erkenntnistheorien des Feminismus Die standpunktorientierten Erkenntnistheorien grftnden eine spezi fisch feministische Wissenschaft auf eine Theorie vergeschlechtlichter Aktivität und gesellschaftlicher Erfahrung. Sie geben Frauen (oder Feministinnen, je nach Ansatz) in epistemischer Hinsicht den Vorrang, erheben aber zugleich den Anspruch, die für das aufklarerisch-bürger liche Weitbild und seine Wissenschaft charakteristischen Dichotomien 7 Es empfiehlt sich, die Standpunkt-Theorien ebenso zu überwinden. wie die Ansätze, die sich auf einen feministischen Empirismus be rufen, als Projekte ether >>Nachfo1gewissenschaft (successor science) zu betrachten, weiche die ursprUnglichen Ziele der modernen Wissen schaft auf signifikante Weise zu rekonstruieren suchen. Im Gegensatz dazu stelit der feministische Postmodernismus diese Ziele direkt in Frage (wobei es jedoch auch in den standpunktorientierten Ansätzen postmodernistische Strömungen gibt). Bei der Betrachtung dieser Argumente lassen sich fünf unterschied liche, jedoch miteinander verbundene, Gründe herausfiltern, mittels derer erklärt werden soil, warum eine ferninistische Forschungs perspektive Interpretationsweisen von Natur und Gesellschaft eröffnen 152 Sechstes Kapitel kann, die aus der Perspektive spezifisch männlicher Tatigkeiten und Erfahrungen unmöglich beizubringen sind. Ich werde jeden dieser Grunde anhand der Schriften jeweils einer Theoretikerin untersuchen, die diesen besonderen Aspekt der geschlechtsspezifischen Aufspal tung von Tatigkeiten betont, wobei gesagt werden mufi, daB die Mehr zahi dieser Theoretikerinnen mehr als nur einen Aspekt behandelt. Die Darstellungen soilten, ungeachtet ihrer Unterschiede, als einander er ganzend und mcht widerstreitend verstanden werden. Die Einheit von Hand, Kopf und Herz in der handwerklichen Arbeit Hilary Roses >>feministische Erkenntnistheorie für die Naturwissen schaften< wurzelt in einer post-marxistischen Analyse der Auswirkun gen einer geschlechtsspezifischen Aufspaltung von Tatigkeiten auf 8 Sie geht von dem Argument aus, daB wir intellektuelle Strukturen. die Umrisse einer spezifisch feministischen Erkenntnistheorie in den Denkweisen und Praxisformen von Wissenschaftlerinnen, deren For schungsweisen immer noch >>handwerklich<< organisiert sind, ent decken können, nicht aber in der >>industriell organisierten Arbeit<, die für den groflten Teil der wissenschaftlichen Forschung charakteristisch ist. Die Spezifik dieser Erkenntnistheorie liegt in der Art und Weise, in der ihre Begriffe des Erkenntnissubjekts, der zu erkennenden Welt und des Erkenntnisprozesses die für die Arbeit der Frauen im ailge meineren Sinne typische Einheitlichkeit von manueller, geistiger und emotionaler (*Hand, Kopfund Herz<<) Tatigkeit reflektieren. Diese Er kenntmstheorie steht mcht nur im Gegensatz zu den cartesianischen Dualismen (Geist vs. Korper und beide vs. Gefühl und Emotion), die den aufldärerischen und selbst den marxistischen Entwürfen von Wis senschaft zugrundeliegen, sondern sie begrundet auch die Moglichkeit eines >>vollstandigeren Materialismus, einer wahreren Erkenntnis als die beiden paternalistischen Disicurse sie haben entwickeln können (Rose 1984, 49). Die Notwendigkeit einer soichen feministischen Wis senschaft >>wird zusehends dringlicher<<, denn wenn wir die drohende nukleare Vernichtung und das sich verschärfende soziale Elend ver meiden wollen, so >>ist für em wissenschaffliches und gesellschaftliches Transformationsprograinm der kritische Punkt erreicht, an dem wir die fürsorgende Arbeit und das Wissen, das aus der Beteiigung an ihr sich herleitet, analytisch aufarbeiten mUssen<< (Rose 1983, 89). Rose begiunt damit, die Einsichten post-rnarxistischen Denkens zu analysieren, auf die Feministinnen aufbauen kOnnen. Für Alfred Sohn Rethel war die Trennung der geistigen von der korperlichen Arbeit im Kapitalismus die Ursache für die mystifizierenden Abstraktionen der I Die Uberwindung des Empirismus — — 153 9 Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse bürgerlichen Wissenschaft. umfassen viel mehr als die reine Warenproduktion, in der die geistige und die korperliche Arbeit verschiedenen Bevölkerungsklassen zu 1llt. Wie Marx, so hat auch Sohn-Rethel versäumt zu fragen, weiche Auswirkungen sich auf die Wissenschaft dadurch ergeben, daB die Ar beit der Fursorge und Betreuung ausschlieBlich den Frauen zugewiesen 10 In dieser Hinsicht, sagt Rose, unterscheiden sich Post-Marxi wird. sten wie Sohn-Rethel nicht von den Theoretikern der Soziobiologie, zu denen sie ansonsten in vehementem Gegensatz stehen; stillschweigend billigen sie das >>alles andere als emanzipatorische Prograrnm der So ziobiologie, die das Schicksal der Frau an ihre genetische Ausstattung bindet<<. Die Feministinnen müssen das Verhältnis zwischen der be zahiten und der unbezahiten Arbeit der Frauen analysieren, urn zu zeigen, daB die fursorgerischen Fähigkeiten der Frauen sozialen und nicht natürlichen Ursprungs sind und daB es >>die Manner sind, die ihuen vor allem irn häuslichen Bereich, aber auch am Arbeitsplatz diese Fahigkeiten entlocken<< (ebd.., 83f.). Des weiteren analysiert Rose die Beziehung zwischen den wissen schaftlichen und den häuslichen Arbeitsbedingungen der Frauen und untersucht die für Frauen sich aus diesen Aktivitäten ergebenden Mog lichkeiten, einen weiter entwickelten Standpunkt als Produzentinnen weniger verzerrter und umfassenderer wissenschafflicher Behauptun gen einzunehmen. Eine feministische Erkenntnistheorie kann nicht aus dem Nachdenken über die LabortAtigkeit von Frauen erwachsen, denn dort sind die Frauen aus Uberlebensgründen zur Selbstverleug nung gezwungen, zugleich aber >>im groBen und ganzen aus dern Pro duktionssystem wissenschaftlicher Erkenntnis mit seiner ideologi schen Definitionsmacht hinsichtlich dessen, was objektive Erkenntnis ist und was nicht, ausgeschlossen<< (ebd., 88). Ihnen wird verweigert, (männliche) wissenschaftliche Erkenntnissubjekte zu werden, ohne daB sie sich darum zu dem bekennen dürften, als was sie in erster Linie 11 wahrgenommen werden: Frauen zu sein. In ihrem Aufsatz von 1983 argurnentiert Rose dahingehend, daB eine feministische Erkenntnistheorie sich auf die Praxisforrnen der Frauen bewegung grunden müsse. In threr Beschäftigung mit biologischen and medizinischen Gesichtspunkten wie Menstruation, Abtreibung, and medizinischer Seibstindikation und Selbstbehandlung verschmilzt die Frauenbewegung >>subjektive und objektive Erkenntnis zu einer neuen Art von Erkenntnis<<. >>Angesichts der Notwendigkeit, die person liche Erlhhrung von [Menstruations-] Blut, Schmerzen und Anspannun gen zu integrieren und zu interpretieren, verblaBt der cartesianische 155 Die Uberwindung des Empirismus Sechstes Kapitel 154 — können. Und orientiert sei als die westliche Wissenschaft, berufen 13 chinesischen dann müBten wir über den Widerspruch zwischen der ganz und gar Geschichte einer >>feminisierten Wissenschaft<< und der Frauenfeind nicht emanzipatorischen Geschichte der chinesischen Problem, daB lichkeit nachdenken. Daraus ergibt sich das schwierige omien (d.h. Geschlechterdichotomien als Metapher für andere Dichot gt werden, die der Geschlechtersymbolismus) mit Erklarungen vermen Geschlech gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den biologischen em Punkt, ein tern als kausale Faktoren in der Geschichte behand führt diese mit dem ich mich später befassen werde. Daruber hinaus ismus mannGedankenlinie direkt auf das Mifitrauen, das der Femin es hier zu lichen Konzeptionen von Androgynitat entgegenbringt, weil für sich selbst meist urn eine Form des Androgynen geht, die Manner dteile >>des begehren und von daher dazu neigen, sich bestimmte Bestan d die wirk Weiblichen< für ihre Projekte selektiv anzueignen, währen bleiben. lichen Frauen davon ganz unberührt 14 ständigeren Die bedeutsamsten Schritte in Richtung auf einen >>voll in der seit Materialismus, eine wahrere Erkenntnis<< entdeckt Rose Gebieten von jUngster Zeit von Frauen betriebenen Forschung auf den he, in denen Biologie, Psychologie und Anthropologie. Das sind Bereic im Gegensatz handwerMiche<< Forschungsweisen noch moglich sind, rn beherrschten zu den >>industriellen<< Formen in den von Männe stische Denken Laboratorien. In allen diesen Bereichen hat das femini en Organismen zu einern neuen Verständnis der Beziehungen zwisch lt andererseits einerseits und zwischen Organismen und ihrer Umwe se der Dar gefUhrt. Der Organismus wird >>nicht in der Ausdruckswei chanismen winschen Metapher, als passives Objekt der Selektionsme Teilnebmer, als’ einer gleichgultigen Umgebung, sondern als aktiver en (ebd., 51). Subjekt, das seine eigene Zukunft bestimmt<<, begriff zufolge, em Para (Die Arbeiten von Barbara McClintock sind, Keller e<< der an Dar digma einer soichen Alternative zur >>Herrschaftstheori win orientierten Biologie. ) spezifisch femi Roses Vorschlag geht also dahin, die Gründe für eine gesellschaftlichen nistische Wissenschaft und Erkenntnistheorie in den (oder Forsche Praxisformen und Begriffsschemata der Feministinnen Forschungsberei rinnen) zu suchen, die in handwerklich organisierten ch hervorge chen tätig sind. Dort können die von Frauen gesellschaffli ungen neue Ver brachten Konzeptionen der Natur und der Sozialbezieh ipatorische stehensweisen zutagefOrdern, die für die Gattung emanz n müssen nicht Moglichkeiten mit sich bringen. Diese Konzeptione erinnen sein: unbedingt die ureigenste Erfindung der Wissenschaftl — Dualismus ebenso wie der biologische Determinismus und der soziale Konstruktivismus<<, erklärt Rose. >>Die Arbeit mit der unci an der Er fahrung der besonderen Unterdruckung von Frauen verschmflzt das PersOnliche, das Gesellschaftliche und das Biologische. Auf diese Weise wird aus dem Zusammenspiel zwischen >>neuen Organisations formen<< und neuen Projekten eine feministische Erkenntnistheorie für die Naturwissenschaften erwachsen. Im Gegensatz zu den kapitalisti schen Produktionsverhältnissen und ihrer Wissenschaft widerstehen die Organisationsformen der Frauenbewegung der Aufteilung von geistiger, korperlicher und fürsorgender Tatigkeit auf versehiedene Menschengruppen oder -kiassen. Und das Ziel feministischer Wissen schaft besteht darin, den Frauen das Wissen zu vermittein, das sie be notigen, urn unseren eigenen Korper verstehen und darnit umgehen zu können: Subjekt und Objekt der Rrschung fallen in ems. Die aus dieser vereinheithchten Tatigkeit im Dienste der Seibsterfahrung er wachsenden Annahmen und Uberzeugungen sind angernessener als jene, die aus den aufgespaltenen Tatigkeitsformen resultieren und nur dem Zweck der Profitmonopolisierung und der sozialen Kontrolle dienen. Dieser Aufsatz lieB eine LUcke zwischen den Wissens- oder Macht verhaltnissen, die in einer auf das Begreifen des eigenen, des weiblichen KOrpers zielenden Wissenschaft moglich sind, undjenen, die benotigt werden, damit eine feministische Wissenschaft ausreichende Durch schlagskraft entwickeln kann, urn die etablierten Wissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie und Soziologie zu ersetzen. Irn Aufsatz von 1984 versucht Rose, diese Lücke zu schliefien, indem sie den moglichen Ursprungsbereich einer spezifisch feministischen Erkenntnistheorie erweitert. Die Ursprunge einer Erkenntnistheorie, die die Legitimität des Subjektiven, die notwendige Vereinigung des Intelligiblen mit dem Emotionalen und die Ersetzung der Vorherrschaft von Reduktionismus und Linearitãt durch die Harmonie des Ganzheitlichen und Kornplexen befurwortet, kann in den Formen entdeckt werden, die Foucault >>un terdrückte Wissensformen<< nennen würde Verstehensweisen, die in der Geschichte der Wissenschaft versunken sind (Rose 1984, 49). Rose denkt bier an die von Carolyn Merchant dargesteliten und aus gearbeiteten okologischen Probleme, die auch das Werk von Rachel Carson durchziehen, und sie denkt an die Forderung, den Reduktionis mus in Richtung auf eine holistische >Feminisierung der Wissenschaft< zu überwinden, die zurn Beispiel von David Bohm und Fritjof Capra erhoben wird. Sie hätte sich hier auch auf Joseph Needhams roman tische Idealisierung der chinesischen Wissenschaft, die weiblicher 156 — Sechstes Kapitel — — Hinweise darauflassen sich in den >unterdrückten Wissensformen< der Wissenschaftsgeschichte fmden. Doch können wir hier eine Beobach tung wagen, die Rose mcht macht: wenn diese Begrifflichkeiten nicht irgendeiner bestimmten gesellschaftlich-politischen Erfahrung ent wie die Atome springen oder dieser Ausdruck verleihen, sind sie der alten Griechen dazu verdammt, bloBe intellektuelle Denk- und Merkwurdigkeiten zu bleiben, die auf ihre >>gesellschaftliche Geburt innerhaib des Wissenschaftsbetriebes warten, bis sie einer Gruppe in die Hände gelegt werden, die soiche Konzeptionen benötigt, urn thre Bestimmung innerhalb der Gesellschaftsordnung auf die Natur zu pro jizieren. Man kommt mcht daran vorbei, zu bemerken, daB die Auffas sung von Organismen als aktiven Teilnehmern bei der Bestimmung threr eigenen Zukunft in der >>Natur<< genau das Verhältnis >>entdeckt, weiches der feministischen Theorie zufolge bisher nur für Manner (der herrschenden Schicht) GUltigkeit besessen hat, jedoch für Frauen ebenso gUltig sein solite, da auch sie gesellschaftliche Wesen sind, die Geschichte machen. Manner haben innerhaib der für sie typischen Herrschaftsform ihre eigene Zukunft aktiv vorangetrieben; in einer entgeschlechtlichten Gesellschaftsordnung könnten auch die Frauen am Entwurf ihrer Zukunft aktiv beteiligt sein. Ob nun Rose dieser SchluBfolgerung zustimmen wUrde oder nicht sie geht davon aus, daB die Ursprunge einer als Nachfolgewissenschaft fungierenden feministischen Erkenntnistheorie in den Konzeptionen des Erkenntnissubjekts, des Erkenntnisprozesses und der zu erkennen den Welt zu finden sind, welche das Wesen einer von Frauen betriebe nen Forschung ausmachen. Die substantiellen Behauptungen dieser Forschung sind in Hinsicht auf die unterschiedlichen Tatigkeiten und geseilschafthichen Erfithrungen der Frauen zu begrunden, die sich aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ergeben. Enthält diese Erkenntnistheorie nicht immer noch em Zuviel an aufldärerischer Vision? Eine Frage, die ich nicht nur an diesen Entwurf einer stand punktorientierten Theorie richte. Die unterdruckte Tatigkeit der Frauen: sinnlich, konkret, beziehungsorientiert Wie Rose, so verortet auch die politische Theoretikerin Nancy Hartsock die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine feministische Nachfolgewissenschaft in einer postmarxistischen Theorie der Arbeit (oder Tätigkeit) und thren Auswirkungen auf das geistige Leben, und auch sie fmdet bei Sohn-Rethel wichtige Anhaltspunkte. Aber Hartsock beginnt mit der Metatheorie von Marx, mit seiner >>Vorstellung, Die Uberwindung des Empirismus 157 daB eine richtige Einschatzung der Klassengesellschaft nur von einer der beiden hauptsachlichen Kiassenpositionen in der kapitaiistischen 6 In der gelebten Wirklichkeit der Frauen Gesellschaft erfolgen kann<<J finden wir das Fundament für eine Erkenntnistheorie, die sowohi die aufklärerische als auch die marxistische Epistemologie beerben kann. Für Hartsock wie für Rose liegt in der vergeschlechtlichten Arbeits teilung der Grund für die groBere Angemessenheit feministischer Er kenntnisanspruche wie auch die Wurzel, aus der, in der Nachfolge der Aufldärung, eine ausgereifte Wissenschaft erwachsen kann. Diese fe ministische Nachfolgewissenschaft wird allerdings anticartesianisch sein, dean sie transzendiert die aus der Trennung von geistiger und korperlicher Arbeit hervorgegangene Dichotomie von Denken und Handein und steht somit zu ihr im Widerspruch. Allerdings setzt Hartsock hier andere Akzente als Rose. Kennzeichnend für die Frauen ist thre >>sinnlich-menschliche Tatig keit, Praxis<<, die auf zweierlei Weise institutionalisiert ist: Frauen tragen zurn Lebensunterhalt (zur >>Subsistenz<<) und zur Kindererzie hung bei. Diese Tatigkeit umfafit die für das Uberleben der Gattung notwendige Produktion von Lebensmitteln, Kleidung und Unterkunft, bei der die Frauen .zu Hause wie bei der Lohnarbeit standig mit einer durch Veranderungen und Qua litäten geprägten Welt in Beruhrung kommen. In diese Welt der Gebrauchswerte, der konkreten, qualitativ mannigtaltigen und sich verändernden materiellen Pro zesse, sind sie viel umfassender eingebunden als die Manner. Und wenn das Leben selbst aus sinnlicher Tatigkeit besteht, dana können die Frauen auf der Grundlage ihres Beitrags zum Lebensunterhalt einen Punict erreichen, an dem die den Waren produzenten im Kapitalismus mögliche materialistische Weltanschauung und Be wufltseinsstruktur, an dem mithin das KlassenbewuBtsein sich vertieft und inten siviert.<< (Hartsock 1983b, 292) ... Wenn man jedoch die Bedingungen weiblicher Tatigkeit hinsichtlich der Kindererziehung untersucht, so werden gerade hier die Schwach punkte der marxistischen Analyse überaus deutlich. *Nicht nur tagtäg lich, sondern auch auf lange Sicht sorgen Frauen fUr die Produktion und Reproduktion von Männern (und anderen Frauen). Dieser Aspekt verdeutlicht, wie unangemessen der Produktionsbegriff als Beschrei bung für die Tätigkeit von Frauen ist. Em menschliches Wesen hervor zubringen ist (notwendigerweise) etwas vollig anderes als die Produk Einen anderen Menschen in seiner Eat tion eines Gegenstandes. wicklung zu unterstützen, die Kontrolle nach und nach zu lockern, die Grenzen des eigenen Handeins zu erfahren<<, das alles sind grund legende Charakteristilca der ausschlieBlich Frauen zugeordneten Auf gabe der Kindererziehung und -betreuung. *Die mit der Reproduktion vermachte Er1hrung der Frauen steilt eine Einheit mit der Natur dar, 160 Sechstes Kapitel die Welt aus der Perspektive der Unterdrtickten zu begreifen. Es geht dabei nicht darum, das erkenntnistheoretische und politische Engage ment von einem Geschlecht auf das andere zu ubertragen, sondern es geht urn die Uberwindung des sozialen Geschlechts durch seine Trans zendierung. Em soiches Engagement liegt auf der politisch-gesell schaftlichen und nicht nur auf der rein intellektuellen Ebene. — Es gibt, so Hartsock, Formen der Arbeitsteilung, die tiefgreifender sind als die von Marx analysierten. Sie bringen rnännliche Vormacht stellungen in der Politik hervor und verbünden pervertierte Erkennt rnsanspruche mit der Perversität der herrschenden Macht. Eine Wissenschaft, die aus der Uberschreitung und Umgestaltung dieser Teilungen und der ihnen entsprechenden Dualismen entstünde, ware eine machtvolle Kraft für die Beseitigung von Macht. In einem frühe ren Aufsatz ging Hartsock davon aus, daB der für die Geschichte der politischen Theorie so wichtige Begriff der Macht verschieden inter pretiert werden kann. Gegen die Macht als Herrschaft uber andere setzen feministische Denk- und Praxisformen die MOglichkeit von Macht als Energie, die anderen Menschen und dem eigenen Ich zuteil wird und die in Formen gegenseitiger Machtübertragung ihren Aus 19 Ich denke, daB dieser zweite Machtbegriff und die Art druck findet. von Erkenntnis, die damit verbunden werden könnte, das offensicht liche Paradoxon von Hartsocks Berufung auf die Idee einer Nachfolge wissenschaft wie audi auf postmoderne Tendenzen zu beseitigen in der Lage ist. Man kann nur dann auf einer erkenntnistheoretisch orien tierten Philosophie beharren, wenn die in der Erkenntnistheorie impli zierte Politisierung des Denkens<< em auf Gegenseitigkeit angelegtes Projekt ist mit dem Ziel, jene herrschenden Mächte zu beseitigen, 20 Das heiBt, die die Politisierung des Denkens notwendig machen. eine soiche Erkenntnistheorie ware in dem MaBe ein Ubergangs- H projekt, in dem wir uns in eine der Herrschaft uberdrüssige Kultur und damit in Menschen umwandeln, deren Denken der Politisierung nicht mehr bedarf. .1 Hartsocks Begründungen für eine feministisehe Erkenntnistheorie sind zugleich weiter und enger gefafit als die von Rose. Sic sind enger, weil Hartsock die Tendenzen zu einer spezifisch feministischen E kenntnistheorie in der politischen Theorie (>>Wissenschaft<<) und d Kampf der Feministinnen, und nicht einfach in den für Frauen charak , teristischen Tätigkeiten lokalisiert. Die Denk- und Praxisformen der Frauen bleiben, sofern sic nicht durch den feministischen Kampf und die Analyse vermittelt werden, Bestandteil der von männlicher Vor 21 Doch ihre Begrundungen sind zugle herrschaft geprägten Welt. Die Uberwindung des Empirismus 161 weiter, dennjede feministisch inspirierte Forschung, die von den Kate gorien und Wertungen weiblicher Subsistenzproduktion und Haus arbeit ausgeht, und am Kampf für feministische Ziele interessiert (wiederum im Sinne von engagiert) ist, bereitet einer die Wissenschaft der Aufidarung beerbenden Erkenntnistheorie den Boden. Die von Frauen organisierte Gesundheitsbewegung und die alternativen Auf fassungen vom Verhältnis zwischen Organismus und Urnwelt, auf die Rose hinweist, wären (insoweit sic die Ziele der feministisclien Eman zipation unterstützen) bedeutsame Beispiele für soiche Forschungen. Doch gilt das für alle natur- oder sozialwissenschaffljchen Forschungs vorhaben, die die Tatigkeit der Frauen als gesellschafthich determi niert betrachten, und die Natur und Gesellschaft im Hinbljck auf politische Ziele des Feminismus zu erklären suchen. In Hartsocb Darstellung findet sich immer noch eine bedeutsame Lücke zwischen der ferninistischen Tätigkeit und einer Wissenschaft/Erkenntnjs. theorie, die stark und politisch mächtig genug ist, das aufldärerische Weltbild zu entthronen. Doch in den engeren wie auch den weiteren Gesichtspunkten versucht Hartsocks Darstellung Zentirneter für Zen timeter die Lücke zu schlieBen, indem sic die Grundlegung für die Nachfolgewissenschaft auf den ganzen Bereich der politischen und wissenschaftlichen Projekte des Feminjsmus ausdehnt und, zumindest implizit, auch Aktivitäten mit einbezieht, bei denen sich münnliche wie weibliche Feministinnen engagieren. Es gibt hinsichtlich der Grundlagen, auf die beide Theoretikerjnnen die Nachfolgewissenschaft stellen wollen, noch einen wichtigen Un terschied. Anders als Hartsock halt Rose die >>fürsorgende<< Arbeit der Frauen für die entscheidende menschuiche Tatigkeit, die von den marxistischen Analysen vernachlassigt wird. Für Hartsock liegt die Einzigartigkeit der weiblichen (im Unterschied zur proletarischen) Arbeit in ihrer grundsätzlicheren Opposition zum Dualismus des Geistigen mid Körperlichen, der für das männlich-burgerliche Denicen und Handeln so kennzeichnend ist. Hartsock betrachtet die proletari sche Arbeit (der Manner) als Ubergangsform zwischen der mannlich bürgerlichen und der weiblichen Arbeit, weil diese auf viel grund e Weise in die selbst-bewuBten, sinnlichen Verarbeitungs prozesse unserer ailtaglichen (natUrlichen wie gesellschafflichen) Umgebung eingelassen und von daher die spezifisch menschliche ätigkeit ist. Für Rose unterscheidet sich die weibliche Arbeit kate gorial von der männlichen Arbeit proletarischer wie bürgerlicher “rovenienz. 162 Sechstes Kapitel Die Wiederkehr des Verdrangten in derfeministischen Theorie Die Psychotherapeutin und politische Theoretikerin Jane Flax beschreibt die beiden in der feministischen Erkenntnistheorie existierenden Ten denzen zur Nachfolgewissenschaft einer- und zum Postmodernismus andererseits explizit als einander widerstreitend. In dem späteren von zwei Aufsätzen, die ich untersuchen werde, tritt sie dafür em, daB der Pbstmodernismus das Projekt einer Nachfolgewissenschaft ersetzen solle, doch werden in beiden Aufsätzen die zwei Tendenzen in einer Weise verbunden, die für sie offensichtlich keinen Widerspruch zu ent halten scheint. In einem 1980 geschriebenen (aber erst 1983 veröffentlichten) Auf satz erhebt Flax die Forderung nach dem Proj ekt einer >>Nachfolge wissenschaft<<: >>Die Aufgabe einer feministisehen Erkenntnistheorie liegt darin, die Art und Weise aufzudecken, in der das Patriarchat unseren Erkenntnisbegriff wie auch den konkreten Gehalt von Erkenntnismaterialien zersetzt und selbst das noch als eine emanzipatorische Tat behauptet hat. Ohne adiiquate Erkenntnis der Welt und unse rer Geschichte in der Welt (und dies sehlieBt die Erkenntnis des Erkennens em) können wir keine angemessenere gesellschaftliche Praxis entwickeln. Dergestalt ist eine feministische Erkenntnistheorie sowohi em Aspekt feministischer Theorie als auch die Vorbereitung und das hauptsachliche Element einer angemesseneren Theorie der Politik und der menschlichen Natur.<< (Flax 1983, 269) Und an anderer Stelle heiBt es: >>Auf diese Weise reprSsentiert die feministische Phiosophie die Wiederkehr des Verdrangten, die EntbloBung der je besonderen gesellschaftlichen Wurzeln aller augenscheinlich abstrakten und universellen Erkenntnis. Diese Arbeit kdnnte einer angemesseneren Gesellschaftstheorie den Boden bereiten, in der Philosophie und empirische Erkenntnis erneut vereint sind und sich gegenseitig bereichern.<< (Ebd., 249) Die feministische Philosophie, meint Flax, solle die Frage stellen: >>Wie sind die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen, so daB be stimmte Fragen und bestimmte Antworten darauf für die Philosophie konstitutiv werden?< (ebd., 249). In diesem Zusammenhang wird eine feministische Lesweise der Theorie der Objektbeziehungen (vgl. Kapi tel 5) em nützliches philosophisches Werkzeug; es lenkt unsere Auf merksamkeit auf die geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen des Ich, der Anderen, der Natur und der Beziehungen zwischen diesen drei Komponenten, die für Kulturen kennzeichnend sind, in denen hauptsachlich den Frauen die Verantwortung für die Kindererziehung obliegt. Flax interessiert sich insbesondere für den engen Zusammen hang zwischen den männlichen Wahrnehmungen des Ich, der Anderen und der Natur und der Defmition philosophischer Problernatiken. Aus dieser Perspektive esind augenscheinlich unlösbare Dilemmata in der Die Uberwindung des Empirismus 163 Philosophie nicht das Produkt immanenter Strukturen des mensch lichen Geistes und/oder der Natur, sondern Reflexionsformen verzerr ter oder erstarrter gesellschafflicher Verhältnisse*c (ebd., 248). Anders als bei den Frauen bleibt die Ich-Struktur der Manner einem abwehr bereiten infantilen Bedürfnis verhaftet, andere zu beherrschen und! oder zu unterdrücken, urn die eigene Identität zu bewahren. In Kultu ren, wo die Betreuung und Erziehung der Kleinkinder ausschlieBlich den Frauen zugewiesen wird, werden Jungen hinsichtlich der Tren nung des frühkindlichen Ichs von seinem ersten >>Anderen<< und der Entwicklung individueller Ientität sich in unlösbare Widerspruche verstricken, die genau jenen entsprechen, weiche in den Werken west licher Philosophen als >>Widerspruch des Menschen selbst<< erneut auf tauchen. Die westliche Philosophie problematisiert die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Korper, Innen und Aufien, Vernunft und Verstand; doch bestünde zu dieser Problernatisierung keine Not wendigkeit, wenn das Ich in seinem Kern nicht ausschliefihich gegen Frauen definitorisch abgegrenzt würde. ‘in der Philosophie ist das Sein (Ontologie) vom Erkennen (Erkenntnistheorie), und sind beide Bereiche wiederum von der Ethik oder der Politilc geschieden wor den. Kant hat diese Teilungen abgesegnet und in ein von der Struktur des Geistes selbst abgeleitetes Fundamentalprinzip verwandelt. Line Folge theses Prinzips bestand in der starren Trennung von Tatsachen und Werten, die in den Haupt strömungen der angloamerikanischen Phiosophie tiefe Spuren hinterlassen hat. Tm Endeffekt war die Phiosophie dazu verurteilt, die Themen, die für das mensch liche Leben von grofiter Bedeutung sind, mit Schweigen zu ubergehen.e (Ebd.) — — Würde sich die männlich frühkindliche Abgrenzungs- und Individua tionsproblematik nicht ausschlieBlich gegen Frauen richten, dann ware die emenschliche Erkenntnis<< in einem wesentlich geringeren Mafie mit den Widersprüchen der frühkindlichen Trennung und Individua tion beschaftigt. Die Analyse enthüllt, daB sich hinter den meisten Rn-men von Erkenntnis und Vernunft eine Entwicklungshemmung verbirgt. Wenn der ‘Andere’ beherrscht und/oder unterdrückt werden muB, start bei gleichzeitiger Anerkennung der Differenz in dasje eigene Ich integriert zu werden, dann können Trennungs- und Indivi duationsprozesse [der frühkindlichen Phase] mcht abgeschlossen und wahrhaft gegenseitige Beziehungen nicht entwickelt werden<< (ebd., 269). Nur wenn der oder die erste eAndere<< nicht beherrscht und/oder unterdruckt, sondern em das je eigene Ich integriert wird, kann die menschliche Erkenntnis die eher dem Erwachsenenstadium zugehö renden Probleme der Maxiinierung gegenseitiger Beziehungen und der Anerkennung von Differenzen reflektieren. 164 ... Sechstes Kapitel Flax will nicht darauf hinaus, daB die GroBen Manner der Philoso phiegeschichte ihre Zeit besser auf den Couchen von Psychoanalyti kern zugebracht hätten (waren sie denn verfUgbar gewesen), statt sich mit Philosophie zu beschaffigen. Ebensowenig ist die Phiosophie nur die männliche Rationalisierung schmerzhafter fruhkindlicher Erfah rungen. Vielrnehr, so sagt sie, enthullt eine feministische Untersuchung der >>normalen<< Beziehungen zwischen frühkindlichen Prozessen der Vergeschlechtlichung und Denkmustern männlicher Erwachsener, daB die [männliche] Phiosophie in ihrer FAhigkeit, die Erfahrungen von Frauen und Kindern zu verstehen, grundsatzlich eingeschrankt istc; insbesondere enthüllt sie die Neigung der Philosophen, ihre eigenen Erfhrungen mcht als typisch männliche, sondern als ailgemein menschiiche Paradigmata zu begreifen (ebd., 247). Wenn wir die von den erwachsenen Männern unterdrückten frühkincllichen Widerspruche aufdecken, deren Lösungen<< in ihrer abstrakten und universalisieren den Form den kollektiven Beweggrund wie auch den Themenbereich der patriarchalen Erkenntnistheorie bilden, dann haben wir die ersten Schritte in Richtung auf eine feministische Erkenntnistheorie getan. Alles Denken in patriarchalischen Kategorien bringt die weiblichen Erfithrungsdimensionen tendenziell zum Verschwinden. Doch kann die Erfahrung der Frauen mcht in sich selbst eine hinreichende Bedin gung für Theoriebildung sein, denn *sie mufi, als der andere Pol der dualistischen Aufspaltungen, integriert und transzendiert werden<<. Von daher erfordert eine angemessene feministische Philosophie >>eine revolutionare Theorie und Praxis. Es geht urn mcht weniger als eine neue Stufe in der menschlichen Entwicklung, auf der zum ersten Mal überhaupt die Gegenseitigkeit sich als Grundlage gesellschaftlicher Verhältnisse herausbilden kann<< (ebd., 270). In diesem früheren Aufsatz geht Flax davon aus, daB frühkindliche Widerspruche für Frauen weniger problematisch und leichter auflos bar sind als für Manner. Diese schmale Lücke zwischen den Ge schlechtern ist die Vorform einer sehr viel breiteren Kiuft, die sich zwischen patriarchalen und nicht-patriarchalen Formen der Kinder erziehung auftut. Die auf Abwehr und Abgrenzung ausgerichteten ver geschlechtlichten Ich-Identitiiten kOnnten durch wechselseitig ausge richtete, entgeschlechtlichte Identitäten ersetzt werden, wenn Manner wie Frauen gleichermalien für die frUhkindliche Erziehung und für das öffentliche Leben verantwortlich wären. Für soiche Identitaten würden die Formen und Prozesse des Erkennens und des Erkannten anders sich darstellen als für abgrenzungsorientierte Identitäten. Die wahre menschliche Erkenntnis, zu der eine feministische Erkenntnistheorie 1 I: Die Uberwindung des Empirismus — 165 den Weg weist, wird weniger verzerrt und wirklichkeitsnäher sein als die jetzt und realiter existierenden Erkenntnisformen. Und da die Be griffe eines reziproken oder wechselseitigen Erkennens beziehungs und kontextorientiert sein müssen, und von daher die Dualismen der aufklärerischen Erkenntnistheorie hinter sich lassen können, führt uns der Feminismus in der Tat einer echten Nachfolgewissenschaft ent 23 gegen. In einem vier Jahre spãter geschriebenen Aufsatz entwickelt Flax ganzlich andere Vorstellungen. Ging sie (wie oben beschrieben) zu nächst davon aus, dali Praxisformen der Kindererziehung ihre Spuren bei kulturell so unterschiedlichen Philosophen wie Plato, Locke, Hob bes, Kant, Rousseau und zeitgenössischen angelsachsischen Denkern hinterlassen hätten, so stelit sie nun die skeptische Frage, ob das Patriarchat sich der Denkformen nur auf eine einzige Weise bemäch tigt babe. Gleichermalien findet sie die Vorstellung, dali es >>einen feministischen Standpunktc< gebe, der >>wahrer sei als die vorhergegan genen (miinnlichen)<<, problematisch. >>Jeder feministische Standpunkt<c, so sagt siejetzt, >>ist notwendigerweise partiell und parteilich. Jede, die vom Standpunkt der Frauen aus zu denken versucht, mag einige Aspekte der gesellschaftlichen Totalität erhellen, die zuvor durch die herrschende Sichtweise unterdrückt worden sind. Doch keine von uns kann für. ‘die Frau’ sprechen, weil es keine soiche Person gibt, aufler in einer spezifischen Formation von (bereits vergeschlechtlichten) Beziehungen zum ‘Mann’ und zu vielen konkreten und unterschied lichen Frauen.<< Genau bier schlägt sich für Flax die Affinität feministischer Theorie zur postmodernen Philosophie in besonderer Weise nieder: ... Die feministische Theorie ist eine Spielart der postmodernen Philosophie und teilt als soiche mit ähnlichen Denkweisen die Ungewifiheit darüber, wie die Er klarung und/oder Interpretation der menschlichen Erthhrung mit geeigneten Grundlagen und Methoden versehen werden kann. Zeitgenossische Feministinnen schliel3en sich postmodernen Philosophinnen und Philosophen in bezug aufwichti ge metatheoretische Fragen an, die sich urn das Wesen und den Status von Theorie Es fehien allgemeingtiltige Regein der Kategorisierung, bildung selbst drehen. 24 Beurteilung mid Geltung.<< Diese Affinität zur Postmoderne, sagt Flax, ist grundsãtzlicherer Natur als die feministischen Versuche, eine Nachfolgewissenschaft zu ent wickein: Ungeachtet einer verständlichen Neigung für die (scheinbar) logische, geordnete Welt der Aufklarung, gehortdiefeministischeTheorie eher zum Bereich der postmodernen Philosophie. Dennoch argumen tiert dieser zweite Aufsatz in seinem Kern für eine besondere Auffas sung des sozialen Geschlechts, die, Flax zufolge, die unangemessenen 166 — Sechstes Kapitel — und verwirrenden Begriffsbildungen sowohi der traditionelien als auch der feministischen Geseilschaftstheorie ersetzen soil. Das soziale Ge schlecht solite ais beziehungsorientiert verstanden werden; Geschlech terbeziehungen und -verhältnisse sind nicht durch die Natur determi niert, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, und feministische Theoretikerinnen >>müssen die Geschichte(n) der Frauen und unserer Tatigkeiten für und in die Darstellungen und das Selbstverständnis des Ganzen<< der gesellschaftiichen Verhältnisse >>wiedergewinnen und einschreiben<<. Einerseits hat Flax irn Endeffekt die feministischen Tendenzen zu einer Nachfoigewissenschaft als Bestandteii von Entwürfen einer bei Männern so offensichtiichen abgrenzungsorientierten Ich identitAt ausgewiesen. Für sie ist die postmoderne skeptische Betrach tungsweise der aufklärerischen Dualismen, die die erkenntnistheoreti sche >Politisierung des Denkens< garantieren, der Stoflkeii, der in die Entwürfe einer beziehungsorientierten Ichidentität fiihrt. Die Uber windung der (spezifisch mãnnlichen) Dualismen der Aufldarung wird fir unsere Kultur als ganze erst nach einer >>Revolution in der mensch lichen Entwickiungc< möglich sein. Doch unterstelit nicht, anderer seits, Flax’ eigene Darstellung der für die männlich beherrschten Ge sellschaften typischen verzerrten und verfestigten Verhäitnisse, daB es eine >>objektive Grundlage für die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Annahmen<< gibt? Und läBt sich nicht vermuten, daB sie selbst dieser Art von Erkenntnistheorie verpflichtet ist? Und auch wenn alle für Femimstinnen mOgiichen geschichtsbedingten Verste hensweisen (respektive >>feministischen Standpunkte<<) partieli und parteilich wären, könnten sie nicht dennoch >>wahrer [sein] als die vor angegangenen (männlichen)<<? Das zwiespaltige Bewufitsein entfremdeter Forscherinnen Die kanadische Wissenssoziologin Dorothy Smith hat in einer Reihe von Veroffentlichungen erforscht, was es bedeuten würde, eine Sozio logie zu konstruieren, die vom >>Standpunkt der Frauen<< ausgeht. Ob wohi sie sich auf die Soziologie beschränkt, sind ihre Argumente für die Forschung in den Sozial- und Naturwissenschaften insgesamt ver ailgemeinerbar. In ihrem jungsten Aufsatz setzt sie sich direkt mit dem Problem auseinander, wie der Entwurf einer Nachfoigewissenschaft aussehen müBte, weiche die zerstörerischen Dualismen (Subjekt/Ob jekt, Innen/Aufien, Vernunft/Emotion) der aufklärerischen Wissen schaft transzendieren könnte. >>Ich beschaftige mich hier rnit dern Pro blem von Denkmethoden, die das Projekt einer Soziologie für Frauen Die Uberwindung des Empirismus — 167 — verwirklichen werden. Es handeit sich dabei urn eine Soziologie, wel che die von ihr untersuchten Personen nicht in Objekte verwandelt, sondern in ihren anaiytischen Vorgehensweisen die Präsenz des Sub jekts als eines Handelnden und Erfahrenden bewahrt. Demzufolge ist das Subjekt jene Erkennende, deren Weitbegreifen durch die Arbeit der Soziologin erweitert werden kann.<< 25 Smith ist der Ansicht, daB die von Forscherinnen erfahrenen Formen der Entfremdung für die gieichzeitige und nicht-widerspruchliche Entwickiung dessen, was ich als Nachfolgewissenschaft und postmoderne Projekte bezeichnet habe, geeignet sind. Wie die der anderen Theoretikerinnen steht auch Dorothy Smiths Erkenntnistheorie in der Nachfoige der marxistischen Theone der Ar beit. (Es ist vieileicht mcht ganz korrekt, Flax ebenfalis in diesen Zu sanimenhang einzuordnen, es sei denn in Hinsicht auf thre Diskussion des frühkindiichen Entwickiungsprozesses als erster rnenschlicher Arbeit, die natürlich gemafi dern Geschlecht des >>arbeitenden< Klein kindes geteilt ist.) Smith fragt weder nach dern Ursprung und der Entwickiung der Geschiechter, noch nach der Entstehung der abgren zungsorientierten Abstraktionen westlicher Geselischaftstheorie, Wis senschaft und Erkenntnistheorie aus den frühkindlichen Erfahrungen der Manner, und von daher auch nicht nach den Gründen, aus denen Frauen und Manner an spezifisch weiblichen und rnannlichen Aktivi tAten sich beteiligen wollen. Das heiBt, sie diskutiert nicht das Pro blem, auf weiche Weise als ursprünglich androgyn geborene >Animai wesen<< unserer Gattung mit ihrer gesellschafflichen und natüriichen Umweit interagieren, urn dann zu den vergeschiechtlichten Menschen zu werden, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen. Wie Rose wen det sie sich den struktureilen Arbeitsbedingungen für Wissenschaft lerinnen (Soziologinnen) zu, urn dort eine urnfassendere Vorsteilung von den materieilen Bedingungen zu gewinnen, die eine spezifisch fe ministische Wissenschaft ermogiichen. Während Rose die für die weibliche Tatigkeit bezeichnende Einheit von Hand, Herz und Kopf betont, betrachtet Smith drei andere Ge sichtspunkte, die der Arbeit von Frauen gerneinsam sind. Zunächst sind die Manner dadurch der Notwendigkeit enthoben, sich urn thre korperiichen Belange oder urn ihre lokalen Existenzbedingungen kürn mern zu müssen; sie können, vom alltäglichen Kleinkram befreit, sich in die Welt der abstrakten Begrifffichkeiten versenken. Zweitens >>ver knupft<< und formt die Arbeit der Frauen dadurch die Begriffe der Manner zu solchen, die administrative Forrnen des Herrschens aus drücken. Je besser die Frauen diese konkrete Arbeit (Hartsocks >>Weit 169 Die Uberwindung des Empirismus Sechstes Kapitel 168 — Mutter ist die Hausarbeit weder das eine noch das andere. Eine Dar unsere stellung der Hausarbeit vom >>Standpunkt der Frauen<< aus Erfiihrung unserer Lebensweisen wUrde sich von einer auf Begriffen der rnännlichen Wissenschaft basierenden Darstellung sehr unter scheiden: die Stimme des Subjekts der Forschung und die Stimme der 27 Es ware das Bei Forscherin würden kulturell erkennbar werden. spiel einer Wissenschaftflir und nicht uber Frauen; und diese Wissen schaft würde versuchen, anstelle von Verhaltensforrnen (menschliche >>Materie in Bewegung<<) gesellschaftliche Verhältnisse zu erkiaren oder zu interpretieren, und dies auf eine Weise, weiche den Frauen die gesellschafflichen Verhaitnisse verständlich rnacht, innerhaib derer thre Erfahrung sich vollzieht. — Smith geht, wie ich denke, davon aus, daB diese Art von Wissen schaft nicht deshaib >objektiv< ware, weil sie sich der Kategorien einer archimedischen<<, leidenschaftslosen, abgespaltenen >>dritten Ver sion<< bedienen würde, die zwischen den einander widerstreitenden perspektivischen Wahrnehmungen gesellschaftlicher Verhaitnisse ver mittelte, sondern weil sie sich der umfassenderen und verzerrungs freieren Kategorien bedienen würde, die vorn Standpunkt historisch lokalisierbarer und gesellschafflich untergeordneter Erfahrungen aus 29 Es ist jedoch schwierig, ihre expliziten Annahmen verfügbar sind. darüber, wie die Welt der Frauen zu interpretieren oder zu erkiaren sei, in Richtung auf eine feministische Wissenschaft zu verallgemei nern, deren Ziel darin besteht, die ganze Welt zu erklaren. Sie mahnt die Leserschaft oft, daB die Erfahrung der Forschungssubjekte (der Frauen, deren Leben die Forseherin erldärt) als endgUltige Autorität aufzufassen sei. Doch viele feministische Forscherinnen gehen davon —, Smith verschmilzt hier interpretatorische, explanatorische und kritisch-theoretische Tendenzen in der Philosophie der Sozialwissen schaften miteinander, die vorher unvereinbar gewesen sind. In keinern dieser Diskurse ist die >>autoritative Darstellung<< allein Sache der for schenden (d.h. in der Forschung aktiv handeinden) Personen. Da Smith die Autorität der Forscherin mit der AutoritAt der Forschungs subjekte auf eine erkenntnistheoretische Stufe steilt die Forscherin, die die Lebensbedingungen der Frauen interpretiert, erkiart, kritisch wird untersucht, erkiart zugleich thre eigenen Lebensbedingungen die Problernatik des Gegensatzes von Absolutisrnus und Relativisrnus obsolet. Diese beiden Positionen gehen namlich von einer Trennung zwischen der forschenden Person und dem Forschungssubjekt aus, die nicht existiert, wenn beide einen gleichermaBen untergeordneten Platz 28 in der Gesellschaft einnehrnen, — der Sinnlichkeit, der Qualitäten, der Veranderung<<) ausfuhren, desto unsichtbarer wird sie für die Manner. Und these, befreit von den Not wendigkeiten des alltaglichen Lebens, können nunmehr nur noch das für wirklich halten, was ihrer abstrakten geistigen Welt entspricht. Wie Hegels Herr, dern die Arbeit des Knechts nur als Verlängerung seines eigenen Seins und Wollens erscheint, sehen Manner die Arbeit der Frauen nicht als reale Tätigkeit an, die selbst gewählt und gewolit ist, sondern sie erschemt ihnen als em >>natUrliches< Tun, als instinkt gebundenes oder ernotionales Werk der Liebe. Auf these Weise werden die Frauen von der rnännlichen Kulturauffissung und ihren Kategorien >>des Gesellschafflichen<<, >>des Historischen<< und >>des Menschlichen ausgeschlossen. SchlieBlich kann die tatsächliche Erfahrung, die Frauen mit und in ihrer Arbeit machen, innerhaib der verzerrten Ab straktionen der männlichen Begriffsschemata weder verstanden noch ausgedrückt werden. Frauen sind threr eigenen Erfahrung entfrerndet, denn die rnännlichen Begriffsschemata sind zugleich die herrschen den, mittels derer die weibliche Erfahrung für Frauen definiert und kategorisiert wird. (Darauf zielt auch Hartsock, wenn sie von den Ideologien spricht, die das gesellschaftliche Leben für jeden und jede strukturieren.) Die Bildung für Frauen, urn weiche die Feministinnen des neunzehnten Jahrhunderts gerungen haben, hat, Smith zufolge, die >>Besetzung des weiblichen BewuBtseins<< durch männliche Experten der herrschenden Kiasse zur Vollendung geführt. 26 Diese Charakterzüge weiblicher Tatigkeiten sind eine Ressource, auf die eine spezifisch feministische Wissenschaft zurückgreifen kann. Für viele Frauen entwickelt sich zwischen dem, wie wir unsere Tätig keit erfahren und den uns zur Verfugung stehenden Kategorien, mit denen wir dieser Erfahrung Ausdruck verlethen können, eine >>Ver werfungslinie<<: wir haben nur die Kategorien der Herrschaft und der Wissenschaft. Für Forscherinnen verschärft dieser Bruch sich noch. Wir sind zuallererst Frauen, und selbst wenn wir allein, ohne Kinder oder mit Bediensteten leben, kümmern wir uns urn unsere physischen Belange und unsere lokalen Existenzbedingungen, und norrnalerweise auch urn die der Kinder und Manner. Doch wenn wir die Welt der Wis senschaft betreten, werden wir dazu ausgebildet, soziale Erfahrungen in Kategorien zu beschreiben und zu erklären, die das Wesen dieser Erfahrungen nicht zu erfassen vermögen. Smith zitiert das Beispiel von Untersuchungen zur Zeiteinteilung, in denen Hausarbeit zur Ar beit wie auch zur Freizeit gerechnet wird. Diese duale Struktur basiert auf der mannlichen Erfahrung, die Lohnarbeit für andere von selbst verantwortlicher Tätigkeit abgrenzt. Doch für verheiratete Frauen und 170 Sechstes Kapitel aus, daB die Erfithrung der Manner wie der Frauen innerhalb der cxi stierenden Erkenntnisstrukturen unangemessen interpretiert, erklärt oder kritisiert wird: man denke an the neuere Literatur zur Kriegsmen talitAt der Manner, an the kritische Neuinterpretation der mannlichen Erfahrung von Vergeschlechtlichung in der Theorie der Objektbezie hungen, an Smiths eigenes Uberdenken der Erfahrungen, die Manner als Soziologen machen. Dennoch billigt sie den Erfahrungen von Man nern der herrschenden Kiasse nicht die Art von Autoritat zu, auf der sie hinsichtlich der Erfithrung von Frauen besteht. In alien vier Auf sätzen zeigt ihre Argumentation, warum wir die untergeordnete Erfah rung der Frauen als forschungsbezogene Start- und Zielpunkte nehmen soilten, die in erkenntnistheoretischer Hinsicht der mannlichen Er fahrung vorzuziehen sind. (Smiths Argumentation ahnelt der von Hartsock, die den Kategorien weiblicher Tatigkeiten den erkenntnis theoretischen Vorzug gibt und laBt sich auch auf Flax beziehen, die den Feminismus als Enthullung der von Mannern unterdruckten Per spektiven begreift. Alle drei kehren zu Hegels Dialektik von Herr und Knecht zurftck, um ihren Standpunkt zu erlautern.) Wenn ich Smith aufdiese Weise interpretiere, bleiben em paar unge löste Probleme in ihrer Darstellung zuruck, aber es wird klar, daB sie den Frauen sowohl als Forschungssubjekten win auch als Forscherin nen eine ursprUngliche wissenschaftliche Autoritfit verleihen mOchte, Ihrer Meinung nach soilte der Feminismus nicht der Objektivitat oder der erkenntnistheoretisch motivierten Politisierung des Denkens per se miBtrauen, sondern deren verzerrten und unwirksamen Formen, die in der Wissenschaft der Aufidarung verwurzelt sind. Wie Flax, so be tont auch Smith, daB es viele verschiedene feministische Versionen der >>Realitfit<< geben wird, weil die Frauen in vielen verschiedenen Reali tfiten leben, doch soilte von allen angenommen werden, daB sie urn fassendere, verzerrungsarmere und weniger pervertierte Verstehens weisen hervorbringen, als es eine Wissenschaft vermag, die mit den Mflnnern der herrschenden Klasse und ihren Tätigkeiten verbundet ist. Neue Personen und die verborgene Hand der Geschichte Em letzter Punkt betrifft die geschichtlichen Veranderungen, die eine feministische Theorie und folglich eine feministische Wissenschaft und Erkenntnistheorie ermOglichen, wie ich an anderer Stelle gezeigt 30 Auch hier konnen win von der marxistischen Analyse lernen. habe. >>So wenig<<, sagt Engels, >>wie alle ihre Vorganger konnten die groBen Denker hinaus fiber die Schranken, die ihnen ihre des 18. Jahrhunderts 31 Erst indem in den Industriegeseilschaften eigne Epoche gesetzt hatte.<< 4 [ Die Uberwindung des Empirismus — —, 171 des neunzehnten Jahrhunderts em >>Konflikt zwischen Produktivlcraf em Konflikt, der >>objektiv, ten und Produktionsweise<< entstand auBer uns, unabhangig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen konnte die Kiassen Menschen, die ihn herbeigefiihrt<< existiert struktur der vorhergegangenen Gesellschaften zum ersten Mal in ihrem vollen Umfang entdeckt werden. >>Der moderne Sozialismus ist weiter nichts ais der Gedankenreflex dieses tatsachlichen Konflikts, seine ideelle Ruckspiegelung in den Kopfen zunachst der Klasse, die 32 direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse.<< Ahnlich kOnnen wir erst jetzt die feministischen Anschauungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts als nur >>utopische<< Mo 33 Die Feministinnen beiderlei Geschlechts konnten mente begreifen. in den damaligen kulturellen Zusammenhangen das Elend der weib lichen Lebensbedingungen und seine Uberflussigkeit erkennen, doch zeigen sowohl thre Ursachendiagnosen wie auch ihre Rezepte für die Emanzipation der Frauen, daB die vielschichtigen und nicht immer offensichtlichen Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung rnannlicher Herrschaft nicht begriffen wurden. Weder der liberale noch der marxistische Feminismus, ja vielieicht nicht einmal die dok trinareren Stromungen der radikalen und sozialistischen Feminismus versionen der mittsiebziger Jahre verfügen fiber kategoriale Schemata, die umfassend oder flexibel genug sind, um die historische und kultu relle Anpassungsfáhigkeit mannlicher Herrschaft oder ihr chamaleon artiges Talent, in anderen kulturellen Hierarchien rassistischer oder 34 ldassenspezifischer Provenienz zu gedethen, erfassen zu konnen. Komplexere (wiewohi nicht unproblematische) Analysen, die em Ge spur für kulturelle Zusammenhange besaBen, muBten das Entstehen historischer Veranderungen in den Geschlechterverhaltnissen abwarten. Diese Verandeningen haben einen tiefgreifenden Widerstreit hervorge bracht. Auf der einen Seite werden durch die Spezifik der Kultur bevorzugt Personen hervorgebracht, die durch Rasse, Masse und so ziales Geschlecht gesellschafflich detenniniert sind, auf der anderen Seite stehen die Denk- und Handlungsformen einer zunehmend groBer werdenden Anzahl von Frauen (inklusive einiger Manner), die nicht langer em verstürnmeltes Leben führen, einer getährlichen und tinter drückerischen Politik ausgesetzt scm woilen, weiche durch die archai schen Formen der Reproduktion noch verstarkt wird. Wenn wir auch diesen historischen Moment nicht in einer genauen Analogie zum eKonflikt zwischen Produktivkraften und Produktions weise<< beschreiben können (und warum soilten win das überhaupt?), so sind win doch in der Lage, viele Aspekte der besonderen okonomischen, i1i 1: 172 — — — Sechstes Kapitel politischen und geselisehafflichen Verschiebungen, die diesen Mo ment hervorgebracht haben, deutlich zu erkennen. Da war einmal die Entwicklung und umfassende Verbreitung bilhiger und wirksamer Mittel zur Geburtenkontrolle, die der kapitalistischen und imperialisti schen BevOllcerungspolitilc in der Dritten Welt und in den eigenen Lan dern diente. Da gab es zum zweiten den Niedergang des industriellen Sektors bei gleichzeitigem Wachstum der Dienstleistungsbereiche, wodurch Frauen in die Lohnarbeit einbezogen wurden und das Indu strieproletariat seine Vorrangstellung verlor. Da gab es zum dritten die emanzipatorischen Hoffnungen, die in den Vereinigten Staaten und Europa durch BUrgerrrech die tsbewegung politischen und den Radika lismus der sechaiger Jahre entfacht worden waren. Da schnellte vier tens die Scheidungsra in Höhe die und Zahi te die der Familien, in denen Frauen das Oberhaupt bildeten, wuchs was zum Tell seine Ursache darin hatte, daft der Kapitalismus die Manner dem Familien leben entfremdete und sie zu einer nwinging singles<c-Lebensweise verfuhrte, die den Guterkonsum anheizte; zum Teil lag es auch an der wachsenden (wiewohi immer noch sehr beschränkten) Fahigkeit der Frauen, auch ohne Ehe okonomisch uberleben zu kOnnen; und zum Teil zweifelsohne an der Verfiigbarkeit von Verhutungsmitteln, die das, was in den guten alten Zeiten eLiebelei<< genannt wurde, weniger kostenintensiv machte. Da wurde fünftens die &Feminisierung<< der Armut in zunehmendem Mafle erkannt (und moglicherweise auch die reale Zunahme der Armut von Frauen), die sich mit der wachsenden Scheidungsrate und der Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit verband, so daft die Lebensaussichten der Frauen sich im Vergleich mit denen ihrer Mutter und Grofimütter gänzlich anders gestalteten: nunmehr konnten und sollten Frauen jeder Gesellschaftsklasse Plane für em Leben nach oder anstelle der Ehe entwerfen. Da gab es sechstens die Eskalation internationaler Konflikte, die eindeutig zeig ten, wie sehr das psychische Herrschaftsbedürfnis der Manner sich mit der Rhetorilc und Politilc nationalistischer Herrschaftsansprüche in Einklang befand. Zweifellos konnte diese Liste der Vorbedingungen für das Entstehen des Feminismus und seiner Vorstellungen von einer Nachfolgewissenschaft und einer feininistischen Erkenntnistheorie noch urn einige signifikante Punkte erweitert werden. — Dergestalt ist, um Engels zu paraphrasieren, die feministische Theo ne nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen Konflikts, seine ideelle Rückspiegelung in den Kopfen zunächst der Masse, die direkt unter ibm leidet 35 Entwürfe zu einer feministischen der Frauen. Wissenschaft und Erkenntnistheorie sind nicht ausschlieftlich die r J’ [ [ • Die Uberwindung des Empirismus — 173 Produlcte von Beobachtung, Willenskraft und intellektueller Brilanz jener Fahigkeiten also, weiche die Wissenschaft und die Erkennt nistheonie der Aufklärung als Ursachen des Erkenntnisfontschritts betrachtete. Sie sind der Ausdruck von Denkweisen, in denen eine neue Ant von historischen Personen, die aus diesen gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen sind, Natur und Gesellschaft begreifen icon 36 Eine wichtige Gruppe wird dabei von Personen gebildet, deren nen. Tatigkeiten immer noch spezifisch fraulich<< sind, und die doch zu gleich sich Proj ekten des offentlichen Lebens zuwenden, die traditio nellerweise als mannlich galten. Diese *Verletzung<< einer (zumindest was unsere jüngste Vergangenheit betrifft) uberkomrnenen geschlechts spezifischen Arbeitsteilung vermittelt nicht nur einen enkenntnistheo retisch fortgeschrittenen Standpunkt für das Projekt einer Nachfolge wissenschaft, sondern leistet auch Widerstand dagegen, daft die ver zenrenden Dualismen der Moderne sich fortsetzen kOnnen. Warum soilten wir uns dagegen sträuben, den in der feministischen Wissen schafi und Erkenntnistheorie erreichten Verstehensweisen em gewis ses Mali von wenn auch nicht historischer Unvermeidbarkeit, so doch wenigstens geschichtlicher Moglichkeit zuzuschreiben? Ich bin immer noch der Ansicht, daft eine histonische Darstellung eine wichtige Komponente feministischer Standpunkttheonien ist: mit ihrer Hilfe konnen die Venschiebungen in den gesellschafflichen Struk turen nachgewiesen werden, die neue Verstehensweisen ermoglichen. Eirie Standpunkttheorie, die these (mit Kuhn zu sprechen) >>Rolle der Geschichte in der Wissenschafbc nicht erkennt und anerkennt, lalit die Vorbedingungen ihrer eigenen Entstehung im Dunkein. Allerdings denke ich mittlenweile, daft jene Art der Darstellung, die ich weiter oben beschnieben habe, noch viel zu viel von ihrem marxistischen Erbe, und damit auch von den auflclärenischen Bestandteilen des Mar xismus, bewahrt. Jene geschichtlichen Veranderungen, aus denen die postmoderne Henausforderung des Feminismus an die Auflclärung wie auch an den Marxismus erwachst, bleiben von ihr unbegriffen. Eine umfassendere Diskussion theses Gesichtspunkts verschieben wir auf das nächste Kapitel. Wir sahen in ersten Kapitel, daft den feministische Empirismus sexistische und androzentrische Stnuktunen als gesellschaftliche Ver zenrungen, als Vonuntelle ansieht, die auf falschen Annahmen (verur sacht durch Abenglauben, tradiente Gewohnheiten, Unwissen, falsche Erziehung) und feindseligen Einstellungen beruhen. Diese Vonurtelle gehen genade auf der Ebene den Auswahl und Definition wissenschaft licher Probleme in die Forschung em, lassen sich aber auch in der Die Uberwindung des Empirismus 175 174 substantiellen Behauptungen einer feministischen Wissenschaft und der feministischen erkenntnistheoretischen Strategic, die diese Be hauptungen begrunden und rechtfertigen soil. Die Erkenntnis dieser Inkohärenzen fUhrte zur Entwicklung der fe ministischen Standpunlct-Strategien. Sic scheinen mit jenen Elemen ten des feministischen Empirismus, die dessen traditionelle Form unterminieren, vereinbar zu scm. Die auf diesen Standpunkt bezoge nen Erkenntnistheorien grUnden, wie der feministische Empirismus, in den Kennzeichnungen von Frauen als einer gesellschaftlichen Gruppe und von Mannern als einer gesellschaftlichen Gruppe. Diese Kenn zeichnungen fuhrten zur inneren Inkohärenz des feministischen Empi rismus. Sind nun die Standpunkt-Theorien vielleicht in anderen Berei chen von einer inneren Inkohärenz geprägt? Sechstes Kapitel Forschungsplanung und im Sarnmeln und Interpretieren von Beweis material entdecken. Folgt man der Strategic des feministischen Em pirismus, so können soiche Verzerrungen durch die strengere An wendung der existierenden Normen wissenschafilicher Forschung beseitigt werden. Darüber hinaus ermöglichen soziale Befreiungs bewegungen >>den Menschen, die Welt aus einer umfassenderen Per spektive zu erblicken, weil sie die der Erkenntnis und Beobachtung 37 Die Frauen hinderlichen Tkrnungen und Scheukiappen beseitigen<c bewegung schaffi die Moglichlceit einer soichen umfassenderen Per spektive und bringt zudem eine groBere Zahi von Wissenschaftlerin nen hervor, die auf androzentrische Verzerrungen sensibler reagieren als Manner. — — — Allerdings unterminiert diese Begründungsstrategie zentrale An nahmen des empiristischen Diskurses, von dem sic abstammt (um em Wort von Zillah Eisenstein zu paraphrasieren: der feministische Empi rismus hat eine radilcale Zukunft), und genau darin in dieser inneren lnkohärenz können wir den Ubergangscharakter dieser Erkenntnis und die potentiellen QueliflUsse ihrer radilcalen theorie erblicken Haltung. 38 — — Der feministische Empirismus stelit drei aufeinander bezogene und inkohärente Annahmen des traditionellen Empirismus in Frage. Er stens bezweifelt er, daB die gesellschaffliche Identitat des Beobachters für den >>Gehalt<< der Forschungsresultate ohne Belang ist, denn der Androzentrismus der Wissenschaft ist nicht nur deutlich erkennbar, sondern wirkt sich auch zerstörerisch aus, und scm fruchtbarster Ur sprung liegt in der Auswalil wissenschaftlicher Probleme. Von daher, so wird argumentiert, sind Frauen als gesellschafthiche Gruppe mi Gegensatz zu Männern als gesellschafthicher Gruppe eher in der Lage, Forschungsprobleme auszuwählen, die die gesellschaftliche Erfah rung der Menschen mcht verzerren. Zweitens bezweifelt der feministi sche Empirismus die Fahigkeit der methodologischen und soziologi schen Wissenschaftsnormen, androzentrische Verzerrungen wirklich beseitigen zu konnen; scion die Normen selbst scheinen insofern der Verzerrung zu unterliegen, als sic unflihig ward, den Androzentris mus aufzuspuren. Drittens steilt er die Annahme, die Wissenschaft mUsse vor politischen Eingriffen geschutzt werden, zur Disicussion. Er geht davon aus, daB zumindest einige politische Formen die der die Objektivität der gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen Wissenschaft befOrdern können. Weil die Begründungsstrategien des feministiscben Empirismus die Inkohärenzen des traditionellen Empi rismus offenlegen, fUhren sic auch zu einer Inkohärenz zwischen den I