AndrozentrismusinderBiologie und den Sozialwissenschaften

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Drittes Kapitel
Wenn wir die tatsächliche Sozialstruktur der gegenwärtigen Wissen
schaft untersuchen, so stellen wir fest, daB das von Philosophen,
Historikern und anderen Anhängern der Wissenschaft entworfene Bud
wissenschafflicher Tatigkeit nicht die normale Art und Weise der Pro
duktion wissenschaftlicher Tatigkeit widerspiegelt. Die Manner,
denen Frauen gleichgestellt sein rnöchten, sind die Leiter des Wissen
em winziger Bruchteil derer, die in der Wissen
schaftsbetriebes
schaft arbeiten. In soiche Positionen jedoch gelangt man nicht ohne
weiteres; eine Bedingung dafür ist, stillschweigend zu akzeptieren,
daB die Wissenschaft die rassistische, sexistische und kiassenhierar
chische Organisation der Arbeit und des sozialen Status in der Gesamt
gesellschaft billigt und untersttitzt.
Diese SchluBfolgerungen sind weder politisch noch gefühlsmäBig
besonders erhebend. Gerade weil aber die gesellschaftliche Hierarchie
tier Wissenschaft der >>äufieren<< Gesellschaftsordnung so genau ent
spricht, soilten fortschrittliche soziale Veränderungen in der Wissen
schaft sehr rasch auf die Gesamtgesellschaft ubergreifen. Sicher ist
Naivität zumeist das Vorrecht junger Leute. Immerhin aber hat Rossi
ter uns darauf aufmerksam gemacht, daB die Naivität der Feministin
nen des neunzehnten für die Entwicklung der Frauenbewegung des
zwanzigsten Jahrhunderts und ihren Beitrag zu den gesellschafflichen
Veranderungen von entscheidender Bedeutung war. Und wir werden
sehen, daB einige weibliche Wissenschaftler sich in der gesellschaft
lichen Struktur tier Wissenschaft aufeine Weise betatigen konnten, die
weitreichende emanzipatorische Folgen gezeitigt hat.
Ich habe mich in diesem Kapitel auf die wirkliche gesellschaftliche
Struktur der heutigen Wissenschaft konzentriert, urn das abstruse und
gefährliche Bud vom isolierten Genie, das in den meisten wissen
schaftshistorischen und -theoretischen Veroffentlichungen immer
noch vorherrscht, realistischer zu gestalten. Und ich woilte uns die
Notwendigkeit vor Augen führen, das soziale Geschlecht nicht nur als
einen Wesenszug von Individuen und ihren Verhaltensweisen oder als
Organisationsform gesellschafflicher Bedeutungen (als Geschlechter
totemismus) zu begreifen. Wir müssen auch darauf achten, wie diese
Formen der Geschlechterordnung die kiassen-, rassen- und ge
schlechtsspezifischen Arbeitsteilungen formen und durch sie geformt
werden.
Viertes Kapitel
Androzentrismus
in der Biologie und den Sozialwissenschaften
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Tm vorangegangenen Kapitel steilten wir fest, daB die feministische
Herausforderung, weiche oftmals als für die Wissenschaft am wenig
sten bedrohlich angesehen wird die Forderung nach Gleichberechti
gung
die radikale Verringerung geschlechtsspezifischer Typisie
rungen und Arbeitsteilungen wie auch tier defensiv-labilen männlichen
Identitat zur notwendigen Voraussetzung für die Gleichbehandlung
von Frauen in der Wissenschaft macht. Möglicherweise ist in den
wissenschaftsproduzierenden Gesellschaften sogar die volistandige
Beseitigung rassistischer, sexistischer und klassenhierarchischer
Strukturen erforderlich. Das geht über eine bloBe Reform gesellschaft
licher Verhültnisse weit hinaus.
Bedrohlicher als die Antidiskriminierungs-MaBnahmen erscheint
die Behauptung, sowohi die definitorische Selektion wissenschaffli
cher Probleme als auch die forschungsrelevanten Begriffe, Theorien,
Methoden und Interpretationen seien in einseitiger Weise männlich
ausgerichtet. Dieser Vorwurf ist gleichermaBen gegen die Biologie
wie gegen die Sozialwissenschaften erhoben worden, doch gilt er auch
für die physikalischen Wissenschaften? Deren Vertreter und philoso
phische Interpreten halten derlei feministische Kritik hinsichtlich ihres
Faches für irrelevant (wie sie uberhaupt glauben, daB sie von der Bio
logie und den Sozialwissenschaften nichts Nennenswertes lernen kön
nen). Von daher ist der feministische Vorwurf mannlicher Einseitig
keit zwar für die normale Wissenschaft bedrohlicher als die Forderung
nach Gleichberechtigung, doch scheinen die meisten Wissenschaft
lerinnen und Wissenschaftler ob sie nun feministisch sind oder nicht
davon auszugehen, daB er die Physik, die Chemie und das wissen
schaffliche Weitbild nicht trifft (und auch gar nicht treffen kann). Tm
zweiten Kapitel sahen wir, daB tier Glaube, Physik, Mathematik und
Logik seien ihrern Wesen nach gegen gesellschaffliche Einflüsse
immun, unbegrundet ist. Bevor wir die feministische Kritik an der
Biologie und den Sozialwissenschaften untersuchen, wollen wir fragen,
inwieweit sie für unser Verständnis der Naturwissenschaft insgesamt
relevant ist.
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
—
—
In dieser Auseinandersetzung gehen beide Seiten davon aus, daB die
Probleme der Sozialwissenschaft, em groBtmogliches MaB an Objek
tivität und Wertfreiheit zu erreichen, in den Naturwissenschaften
keine Parallele besitzen. Doch kann die Plausibilität dieser Annahme
aus verschiedenen Gründen in Zweifel gezogen werden. Erstens haben
die Sozialwissenschaften versucht, die der Physik untersteilten leiden
schaftslos-objektiven Methoden nachzuahmen. Selbst die in der Mm
derheit befindlichen Vertreter hermeneutischer, humanwissenschaft
licher und verstehender Methoden der Sozialforschung (also der
Hauptrichtungen innerhaib des Intentionalismus) legen immer noch
Wert auf Objektivitiit und empirische Ubereinstimmung zwischen
Theorie und Beobachtung, die als Stärke der Naturwissenschaften gel
ten, und sie glauben, daB verschiedene Arten von Methoden und eine
andersgeartete Ontologie am geeignetsten sind, urn die Forschungs
ergebnisse vom verzerrenden EinfluB der Wertvorstellungen des For
schers (oder der Forscherin) freizuhalten. Doch können wir immer
noch begrundeterweise fragen, ob die Verzerrungen und Einseitig
keiten in den Sozialwissenschaften einzig aus ihrem Unterschied zu
den Naturwissenschaften sich herleiten. Enthüllt sich in ihnen nicht
vielmehr eine grundsatzliche Lücke zwischen der expliziten Erkennt
nistheorie wie den praskriptiven Methodologien der Naturwissen
schaften und den wirklichen Bahnen, in denen jede Forschung
sei
verlaufen ist und verlaufen
sie gesellschafts- oder naturbezogen
muB? Sicher sind die oben erwähnten Probleme nicht aus der Luft
Zweitens, so behauptet der Naturalismus weiter, muB die Erklarung
gesellschaftlicher Phänomene mehr Variablen in Betracht ziehen als
die Erklarung von Naturphanomenen. Sozialforschung ist einfach
mUhseliger als die Erforschung der Natur. Drittens sind die Sozial
wissenschaften jünger und unreifer als die Naturwissenschaften; zu
gegebener Zeit werden sie aus dem vorparadigmatischen Stadium des
Faktensammelns und der Grundsatzdiskussion heraustreten und, was
theoretische Annahmen, methodologische Beschränkungen und For
schungsprogramme betrifft, sich in Ubereinstimmung mit >>normal
wissenschaftlichen<< Paradigmen befinden. Doch der Intentionalismus
bestreitet auch diese vermeintlichen Ursprunge der Wertbezogenheit
von Sozialwissenschaft.
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86
Viertes Kapitel
Sind sozialwissenschaftliche Ergebnisse für die Durch
fuhrung naturwissenschaftlicher Forschungen irrelevant?
‘
zu anderen gesellschaftliche Bedeutung beimessen? Und wenn wir
ethnozentrische Verzerrungen in unseren Beobachtungen vermeiden
wollen, mUssen wir die von den Beteiigten selbst vorgenommenen Be
deutungszuschreibungen berucksichtigen, nicht etwa die der For
schenden.
In der langen Geschichte der Philosophie der Sozialwissenschaften
gibt es eine Argumentation, die behauptet, daI der wertbezogene Cha
rakter der Sozialwissenschaften dreifachen Ursprungs sei, derenjeder
für sich es unratsam erscheinen lasse, die Sozialforschung als Modell
auf die Physik abzubilden. Diese Philosophen gehen davon aus, daB
die Philosophie der Naturwissenschaften für die Phiosophie der So
zialwissenschaft keinerlei Bedeutung besitze, scheinen aber mit ihren
Gegnern darin ubereinzustimmen, daB die Sozialforschung ihrerseits
1 Diese Behauptung er
für die Erforschung der Natur ohne Belang sei.
fordert getremite Argumentationslinien, derer sich keine Seite je be
dient hat.
—
—
Sowohi der >>Naturalisrnus<< als auch sein Gegner, der >>Intentionalis
wie die an diesem Streit beteiligten Parteien genannt worden
mus<<
sind sind sich darin einig, daB die Sozialwissenschaften und die Na
turwissenschaften sich auf je unterschiedlich strukturierte Gegen
standsbereiche beziehen: die Sozialwissenschaften befassen sich mit
Menschen und Kulturen, die, im Gegensatz zur unbelebten Materie,
sich durch Geschichte, Bedeutungen und Zeichensysteme konstituie
ren. Unglucklicherweise würden, so argumentiert der Naturalismus,
die diesen Thernenbereich kennzeichnenden gesellschaftlichen Bedeu
tungen und Werte nur zu oft in die Forschungsresultate einsickern.
Nichtsdestotrotz könnten gesellschaftliche Phänornene ebenso kausal
erklärt werden wie rein physilcalische Erscheinungen, und die strengere
Beachtung methodologischer Verlährensweisen, weiche in der Physik
als so wirkungsvoll sich erwiesen haben, würde erfoigreich dazu bei
tragen, gesellschaftliche Werte aus der Sozialforschung zu eliminie
ren. Es gibt (so der naturalistische Standpunkt) nur eine wissenschaft
liche Metaphysik und nur eine wissenschaftliche Methode: nämlich
die der Physik.
Der Intentionalismus erwidert, daB das Unzutragliche an der Sozial
forschung gerade ihre Tendenz sei, dieses wesensfremde, physikalisti
sche Begriffsschema dem Selbstverständnis, das die Menschen von
ilirer eigenen Kultur und Tatigkeit haben, uberzustUlpen. Statt dessen,
sagt er, müssen die Forscher und Forscherinnen ihr eigenes Wert- und
BedeutungsgefUge in die Wagschale werfen, urn gesellschaffliche Vor
gange und Ereignisse aflererst von natürlichen unterscheiden zu können.
Woher wissen wir, daB wir einen Flaggensalut beobachten und nicht
einen bloBen Muskeireflex, wenn wir einigen Ereignissen im Gegensatz
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Viertes Kapitel
gegriffen, aber reichen sie aus, urn alle Aspekte der für die Sozial
forschung als stOrend ernpfundenen Wertbezogenheit abzudecken?
—
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Wichtiger noch ist die von uns bereits diskutierte Tatsache, daB die
Naturwissenschaft em gesellschaftliches Phänomen darsteilt. Zu be
stimmten historischen Zeitpunkten ist sie in bestimmten Kulturen
entstanden, weiterentwickelt, und mit gesellschafflicher Bedeutung
versehen worden. Feministinnen haben dargesteilt, auf weiche Weise
weiBe Manner aus dem politischen und okonomischen Herrschafts
apparat gesellschaftliche Phänomene begrifflich konstruieren. Viele
Elemente dieser Kritik können auf die Geschichte der Naturwissen
schaft, wie sie von wissenschaftshistorischen und -theoretischen
Handbüchern, von wissenschafflichen Texten und von den >>groBen
Persönhichkeiten<< der modernen Wissenschaft erzählt wird, direkt
ubertragen werden. Wenn das soziale Geschlecht eine Variable dar
stelit, die noch in den formaisten Strukturen theoretischer Annahmen
uber die Grenzen zwischen Natur und Kultur oder uber die fundamen
talen Bestandteile gesellschafflich konstruierter Realitäten eine Rolle
spielt, warurn soliten wir dann davon ausgehen, daB die formalen
Strukturen naturwissenschaftlicher Annahrnen dagegen immun sind?
Die Sozialwissenschaften sind, was Auswahl und Definition der Pro
blemstellungen wie auch Planung und Durchfuhrung von Forschungs
projekten angeht, nicht arm an Einseitigkeiten, die ihrerseits in den
bevorzugten Darstellungen der Geschichte und Sozialstrulctur der
Wissenschaft ebenso wieder auftauchen wie in der partiellen und ver
zerrten Selbstrefiexion der Phiosophie der Sozial- und Naturwissen
schaften. Die gesellschaftliche Praxis der Naturwissenschaft ist, eben
so wie das, was an Annahmen über die Naturwissenschaft zirkuliert,
em angemessenes Therna für die Sozialforschung. Urn aber zu objek
tiven Verstehensweisen und Erklarungen zu gelangen, bedarf es der
Entgeschlechtlichung der Sozialwissenschaften und ihrer philosophi
schen Theorien.
Woran hapert es bei einer Wissenschaftstheorie, die sich über die
offensichtlichen Erfolge und Grenzen jenes Unterfangens, das sie er
klären und dadurch lenken und leiten möchte, keine Rechenschaft
ablegen kann? Wenn man sich bei der Erklärung der historischen
Erfolge wie auch der zeitweiligen Stagnation des >>Erkenntniswachs
tums<< auf die Bedeutung wirtschafflicher, politischer, psychologischer
und gesellschafflicher GesetzmaBigkeiten beruft, dann wird man im
Zentrum dieser GesetzmaBigkeiten auch das soziale Geschlecht in
seiner dreifachen Ausdrucksform als Totalität der gesellschafflichen
finden.
Geschlechterverhältnisse
•1
4
L
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
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Aus diesen Grunden ist die feministische Kritik der Einseitigkeit
und Verzerrung in den Sozialwissenschaften weit über ihr unmittel
bares Thema hinaus von Bedeutung, weil sie sich auf unsere Analyse
der Wissenschaft insgesamt beziehen laBt.
Fünf Quellen des Androzentrismus in der Sozialforschung
—
—
...
...
In ihrer Einleitung zu dem Buch Another Voice: Feminist Perspectives
on Social Lfe and Social Science
eine fruhe Sammiung feministi
scher Essays zur Kritik der Sozialwissenschaften
weisen Marcia
Miiman und Rosabeth Moss Kanter sechs problernatische Grundan
nahmen auf, von denen die soziologische Forschung sich hat leiten las2 Weil diese Annahmen auch in anderen Sozialwissenschaften zu
sen.
fmden sind, können wir fünfder sechs Kategorien verwenden, urn das
AusmaB des feministischen Vorwurfs zu begreifen, der besagt, daB
männliche Einseitigkeit in der Sozialforschung das Leben der Frauen
permanent unsichtbar gemacht hat, und daB wir aufgrund dieser Em
seitigkeit weder das Handeln und Denken der Geschlechter noch die
gesellschaftlichen Strukturen, in denen dies Handeln und Denken sich
vollzieht, angemessen verstehen können. (Die sechste Annahme be
zieht sich auf die Ziele der Sozialforschung; diesen Gesichtspunkt
werde ich weiter unten diskutieren.) Anhand dieser fruhen kritischen
Ansätze kann man sich gut vor Augen führen, was heute zurn Alige
meingut feministischer Wissenschafflerinnen geworden ist. Die in dem
Buch versammelten Analysen sind ausgearbeitet und verfeinert wor
den, doch stehen die darin aufgeworfenen Probleme immer noch im
Brennpunkt feministischen Interesses.
Zuerst heben Millman und Kanter hervor, daB >>aufgrund der Ver
wendung bestimmter konventioneller Definitionsmodelle wichtige Be
reiche der soziologischen Feldforschung Ubersehen worden sind<<
(Miiman und Kanter 1975, IX). Soziologische Analysen beispielsweise,
die sich ausschlieBlich auf die Funktion der Weberschen Rationalität
konzentrieren, neigen dazu, die gesellschaftliche Rolle der Emotionen
nahezu vollstandig auszublenden. Ihre Entwürfe beschränken sich auf
zwei Typen gesellschaftlicher Akteure, bei denen Gefühl und Emotion
vom selbstbewuBten Denken und Handein abgekoppelt sind. Es gibt
entweder den bewuBten, kognitiv eingestellten Handlungstyp,
der
bewuBt etwas will (z.B. Geld oder Status), und der bewuBt den Wert
verschiedener Mittel für die Erreichung eines Zwecks kalkuliert<<,
oder den >>unbewuBten, emotional eingestellten Handlungstyp,
der
I
:,‘..
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Viertes Kapitel
durch eine begrenzte Anzahl von ‘Instinkten’, ‘Impulsen’ oder ‘Bedürf
nissen’ dazu ‘getrieben’ oder ‘veranlaBt’ wird, irgendeine Reihe von
Dingen zu erreichen, zu verbinden oder zu tun, die nur auf der Ober
3 In keinem Fall
fläche als Mittel oder Zwecke ausgewiesen werderi.<<
wird die BewuBtheit von Gefühlen mid Emotionen als em für die Grün
de und Ursachen menschlichen Denkens und Handeins oder für die
GesellschaftSStrUktUr bedeutsameS Element gesehen, obwohl ihre Pta
senz im eigenen Denken und Verhalten wie auch in dem der anderen
Menschen offensichtlich von Wichtigkeit zu sein scheint. Man kann
sich fragen, ob die Leugnung der Rolle bewuBter Gefühle durch die
Verbindung eines kulturellen Stereotyps mit einer zweiten soziologi
schen Annahnie in ihrer Tendenz nicht noch verschärft wird. Einer
seits gehen GescblechterstereOtYPefl davon aus, daB nur bei Frauen die
MotivationsstmktUr durch bewuBte Gefühle bestimmt wird, wahrend
Manner sich durch kalkulatorische, instrumentelle oder andere >>ratio
nale*c Erwagungen leiten lassen. Andererseits nimmt die Sozialwissen
schaft an, daB die gesellschaffliche Struktur vor allem durch das Denken und Handein der Manner hervorgebracht wird. Aber lassen sich
mcht Manner mid Frauen gleichermaBen durch em BewuBtsein ihrer
Gefilhle von Liebe, Zuneigung, Zorn oder Ablehnung leiten, wenn sie
Denk- und Handlungsforniefl sich aneignen oder politische Kräfte und
Institutionen unterstutzen?
Zweitens >>hat sich die Soziologie auf öffentliches, offizielles, sicht
bares und/oder darstellungsoriefltierteS Rollenverhalten mid ent
sprechende SituationsdefiflitiOflen konzentriert, wiihrend inoffizielle,
weniger darstellungsoriefltierte, private, unsichtbare und karitative Be
reiche der Gesellschaft gleichermaBen wichtig sein könnew< (ebd., X).
Wenn der Bereich gesellschaftlichen Handeins in dieser Weise em
geengt wird, können wir nur sehr schwer em angemesseneS Bud des
gesellschaftlichen Lebens entwickeln. Solche und ahnliche Einschrän
kungen führen zum Beispiel dazu, die Art und Weise, wie Frauen in
formelle Macht errungen haben, unsichtbar zu machen. Sie verbergeri
die informellen Systeme männlicher SchirmherrsChaft und Patronage,
die die begehrten Karrierewege für Manner freihalten, wahrend sie
weibliche Angestelite zugleich isolieren mid dadurch die auf Anti
diskriminieruflg zielenden Programme umgehen. Verborgen bleibt
auch die analytisch mcbt greifbare Substruktur der von Frauen ge
schaffenen karitativen Vernetzungefl, ohne die es in Kunst, Literatur,
Politikund Wissenschaft keine >>Genies<< gegeben hätte (ebd., 33). Und
schlieBlich wird auch die Bedeutung der geseilsehafflichen Interaktio
nen in den lokalen und regionalen Strukturen des GemeinschaftSlebenS
‘:
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
91
unsichtbar gemacht. Gerade hier aber kommt den Frauen eine Vor
rangstellung zu, hier werden die verbindlichen Formen der Interaktion
und Politik herausgebildet, in denen Manner als die Schopfer der Ge
sellschaftsstruktur erscheinen (ebd., XII).
Drittens geht die Soziologie oft von der für Maimer und Frauen
gleichermafien gultigen Existenz einer ‘einheitlichen Gesellschaft’
aus, bezüglich derer sich für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen
verallgemeinernde Behauptungen aufstellen lassen. Tatsächlich aber
können Manner und Frauen in je verschiedenen gesellschafflichen
Welten zu Hause sein<, und diese Differenz wird nicht in Rechnung ge
steilt
(ebd.,
Xffl).
argurnentiert
So
etwa
Jessie
Bernard,
daB
aus
em
und
derselben
Heirat
für
den
Mann
und
die
Frau
verschiedene
Wirk
lichkeiten
resukieren
können,
mid
diese
Tatsache
macht
alle Verall
gemeinerungen
über
Heirat
und
Familienlebe
n
hinfällig,
die die posi
lions- und interessenbedingten Unterschiede mcht 4
berücksichtigen.
In ähnlicher Weise macht die Wirtschaftswissenschaftlerin Heidi Hart
mann auf den >>Geschlechterkampf<< aufmerksarn, der in der Familie
urn die Hausarbeit gefuhrt wird, und der die Verantwortung dafftr
trägt, daB Manner und Frauen in weiten Bereichen öffentlicher Politik
unterschiedliche Interessen vertreten.
5 Weitere Analysen decken viele
andere Institutionen und Interaktionsformen auf, in denen Frauen weit
eher als Manner gezwungen sind, ihre Erwartungen herabzuschrauben
und ihr Unbehagen zu rationalisieren, urn äkonomische oder gesell
schaftspolitische Vorteile zu erlangen.
Das soziologische Problem der >>einen, einheitlichen Gesellschaft<<
laBt sich auf begriffliche Schwierigkeiten in den Sozialwissenschaften
beziehen, die von anderen Feministinnen bemerkt worden sind. Die
geläufige Annahme, daB eine bestimmte Gesellschaftsstruktur oder
Verhaltensweise für die Handelnden oder die Gesellschaft funktional
ist, ignoriert für gewOhnlich das MiBverhältnis zwischen dem BewuBt
sein, den Wünschen und Bedürfnissen der Frauen und der ihnen zuge
schriebenen Rolle.
6 Uber das Sich-Einfugen in Rassen- und Kiassen
hierarchien hinaus müssen Frauen gezwungenermaBen ihr Wesen und
ihre Tätigkeiten an Beschränkungen anpassen, die sie nicht selbst ge
wãhlt haben. Es ist die Kiuft zwischen ihrem (Selbst-)BewuBtsein und
den von ihnen erwarteten Verhaltensweisen, welche die der Selbst
erfahrung sich verdankenden Errungenschaften der Frauenbewegung
zu einer in wissenschaftlicher wie politischer Hinsicht wichtigen
Ressource gemacht hat. Männlich dominierte gesellschaffliche An!
Ordnungen sind für Frauen nicht funktional, doch laBt sich diese Tat
sache einfach am Verhalten der Frauen selbst ablesen.
ii
:1
Viertes Kapitel
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Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
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Meine parenthetisehe Bemerkung im vorhergehenden Absatz weist
darauf hin, daB die Problematik des sozialen Geschlechts als Variable
im historischen und gegenwärtigen sozialen Leben auf ebenso verwir
rende wie nahe-liegende Weise mit Diskussionen über die Bedeutung
des biologischen Geschlechts für das gesellschaftliche Handein ver
knüpft ist. Die Historilcerin Joan Kelly-Gadol hebt hervor, daB auch in
der Geschichtswjssenschaft feministische Gelehrte auf die Ignoranz
aufmerksam gemacht haben, die dern >>biologischen Geschlecht<< als
Faktor gesellschafthichen Handeins zuteil geworden ist, obwohl es
Viertens wird >>in verschiedenen Feldstudien das biologische Ge
schlecht als Verhaltensfaktor nicht berucksichtigt, obwohl es in expla
natorischer Hinsicht zu den wichtigsten Variablen gehoren könnte<<
(ebd., XIV; aus der von mir vertretenen theoretischen Perspektive geht
es Miliman und Kanter urn die soziale, nicht urn die biologische Ge
schlechterdifferenz). Weichen Einfluli hat zum Beispiel das soziale
Geschlecht in Lehrerschaft und Arztestand auf die Interaktion mit
Schülern und Patienten? Wie wirken sich lclischeehaft rnännliche
Modeilvorstellungen des Künstlers, des Wissenschaftlers oder der er
foigreichen Persönlichkejt auf die Motivation der Frauen aus, traditio
nell männliche Bereiche zu betreten und in ihnen als erfoigreich an
erkannt zu werden? Soiche und ähnliche Fragen werden in soziologi
schen Analysen oftrnals ignoriert.
—
Ahnlich problematische Implikationen ergeben sich in der Anthro
pologie. Hier wird zum Beispiel behauptet, dali die Geseilschafts
modelle (de facto Modelle der Grenzen des Gesellschaftlichen selbst),
von denen Manner in alien Kuituren ausgehen, mit den anthropolo
gischen Modellen westlich-männlicher Forscher auf besondere Weise
7 Frauen als geselischaftlich Handeinde
übereinzustimmen scheinen.
un Gegensatz zu Männern ihrer eigenen Kultur und zu
scheinen
(männiichen) Sozialwissenschaftlern signifikant andere und weiter
gefafite Vorstellungen von den Bedingungen geseilsehafflicher Interak
tion und Struktur zu haben. Nicht unwichtig für unsere Interessen ist
die offenkundige Tatsache, daB vieles, was Manner zur Natur zählen
(zu dem, was jenseits der iculturellen Grenzen liegt), für die Frauen
Bestandteil der Kultur ist.
Des weiteren kommt die Zweiteilung der menschlichen Aktivitäten
in bezahite Arbeit und individuell geregelte Freizeit den Vertretern ad
ministrativer Herrschaft in den industrialisierten Gesellschaften sehr
gelegen. Da das Freizeitverhaiten als Privatsache des Individuums
Die Soziologin Dorothy Smith hat analysiert, wie die Begriffsstruk
tur der Soziologie sich mit administrativen Modellen der Gesell
schaftsstruktur und den administrativen Interessen und Persönlichkeits
typen, die Manner aller Kiassen in unserer Kultur für erstrebenswert
zusammenfugt. Für sie ist der Begriffsapparat der Soziologie
halten, 8
Bestandteil eines umfkssenderen Begriffsapparates, der für Gesell
schaften nut männiich dorninierter, administrativ ausgerichteter Herr
schaft typisch ist. So weist sie zum Beispiel darauf hin, daB die sozio
iogische Kategorie der Hausarbeit<< in em Begriffsschema eingefugt
worden ist, das alle menschlichen Aktivitäten einer Dichotomie von
>>Arbeit<< und >>Freizeit<< subsumiert, die für männliche Lebenszusam
menhänge sehr viel eher zutrifft als für weibliche. Kindererziehung,
Kochen, Saubermachen etc. sind sicherlich Betatigungen im Sinne ge
sellschaftiich nützlicher Arbeit und stellen zugleich gewisse Aspekte
von Freizeitverhalten im Sinne einer öfter ausgeubten und angenehmen
Tatigkeit dar. Doch für Frauen ist damit zugleich mehr und weniger
vermacht, als es diese Kategorien nahelegen. Vor allem die Kinder
erziehung scheint durch diese Dichotomie uberhaupt mcht adaquat er
faflt werden zu können. Sie ist weniger >>Arbeit<< ais das Babysitten mit
seiner festgelegten Zeit, seiner begrenzten Verantwortlichkeit und
seinem (wenn auch geringen) ökonomischen Entgelt. Doch ist die
Kindererziehung für Frauen (ganz zu schweigen von der Gesellschaft)
von ungleich grolierem Wert als eine Bridgepartie, em Strandausfiug
oder die meisten Formen der Lohnarbeit.
gilt, bedarf weim überhaupt nur die Lohnarbeit der Einbindung
in staatliche Sozialprograimne. Obgleich der sozialstaatliche Kapita
lismus wachsenden Forderungen nach staatlicher Unterstutzung für
Frauen, Kinder, Alte, Kranke und Arbeitsiose hat nachgeben müssen,
gilt den politischen Praktikern und Theoretikern dies mimer noch als
reine Sozialprogrammatik, während die wirkiich politischen Weichen
stellungen im Bereich der Arbeits- und Aulienpolitik erfolgen. Smith
geht davon aus, daB die Soziologie durch ihre Reproduktion der
erkenntnisleitenden Kategorien des Industriekapjtaljsrnus in dessen
Herrschaftsforrn integriert worden ist. (Es ware auch zu fragen, ob der
Marxismus durch seine Tendenz, den eigentlichen Ort des Politischen
der auf den Produktionsberejch eingeengten Okonornie zuzuwei
sen, nicht ebenfalls die Begriffswelt des Kapitalismus reproduziert und
ihr dadurch Schützenhilfe gibt. 9) Dorothy Smiths Argumente lassen
sich auf viele Begriffsstrukturen anderer Sozialwissenschaften über
tragen. Frauen und Manner leben durchaus nicht in einer für alle glei
chermalien einheitlichen Gesellschaft, sondern offenbar in verschiede
nen Welten. Doch nur die der Manner wird von der Sozialwjssenschaft
für die eigentlich gesellschaffliche Welt gehalten.
AI
.4
I
4
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Viertes Kapitel
moglicherweise die einzige Variable in der Geschichte darsteilt, die
wiridich von Bedeutung ist. Es geht ihr nicht urn den Nachweis, daB
biologische Geschlechterdifferenzen den Verlauf der Geschichte be
stimmt haben, sondern urn die Ausarbeitung der Behauptung von
Simone de Beauvoir, daB >>die Frau mcht geboren, sondern gernacht
wird<. Gesellschaffliche Konstruktionen von Sexualität und sozialem
Geschlecht haben dazu geführt, daB Frauen und Männern je verschie
dene Rollen in der Gesellschaft zugewiesen wurden. Auch Manner
werden mithin >>nicht geboren, sondern gemacht<<, und sie sind unver
kennbar Manner im geschlechtsspezifischen Sinn, d.h. keine Reprä
sentanten der >>Menschheit<<. Kelly-Gadol argumentiert, daB der Ge
schichtsverlauf nicht nur durch unverwechselbar männliche Wünsche
und Bedürfnisse, sondern auch durch die gesellschaftlich konstruier
ten Tatigkeiten der Frauen geprägt worden ist. Die Behauptung,
Wesensformen und Tatigkeiten der Frauen seien grundsätzlich biologi
schen, die der Manner dagegen gesellschaftlichen Ursprungs und
daher für die sozialen Strukturen you und ganz verantwortlich, ent
stelit die Frauen, die Manner und die Gesellschaft auf doppelte
Weise. Noch emma! Miliman und Kanter: >>Wenn mànnliche Sozio
logen (oder Manner überhaupt) bei der Sitzung eines ausschlieliuich
aus Männern bestehenden Aufsichtsrats zugegen sind, so denken sie,
daB sie sich in einer geschlechtsneutralen oder geschlechtslosen, nicht
aber einer rnännlichen Welt befinden<< (ebd., XIV). Wenn wir >>ge
schlechtslos<< (sexless) durch ungeschlechtlich<< (genderless) ersetzen,
dann sehen wir das Problem, auf das die Kritikerinnen abzielen:
Frauen (und nur sie) repräsentieren das >>soziale Geschlecht<<, Manner
dagegen (und nur sie) die Kultur.
Fünftens >>können bestimmte (häufig quantitativ orientierte) Metho
dologien und Forschungssituationen (in denen zum Beispiel männliche
Sozialwissenschaftler Bereiche untersuchen, die Frauen einschliefien)
sich der Kenntnisnahme bestimrnter Informationen systematisch ver
schlieBen. Gerade diese Informationen können aber für die Erklärung
des untersuchten Phänornens von höchster Bedeutung sein<< (ebd.,
XV). Sicherlich ist die Kritik an der exzessiven Bevorzugung quantita
tiver Methoden nicht erst mit dein Feminismus entstanden. Neu an der
feministisehen Kritik ist der (bereits erwähnte) Verdacht, daB die Vor
liebe für Variablen anstelle von Personen >>mit einem unerfreulich
ubertriebenen männlichen Stil der Manipulation und Kontrolle in Ver
bindung gebracht werden kann<< (ebd., XVI).
Der EinfluB, den das soziale Geschlecht des Forschenden auf die
Angemessenheit der Forschungsergebnisse ausübt, hat verschiedene
A
F
:
‘
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
95
Dimensionen. Da ist einmal das offensichtliche Problem, daB Manner
aus gesellschaftlichen Gründen zu vielen >>weiblichen<< Lebensberei
chen keinen wirldichen Zugang haben, das gilt für unsere Gesellschaft
ebenso wie für andere Kulturen. Em indirekter Zugang eröffnet sich
ilinen vor allern durch männliche Gewithrsleute, deren Kenntnis dieser
Lebensbereiche begrenzt und durch regionale ideologische Vorstellun
gen gepragt ist. Wenn thnen em direkter Zugang errnoglicht wird, ver
ändert ihre Anwesenheit die Situation, die sie beobachten oder die
Antworten, die thnen gegeben werden, aufeine Weise, weiche über die
für em Interview oder eine Beobachtersituation spezifischen Verzer
rungen weit hinausgeht. Diese Rethe von methodologischen Proble
men erklärt zum Teil, warurn die Sozialwissenschaft sich fast aus
schlieBlich auf offizielle, sichtbare, und/oder darstellungsorientierte
Handlungstrager und -situationen konzenthert, denn (mannliche) Be
obachter haben in erster Linie zu dieser Welt Zugang, und eben diese
Welt und ihre Akteure werden von den männlichen Gewährsleuten in
den untersuchten Kulturen für vorrangig wichtig gehalten.
Die historischen Dimensionen dieses Problems sind Gegenstand
fortwährender Diskussionen in der Anthropologie, denn die idassi
schen ethnographischen Darstellungen stammen in erster Linie von
Männern, die zu >>eingeborenen<< Frauen und ihren Aktivitaten nur
einen auBerst beschränkten und mittelbaren Zugang hatten.
11 Der
gestalt sind die Berichte daruber, wie Frauen wirklich denken und
handein, sehr vie! unzuverlassiger als in bezug auf das Denken und
Verhalten der Manner. Doch auch hier gibt es fragwUrdige Aspekte,
dean die Manner sind ja von der Vergeschlechtlichung nicht ausge
nommen, und es ist aligemein bekannt, daB Manner ihresgleichen an
dere Facetten ihres Denkens, Fühlens und Verhaltens mitteilen als sie
dies Frauen gegenuber tun. Selektive und verzerrte Kommunikation
findet also zwischen Männern ebenso statt wie zwischen Mannern und
Frauen. Alle diese methodologischen Schranken verweisen erneut auf
die Frage nach dem verdachtigen Zusani.menspie! zwischen den von
der Sozialwissenschaft bevorzugten Theorien und Begriffen und
denen, die von Männern aller Kulturen favorisiert werden.
Diese fünf Schlaglichter feministischer Kritilc sollen nicht als you
ständige Liste der Formen und Strukturen mannlicher Verzerrung in
den Sozialwjssenschaften verstanden werden. Unsere kurze Ubersicht
kann bei weitem nicht alle Probleme der Soziologie ansprechen, und die
Psychologie, die Anthropologie, die Geschichts- und Wirtschaftswissen
schaft besitzen ihre je eigenen Methodologien und Themenbereiche, in
denen es auf gleiche Weise zu Verzerrungen und Einseitigkeiten in der
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—
—
Viertes Kapitel
Analyse gesellschaftlicher Strukturen kommt. Doch soilte diese
kurze Skizze für den Nachweis genUgen, daB die Selbstwahrnehmung
der Sozialwissenschaft hinsichtlich ihres Versuchs, wertfrei, objektiv
und leidenschaftslos zu sein, durch die feministische Kritik ernsthaft
in Frage gestelit wird. Es ist, wie ich bereits andeutete, durchaus un
klar, ob diese Probleme einzig und allein daraus resultieren, daB die
Sozialwissenschaft sich in ihren Themenbereichen, in der Vielschich
tigkeit der Variablen und in der geringeren Ausgereiftheit von den
Naturwissenschaften unterscheidet.
Von groBerer Wichtigkeit für diese Studie ist die Tatsache, daB all
diese Probleme in den auserwählten Arbeiten zur Philosophie, Ge
schichte und Soziologie der Naturwissenschaft, d.h. in ihren sozial
wissenschaftlichen Aspekten, ebenso wieder auftauchen wie in den
popularen Auffassungen von Wissenschaft. Auch in den Naturwissen
schaften sind gesellschaftsrelevante Bereiche >>aufgrund der Verwen
dung konventioneller Definitionsmodelle<< Ubersehen worden. Auch
hier haben sich traditionelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen
auf >>öffentliche, offizielle, sichtbare und/oder darstel1ungsorientierte
Aspekte konzentriert, was auf Kosten der vielleicht gleichermaBen
wichtigen >>inoffiziellen, weniger darstellungsorientierten, unsicht
baren, privaten und karitativen Bereiche sozialer Lebensformen<< ge
schah. Auch in bezug auf die Naturwissenschaften wird oft von einer
>>einheitlichen Gesellschaft<< ausgegangen, >>bezuglich derer sich für
alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen verallgemeinernde Behauptun
gen aufstellen lassen, während Manner und Frauen tatsachlich in ver
schiedenen Welten leben können<. GleichermaBen gilt, daB das soziale
Geschlecht >>als Verhaltensfaktor nicht berücksichtigt wird, obwohl es
in explanatorischer Hinsicht zu den wichtigsten Variablen zählen
kann.<< Und schlieBlich können auch in den Naturwissenschaften
methodologische Verfahrensweisen und Forschungssituationen >>sich
der Kenntnisnahme bestimmter Informationen systematisch ver
schlieBen<<, obwohl diese Informationen >>fUr die Erklarung des unter
suchten Phänomens von groBter Bedeutung sein können<<.
im Gegensatz zu den Dogmen des
Mein Argument war, daB
Empirismus für das Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft
die gleichen analytischen Kategorien angewendet werden können, und
daB die Wissenschaft nicht einfach em besonderes Ensemble von Aus
sagesätzen oder eine eindeutig festgelegte Methode darstelit, sondern
sich als eine umfassende Reihe bedeutungstragender gesellschafflicher
Praxisformen erweist. Wenn diese Praxisformen durch das Selbstver
stAndnis geprägt werden, das die Wissenschaft von ihrer Wesensart
S
;
5
L
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
—
—
97
und ihren Zweckbestimmungen hat, dann soilten
entgegen den
empiristischen Dogmen
die von Physik und Chemie produzierten
Behauptungen und Uberzeugungen auf die gleiche Art erklärt werden
wie jene, die aus anthropologischer, soziologischer, psychologischer,
Okonomischer, politischer und historischer’ Forschung resultieren.
Wunde Punkte in der biologischen Forschung
—
—,
Von der Biologie wird angenommen, daB sie (wenigstens dem Prinzip
nach) den sozialen Leidenschaften, deren Wellen am Gebäude der Ge
sellschaftsforschung nagen, weniger ausgesetzt ist. Es ware allerdings
nicht schwierig, der soeben ersteilten Liste von Verzerrungen in der
Sozialwissenschaft etwas für die Biologie Passendes an die Seite zu
stellen. D Doch will ich in diesem Kapitel nicht die umfassende Litera
tur zu männlichen Desorientierungen Revue passieren lassen, sondern
vor Augen führen, daB soiche Verzerrungen vorkommen, und ich
möchte zum Nachdenken über Ursachen und Losungsmoglichkeiten
anregen. Von daher besteht meine Strategie in der Betrachtung einer
erhellenden Analyse jener Schwachstellen, an denen männliche Ver
zerrungen in der biologischen Forschung ihre Wirkung entfalten. Zu
gleich werde ich die wissenschafts- und geschlechtsspezifischen An
nahmen, von denen diese Analyse sich leiten lãBt, kritisch reflektieren.
Es gibt, so wird in der Biologie argumentiert, zwei Arten von Unter
suchungen zur biologischen Geschlechterdifferenz
evolutions
theoretischer und neuro-endokrinologischer Provenienz
deren
Forschungsergebnisse sich auf eine Weise überschneiden, daB die An
nahme biologisch determinierter Geschlechterrollen nicht mehr von
der Hand zu weisen ist. Die feministische Kritik hat sich dieser Unter
suchungen in besonderem MaBe angenommen und dabei auch die mut
mafilichen Implikationen, die sich aus der Uberschneidung der For
schungsergebnisse ableiten, zum Gegenstand der Auseinandersetzung
gemacht. Trafe zu, was die Untersuchungen behaupten, so lieBe sich
das Argument, moralische Erwagungen und aufgeldarte Politik müB
ten der männlichen Vorherrschaft und der Einschränkung weiblicher
Moglichkeiten em Ende setzen, noch schwerer vorbringen als bisher.
Ja, soilte dieser biologische Determinismus sich bewahrheiten, dann
müfite em >>weiblicher Wissenschaftler<< em Widerspruch in sich sein.
(Ich stimme, um hier einmal vorzugreifen, mit dieser deterministi
schen Argumentation darin überein, daB es einen Widerspruch gibt,
doch ziehe ich daraus andere SchluBfolgerungen.)
98
—
Viertes Kapitel
—
Diese Untersuchungen überschneiden sich nun auf folgende Weise.
biologi
Einige NeuroEndokrinOlogefl behaupten, sie könnten die
schen Determinanten menschlicher Verhaltensformen nachweisen.
Von traditionell androzentrisch ausgerichteten Evolutionstheoriefl
ge
wiederum wird erklärt, daB die Wurzeln einiger (vor allem mit der
schlechterspezifiSChen Arbeitsteilung vermachter) menschlicher Ver
haltensformen in der Geschichte der menschlichen Evolution zu finden
aus,
sind Einige hervorragende Wissenschaffler gehen sogar davon
die
daB die heutigen Lebensformen der westlichen Mittelschichten,
den Frauen die Hausarbeit und den Männern die öffentlich-rechtlichefl
HerrschaftspositiOnefl zuweisen, ihren Ursprung im Bündnis des
>>männlichen Jagers<< nut anderen Männern zum Zwecke der Grofiwild
urn
jagd besitzt, derweil die Frauen in der heimischen Höhle blieben,
14
sich der Hege und Pflege der Kinder zu widmen.
—,
-tendenzen zu
>>Wenn diese eher ailgemein beschriebenen Verhaltensformen oder
Verhaltensformen
den von der Neuro-EndokrinOlogie untersuchten spezielleren
wurde em Bild biolo
und -dispositionen in Beziehung gesetzt werden könnten,
entstehen. Evolu
gisch determinierter Universalien menschlichen Verhaltens
biolo
tionstheoretische Untersuchungen wurden die Universalien bereitstellen
Gattungsgeschichte
gische und gesellschaftliche GeschlechterrOllefl, die durch die
wahrend die Neuro-EndokrinOlOgie den bio
hindurch konstant geblieben sind
dieser speziellen
logischen Determinismus untermauert d.h. die Abhängigkeit
HormonausschüttLlng
Verhaltensformen und -dispositionen von der pranatalen
)Th
223
nachweist.<< (Longino und Doell 1983,
Wenn also die tragenden Hypothesen für jeden der beiden Bereiche
der
nicht verifiziert werden können, ist auch thre Verbindung hinfällig:
biologische Determinismus bedarf einleuchtender Argumente sowohi
Verhal
für die Existenz kulturubergreifender geschlechtsspezifischer
tensuniversalien als auch für die im Individuum liegenden genetischen
ist
Ursprünge dieser Verhaltensformen. Keine von diesen Hypothesen
femini
in der Biologie unumstritten gewesen, ob die Kritik daran nun
stisch war oder mcht. Ich werde mich im folgenden auf die evolutions
hier
theoretische Hypothese konzentrieren, weil die Zusammenhänge
dar
kürzer und (für Nicht-Biologinnefl und -biologen) verständlicher
gestelit werden können.
Helen Longino und Ruth Doell geben eine nützliche Ubersicht über
die Schwachstellen, an denen evolutionstheoretische Untersuchungen
können.
dem Vorwurf androzentrischer Einseitigkeit ausgesetzt werden
(und
Ich werde ihre Studie durch die Argumente anderer Biologinnen
Biologen) ergänzen. Aufdiese Weise kann die schematisierte >>Geschich
nur Bei
te<< einer Forschungsrichtung als Leitfaden dienen, der nicht
Hand
spiele für weit verbreitete Formen mannlicher Verzerrung an die
gibt, sondern auch einen genaueren Buck auf den ForschungsprozeB
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
99
und die verschiedenen Möglichkeiten erlaubt, mittels derer kulturell
bedingte Einseitigkeiten die Forschungsergebnisse beeinflussen können.
Longino und Doell zeigen, daB männliche Verzerrungen an verschie
denen Punkten in die evolutionstheoretische wie auch die endokrinolo
gische Forschung eindringen können, wenn es nämlich darum geht,
sweiche Fragen gestelit werden; weiche Arten von Daten verfügbar
und bedeutungsvoll sind und als Beweismaterial für verschiedene
Fragetypen herangezogen werden; weiche Hypothesen als Antworten
auf diese Fragen angeboten werden; wie weit Beweismaterial und
Hypothese in jeder Kategorie auseinanderkiaffen; und, schlieBlich,
wie dieser Abstand überbrückt wird<< (ebd., 210).
Für uns jedoch ist die Analyse von Longino und Doell aus GrUnden
interessant, die über die Dokumentation androzentrischer Angriffs
punkte hinausflihrt. Obwohl sie meinen, daB die feministische Kritik
keinen Unterschied zwischen >>schlechter<< und >>normaler<< Wissen
schaft machen müsse, fassen sie de facto die von thnen dokumentierten
Fälle von Androzentrismus in erster Lime als Beispiele für schlechte
Wissenschaft auf. Sie scheinen zu glauben, daB die methodologischen
Normen der Biologie selbst nicht problematisch sind und Reformen in
diesem Bereich zur Beseitigung des Androzentrismus fuhren können.
Ihre Analyse versteht sich als Widerlegung soicher feministischen
Argumente, weiche die wissenschaffliche Methode an sich für andro
zentrisch beeinfluBt halten.
—
...
In evolutionstheoretischen Untersuchungen geht es urn die Frage
nach der Entwicklung von anatomischen Elernenten und Verhaltens
formen und nach dern Zusammenhang zwischen beiden: Weiche ana
tomischen Entwicklungen haben weiche Verhaltensformen beeinfluBt
und vice versa? Soiche Fragen scheinen nicht besonders androzen
trisch zu sein auBer wenn sie sich auf die Rolle biologisch determi
nierter Geschlechtsdifferenzen in der menschlichen Evolution konzen
trieren. Diese Ausnahme ist allerdings nicht ohne Bedeutung. Longino
und Doell weisen daraufhin, finden siejedoch nicht besonders proble
matisch: >>Einige feministische Kritikerinnen [wie etwa Ruth Hubbard]
haben vorgeschlagen, die ganze Kategorie des ‘biologischen Ge
schlechtsunterschieds’ als Erfmdung zu betrachten, die durch den
Sexisrnus und durch analytische Tendenzen in der Wissenschaft, die
aufUnterschiede statt aufAhnlichkeiten abheben, gestützt worden ist.
In gemäBigterer Form kann argumentiert werden, daB der [in neuro
endokrinologischen Untersuchungen auftauchende] Begriff des ‘Wild
fangs’ (tomboy) einen geringen Unterschied in den Verhaltensforrnen
Aus anderer
junger Mädchen bezeichnet und zugleich mystifiziert.
100
...
Viertes Kapitel
Perspektive könnte eine Bezeichnung für junge Mädchen gefunden
werden, die sich nicht wie em Wildfang benehmen, und man könnte
machen<<
die Determflaflten ihres besonderen Verhaltens ausfindig
ar
(ebd., 226). Alinlich könnten sie in bezug auf die EvolutionstheOrie
gumentieren, daB die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende
Beschrei
Sprache der Brautwerbung, die gewohnlicherWeiSe bei der
bung des PaarungsverhalteflS von Affen und anderen Tieren (wie auch
erset
von Menschen) verwendet wird, durch eine wertfreie Sprache zu
problema
zen ware. Doch wird die Frage der Definition dessen, was
(z.B.
tisch ist und von daher der wissenschaftlichefl Erklärung bedarf
Gegensatz
das Problem des biologischen GeschlechtsUflterSChleds im
dadurch
zu GeschlechterãhflhiChkeiten wie auch GattungsdiffereflZen)
durch
gelost, daB man eine offensichtlicb androzentrisChe Sprache
Biologie
eine für rein deskriptiv gehaltene ersetzt? Könnte nicht die
bedienen
sich einer voffig wertfreien Sprache (wean es sie denn gibt)
ForschungsprOble
mid dennoch in ihrer Auswahl und Definition von
men androzentrisCh sein?
Die für die Beantwortung der anatomischen (und physiologischefl)
Fossiien,
Fragen verfügbaren Daten stammen in erster Lime von
be
wobei wit uber die fruhesten Hominiden mcht sehr viel Material
moderne
sitzen. Doch weisen Longino und Dod darauf hin, daB
Datierungsmethodefl die relativ verläBliche Zuordnung von Fossilien
Datengrundlage
zu einer evolutionärefl Sequenz gestatten. Auch die
korperlicher
für SchluBfolgeruflgen hinsichtlich individueller oder rein
VerbaltensweiSefl (wie Ernahrung und FortbewegUflg) 1st relativ ver
läBlich.
die
Die meisten Kontroversen entzunden sich an den >>Daten, die für
Evolution gesellschaftlich-iflteraktivefl Verhaltens in seinem Verhält
sind
ms zur Entwicklung der menschlichen Anatomie von Bedeutung
drei
(ebd., 212). Die hier für relevant gehaltenen Daten stainmen aus
QuailQuellen: Fossilien (unter EinschluB der >>geschätzten GröBe und
gegen
that der Uberreste in Siedlungsbereichen von Hominiden<<);
gegenwärtig
wärtig existierende Jäger- und sammlergesellschaftefl;
existierende primatengemeinschaften. >>Da es zwischen menschlichen
Unterschiede
wie mcht-menschliChefl PrrniatengrUPpen beträchtliche
Ver
gibt, ist die Bedeutung des in allen diesen Gruppen beobachteten
Homini
haltens für die Rekonstruktion der Verhaltensformen fruher
Das Verhalten gegenwartig
den standigern Zweifel ausgesetzt.
darstellen,
lebender Affen, die keine ursprungliche Gattung mehr
em frag
sondern sich evolutionär weiterentwickelt haben, 1st ohnehin
Vorfahren
wurdiges Modell für das Verhalten unserer hominiden
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
101
(ebd.). Allerdings 1st die Tatsache, daB Affen und Mitglieder moder
ner Jäger- und Samnilergesellschaften sich als entwickelte Gattungen
von den Horniniden unterscheiden, nicht das einzige Problem, wean
man Beobachtungen an Affen als Material für Verailgerneirierungen
über frühe oder moderne menschliche Kulturen benutzt. Longino und
Doell vermerken nicht, daB die meisten Untersuchungen in dieser
Richtung bis in die jtingste Gegenwart durchgeführt worden sind, ohne
daB em BewuBtsein über die Notwendigkeit bestand, androzentrische
Sichtweisen zu vermeiden. Foiglich weisen diese Untersuchungen die
unverkennbare Tendenz auf, in das >>Wesen< und die Sozialbeziehun
gen von Affen rassistische und sexistische Strukturen jener Gesell
schaft(en) hineinzuprojizieren, in denen die Forscher und Beobachter
zu Hause sind.
16 Daruber hinaus kann nicht nur die menschliche
Gattung aus Erfahrungen lernen mid sich Veranderungen der Urnwelt
schopferisch anpassen. Seleictives Sammeln, Interpretieren und Ver
wenden von Daten über Affengemeinschaften ftihrt zur falschen Vor
stellung, daB das soziale Leben der Affen selbst bereits vollig biologisch
determiniert sei, wornit man an der eigentlichen Frage vorbeigeht.
17
—
—
GleichermaBen skeptisch verhalten sich Anthropologinnen gegen
über der Annahme, daB die sozialen Strukturen zeitgenossischer
Jäger- und Saninilergesellschaften die gleichen sind wie die unserer
Vorfahren zu Beginn der rnenschlichen Geschichte. Sie zeigen, daB
selbst die fruhesten Beobachtungen westlicher Forscher dem Irrtum
unterlagen, sie hätten es mit von westlicher Ziviisation völlig unbe
ruhrten Menschen zu tan. Tatsächlich nämlich handelte es sich urn
Gruppen und Gemeinschaften, die bereits zur Ubernalime westlich
kultureller Muster gezwungen worden waren. Eleanor Leacock weist
zum Beispiel darauf inn, daB die von westlichen Forschern des acht
zehnten Jahrhunderts beschriebene Vorherrschaft der Manner in den
Jäger- und Samnilergesellschaften Kanadas eine durch und durch
kunstliche Konstruktion darsteilte, die aus der Kombination zweier
Faktoren resultierte: zum einen waren es androzentrische Erwartungen
seitens der Beobachter (die nicht nur das selektive Sammein und Inter
pretieren der Beobachtungen beeinfluBten, sondern auch das tatsäch
liche Verhalten bestimmten, das die Jager und Sammler den Forschern
vorfiihrten), zurn anderen hatten diese Gesellschaften
aufgrund
ihrer Nachbarschaft zu westlichen Menschen und der daraus resultie
renden Veranderung threr wirtschaftlichen Aktivitäten
bereits ge
wisse Anpassungsleistungen vollbracht.
18 Die Annahme (so Eleanor
Leacock) einer universellen Vorherrschaft der Manner sei falsch, viele
Kulturen wären in bezug auf die Geschlechter egalitar gewesen, bevor
102
Viertes Kapitel
der Westen sic beeinfluBt habe. Dies Argument findet in der Anthro
pologic keine ungeteilte Zustimmung, doch es ist em Korrektiv für die
untersteilte UrsprUnglichkeit auch heutiger Jager- und Sainmler
kulturen.
Was mithin das Sammein, Interpretieren und Verwenden von Daten
Uber die Frühzeit der menschlichen Geschichte angeht, scheinen an
drozentrische Annahmen sehr viel haufiger und gelaufiger zu scm als
der Bericht von Doell und Longino vermuten läBt. Wie viele dieser
Annahmen lassen sich durch alternative Darstellungen und durch die
strengere Beachtung der real existierenden methodologischen MaB
stãbe biologischer Forschung beseitigen? Wohi haben Manner wie
Frauen zur Kritik am Androzentrismus in der Biologic beigetragen,
was aber bedeutet die Tatsache, daB die alternativen Darstellungen von
Forscherinnen stammen, mitten in der zweiten Welle der Frauenbewe
gung?
Longino und Doell weisen daraufhin, daB Feministinnen im Gegen
satz zur Hypothese vom >>männlichen Jager<< eine >>umfassendere und
kohärentere< Theorie entwickelt haben (ebd., 216). Der >>männliche
Jäger*c, so wird behauptet, sei für die Entwicklung von Werkzeugen als
Hilfsmitteln bei der Jagd verantwortlich gewesen. Und genau dieser
(vermutlich auf Manner beschränkte) Werkzeuggebrauch habe die
Entwickkmg des aufrechten Gangs gefordert und in der Folge effek
tivere Jagdstrategien hervorgebracht, die sich threrseits durch groBere
Kooperation mittels Arbeitsteilung zwischen den Jagern ausgezeichnet
hätten. Ferner konnte sich dadurch die GebiBform verändern, denn
nun konnten die Manner aggressives Verhalten demonstrieren, >>indem
sIc nicht mehr die Eckzähne zeigten oder benutzten, sondern mit Ge
genständen drohten und warfen<. Diese Veränderungen führten
wiederum zur Aufnahme energiereicherer Nahrung. Manche Vertei
diger dieser Theorie behaupten, das männliche Jagdverhalten sei der
evolutionäre Ursprung der ‘Männerbünde<< in der heutigen Gesell
schaft, und von daher gäbe es gute evolutionäre Grunde, warum Manncr die Frauen aus ihren wirtschafflichen Aktivitäten (wie etwa der
Wissenschaft) auszuschlieBen suchen. In einer soichen Hypothese er
scheinen Manner als die alleinigen Schopfer des Ubergangs von der
vormenschlichen zur menschlichen Kultur. DarUber hinaus wird der
immense kulturelle Abstand zwischen fruhmenschlichen Kulturen und
dem Industriekapitalismus damit erklärt, daB er ganz und gar aus der
kontinuierlichen Verarbeitung biologischer Jmperative<< resultiere,
die den Mann zur Erschaffung der Kultur getrieben hätten. Die Tatig
keiten der Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft (ausgenommen
I
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
—
—
—
103
—
natürlich die der >>unnatürlichen Frauen<< wie etwa Feministinnen)
werden den Tätigkeiten der >>Weibchen<< in den vormenschlichen Grup
pen zur Seite gesteilt: grundsátzlich besteht
die
so
Behauptung
zwischen beiden kein Unterschied. Diese Art der Darstellung
an
der auch Darwin nicht unschuldig ist
erweckt, wie eine Biologin
vermerkt,
den
Eindruck,
nur
dem
Glücksfall
der
Vererbung des väter
lichen
Genmaterials
auf
Söhne
und
Töchter
sei
es zu verdanken, daB
die heutigen
Manner
sich
nicht
mit
weiblichen
Affen paaren müssen.
So fragt denn
auch
diese
Biologin
im
Titel
eines Aufsatzes, ob nur
Manner der Evolution teilhaftig geworden seien.
20
—
—
—
—
—
—
Longino und Doell diskutieren auch die alternative Hypothese der
weiblichen Sammlerin<<, die von einigen Anthropologinnen eat
wickelt worden ist.
21 Während der männliche Jäger vorwiegend
Werkzeuge aus Stein erfand, haben die Frauen wahrscheinlich bereits
vorher Werkzeuge aus organischen Materialien wie Holzstöcken und
Gräsern entwickelt. Dies sei, so wird vermutet, eeine Reaktion auf den
groBeren, ernahrungsbedingten StreB gewesen, dem Frauen zunächst
in der Schwangerschaft, spater dann während der Stilizeit und bei der
Fütterung der Kleinkinder mit in der Savanne gesammelten Nahrungs
mittein ausgesetzt gewesen sind<< (ebd., 213). Andere Theorien gehen
davon aus, daB die aufrecht-zweifuflige Haltung evolutionsgeschicht
lich zu dem so genannten >>Entbindungsdilemma<< fUhrte: durch diese
Haltung verengte sich der Geburtskanal, während der Gebrauch von
Werkzeugen den selektiven Druck bezuglich der Erweiterung des
Gehirnvolumens und damit auch der SchadelgrOBe verstärkte. Die
Losung dieses Dilemmas bestand darin, die menschlichen Sauglinge
in einem
für Primaten sonst nicht typischen unreiferen Stadium
zur Welt kommen zu lassen. Das wiederum machte eine umfang
reichere
und
längere
Hege
und
Pflege
durch
Erwachsene
die
nicht
notwendigerweise
Frauen
scm
muBten
erforderlich,
woraus
em
moglicherweise verrnehrter
ernährungsbe
dingter
StreB
auf
seiten
der
Frauen resultierte. (Andererseits
ermöglicht
dies
intensive
Stadium
enger Verbundenheit mit Erwachsenen auch eine
irn Vergleich zu
anderen Primatenbabies
umfassendere Sozialisation der Neuge
borenen.)
Diese gynozentrische Auffassung der Ursprünge rnenschlicher Kul
tur zeichnet >>Frauen als Erfinderinnen, die zur Entwicklung soicher
angeblich rnenschlichen Charakterzuge wie groBerer Intelligenz und
Flexibilität rnehr beigetragen haben als die Manner. Frauen haben, so
heiBt es, den Gebrauch von Werkzeugen erfunden, urn sich während
des Sammeins gegen Raubtiere verteidigen zu können, und sic haben
104
Viertes Kapitel
Gegenstände entworfen, die zum Graben, zum Tragen und für die
Nahrungszubereitung dienlich waren<< (ebd.).
Weiche von diesen Geschichten könnte uns nun plausibel erschei
nen? Longmo und Doell weisen darauf hin, daB der >>Abstand zwischen
Hypothese und Beweismateria1< in bezug auf die >>weibliche Samm
lerin<< kleiner (wenn auch nicht sehr viel kleiner) ist als in bezug auf
den >>männlichen Jager<<; d.h. die erste Hypothese wird durch das Be
weismaterial em biBchen besser gestutzt als die zweite (wobei das
Beweismaterial in beiden Fallen unterschiedlich 1st). In jedem Fall
filhrt der Weg vom Beweismaterial zur Hypothese über Verafigemeine
rungen bezuglich des Gebrauchs und der Benutzer und Benutzerimien
von Werkzeugen, und diese Veraligemeinerungen werden durch Ana
logien mit gegenwartig existierenden Sager- und Sarnmlerkulturen ge
stUtzt. Doch sind, wie Longino und Doell bemerken, >das Verhalten
und die sozialen Organisationsformen dieser Völlcer so unterschied
lich, daB sich, je nach der Gesellschaft, die man auswählt, sehr ver
schiedene Bilder des Australopithecus und des Homo erectus ergeben
(ebd., 215). Alle erhalten gebliebenen Werkzeuge sind aus Stein, denn
die organischen Materialien, aus denen viele mutmaBlich von Frauen
verfertigten Werkzeuge bestanden haben, sind natürlich nicht mehr
auffmdbar. Aber auch Frauen könnten Steine benutzt haben,
...
...
>um Tiere zu töten und zu zerlegen, Fell zu schaben, Wurzeln auszugraben,
Samenkapseln aufzubrechen, oder urn zähe Wurzeln und BlAtter fUr die Nahrungs
zubereitung weichzuklopfen. Wenn das weibliche Sammelverhalten als die zen
trale verhaltensbezogene Umstellung verstanden wird, dann sind die Steine em
Beweis dafUr, da6 die Frauen zusätzlich zu den für die Nahrungssarninlung und
-zubereitung bereits in Gebrauch befindlichen organischen Werlczeugen soiche aus
Stein entwickelt haben. Wird dagegen das mannliche Jagdverhalten in den Mittel
punkt geruckt, dann sind die Steine em Beweis dafUr, daB Manner Steinwerkzeuge
Es
erfunden haben, urn sie zur Jagd und Verarbeitung von Tieren zu benutzen.
thrum, ob man einen manner- oder frauenzentrierten Interpretations
geht
ralimen wählt, auf dessen Basis den Daten dann beweisfOnnige Bedeutung zuge
schrieben wird. (Ebd., 215)
aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnten. Woher solite sol
Letztlich gibt es keine Moglichkeit, aus den steinernen Werkzeugfrag
menten überzeugendere Beweise für die eine oder die andere Hypo
these herauszuschlagen. Ebenso wenig laBt sich zusätzliches Beweis
material beibringen, durch das die Wagschalen der Evidenz em wenig
22 Aber wenn wir auch weder
ches Beweismaterial auch kommen?
heute noch vielleicht in Zukunft in der Lage sein werden, die eine
Hypothese zuungunsten der anderen zu bestätigen, so hat doch, wie
Longino und Doell hervorheben, die feministische Kritilc eine nutz
liche Funktion gehabt, indem sie an einer Reihe von Punkten zeigen
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
105
konnte, wie der Androzentrismus die Theorie vom >>männlichen Jager<<
gepragt hat. Die androzentrische Verzerrung äuBert sich unmittelbar
im Interpretationsrahmen der Daten: nur im Rahmen einer Theorie,
die männhiches Verhalten als zentrales Moment der Gattungsevolution
wie auch des Uberlebens jeglicher Gruppe innerhaib dieser Gattung
ansieht, werden die bearbeiteten Steine als unzweideutige Beweise für
das Sagdverhaken von Männern interpretiert.<< (Ebd., 224) Die Ent
wicklung eines akernativen Rahmens >>mag vielleicht nicht das letzte
Wort in der Evolutionstheorje darstellen, doch sie enthUllt die erkennt
nistheoretische Beliebigkeit dieser androzentrischen Annahinen und
weist den Weg zu weniger beschrankten Verstehensweisen mensch
licher Mog1ichkeiten< (225).
...
Longino und Doell bemerken auch, daB >>die Annahme einer gat
tungsübergreifenden Uniformitiit und der Angemessenheit tierischer
Verhaltensmuster äuBerst fragwUrdig ist, wenn sie auf menschliches
Verhalten bezogen werden soll<< (226). Doch weisen sie nicht darauf
bin, daB die besonderen Formen dieser Annahmen in biologisch-deter
ministisch orientierten Darstellungen nicht einfach nur fragwurdig,
sondern androzentrisch zu sein scheinen. Es 1st (wie eine Biologin her
vorhebt) plausibler, anzunehmen, daB Manner mid Frauen sehr viel
mehr miteinander gemein haben als Menschen generell mit Repräsen
tanten anderer Gattungen. Und was die menschliche Gattung insge
saint auszeichnet, ist thre immense Wandlungsfiihigkeit, ihre Erfin
dungsgabe und ihre bewuBte Anpassungsfähigkeit.
Se1bst wenn man einige aus dem biologischen Geschlecht resultierende Verhal
tensformen linden wurde, die alien nicht-menschiichen Primaten oder gar alien
Saugern gemein sind, müBten veraligemeinernde SchluBfolgerungen in bezug auf
menschliches Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse fünf Miilionen Jahre
evolutionärer Entwicklung des menschlmchen Gehmrns ignorieren, deren Ergebnis
eine von anderen Primaten quantitativ wie qualitativ sich unterscheidende GroB
hirnrinde ist. Mitteis ihrer kdnnen wir Begriffe bilden, abstrahieren, symboimsie
ren, verbal kommunizieren, planen, lernen, em Gedächtnis formen. Sie ermdg
licht em unendlich reiches und ständig wandelbares Verhaltensrepertoire, und
befreit uns, wean wir nur wollen, von stereotypen Verhaliensmustern.
Es gibt
bei unseren nächsten Verwandten, den nicht-menschlichen Primaten, kein univer
selles Verhaltensmerkinal oder -repertoire, das als primitiver’ Prototyp oder Vor
läufrr der menschlichen ‘Natur’ untersucht werden könnte. Mehr noch: es gibt
keine menschliche Natur, kein definierbares universell-menschljches Verhaltens
merkmal oder -repertoire, mit Ausnahme unserer enormen Lerntlihigkeit und Ver
ha1tensflexmbijfUt.
23
den, dann lautet die Antwort: >>Männer<<. GleichermaBen waren es
Wenn wir aber (und das ist hier der springende Punkt) fragen, weiche
vergeschIechtlichten Menschen historisch geradezu darauf versessen
waren, sich von Mitgliedern des anderen Geschlechts zu unterschei
ii
106
—
—
Viertes Kapitel
Manner, die sich bemüht haben, gattungsubergreifende Kontinuitäten
zwischen Männern und Männchen bzw. Frauen und Weibchen zu ent
decken. Von daher läBt sich begründeterweise annehrnen, daB die
selektive Konzentration auf eine gattungsubergreifende Gleichheit der
Geschlechter und auf gattungsinterne Geschlechtsunterschiede nicht
nur fragwurdig ist, sondern auch eine deuffich erkennbare Konse
quenz des Androzentrismus darsteilt. Es handelt sich hier ganz sicher
mcht urn em Beispiel für den reinen (d.h. geschlechtsneutralen) Intel
lekt, der naturgeschaffene Forschungsprobleme verfolgt. Diese aus
schlieBliche Konzentration auf gattungsubergreifende Ahnlichkeiten
und gattungsinterne Unterschiede zwischen den biologischen/sozialen
Geschlechtern verdankt sich offenkundig nur dem männlichen Interes
se an der vorgeblichen evolutionaren Differenz zwischen Männern und
Frauen, die den letzteren mimer noch die naturbelassene Seite der
Tatigkeiten zuweist, während die Manner sich weiterentwickelt und es
zu etwas gebracht haben.
Auf diese Weise zeigen Longino und Doell, wie der Androzentrismus
in die Evolutionstheorie Eingang gefunden hat: durch seine Kriterien
zur Auswahl wissenschaftlicher Probleme, durch seine Begriffe und
Theorien, durch seine Methoden der Datensaninilung und -sichtung,
und durch seine Interpretation der Forschungsergebnisse. Wenn nun
wie ich oben schon bemerkte die evolutionstheoretischen Hypo
thesen nicht plausibel sind, dann werden auch die biologisch-determi
nistischen Behauptungen hinfállig, die von der Verbindung dieser
Hypothesen mit denen der Neuro-Endokrinologie abhangen.
Doch soilten diese Androzentrismen nicht mehr sein als nur em Bei
spiel für >>unseriöse Wissenschaft<<? Spiegein sich in ihnen nicht funda
mentale Charakterzuge der modernen westlichen Wissenschaft?
Bevor ich diesem Gesichtspunkt weiter nachgehe, will ich noch auf
eine Art aligemeiner Begriffverwirrung hinweisen, die für alle Ver
suche (etwa der neuro-endokrinologischen Forschung), menschliches
Verhalten auf angeborene Merkmale oder genetische Vererbungsfakto
ren zuruckzuführen, verhangnisvoll ist. Die Kritilc an dieser Art von
biologischem Determinismus weist darauf hin, daB durch genetische
Vererbungsfaktoren Moglichkeitsbereiche festgelegt werden. Weiche
von diesen Möglichkeiten in Verhaltensformen oder -dispositionen
ihren Ausdruck finden, hangt von der Umwelt ab, in der die Gene
situiert sind. >>Verhalten resultiert aus der vielschichtigen und nicht
linearen Kooperation von Genen und Umweltfaktoren, die für ver
schiedene Eigenschaften verschieden ist und sich nicht vorherbestim
24 Es ist also sinnios, die genetischen Komponenten des
men laBt.<<
:
•
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
107
Verhaltens von den umweltbedingten zu trennen und jeweils getrennt
zu diskutieren, wie es der biologische Determinismus tut.
.Angesichts des fehienden Wissens über das Zusammenspiel dieser Komponenten
hinsichtlich aller besonderen Eigenschaften (wie auch hinsichtlich einer einzelnen
beobachtbaren Verhaltensweise Uberhaupt) kann sinnvollerwejse nur danach ge
fragt werden, wieviel von den beobachteten Variationen inije individuellen Verhal
ten durch genetische Paktoren und wieviel durch die Umwelt verursacht wird.
Diese begrenztere Fragestellung sagt nichts über das Verhältnis zwischen geneti
schen und umwelcbedingten Faktoren für das Verhalten selbst aus, und es sagt uns
auch nichts über die Proportion, in der diese Faktoren zur Variationsbrejte anderer
Eigenschaften beitragen.<?
5
S Und selbst wenn wir das Teilungsverhaftnis der Variation für jede be
stimmte Eigenschaft angeben könnten, wUrde uns dies KunststUck
nicht in die Lage versetzen, vorherzusagen, daB das Teilungsverhaltnis
unter veränderten Umweltbedingungen gleich bliebe, weil sich mit
diesen wahrscheinlich auch das Verhäknis von genetischen und Urn
weltfaktoren ändert. >>Wenn man zwei genetisch verschiedene Gruppen
miteinander vergleicht, wird es im Falle auch nur ansatzweise unter
schiedlicher Umweltbedingungen unmöglich sein, zwischen den gene
tischen und den umweltbedingten Ursachen gruppenspezifiseher Ver
haltensdifferenzen zu 26
unterscheiden.<< Bleibt also die Tatsache, daB
die geschlechterbezogenen Verhaltensformen (nicht nur) in unserer
Kultur sich voneinander unterscheiden, und wir grundsatzlich nicht in
:. der Lage sind, die genetischen Ursachen von den umweltspezifischen
zu trennen. Wir können höchstens versuchen, das Zusanimenspiel
zwischen genetischen Vererbungsfalctoren und Umweltbedingungen
fir geschichtlich je besondere Verhaltensformen aufzuzeigen. Doch
cbs unterscheidet sich grundlegenci vom Projekt des biologischen De
terminismus. Wie wir noch sehen werden, sind in bezug auf unsere
Kultur alle Verteidigungslinien zwischen den Begriffen des Mensch
lichen und des
hlichen
Nicht-Mensc
endgultig obsolet geworden. Doch
1st der biologische
us nicht die einzig mogliche Antwort
Determinism
auf diese heraufdammernde Erkenntnis.
27
Unseriöse<< vs. >>normale<< Wissenschaft?
Der Aufsatz von Longino und Doell ist zum Teil auch em Versuch,
cbs Paradox aufzulosen, weiches vielen feministischen Ansätzen
offensichtlich zugrundeliegt. Hdufiger als in den Sozialwissenschaften
steilt die feministische Kritik an der Biologie dan gesamte methodolo
gische Ethos von Objektivität, Wertfreiheit, leidenschaftsloser For
schung usw. in Frage, behauptet aber zugleich, objektive, wertfreie und
I
108
—
Viertes Kapitel
leidenschaftslose Tatsachen über Natur und Gesellschaft vorzubrin
gen. Einerseits haben sich Feministinnen der von Kuhn entwickelten
Argumentationsstrategie bedient und behauptet, daB Beobachtungen
von Theorien, Theorien von Paradigmen und Paradigmen von kultu
rellen Strukturen abhängen, und es von daher keine wertfreien und ob
jektiven Tatsachen gibt und geben kann.
28 Andererseits gelten diesen
gleichen Kritikerinnen ihre alternativen Beschreibungen und Erklä
rungen natürlicher und sozialer Phänomene als tatsachengebunden
oder wahr und nicht einfach als von einer anderen Kultur abhangig.
(Natürlich kann dieser Vorwurf auch gegen Kuhns eigene Analyse vor
gebracht werden.)
Doch gehen Feministinnen nicht von einer explanatorischen Gleich
berechtigung feministischer und androzentrischer Darstellungsweisen
aus (so daB es gleichermaBen vernunftige Grunde gäbe, sich für die
eine oder die andere zu entscheiden), wie auch Kuhn keineswegs be
hauptet, seine Kritik sei ebenso plausibel wie das, woraufsie sich rich
tet. Wir können nicht sowohi die Hypothese vom >>männlichen Jager
als auch die von der >>weiblichen Sammlerin<< für das letzte Wort in der
Evolutionstheorie halten, denn beide widerstreiten einander. Die femi
nistischen Thcoretilcerinnen weisen auf den Androzentrismus der
Hypothese vom >>männlichen Jager<< hin, denken aber, daB thre Dar
stellung keiner ebenso geschlechtsspezifischen Verzerrung unterliegt;
sic ist cinfach plausibler, weil sic den Androzentrismus traditioneller
Darstellungen transzendiert. Und sic behaupten dies ungeachtet der
Tatsache, daB sic (wie sic selbst zugeben) wenigstens zum Teil zu threr
Darstellung motiviert wOrden sind, weil sic cs für moralisch und poli
tisch falsch hiciten, die Tatigkeit der Frauen so abzuwcrten wie die
vorherrschcndc Darstellungsweise cs tat. Jedoch gehen sic davon aus,
daB alic vernünftigcn Wisscnschaftler und Wisscnschaftlerinncn thre
Darstellung aufgrund des Beweismaterials für plausibler halten soil
ten, und nicht deswegen, weil sic fcministischcn moralisch-politischen
Erwägungen entsprang oder weil sic der Tätigkeit der Frauen in der
kulturellen Evolution eincn höheren Wert beiniiBt.
Donna Haraway bringt das Schwankcn des Feminismus zur Sprache,
der die androzentrische Wisscnschaft einmal als >>unseriöse<<, daun
wiedcr als enormale<< Wissenschaft bezcichnet, ohne cinc Lösung für
dies Paradoxon anzubictcn.
29 Longino und Doell abcr denken, daB
wir mcht gczwungen sind, hier eine Entschcidung zu treffen.
)>Wenn sexistische Wissenschaft schlechte Wissenschaft ist und ihre SchluBfolge
rungen aufgrund von unzureichenden Methoden zieht, dann ist damit die Existenz
einer guten oder besseren Methodologie impliziert, die mis von einseitigen und
•
I
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
...
109
verzerrten Schiufifolgerungen befreien wird. Wenn andererseits sexistische Wis
senschaft normale Wissenschaft ist, dann wird uns die beste Methodologie der
Welt nicht vor soichen SchluBfolgerungen bewahren, solange wir keinen Paradig
menwechsel vornelunen.
Die Feministinnen müssen nicht zwischen der Verbes
serung der schlechten und der Verwerfung der gesamten Wissenschaften wählen.
Die Struktur wissenschaffljcher Erkenntnis und die Verfahrenswejsen der Verzer
rtmg sind sehr viel komplexer als jede dieser Antworten es nahelegt.<< (Ebd., 207f.)
Dieser Passage licgt cine unzweifelhaft richtige Einsicht zugrunde: die
feministische Kritik kann cs sich nicht leisten, übcr korrekturbcdürf
tige Beispielc androzcntrischer Verzerrungcn einfach hinwegzusehen,
und es kann auch nicht unser Bcstrcben scm, die Wisscnschaft insgc
samt ad acta zu lcgen. Doch könntc der in vieler Hinsicht so nützliche
Beitrag von Longino und Doell uns glauben machen, daB der Andro
zentrismus in der Wissenschaft lcdiglich aus Unwissen und fehierhaf
ter Argumentation besteht und daB die einscitigcn Auffassungen von
der menschlichcn Evolution verschwindcn, wcnn Biologinnen und
Biologcn anderes Bcweismatcrial in Betracht ziehcn, anderc Argu
mente ins Feld führen und sich ciner anderen Sprache bedicncn. Derlci
kann sicherlich nicht schaden, aber ich möchtc bezweifeln, daB cs zur
Beseitigung des Androzcntrismus führt.
—
—
Das Problem der Analyse von Longino und Docli bcstcht in threr
falschcn Auffassung davon, was unter Biologic und sozialcm Gcschlecht
zu verstehen ist. Sic bcgreifcn die von ihnen kritisicrtc Biologic als
eine Reihe von (androzcntrischcn) Aussagesatzen und methodischcn
Vorgehenswcisen, die nur durch andere Aussagen und Methoden er
setzt werden mUsscn, damit gute Wisscnschaft an die Stclle der
schlechten treten kann. Abcr fugt sich die Evolutionsbiologie nicht
nalitlos in das Gcwebe der in unscrcr Kultur vorhcrrschendcn gesell
schafflichen Projckte em? Zumindest würde eine stabilcre Konzeption
von Biologic durchaus übcrzcugend in dicser Richtung argumcn
tiercn. Jeder Versuch ciner unverzerrten Darstellung wciblichcr Akti
vitätcn und sozialer Geschlechterverhältnjsse wird nicht nur auf unbe
absichtigte Lücken und Entstellungen im Text der Wisscnschaft treffen,
sondern, wichtiger noch, der nahtlosen Einfügung dcr Wissenschaft in
Projekte bcgegnen, die die männliche Vorherrschaft stützen. Für die
Auswahl wissenschaftlichcr Probleme und für die in Anschlag ge
brachten Hypothesen, für die Bestimmung dessen, was als Beweisma
terial gilt und für die Verwendung diescs Materials zur Verifikation
oder Falsifikation von Hypothcsen sind Unwisscnheit und falsche An
nahmcn seitens einzelncr Forschcr und Forschcrinnen ebcnso verant
wortlich wie die gesellschaftlichcn Projekte jener Kulturen, in denen
wissenschafflichc Forschung stattfindet. Die Gcschlcchtcr sind, wic
I
1
JL
110
Viertes Kapitel
ich weiter oben schon betonte, asymmetrisch organisiert: zur Entwiek
lung männlicher Geschlechtsidentität gehort auch die Ubernahme
einer sozialen Rolle, die höher bewertet wird als die der Frauen. Und
wir haben gesehen, daB diese männliche Identität äuBerst bruchig ist.
Während Frauen anscheinend mcht davor entrinnen können, als weib
lich wahrgenommen zu werden, befürchten Manner offensichtlich,
nicht mehr als Manner zu gelten, wenn sie ihre Männlichkeit nicht
fortwährend unter Beweis stellen. So wird der Androzentrismus in der
Biologie durch die (Mannlichkeit bestatigende) geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung ebenso hervorgebracht wie durch die Einbindung von
Kindern in individuelle Geschlechteridefltitätefl und durch die asym
metrischen Bedeutungen von Männlichkeit und Weiblichiceit im Ge
schlechtersymbolisrnUS (oder GeschlechtertoteflhiSrnUS). Solange die
Beseitigung dieser drei Ausdrucksforrnen des sozialen Geschlechts
nicht in Angriff genommen wird, besteht wenig Hoffnung darauf, daB
der Feminismus die Theorie- und Forschungsarbeit in der Biologie
verändern kann. Er kann nicht emma! damit rechnen, daB seine Argu
mente von der Mehrheit der auf männliche Weise vergeschlechtlichten
Biologen als plausibel anerkannt werden. Der Nachweis von MiB
ständen reicht, wie Margaret Rossiter hervorgehoben hat, für ihre Be
30
seitigung nicht aus.
Longinos und Doells Analysen sind, wie auch die von ihnen unter
suchten Arbeiten feministischer Evolutionstheoretikerinflefl, wichtige,
ja notwendige Beiträge zu unserem Versuch, die Wissenschaft zu ent
geschlechtlichen. Doch hangt ihre Kraft, these Aufgabe zu bewaltigen,
von unserer Fahigkeit ab, die GrUnde und Ursachen zu begreifen, aus
denen wir derlei Projekte uberhaupt in Angriff nehmen müssen. 1st es
rnoglich, eine Evolutionstheorie zu entwickeln, die zeigt, wie sich die
rnenschliche Gattung herausgebildet hat, urn! die zugleich den Fehier
des AnthropomorphismUS vermeidet? Vielleicht ist es nicht nur das In
teresse an biologischen >>Gesch1echtsuflterSChiedefl<, sondern an der
menscblichen Evolution selbst, worm sich charakteristisch männliche
kulturelle Intentionen widerspiegein. Noch ailgemeiner gefragt: ist
mcht die Biologie, am Schnittpunkt von Natur und Kultur, zu einseiti
gen Wertungen verdammt? Soilte diese Annahine plausibel sein, dann
haben wir offenbar nur die Wahi zwischen einem fundamentalen kulturellen Relativismus in unseren biologischen Erklarungen (der alle Er
klärungen betrifft, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserer
Geschichte als die glaubwurdigsten erscheinen), oder einer Begriflbestimmung von Objektivität, die in der biologischen Forschung vollig
anders aussieht als in der Physik. Eine Alternative läge (wie oben
[
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
111
angedeutet) darin, die Gründe und Ursachen für jegliche Art von Ob
jektivitat in der Physik zu überdenken.
Longino und Doell haben recht: wir mUssen nicht zwischen unse
riöser Wissenschaft und der Verwerfung von Wissenschaft uberhaupt
wählen, wir haben noch andere Moglichkeiten. Doch urn deren Bedeu
tung erfassen zu können, müssen wir die erkenntnistheoretischen Ge
sichtspunkte des Feminismus aufarbeiten.
Implilcationen
Die weiter oben diskutierten systematischen Verzerrungen scheinen
sich auf den ersten Buck nur in den Sozialwissenschaften und in der
Biologie zu finden, nicht aber in der Chemie, der Astronomie oder der
Physik. Von daher sieht es so aus, als ginge es urn typische Probleme
bei der Untersuchung gesellschaftlicher Phanomene, zu denen auch
gesellschaftlich konstruierte und mit sozialer Bedeutung versehene
Gegenstãnde4< zu zählen wären, während die Erkenntnistheorie oder
die Politik des Wissenschaftsbetriebs im ailgemeinen davon nicht be
rührt scheinen. Doch wenn auch die ausschlieBlich physikalischen
Wissenschaften gegen den Vorwurf des Androzentrismus immun sein
mögen, so bleiben die von diesen Untersuchungen aufgeworfenen Fra
gen für mein Proj ekt von entscheidender Wichtigkemt.
Erstens nämlich gibt es in jenen Forschungsbereichen, weiche von
Anfang an den der Physik zugeschriebenen Grad von ObjektivitAt
angestrebt haben, androzentrische Verzerrungen, die nicht nur ganz
konkret den begrenzten Zugang von Männern zur Welt der Frauen
oder die Unsichtbarkeit gesellschaftlicher Analysen dieser Welt be
treffen. Sie tauchen auch in äuBerst abstrakten und von daher ganz
unschuldig aussehenden Komponenten dieser Wissenschaften auf: in
Konstitutionsmodellen gesellschaftlicher Ordnung und charakteristi
scher kultureller Tatigkeiten; in Annahmen über das Entsprechungs
verhältnis zwischen gesellschaftlichen Akteuren und den ihnen zuge
wiesenen Rollen; in der bis dato unbemerkt gebliebenen und verdäch
tigen Ubereinstimmung zwischen dern kategorialen Rahmen von
Theorien und dem von rnannlichen Gewahrsleuten; in der gleicher
mallen verdachtigen tJbereinstimmung zwischen den Kategorien der
Sozialwissenschaft und denen der Fuhrungspersonlichkeiten des Indu
striekapitalismus; und schlielllich sogar in Annahmen Uber die Bedeut
sanikeit von gattungsinternen Geschlechtsunterschieden und gattungs
überschreitenden Ahnlichkeiten zwischen den Gesch!echtern.
1I
El
112
—
—
—
—
Viertes Kapitel
—
Darüber hinaus wird von feministischer Seite behauptet, daB gerade
jene Ansätze in der Sozialwissenschaft androzentrisch geprägt sind,
weiche die angeblich objektivitätsfördernden Aspekte der physilcali
schen Wissenschaften zum Vorbild nebmen wollen. Die feministische
Kritik an der Sozialwissenschaft hat bereits den Verdacht genahrt, daB
die Konzentration auf quantitative Methoden und Variablenanalysen,
auf unpersOnliche und über die MaBen abstrakte Begriffsschemata
eine ausgesprochen männliche Haltung bezeichnet, die aber zugleich
ihren vergeschlechtlichten Charakterzug zu verbergen weifi. Wenn in
den Sozialwissenschaften die Beschreibung von hierarchischen Struk
turen einfachster Differenzformen gegenuber der Beschaftigung mit
wechselseitig aufemander einwirkenden Beziehungskomplexen den
ist dergleichen dann nicht Aus
methodologischen Vorrang erhält
druck einer androzentrischen Verzerrung, die ebenso in den Naturwis
senschaften auftaucht?
Zweitens tragen Biologie und Sozialwissenschaft die hauptsachliche
Verantwortung für die Verkündung bestimmter heute als falsch und
Auffassungen vom >>Wesen< des
sozial rUckschrittlich erkannter
Weiblichen und Männlichen und der thnen jeweils angemessenen ge
sellschaftlichen Tatigkeit 1st es em Werk des Zufalls, daB viele dieser
biologischen und gesellschaftlichen Theorien während des neunzehn
ten Jalwhunderts in Amerika und Europa entstanden, zu einer Zeit
also, da sich die traditionelle, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
grundlegend wandelte, die Bedeutungs- und Bezugsobjekte der Hetero
sexualität sich verschoben und der Kampf der Frauen für die Gleich
berechtigung in Ausbildung, Beruf und Wahlrecht begann? Inniitten
ahnlicher Veranderungen und Bewegungen sind auch die alternativen
feministisehen Darstellungen entstanden.
Drittens ist die Erkenntnis, daB einfluBreiche Theorien in der Bio
logie und den Sozialwissenschaften ininitten historischer Kämpfe
zwischen den Geschlechtern und als Waffen für diese entwickelt
wurden, schon an sich und in sich interessant. Da jedoch auch die
pbysikalischen Wissenschaften historisch entstandene Formen
kulturelle Artefakte sind, nahrt diese Erkenntnis zugleich den Ver
dacht, daB im Prinzip keine wissenschaftliche Theorie gegen Beein
flussungen mimun ist, ob these nun aus der An/Ordnung des sozialen
Geschlechts oder aus Rassen-, Kiassen- und kulturellen Hierarchien
sich herleiten.
Viertens liegt eine bedeutsame Eigenart der Untersuchungen von
Millman und Kanter wie auch von Longino und Doell in der impliziten
Spannung zwischen den Direktiven für die Reform der existierenden
F.
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
113
Wissenschaften einerseits und bestimmten Annahmen, die der Er
kenntnistheorie dieser Wissenschaften strikt zuwiderlaufen anderer
seits. Aus beiden Untersuchungen geht hervor, daB eine deutlichere
Präsenz von Feministinnen (und nicht einfach >>Frauen<<) bei der
Planting und Durchführung wissenschaftlicher Forschung em urn
fassenderes Bud menschlichen Handeins entstehen lassen würde. DaB
Frauen zu anderen Daten Zugang haben als Manner ist an sich schon
eine wichtige Quelle für die Verbesserung der Wissenschaft. Aber Fe
ministinnen (und männliche Frauenforscher) neigen auch dazu, andere
Fragen zu stellen; sie haben andere Wahrnehmungen und interpretie
ren Daten anders. Darüber hinaus propagieren beide Untersuchungen
die positive Auswirkung wenigstens einiger Formen politisierter For
schung. Millman und Kanter bemerken zu Beginn ihres Aufsatzes:
...
>Soziale Befreiungsbewegungen
ermoglichen es den Menschen, die Welt aus
einer unifisssenderen Perspektive zu erblicken, weil sie die der Erkenntnis und Be
obachtung hinderlichen Tarnungen und Scheuklappen beseitigen. Keine andere
soziale Bewegung des letzten Jahrzehnts hatte einen so uberraschenden und folgen
reichen EinfluB auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt sehen und in thr
handein, wie die Frauenbewegung.
Dinge, die immer dagewesen sind, jedoch
früher keinerlei Beachtung gefunden haben, können wir heute sehen und mühelos
daruber sprechen. Tatsächlich kommt man heute nicht daran vorbei, Eigenschaften
des sozialen Lebens wahrzunehmen, die noch vor zehn Jahren vollig unsichtbar
waren.< (Milman und Kanter 1975, VII)
Implizit unterstützen Longino und Doell diese Analyse, indem sie fort
während Ausdrücke wie >>feministische Biologinnen<<, *feministische
Kritikerinnen<<, >>alternative Darstellungen von Feministinnen<< be
nutzen. Hauptsächlich wollen sie zeigen, daB wir mcht mit der Wahi
zwischen >>unseriöser< und >normaler<< Wissenschaft konfrontiert sind.
Doch indem sie davon ausgehen, daB die ethischen und politischen
Impulse der Frauenbewegung (des >>Feminismus<<) wenigstens teil
weise für die umfassendere und kohärentere Theorie der >>weiblichen
Sammlerin<< verantwortlich sind, unterstutzen sie eine wissenschaft
liche Forschungslogik, die der von traditionellen Darstellungen vertre
tenen diametral entgegengesetzt ist. Wie ich bereits bemerkte, gehen
die zeitgenossischen Uberreste traditioneller Wissenschaftstheorie
vom Unterschied zwischen Entdeckungskontexten und Rechtferti
gungskontexten aus; das Erkenntniswachstum, so wird angenommen,
vollzieht sich ausschlieBlich mittels rigoroser Begründungs- und
Rechtfertigungsverkhren. Doch die von uns herangezogenen Unter
suchungen legen nahe, daB politische Forschungsmotivationen einen
groBeren EinfluB auf das, was als begründete Annahme gelten darf,
ausUben, als alle angeblich wertfreien methodologischen Reflexionen.
Immerhin sind diese Motivationen das entscheidende Kriterium dafür,
I
q
114
—
—
Viertes Kapitel
—
weiche Hypothesen dem Rechtfertigungsverfahren ausgesetzt werden,
und sie spielen eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Konstitutions
merkmale für em rigoroses Verfahren. Einen wichtigen Ursprung
androzentrischer Verzerrungen in der Biologie und den Sozialwissen
schaften bildet der Entdeckungskontext, d.h. die Auswahl und De
finition der Forschungsprobleme. Worm besteht die erwünschte
Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik, wenn nicht in der you
standigen Trennung der beiden Bereiche, wie sie von Anhangern der
Wissensehaft prokiamiert wird? 1st die Entstehungsweise wissen
schafflicher Behauptungen sowohi in praktischer wie prinzipieller
Hinsicht em wichtiger Faktor für die Legitimitat ihrer Begrundungen?
Das heilit, erhalten diese Behauptungen thre Legitimation auch auf
grund ihres gesellschaftlichen Urspnings? Und solite dieser Ursprung
danu nicht em Faktor sein, der in ihren Recbtfertigungskofflext em
geht? 1st es unvernUnftig, anzunehmen, daB aus rassistischen und sexi
stischen Projekten resultierende Behauptungen wissenschafflich von
sind als solche aus
geringerem Wert weil weniger >>realitätsnah<<
antirassistischen und antisexistischen Projekten? Die gelaufigen wis
senschaftlichen Erkenntnistheorien weisen derlei Annahmen explizit
zuruck.
Fünftens und letztens ist die Naturwissenschaft selbst em gesell
schaftliches Unternehmen, und von daher erfordert em angemessenes
Verständnis der Wissenschaftsgeschichte und direr Geschlechterpoli
tik eine angemessene Philosophie der Sozialwissenschaften die sich
aflerdings nicht aus der Tendenz ergibt, das Problem in der Verbesse
rung und Reform *schlechter Wissenschaft< zu sehen.
Wit haben bereits gesehen, dali selbst die >>am wenigsten bedroh
lichen<< feministischen Herausforderungen, die Malinahmen zur Anti
diskriminierung, darauf verweisen, dali wirkliche Gleichberechtigung
eine radikale Rückuahme der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung
und Stereotypisierung wie auch der defensiv-labilen mannlichen Iden
that erfordert. Vielleicht bedarf es der volistandigen Beseitigung des
sozialen Geschlechts (und damit der Geschlechterhierarchie) in den
wissenschaftsproduzierdnden Gesellschaften. Und es besteht der drin
gende Verdacht, dali die nächste Herausforderung des Feminismus, die
Beseitigung androzentrischer Verzerrungen in der Sozialwissenschaft
und der biologischen Theorie und Forschung, eine fundamentale
Transformation von Begriffen, Methoden und Interpretationen in diesen Bereichen ebenso notwendig macht wie eine kritische Untersu
chung wissenschaftlicher Forschungslogik. All dies geht über blolie
Reformen weit hinaus.
;
;
—
Androzentrismus in der Biologie und den Sozialwissenschaften
—
115
Wenn man die von der eFrauenfrage<< ausgehende Kritik so versteht,
daB sie lediglich für Reformbestrebungen in der wissenschafflichen
Praxis eintritt, dann sieht man, daB Frauen hier als Gruppe mit beson
deren Interessen begriffen werden, deren Bedürfnisse
ähnlich wie
bei Kindern, Behinderten und Bauern
übersehen worden sind und
die zu befriedigen eine demokratische Gesellschaft die moralische
(nicht aber erkenntnistheoretische) Pflicht hat. Vielleicht wird die von
uns untersuchte feministische Kritik so dargesteilt und wahrgenom
men, weil eine auf Interessengruppen bezogene Politik in unserer Ge
sellschafl eine anerkanute und legitime Form politischen Handeins
und Verhandeins ist. Eiue solche Politik geht davon aus, daB Indivi
duen, die nun einmal je eigene Interessen verfolgen, in einer pluralisti-.
schen Gesellschaft em moralisches und politisches Recht aufAnerken
nung haben, wofern sie nicht den Umsturz der Ideen und Institutionen
dieser demokratisch-plurauistischen, von Interessengruppen bestimm
ten Politik verkünden. Und da die Wissenschaft solchen Idealen offen
sichtlich hold und geneigt ist, wird die von der >>Frauenfrage<< ausge
hende Kritik nicht als Herausforderung des politischen Modells von
Wissenschaft empfunden.
Doch wenn man so denkt, dann mull der geschichtsnotorische
Widerstand des wissenschaftlichen Establishments gegen diese femini
stische Kritik rätselhaft erscheinen. Verdankt er sich einfach einer
Abneigung dagegen, vertraute Verhahensmuster aufzugeben und die
Begriffe und Theorien fahren zu lassen, zu deren Verteidigung die
Manner in die Laufbahn gestiegen sind? Oder steht mehr aufdem Spiel
als die Karriere?
Diese Art zu denken entstellt auch die feministischen AnsprUche
und Behauptungen. Feministinnen argumentieren nicht dahingehend,
daB antisexistische Theorie, Forschung und Politik em gleiches Recht
darauf haben, neben sexistischer Theorie, Forschung und Politik als
legitim oder wünschenswert anerkanut zu werden. Sie treten nicht
daflir em, daB Frauen das zweifethafte Geschenk zuteil werden soilte,
welches in der Erlaubnis bestünde, an der Seite von Kollegen und
innerhalb institutioneller Normen mid Praxen zu arbeiten, die offen
sichifich sexistisch sind. Ebensowenig geht es ilinen darum, daB
Frauen >Männer werden<<, d.h. mãnuliche PersOnlichkeitsformen und
Lebensmuster übernehmen soilten, urn wissenschaftlich tatig sein zu
können. Sie argumentieren nicht, daB antisexistische und sexistische
Problemstellungen, Begriffe, Theorien, Methoden und Interpretatio
nen als wissenschaftlich gleichwertmg angesehen werden soilten. Sie
argumentieren aullerhaib einer derartigen pluralistischen Politik, und
I
4
I
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4
Li
ill
frif
i
116
Viertes Kapitel
—
zwar aus Grunden, die einleuchten soliten. Sexistische Wissenschaft
ist moralisch und politisch fàlsch, weil sie jene Wünsche und Inter
essen von Männern unterstUtzt, die nur auf Kosten der Frauen als
Gruppe befriedigt werden können. Individuen sind nicht durch die
Gnade eines biologischen Schopfungsaktes Manner oder Frauen; sie
werden durch aufweisbare gesellschaffliche Prozesse als Geschlechter
konstituiert. Uberdies ist dieser Pluralismus wissenschaftlich fälsch,
weil er tatsächliche Gesetzmäfligkeiten und zugrundeliegende Kausal
strukturen in den gesellschafflichen Verhältnissen wie in den Bezie
hungen zwischen Mensch und Natur verdeckt. 1st die auf Interessen
gruppen gerichtete Politik der Wissenschaft em Hindernis für em an
gemessenes Verständnis von Natur und Gesellschaft?
Das alles heiBt naturlich nicht, da1 jede Behauptung, die eine Frau
aufstellt oder jeder Anspruch, der im Namen des Feminismus erhoben
wird, automatisch em höheres Mali an politischer und wissenschaft
licher Legitimation besitzt als die auf andere Art entstandenen Auffas
sungsweisen. Tatsächlich ist es in dçn meisten konkreten Fallen sehr
schwierig zu entscheiden, weiche Behauptungen am ehesten durch
moralische und politisehe. oder durch wissenschaftliche Gründe und
Beweise gestützt werden. Und für das, was eine Behauptung im Prin
zip an Gründen und Beweisen auf sich versammein kann, ist das sozia
le Geschlecht der Person, die diese Behauptung aufstellt, oftmals ohne
Belang. Scbliefflich haben viele Manner zur feministischen Theorie
und Politik ihrer Epoche Aulierordentliches beigetragen (man denke
an Plato, Karl Marx, John Stuart Mifi, Frederick Douglass, und an die
vielen Zeitgenossen, die als Gelehrte feniinistisch orientiert sind),
während zumindest einige Frauen beruchtigte Beiträge zu sexistischer
Theorie und Politik geleistet haben (wie etwa Anita Bryant, Marabel
Morgan und Phyllis Schiafly). Und wiewohi ich den Ausdruck >Femi
nismus< hier so verwendet habe, als würde er einen monolithischen
Block von Uberzeugungen und Praxisformen bezeichnen, so sieht
doch die Wirklichkeit anders aus: zwischen den Feministinnen gibt es
bedeutsaine Unterschiede hinsichtlich dessen, weiche Analysen und
Praxisformen als wünschenswert und geeignet angesehen werden (Un
terschiede, die grofltenteils eine wichtige Ressource für zukunftige
Theorie und Politik bilden). Doch wenn wir uns zu unserer Zufrieden
heit davon uberzeugt haben, daB eine feministische Behauptung hin
reichend durch Grunde und Beweise gestützt wird, dann soilte diese
und nicht
Behauptung ihren androzentrischen Widerpart ersetzen
gleichrangig mit ihm koexistieren.
Wenn die feministische Kritilc nicht langer als Forderung angesehen
werden kann, die von den Sozialwissenschaften und der Biologie eine
Androzentrisinus in der Biotogie und den Sozialwissenschaften
—
—
—,
117
rigorosere Beachtung ihrer eigenen Vorschriften für objektive, wert
freie Forschung verlangt da diese Vorschriften selbst dem Verdacht
des Androzentrismus ausgesetzt sind
dann hat die feministische
Forschung ihre Anspriiche und Behauptungen offensichtlich auf em
Pradoxon gegrftndet. Zweifellos hat eine wissenschaffljch rigorosere
und objektivere Forschung jenes Beweismaterial zu Tage gefOrdert,
aufgrund dessen der Vorwurf des Androzentrismus erhoben werden
kann
doch ebendieselbe Forschung suggeriert, dali diese Art von
Rigorositat und Objektivität androzentrisch ist! Aus diesem Paradox
erwächst die Frage nach der Wissenschaft im Feminismus.
9
A
118
Fünftes Kapitel
Natürliche Ressourcen
Oder: Woher bezieben die vergeschlechtlichten
Wissenschaften ihre moralische Unterstützung?
—
—
Feministische Kritikerinnen haben die Tatsache problematisiert, daB
die Wissenschaft mehr als drei Jahrhunderte lang sowohi implizit als
auch explizit die Geschlechterpolitik als moralische und politische
Ressource für ihren eigenen Aufstieg benutzt hat. GleichermaBen
problembeladen ist die Erkenntnis, daB die an Geschlechterpolitilc In
teressierten threrseits sich fortwährend der Wissenschaft bedient
haben, urn die Unterdrückung der Frauen mit der Weihe des Natur
gegebenen zu versehen. Diese Art von gegenseitiger Unterstützung
findet sich auch in der symbiotischen Beziehung zwischen Rassismus,
Kiassenhierarchie und Wissenschaft.
In diesem Kapitel will ich zeigen, wie eine Form der Geschlechter
politik der GeschlechtersymboliSmUS Ressourcen für den morali
schen und politischen Aufstieg wissenschaftlicher Erkenntnisweisen
bereitgestellt hat, und wie die Wissenschaft threrseits moderne Formen
des GeschlechtersyrnbolismUs befórdert hat. Im weiteren Fortgang
soliten wir uns daran erinnern, daB der GeschlechtersymboliSrnUS
immer durch tatsächliche geschlechtsspezifische Arheitsteilungen
oder durch die Bedrohung derselben in seiner Wirkungsweise unter
stützt worden ist. Zudem steht er in vielschichtiger Beziehung zu mdi
viduellen biologischen und sozialen Geschlechteridentitäten und zu
vorgeschriebenen Verhaltensweisen. Das heiBt, der Geschlechter
symbolismus spiegelt die Arbeitsteilungen oder die biologischen und
gesellschaftlichen Geschlechteridentitäten in einer Kultur kaum je
mals verzerrungsfrei wider. Damit die Leserinnen und Leser nicht im
Verdachtbelhngen bleiben, der hier diskutierte Geschlechtersymbolis
mus sei in Wirklichkeit einfach em empirisch bestatigter Bericht uber
die Welt, wie sie ist, werde ich auch anhand neuerer wissenschafflicher
Literatur zeigen, daB nicht nur das Geschlecht sozial konstruiert ist,
sondern auch viel von dern, was gewöhnlich als >>biologischer Ge
schlechtsunterscbied<< bezeichnet wird.
I
I
Naturliche Ressourcen
Solite man Wissenscbaftsgeschichte und -theorie
durchleuchten?
—
—.
119
Diese Frage’ verliert ihren leicht scherzhaften Beildang, wenn wir uns
die Metaphern und Modelle der Geschlechterpolitik anschauen, mit
tels derer Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker erklärt haben,
wie wir aile über Natur und Forschung denken soilten. Beispiele für
Geschlechtersymbolisierungen tauchen im ailgemeinen in den Margi
nalien and Nebenbemerkungen von Texten auf
dort, wo Autoren
jene Annahmen und Uberzeugungen unverhüllt aussprechen, von
denen sie glauben, sie müfiten sic nicht verteidigen und würden sie mit
ihrer Leserschaft teilen. Diese Annahmen gehen in die Richtung, daB
die Leserschaft solcher Texte aus Männern besteht, daB Wissenschaft
ler und Philosophen Manner sind und daB die besten wissenschaft
lichen Tatigkeiten und philosophischen Denkweisen nach dem Vorbild
höchst misogyner Beziehungen von Männem zu Frauen geformt werden
soilten
Vergewaltigung, Folter, Mätressentum, Mutterschaftsideo
logic. Wir werden uns zuerst einige Beispiele aus der Wissenschafts
geschichte ansehen und uns dann Kommentaren zeitgenossiscber Ver
treter aus Wissenschaft und Philosophie zuwenden.
Bilder aus der Geschichte
—
Die gegenwärtige Wissenschaft prasentiert uns ihre Konzeptionen von
Natur und Forschung als Wahrheiten, die bei der Entstehung der moder
nen Wissenschaft entdeckt worden sind als objektive, universell gui
tige Reflexionen der Natur and der Methode, zu eindeutigen Beschrei
bungen und Eridarungen zu gelangen. Jedoch weist die Geschichts
schreibung darauf hin, daB diese Konzeptionen sich im Lauf der Zeit
gewandeit haben und zudern durch die in geschichtlich nachweisbaren
Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern verwendeten poli
tischen Strategien in hohem MaBe beeinfluflt worden sind. Die Ge
schlechterpolitik hat Ressourcen für den Aufstieg der Wissenschaften
bereitgestellt und die Wissenschaft Ressourcen für die Forderung
männlicher Herrschaft. Ich habe weiter oben schon auf diesen Ge
sichtspunkt hingewiesen, als ich fragte, oh die Entwicldung der
Sexualwissenschaft im unmittelbaren Gefolge der Frauenbewegung
des neunzehnten Jahrhunderts nichts als em reiner Zufail gewesen sei.
Diese historisehen Untersuchungen weisen eine Anzahl von Pro
blemen auf. Eine Quelie dieser Probleme entspringt aus der mystifi
zierenden Sozialphilosophie, an der sic sich orientieren, und hier sind
es vor allem irreführende Auffassungen bezuglich der volistandigen
a
Th
1.
120
FunftesKapitel
>>Lebensgeschichte<< der Rolle, die die Metapher in wissenschaftlichen
Erldarungen spielt. Eine weitere Queue bilden die unangemessenen
geschichtlichen Darstellungen, die wenig über Geschlechterverhält
nisse aussagen, und noch weniger darüber, wie das kulturelle Umfeld
(eingeschlossen die jeweils zeitgenossischen wissenschaftlichen
Denker) Veranderungen in diesen Verhältnissen erfuhr, wahrnahm und
darauf reagierte. Die von feministischen Kritikerinnen hervorgehobe
nen fünf Hauptprobleme, die mit den Begriffsschemata vermacht sind
(siehe das vorige Kapitel), kontaminieren das Historikern heute zu
gangliche Quellenmaterial. Ungeachtet soicher Mängel verbessern
diese Untersuchungen unsere Wahrnehmung des Stellenwertes, den
die Wissenschaft in der jeweiligen Gesellschaft besitzt.
Em Phänomen, auf das sich feministische Historikerinnen konzen
triert haben, sind die Vergewaltigungs- und Foltermetaphern, die sich
in den Schriften von Francis Bacon und anderen begeisterten Anhän
gem der neuen wissenschaftlichen Methode (wie etwa Machiavelli)
finden lassen. Bei traditionsorientierten Historikern und Philosophen
heiBt es, diese Metaphern seien für die wirklichen Bedeutungen und
Referenzobjekte wissenschafflicher Begriffe seitens derer, die sie be
nutzt haben und seitens der Leserschaft, für die sie schrieben, ohne
Bedeutung. Doch wenn es darum geht, die Natur als eine Maschine an
zusehen, lautet die Analyse ganz anders: hier namlich soll die Meta
pher den Interpretationsrahmen für Newtons Gesetze der Mechanilc
bilden: sie führt den Forscher zu fruchtbaren Anwendungsweisen
seiner Theorie und legt ihm die angemessenen Forschungsmethoden
wie auch die von der neuen Theorie in Anschlag gebrachte Metaphysik
2 Doch warum sollen wir annehmen, daB mechanistische Meta
nahe.
phern eine grundlegende Komponente der von der neuen Wissenschaft
entwickelten Erldarungsweisen gewesen sind, geschlechtsspezifische
Metaphern aber nicht? Eine in sich schlussige Analyse würde die Folge
rung erlauben, daB eine Sichtweise, die die Natur als eine der Vergewal
tigung gleichgultig gegenuberstehende (oder sie sogar begruBende) Frau
entwirft, für die Interpretationen dieser neuen Konzeptionen von Natur
und Forsehung gleichermaBen grundilegend gewesen ist. Es läBt sich
vermuten, daB auch diese Metaphern in pragmatischer, methodologi
scher und metaphysischer Hinsicht fruchtbare Konsequenzen für die
Wissenschaft gezeitigt haben. Und warum ist in diesem Falle die Be
zeichnung >>Newtons Handbuch der ergewa1tigung<< für Newtons Ge
setze nicht ebenso erheflend und ehrlich wie >>Newtons Mechanik?
Wir können daran sehen, daB Metaphern der Geschlechterpolitik
benutzt wurden, urn die neuen Entwürfe von Natur und Forschung, die
Natürliche Ressourcen
121
von der experimentellen Methode und der Technikentwicklung der
damaligen Zeit benotigt wurden, moralisch und politisch attraktiv zu
machen. Die im Mittelalter vorherrschende organische Auffassung
von der lebendigen, Gottes Reich zugehorigen Natur war weder für die
neuen Experimentalmethoden noch für die technischen Anwendungs
formen der Forschungsresultate zu gebrauchen. Carolyn Merchant be
zeichnet fünf Veranderungen in den europäischen Denk- und Erfah
rungsweisen, die sich vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhun
dert volizogen und den charakteristischen Geschlechtersymbolismus
des in der Folge sich entwickelnden wissenschaftlichen Weitbildes mit
geprägt haben.
3
—,
—
Erstens. Als die kopernikanische Theorie das geozentrische durch
das heliozentrische Universum ersetzte, trat damit auch em andro
zentrisches Universum an die Stelle eines gynozentrischen. Für die
organische Naturauflhssung der Renaissance und früherer Denkweisen
verband sich die Sonne mit Männlichlceit und die Erde mit zwei ent
gegengesetzten Aspekten von Weiblichkeit. Einerseits wurde die Natur
(und besonders die Erde) mit einer nährenden Mutter identifiziert
mit einem >>freundlichen, wohiwollenden weiblichen Wesen, das für
die Bedürfnisse der Menschheit in einem geordneten und geplanten
Universum Sorge trug<<
andererseits galt sie als die >>wilde und un
kontrollierbare [weibliche] Natur, weiche Gewalt, Stürme, Dürren
und ailgemeines Chaos verbreiten konnte<< (Merchant 1980, 2). In der
kopernikanischen Theorie wurde die weibliche Erde, von Gott eigens
für die Bedürfnisse des Menschen (man) geschaffen, zum winzigen,
von auBen bewegten Planeten, der seine unbedeutende Kreisbahn urn
die männliche Sonne zog.
Zweitens. Platos Kosmologie band die tätige Kraft im Universum an
die lebendige, nährende Mutter Erde, der Aristotelismus dagegen setz
te das aktive mit dem männlichen, das passive mit dem weiblichen
Prinzip gleich. Diese Auffassung war für die aristotelische Naturtheo
tie von zentraler Bedeutung und erlebte in den Kosmologien des sech
zehnten Jahrhunderts ihre Wiedergeburt: >>DaB die ‘materielle’, weib
liche Erde mit dem männlichen, höherstehenden und ‘immateriellen’
Himmel sich vermählt und durch ihn geschwängert wird, war eine
Standardbeschreibung für biologische Fortpflanzung in der Natur.<<
Kopernikus selbst bedient sich dieser Metapher: >>Unterdessen emp
fiingt die Erde von der Sonne und tragt einmal im Jahr Nachkommen
schaft aus<< (ebd., 7). Die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit
darüber, ob es moralisch angemessen sei, Mutter Erde so zu behandein,
wie neue kommerzielle Tatigkeiten (z.B. der Bergbau) es forderten
1j
Ich wies bereits daraufhin, daB diese Art der Analyse eine Reihe von
Problemen und Herausforderungen enthält, von denen wir einige in
den nächsten Kapitein untersuchen wollen. Offensichtlich aber gibt es
Gründe genug, sich mit den intellektuellen, rnoralischen und politischen
...
FUnftens. Die aus Politik und Recht entiehnten Metaphern der
wissenschafflichen Methode entstammen zumindest teilweise den
Hexenprozessen der Zeit Francis Bacons. Dessen Schirmherr war der
englische Konig Jakob I., der die Gesetzgebung gegen Frauen und
Hexerei sowohi in England wie in Schottland entscheidend förderte. In
den Verhören wurden die der Hexerei beschuldigten Frauen geradezu
obsessiv über ihre sexuellen Praktiken befragt; verschiedene Folter
methoden dienten dazu, herauszufinden, ob sie den Teufel >>fleischlich
erkannt<< hätten. In einer an semen Herrscher gerichteten Passage be
dient sich Bacon kilhner sexueller Bilder, urn zentrale CharakterzUge
der experimentellen Methode als inquisitorische Befragung der Natur
zu erldären: >>Denn
man
muB
der
Natur
bei
thren
Irrungen
folgen
und
ihr gegebenenfalls nachstellen,
und
das
ist
moglich,
wenn
man
sie hin
terher an den selben Ort zuruckführt und dorthin treibt.
Man soilte
auch keine Skrupel haben, jene Höhlen und Nischen zu betreten und
zu durchforschen, wenn das einzige Ziel dabei die Erkundung der
Wahrheit ist<< (ebd., 168). Es rnag für die rnodernen Leserinnen und
Leser nicht unmittelbar ersichtlich sein, daB Bacon auf diese Art die
Notwendigkeit aggressiver und kontrollierter Experimente erklart,
mittels derer die Forschungsresultate wiederholbar gernacht werden
können!
123
Naturliche Ressourcen
Funftes Kapitel
122
Teilnahme der Frauen am öffentlichen Leben als Drohung tiefer und
weitreichender Veranderungen in den Geschlechterverhältnissen
wahrgenommen wurde. Frauen waren in der nordeuropaischen Refor
mationsbewegung tatig und Elisabeth I. regierte England langer als
alle Herrscher vor ihr. Die Einbildungskraft der Renaissance mufite
keinen groflen Sprung tun, urn alle Unordnung in Natur und Gesell
schaft mit den Frauen in Verbindung zu bringen; die organische Kos
mologie hatte den Boden dafur bereitet, indem sie die wilde und ge
walttAtige Natur mit einem Aspekt des Weiblichen assoziierte, zudem
fehiten Mare Unterscheidungen zwischen natUrlichen und gesell
schaftlichen Phãnomenen. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
war die Verbindungslinie in den Lehren über Hexenwesen und Zaube
rei endgUltig gezogen worden. Nun wurde den Frauen eine >>Methode
der Rache und Kontrolle<< zugeschrieben, >>derer sich physisch wie ge
sellschaftlich machtlose Personen in einer Welt bedienen konnten, von
der fast jeder annahm, sie sei organisch und belebt<< (ebd., 140).
—
‘1
und erforderten, machen den Widerstand gegen die Verschiebung in
der gesellschafflichen Bedeutung von Weiblichkeit sichtbar. Doch als
der Aufstieg der modernen Wissenschaft und ihrer technischen An
wendungsmoglichkeiten den >>Eingriff in den Korper<< der Erde zu
einer imnier alltaglicher werdenden Erfahrung machte, gingen die von
der älteren organischen Weltanschauung erhobenen rnoralischen Sank
tionen gegen soiche Vorgehensweisen allmähuich den Weg alles Irdi
schen. Zugleich wurde em Kriterium geschaffen, mit dessen Hilfe das
Belebte vom Unbelebten gesondert werden konnte. (Diese Unterschei
dung ist em theoretisches Konstrukt der modernen Wissenschaft, das
vor ihrem Entstehen den Menschen nicht als etwas durch die Beobach
tung Gegebenes vertraut war. Und sie entfremdet sich, wie wir sehen
werden, dem >>Alltagsverstanth in zunehmendem Mafie.) Dies Kriterium
machte die >>weibliche<< Erde zur passiven, unbewegten Materie, die
der Erforschung und Ausbeutung ihres Inneren gleichgultig gegen
übersteht.
—
Drittens. Das neue, von der Wissenschaft erschlossene Universum
die mit Unordnung, Verfall und
war eines, in dern Veranderung
>>Verderbtheit< in Zusammenhang gebracht wurde nicht nur auf der
Erde sich volizog, wie es die ptolemäische Zweiweltentheorie nahe
legte, sondern auch den Himmel betraf. Für die Schriftsteller der
Renaissance und der elisabethanischen Zeit barg diese Entdeclcung die
Moglichkeit, daB die Ordnung der Natur zusammenbrechen und das
Schicksal der Menschheit dem Chaos anheimgeben könne (ebd., 128).
Das Denken der damaligen Zeit ist geprägt von der Wahrnehmung
einer ungebandigten, wilden Natur, die sich gegen den Versuch des
Menschen (des Mannes), sein Schicksal zu meistern, erhebt. Machia
velli bediente sich sexueller Metaphern, urn zu zeigen, daB die Macht
des Schicksals niedergerungen werden könne: >>Fortuna ist eine Frau,
die, will man sie bezwingen, mit Gewalt erobert werden muB, und sie
läBt sich durch Ktilrnheit eher bezwingen als durch kuhles Vorgehen.
Und weil sie eine Frau ist, schätzt sie die Jugend, denn diese ist weni
ger vorsichtig und ungestürner und bezwingt sie mit groflerem Wage
mut<< (ebd., 130).
Viertens. Unordnung herrschte nicht nur mm physikalischen Kosmos,
sondern auch in den gesellschafflichen Verhältnissen, so daB auch von
daher das menschliche Schicksal der Kontrolle zu entgleiten schien.
Gleichzeitig mit der Entwicklung des wissensehafflichen Weitbildes
f(ihrte der Zusammenbruch der feudalen Gesellschaftsordnung zur
Erfahrung weitreichender sozialer Urnwalzungen. Von besonderem
Interesse ist hier die Moglichkeit, daB die zunehmende und sichtbare
124
Funftes Kapitel
Strukturen der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen, wenn
wir daran denken, wie von Beginn an eine frauenfeindliche und ab
wehrbereite eschIechterpolitilc mit der uns als wissenschaftliche
Methode gelaufigen Abstraktion em Bündnis zur gegenseitigen Unter
stiitzung eingegangen ist. Dali Hypothesen durch kontrollierte Mani
pulation der Natur einem Härtetest unterzogen werden mUssen und
daB soiche Manipulationen notwendig sind, urn die Wiederholbarkeit
von Experirnenten zu gewahrleisten, wird vom Vater der wissenschaft
lichen Methode in deutlich sexistischen Metaphern ausgedruckt.
Natur und Forschung werden nach dem Vorbild von Vergewaltigung
und Folter begrifflich erfalit, d.h. auf das gewalttätigste und frauen
feindlichste Verhalten von Männern abgebildet und das Ganze als
Grund für die Wertschatzung von Wissenschaft angefuhrt. Es ist
schwer vorsteilbar, dali Frauen em darikbares Publikum für diese In
terpretation der neuen wissenschaftlichen Methode abgeben könnten.
Die Indienstnahrne der Geschlechterpolitilc eröffnet Ressourcen für
die Wisseuschaft; gilt das auch für den umgekehrten Fall? Weisen die
Metaphern nicht in beide Richtungen? Als die Natur mimer mehr einer
Maschine zu gleichen schien, wurden da nicht im Gegenzug Maschi
nen mimer mehr für etwas Natürliches gehalten? Als die Natur von
einer nährenden Mutter zu emer Frau wurde, die man foltern und ver
gewaltigen konnte, wurden da Folter und Vergewaltigung nicht zu
einem scheinbar natürlichen Verhalten von Männern Frauen gegen
über? 1st denn die Anwendung der Wissenschaft bei der Erzeugung
okologischer Katastrophen, der Unterstützung des Militarismus, der
Verkehrung rnenschlicher Arbeit in eine Korper und Geist verstüm
meinde Tatigkeit, der Kontrolle und Herrschaft über >>Andere< (die
Frauen, die Armen, die Kolonisierten) nur em Milibrauch angewand
ter Wissenschaft? Oder sind Wesen und Ziel der experimentellen
Methode, dergestalt in Begriffe gefalit, die Bestätigung dafür, daB es
nicht urn sogenannte schlechte oder mifibrauchte, sondem urn eine
charakteristisch männliche, normale Wissenschaft geht? Nicht nur
Individuen, auch Institutionen agieren oftmals die verdrängten und
ungelosten Probleme threr Kindheit aus. Lielie sich das Beharren der
heutigen Wissenschaft auf einer im Dienste fortschrittlicher sozialer
Verhältnisse stehenden wertfreien und leidenschaftslosen Objektivität
nicht als der Versuch eines schuldbewuliten Gewissens begreifen, eini
ge dieser frühen, aber noch immer lebendigen Probleme zu lösen?
—
Die Geschichte der Biologie und der Medizin enthält ähnlich augen
fluhige Beispiele dafür, wie der Gescblechtersyrnbolismus dazu benutzt
em
wurde, die Natur auf neue Weise begrifflich zu konstruieren
•.1
I
Naturliche Ressourcen
125
Projekt, das die Geschlechterpolitik naturalisierte und zugleich Biolo
gie und Medizin der Vergeschlechtlichung unterwarf. L.J. Jordanovas
Untersuchung der Biornedizin im Frankreich und England des acht
zehnten und neunzehnten Jahrhunderts fand heraus, dali >>die biologi
schen Geschlechterrollen (s&x roles) mittels einer wissenschaftlich
medizinischen Sprache definiert wurden, während umgekehrt die
Naturwissenschaften und die Medizin mit Bilciern des Sexuellen
durchsetzt wurden<< (Jordanova 1980, 42). Wissenschaft und Medizin
wurden für die Autoren der Aufldarung bei ihrer kritischen Unter
suchung der Gesellschaft in dreifacher Hinsicht bedeutsarn:
...
Erstens beschaftigten sich Naturphilosophen und medizinische Schriftsteller mit
naturbedingten Erscheinungen wie Reproduktion und Fortpflanzung, Paarungsver
halten und geschlechtsspezifischen Krankheiten. Zweitens hatten Wissensehaft
und Medizm eine privilegierte Position inne, weil ihre Methoden die einzigen zu
sein schienen, die von der religiösen Orthodoxie in Richtung auf eine säkularisier
te, empirisch gegrundete Erkenntnis von Natur und Gesellschaft führen konnten.
SchlieBlich
wurden Wissenschaft und Medizin als Tatigkeiten mit sexuellen
Metaphern verbunden, die ihren deutlichen Ausdruck im Entwurf der Natur als
einer Frau fanden, weiche durch die rnännliche Wissenschaft entschleiert, ent
kleidet und durchdrungen werden rnu13te. (Ebd., 45.)
Bewulit oder unbewulit weigerten sich die Denker der Aufldärung, die
gesellschaftlichen Rollen von Frauen und Männern von der beschrei
benden und bildlichen Darstellung physiologischer Unterschiede ab
zukoppein. Em ebenso eindrucksvoller wie einflulireicher Ausdruck
dieser sozialisierten Biomedizin findet sich in den Wachsmodellen
rnenschlicher Gestalten, die als Vorbilder für anatomische Zeichnun
gen und als Ausstellungsstücke in Museen dienten.
...
*Die weiblichen Figuren nehmen eine liegende Haltung em und smd haufig mit
Perlenhalsbändern geschmuckt. Ihr Haar ist lang und bisweilen tragen sie auch
Schambeha-arung. Diese ‘Venusgestalten wie sie bezeichnenderweise genannt
wurden, when auf samtenen oder seidenen Kissen in einer passiven Haltung, die
sexuell einladend anmutet. Vergleichbare männliche Figuren haben eine aufrechte,
oftinals Bewegung ausdrückende Position. Die weiblichen Modelle können geoffnet werden, urn die herausnehmbaren Eingeweide zu zeigen; sic enthalten sehr
hAufig einen FOtus. Die rnannlichen Modelle dagegen sind in einer Vielfalt von
Formen dargesteilt, urn die verschiedenen physiologischen Systeme zu demon
strieren.
Der Fötus und die volistandige Nacktheit der Frauen portratiert ihre
wortwortliche Naturlichkeit, ihre symbolische aber liegt in der ganzen Machart
soicher Figuren. Die weibliche Natur war durch die männliche Wissenschaft ent
kleidet worden und wurde unter dem prufenden Buck der Ailgemeinheit versteh
bar.< (Ebd., 54)
Dies Bild >>fand semen expliziten Ausdruck in einer Statue in der Pariser
Medizinischen Fakultãt. Dort wird eine junge Frau mit nackten Brftsten
dargestelit, die unter dem Schleier, den sie abniinmt, den Kopf leicht
geneigt halt. Der Schleier tragt die Aufschrift: ‘Die Natur entschleiert
I
126
—
—
Funfles Kapitel
—,
sich vor der Wissenschaft’< (ebd.). In anatomischer Hinsicht wurden
Manner als aktiv handeinde Vertreter unserer Gattung dargesteilt,
Frauen als die Objekte menschlichen (männlichen) Handeins. Frauen
korper wurden zugleich als Gegenstande wissenschaftlicher Neugier
und als Objekte (gesellschaftlich konstruierten) sexuellen Begehrens
dargeboten.
Besonders mteressarit ist die Tatsache, daB die Rolle der Frauen in
Gesellschaft und Beruf während jener Zeit durchaus facettenreich war
und sich nicht auf die vom Klischee vorgeschriebenen Tatigkeiten be
schränkte. Diese Vielfalt der AJ.ctivitäten war für jedermann erfahrbar
und so
auch für die damaligen Mediziner und Wissenschaffler
muB denn em soicher GeschlechtersymboliSmUS mehr sein als die em
fache Widerspiegelung einer real existierenden geschlechtsspezifi
schen Arbeitsteilung in der die Manner umgebenden Gesellschaft.
Vielmehr >>weist die Lücke zwischen Idee und Erfahrung deutlich auf
die ideologische Funktion hin, weiche die Dichotomie von Natur und
Kultur in den GeschlechterverhältfliSSen besitzt. Diese ideologische
Botschaft wurde in zunehmendem MaBe durch die Sprache der Me
dizin vermittelt<< (ebd. 42). Dergestalt vertiefte die Biomedizin die
kulturell bedingte Assoziation, die Natur mit passiver, objektivierter
Weiblichkeit und Kultur mit aktiver, objektivierender Männlichkeit
und wurde im Gegenzug durch dies Projekt noch starker
verband
vermännlicht.
Eine wachsende Indienstnahme der Geschlechterpolitik hat es auch
in jüngerer Zeit inuner wieder gegeben. Untersucht man den Zusam
menhang näher, so IaBt sich mutmafien, daB die intensivierten Aus
drucksformen von Frauenfeindschaft in der Wissenschaft frUherer
Epochen keine Repräsentationen einer frei flottierenden offenen Miso
gynie waren, die es dem glucklichen Zufall zu verdanken hatten, daB
sie in den zu der Zeit sich herausbildenden wissenschaftlichen Projek
ten eine Ressource fanden; wahrscheinlicher ist, daB die Geschlechter
verhältnisse sich grundlegend veränderten oder zu verändern drohten.
Unverhohiene Frauenfeindschaft kann am besten als AuBerung mannlichen Protestes begriffen werden, denn niemand wird feststellen, was
ohnehin offensichtlich ist oder sich für etwas stark machen, was er
ohnehin schon besitzt. Aus dieser Perspektive ist das relativ geringe
AusmaB an frauenfeindlichen Ausdrucksformen in anderen Geschichts
epochen nicht einfach em Indikator für Gleichheit zwischen den Ge
schlechtern (obwohl sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten in
einem groBeren Umfang existierte als in der westlichen Gesellschaft
der letzten Jahrhunderte). Es ist wohi eher so, daB der fehiende Protest
:
.
Naturliche Ressourcen
127
der Manner oftmals die relativ stabile Machtlosigkeit der Frauen an
zeigt und von daher als Verweis auf die männliche >>Problemdistanz<<
gewertet werden sollte.
5
Bilder aus der Gegenwart
Die Vergeschlechtlichung von Natur und Forschung ist nicht nur in
erfreulich weit zurückliegenden Jahrhunderten betrieben worden.
Vielmehr sind bis auf den heutigen Tag erstaunliche Energien in soiche
Unternehmungen eingeflossen.
6 In vielen Kommentaren ist hervor
gehoben worden, daB die vertrauten Ausdrucksweisen, derer man sich
in popularen und gelehrten Wissenschaftsdiskussionen bedient, zu
mindest unterschwellig von Geschlechtersymbolismen gepragt sind.
Gelaufige Beispiele sind soiche Dichotomien wie eharte<< und >weiche<<
Daten, >sanfte<< und aggressive<< Technologien, Vernunft und Intui
tion, Geist und Materie, Natur und Kultur usw., aber auch vertraute
Wendungen, in denen von der >durchdringenden Wucht eines Argu
ments<< oder von >>fruchtbaren Ideen<< die Rede ist. Doch wollen wir uns
einige ausfUhrlichere und gewissenhaftere BemUhungen urn die Sym
bolik der Geschlechter ansehen.
Mit diesen SchiuBbemerkungen einer vor gar nicht langer Zeit ge
haltenen Rede zur Nobelpreisverlethung faBt der Geehrte, em Physi
ker, die Geschichte seines preisgekronten Lebenswerkes zusarnmen:
Damit fing alles an: die Idee ersehien mir so offensichtlich und elegant, dalI ich
mich zutiefst in sie verliebte. Und gleichwie man sich in eine Frau verliebt, so ist
es auch in diesem Fall nur moglich, wenn man mcht viel von ihr weffi, so daB man
ihre Fehler nicht sieht. Die Fehler werden spater erkenubar, doch dann ist die
Liebe stark genug, urn an ihr festzuhalten. So hielt ich denn, ungeachtet aller
Schwierigkeiten, durch meinen jugendlichen Enthusiasmus an dieser Theorie test.
Und was wurde aus der alten Theorie, in die ich mich als Jugendlicher verliebt
hatte? Nun, ich wurde sagen, sie ist eine abe Dame geworden, die nicht mehr alizu
viele Reize besitzt, und den jungen Leuten von heute wird das Herz nicht gerade
höher schiagen, wenn sic sie noch einmal anschauen. Doch können wir von ihr das
beste sagen, was sich uberhaupt von alten Frauen sagen laBt, daB sie nämlich eine
gute Mutter geworden ist und einige sehr gute Kinder geboren hat. Und ich danke
der Schwedischen Akadernie der Wissenschaften daflir, daB sie ems von diesen
Kindern ausgezeichnet hat.
7
Und hier ist der SchluBabschnitt eines haufig zitierten Aufsatzes, der
von einem herausragenden zeitgenossischen Wissenschaftstheoretiker
stammt: der Autor, Paul Feyerabend, erkiart, warum sein Vorschlag
fir eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte dern
von Karl Popper vorgezogen werden solite: >>Eine soiche Entwicklung
r. 1st alles andere als unerwunscht, denn sie verwandelt die Wissenschaft
von einer strengen und fordernden Herrin in eine attraktive und ergebene
128
Funftes Kapitel
Kurtisane, die threm Liebhaber jeden Wunsch von den Augen abliest.
Naturlich ist es unserer Wahi anheimgestellt, ob wir uns in die Gesell
schaft eines Drachens oder eines Schmusekätzchens begeben wollen.
8 Diese
Ich glaube, ich muB nicht erklären, wem ich den Vorzug gebe.<<
beiden Abschnitte reprasentieren zwei kulturspezifische Vorstellungen
von Mannlichkeit: den guten Gatten und Vater und den sexuell ehr
geizigen Matratzensportler.
—
Selbst der Oft, an dem diese moralischen AppeJie an die Geschlech
terpolitik im Text plaziert sind, ist erhellend. Sie bilden in beiden
Fallen die Schiuflbemerkung und sind die zusammenfassenden Gedan
ken, weiche Publikum resp. Leserschaft mit nach Hause tragen sollen.
Fur den Fall, daB die Besetzung der erein kognitiven<< Behauptungen
mit einem männlichen Akzent unbemerkt geblieben sein soilte, bringt
jeder Autor sein Anliegen in der SchluBbotschaft auf den Punkt. Der
Wissenschaftler und der Philosoph sind wirklich und wahrhaftig Man
ner (trotz threr Erfolge in der zerebralen Karriere? furchten auch
Manner sich vor bestimmten Arten des Erfolgs?); das Publilcum des
gleichen. Thre Partnerinnen — die Wissenschaft und ihre Theorien
sind ausbeutbare Frauen. Bin Vorschlag solite angenommen werden,
weil er die Geschlechterpolitik verdoppelt.
-
‘
Evelyn Fox Keller weist darauf hin, daB mehr als nur em paar Wis
senschaftler und Philosophen ihre Tatigkeiten mit dem proiektiven
Ideal einer verteidigungsbereiten Mannlichkeit belegen. Obwohl der
Wissenschaftler als hypermännlich gilt, wird ihm doch em geringeres
MaB an Sexualität zugeschrieben als Männern in bestimmten anderen
Berufen. Bine mit englischen Schuijungen durchgefUhrte Untersuchung J
zeigt dan sehr deutlich: eDie schönen Künste und Kunstwissenschaftefl
werden mit sexuellem VergnUgen assoziiert, die Naturwissenschaftefl
mit sexueller Enthaltung. Wer sich mit den Kunsten befaBt, hat eine
gutaussehende und gutgekleidete Frau, mit der er eine enge sexuelle
Beziehung pflegt. Der Naturwissenschaffler dagegen ist mit einer
(auch in puncto Kleidung) reizlosen und langweiligen Frau verheiratet,
an der er kein korperliches Interesse hat. Dennoch gilt der Naturwissenschaftler als männlich, der Kunstfachmann als em bifichen
9 Keller weist darauf hin, daB die Wissenschaft sowohl als
feminin.<
eAntithese zum Eros*c wie auch als hypermännliche Tätigkeit aufgefai3t
worden ist, und daB zwischen beiden Auffassungen eine Beziehung besteht, die sich schon in der Bildwelt ftüherer Denker finden lafit:
‘Wir wollen zwischen dem Geist und der Natur eine keusche und
gesetzestreue Ehe stiften schreibt Bacon, und verschreibt damit ein
vorschriftsmäBiges Rezept für die Geburt einer neuen Wissenschaft.
.
,
-
Naturliche Ressourcen
129
—
Diese Verschreibung hat sich bis auf den heutigen Tag gehalten
in
ihr fmden sich wichtige Hinweise auf die Position des keuschen Bräuti
gams, auf seine Beziehung zur Braut und auf die Art und Weise, mit
der er semen Auftrag definiert.<<
10
Keller geht davon aus, daB die geistigen Strukturen wie auch die
ethischen und politischen Praxen der Wissenschaft den für sie charak
teristischen Androzentrismus dadurch angenommen haben, daB Kom
petenz und Beherrschung mit Macht, Beherrschung und Macht mit
Männlichkeit und diese Konstellation wiederum mit Wissenschaft
assoziiert wurden. Solche bildlichen Vorstellungen konstruieren zu
gleich das institutionalisierte Ethos der Wissenschaft und der verge
schlechtlichten Sexualitat wie auch in der Folge die durch diese Institu
tionen strukturierten Praxisformen. Die Wissenschaft bestätigt thre
männlich-dominanten Praxisformen und die männliche Vorherrschaft
ihre vorgeblich objektiven wissenschaftlichen Begrundungen, indem
beide sich kontinuierlich gegenseitig unterstUtzen. Diese Kette von
Assoziationen ist nicht nur deswegen anstoi3ig, weil sie sexistisch ist,
sie führt auBerdem zu schlechter Wissenschaft, d.h. zu falschen und
stark vereinfachten Modellen von Natur und Forschung, die die Exi
stenz von Machtverhältnissen und hierarchischen Strukturen behaup
ten, wo keine sind oder sein müssen.
Für Keller offeriert die Wissenschaftsgeschichte alternative Bildwel
ten und Praxisformen, in denen die der Natur eigene Vielschichtigkeit
j respektiert wird und die, eher androgyn geprägt, nicht so eng mit der
Problematik männlicher Identitat verwoben sind. eWir sind nicht aus
schlieBlich auf unsere Phantasie angewiesen, wenn wir Vorstellungen
von einer anderen Wissenschaft entwickeln wollen, die dem Drang
nach Herrschaft in geringerem MaBe ausgesetzt ist. Wir müssen ledig
lich dem thematischen Pluralismus in der Entwicklungsgeschichte
unserer eigenen Wissenschaft nachgehen.*
11 Keller weist auf viele
Elemente in der Wissenschaftsgeschichte Mn, die nicht durch machi
stische Einflüsse geprägt worden sind. In ihrer intellektuellen Bio
graphie von Barbara McClintock thematisiert sie unter anderem, auf
welche Weise die Nobelpreisträgerin in threr wissenschaftlichen Problemstellung, thren Begriffen, Theorien und Forschungsmethoden das
soziale Geschlecht transzendiert. McClintocks eGespUr für den Orga
nismusc, ihr Respekt vor den vielfältigen Unterschieden zwischen
Individuen, thr Bedurfnis, edem Material thr Ohr zu leihen<< — dies
[ alles mid Beispiele für nicht-mannliche Tendenzen, die sich auch
anderenorts in der Wissenschaftsgeschichte finden lassen. Die Arbeiten
von McClintock bilden, sagt Keller, keine ferninistische Wissenschaft
I
I—-
—
Zweitens muB
das
Denke
n
vorn
FUhle
n
abgetre
nnt
werden
,
andere
n
11s könnte die wissenschaffliche Rationalität sich gezwungen
sehen,
auf die Empfindungen der
Mensc
hen
angesi
chts
der
soziale
n
Konse
quenz der von ihnen oder andere
n
so
erfoigr
eich
betrieb
enen
Forsch
ung
im militarischen, biomedizinischen
oder
sozialt
echnol
ogisch
en Bereich Rücksicht zu nehmen. >Die Rolle des Wissenschaftlers
ist eine
andere als die des Burgers, und der Wissen
schaftl
er
(oder
die
Wissen
schaft1erin) muB sich nur als Privatrnensch und Burger sozial
verant
wortlich oder emotional betroffen 15
fihlen.<< Geschichtlich gesehen ist
Das Beharren auf diesen männlich deterrn
inierte
n
Dichot
omien
ist laut
Fee in vierfacher Weise für die Aufrechterhaltung des Glaube
ns an die
Objektivitat der Wissenschaft entscheidend. Zunäch
st
muB
die
Frage
nach der Erkenntnisproduktion von der Frage nach
der
gesells
chaft
lichen Verwendung von Erkenntnis getrennt werden;
anderenfalls
könnten die Wissenschaftler sich gezwungen sehen,
für
solche
Ziele
mid Zwecke Verantwortung zu übernehmen, die auBerh
alb
der
urn
ihrer selbst willen betriebenen Erkenntnissuche liegen. Zudem
könnte
die Offentlichkeit sich errnutigt fühlen, mehr EinfluB auf
die Vertei
lung von Forschungsmitteln und die Auswahl forschender
Persönlich
keiten zu nehmen.
—
Die Konstruktion unserer politischen Philos
ophie
und unserer Sichtweisen der
menschlichen Natur scheint von einer Reihe geschl
echtsspezifischer Dichotomien
abzuha
ngen,
die
mit
der
Konstr
uktion
von
Geschl
echterd
ifferenzen vermacht sind.
So konstruieren wit Rationalität als
Gegen
satz
zu
Emotio
nalitiit
, Objektivität als
Gegensatz zu
Subjek
tivität,
Kultur
als
Gegen
satz
zu
Natur,
das Offentliche als Ge
gensatz zum Privaten. Ob wir nun Kant, Rousse
au,
Hegel oder Darwin leseti,
überall werden das Weibliche und das Männliche in
Form von entgegengesetzten
Charak
teren
begriff
en:
Frauen
lieben
die
Schdnh
eit,
Manne
r die Wahrheit; Frauen
sind passiv, Manner aktiv; Frauen
sind
emotio
nal,
Manne
r
rationa
l; Frauen sind
seibstios, Manne
r
egozen
trisch
und
so
weiter
und
so
fort
durch die ganze Ge
schichte der westlichen Phiosophie. Der
Mann
macht
die
Geschichte, doch die
Frau stelit ihm die
Verbin
dung
zur
Natur
her;
sic
ist
die
vermitteinde Kraft zwi
schen Mann und Natur, sic gemahnt din an seine Kindhe
it, an den Körper und an
SexualitAt, Leidenschaft und menschliche Verbundenhei
t. Sic ist die Hüterin des
Gefith
isleben
und
s
aller
nichtra
tionale
n
Eleme
nte
mensc
hlicher Erfahrung. Sic ist
bisweilen eine Heiige, bisweilen eine Teufelin; immer aber
scheint und erscheint
sic als der notwendige Kontrapunkt zum Selbstverständ
nis des Mannes als einem
Wesen von reiner 1
Vernunft.
131
Naturliche Ressourcen
Funftes Kapitel
130
Elizabeth Fee geht, wie Merchant, Jordan
ova
und
Keller,
davon
aus,
daB soiche Dichotomien rnännlich determiniert
sind.
Fee
weist
darauf
hin, daB sie zwar in der Geschlechterideologie des
moder
nen
Libera
lismus aufgespurt werden können, jedoch sehr viel altere
Wurzeln
besitzen müssen, weil sie die gesamte Geschichte der
westlichen
Philosophie durchziehen.
-
aus, gerade well sie das soziale Geschlecht transzendieren. (Aller
dings, so spekuliert Keller, könnte McClintock aufgrund ihres eigenen
Status als Frau, als AuBenseiterifl und Abweichlerifl in der Wissen
schaft leichter zu abweichendefl Formein und Formulierungen in der
Molelcularbiologie gekommen sein.)’
2
Aber hier identifiziert Keller fälschlicherWeiSe den Feminismus mit
uberschWanglichefl Projekten weiblicher IdentitatsfindUng und nicht
mit eben jener Transzendeflz des sozialen Geschlechts, von der bei ihr
die Rede ist. Sicher haben FeministinflerL hier eine Art >>urngekehrter
Diskriminierung< betrieben, doch die Mehrheit stand und steht soichen
Tendenzen kritisch gegenüber. Darüber hinaus verdoppelt Keller die
immanente Ausrichtung traditioneller esehichtssChreibUflg, wenn sie
den Pluralismus in der GeistesgeschiChte der Wissenschaft betont, zu
gleich aber die sozialen, politischen, psychologischen und wirtschaft
lichen Zwänge ignoriert, mittels derer erklart werden kann, warum
einige wissenscbaftliche Ideen gesellschaftliche Legitimation erlan
gen, andere dagegen nicht. Es gibt gesellschaftliche wie intellektuelle
GrUnde clafur, warum die MolekularforSCbuflg zu einem bestimmten
Zeitpunkt auf hierarchische Modelle, zu einem anderen Zeitpunkt
auf interaictive Modelle groBeren Wert legt. Diese Kritik zielt auf
Schwachstellefl in Kellers Darstellung, die gleichwohl für thren Ansatz
insgesamt mcht typisch sind. Und es ist schwierig, sich vorzustellen,
weiche begrundeten Einwande gegen ihre Behauptung vorgebracht
werden könnten, daB AusdrucksfOrmefl von Herrschaft und Kompe
tenz, von Männlichkeit und Wissenschaft em wechselseitigeS Beziehungs- und StUtzgeflecht eingegangen sisal, das den Frauen und der
Wissenschaft Schaden zufugt. (Und, so können wir hinzufügen, auch
den Mannern, die zu ihrer Reifeprüfuflg anstrengenden und deformie
renden Vorschriften ausgesetzt sind.)
—
Merchant, Jordanova und Keller schlieBen sich einer Reihe anderer.
Kritikerrnnefl an, deren Angriffspunkt die begriffliche DichotomiSierung das Hauptrnerkmal wissenschaftlicher Ideologie und Praxis
ist. Handelt es sich dabei selbst schon urn eine spezifisch mi
Tendenz? Einige Kritikerinflefl gehen davon aus, daB thre Wurzeln
der jüdischen und christlichen Religion ebenso zu linden sind wie im
KapitalismuS und KolonialismUS, und in der europaischen Kultur des
fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts mit ihrer Theorie des politi
schen LiberalismuS. Das siebte Kapitel untersucht Probleme, die mit
feministischefl KonstruktiOflSWeisefl soicher Dichotonhiefl verbunden
sisal, an dieser Stelle aber wollen wir sehen, was sie dazu zu sagen
haben.
132
Funfles Kapitel
diese Verschiebung des moralischen Bereichs in das Privatleben nach
gewiesenermaBen eine moderne Erfindung. Für Aristoteles und die
Griechen war die höchste Form moralischen Handeins nur im Offent
lichen Leben erreichbar. Der Status der Wissenschaft ergibt sich aus
ihrer paradigmatischen Rolle als der Institution, in weicher diese Tren
nung von Rationalität und sozialer Verpflichtung ihren wirkungsvoll
sten politischen Ausdruck erlangt hat, während die Ausbreitung
wissenschafflicher Rationalität auf alle Institutionen des modernen
Lebenszusammenhangs die Wissenschaft mit der Macht ausstattet,
diese Trennung in anderen Bereichen der Gesellschaft durchzusetzen.
—
—
Drittens muB das wissenschaftliche Subjekt, der Wissenschaftler
von
oder die Wissenschaftlerin, vom wissenschaftlichen Objekt
getrennt werden. Merchant und
dem, was er oder sie untersucht
Jordanova haben darauf hingewiesen, daB der erkennende Geist aktiv
ist, das Erkenntnisobjelct dagegen passiv. Es ist die Stimme des wis
senschafflichen Subjekts, die mit aligemeiner und abstrakter Autorität
spricht; die Forschungsobjekte >>sprechen<< nur in den Antworten auf
die von den Wissenschafflern gesteilten Fragen, und sie sprechen in
der je besonderen Stimme ihrer geschichtsspezifischen Bedingungen
und Verortungen.
Viertens mufi die Wissenschaft genau deshalb als von der Gesell
schaft getrennt gedacht werden, um ihre engen Beziehungen zur politi
schen Macht zu verschleiern.
Man erzahlt uns, daB die Produktion wissenschafflicher Erkenntnis von politisch
inotivierter Beeinflussung oder Lenkung unabhängig sein mufi. Dennoch sehen
wir, wie Wissenschaftler standig vor KongreBausschüssen als Zeugen auftreten,
wir finden Wissenschaftler in Gerichtsverhandlungefl, wir finden sie in allen Bereichen offentlicher Politik als Diskussionsteilnehmer. Es ist ganz offensichtlich,
daB die Experten Partei ergreifen. Ebenso ist offensichtlich, daB diese ‘Experten’
oftmals durch Konzerninteressen materiell gefordert werden und daB es für diejeni
gen, deren Forschung die Positionen dieser machtvollen Lobbies unterstUtzt, ver
16
gleichsweise geringe Strafen gibt.”
I
‘.
Ruth Hubbard hat darauf hingewiesen, daB these Art der Dichotomi
sierung die intellektuellen, moralisehen und politischen Projekte der
real existierenden Wissenschaft als sexistisch, rassistisch und als Aus
17 Für Hubbard ist die V
druck von Klassenherrschaft entlarvt.
schaft eine gesellschaftliche Konstruktion, em historisch gewachsenes
Unternehmen, das über uns und die uns umgebende Welt Geschichten
erzählt. Ms Biologin hat sie sich auf die Geschichten konzentriert, die
eine durch Kiassen, Rassen und männliche Herrschaft bestimmte Gesellschaftsordnung über biologische Geschlechtsunterschiede zu er-a
zählen beliebt. Ihre Analyse umspannt Themen, die von den Schrifte
-
Naturliche Ressourcen
133
Darwiis und anderer herausragender Manner der Wissenschaft bis zur
zeitgenossischen biologischen Fachliteratur reichen, wobei sie die
sexistischen, klassenhierarchischen und rassistischen politischen Ziel
vorstellungen aufweist, welche durch die Aufrechterhaltung soicher
Dichotomien in der Sexualforschung Uber Geschlechtsunterschiede
gestutzt werden. Sie meint, daB die Konzentration aufbiologische Ge
scblechtsunterschiede angesichts der geradezu unglaublichen Ahnlich
keiten zwischen den (biologischen) Geschlechtern an sich schon eine
Widerspiegelung unverkennbar männlicher Vorstellungen sein kOnnte.
—
Geist im Gegensatz zu Natur und Korperlichkeit, Vernunft irn
Gegensatz zu Emotionalität und sozialer Verpflichtung, Subjekt
und Objektivität im Gegensatz zu Objekt und Subjektivität, das Ab
strakt—Allgemeine im Gegensatz zum Konkret—Besonderen
immer geht es darum, daB das erstere das letztere beherrschen muB,
damit das menschliche Leben nicht irrationalen und fremden Mächten
ausgeliefert wird, die in der Wissenschaft als das >>Weiblichex sym
bolisiert werden. Alle diese Dichotomien spielen eine wichtige Rolle
in der intellektuellen Struktur der Wissenschaft und scheinen in Ge
schichte und Gegenwart mit erkennbar männlichen EntwUrfen biologi
scher und sozialer Geschlechteridentität verknupft zu sein. Umgekehrt
sind auch das soziale Geschlecht und die menschliche Sexualität durch
die Entwürfe einer so gearteten Wissenschaft geformt worden.
-
—
—
Die in der Uberschrift dieses Abschnitts gestelite Frage soilte nun
weniger überraschend erseheinen. Soilten wir these Wissenschafts
geschichte und these Wissenschaftstheorie durchleuchten? Die sexisti
schen Bedeutungszuschreibungen für wissenschaffliche Tätigkeit waren
ganz offensichtlich wichtige Ressourcen, mittels derer die moderne
Wissenschaft sich kulturelle Anerkennung verschaffte und verschafft,
denn auf sie beziehen sich auch heute noch Wissenschaffler und Philo
sophen, urn ihre Tätigkeiten zu rechtfertigen, zu begründen und zu
erklären. Und sie dienen dazu, junge Leute (vor aflem Manner) für
Wissenschaft und Wissenschaftstheorie zu begeistern. Wle kann so
etwas esozial fortschrittlich<< sein? MUssen wir nicht, fragt die Histori
i kerin Joan Kelly-Gadol, wenn wir die Situation der Frauen als ebenso
gesellschaftlich determiniert wie die der Manner begreifen, angeblich
fortschrittliche Bewegungen hinsichtlich ihres Einflusses auf Frauen
wie auf Manner
auf >>ihre< wie auf >>seine<< Menschlichkeit
neu
18 Warum soilten wir the Herausbildung der modernen Wis
bewerten?
ft als groBen Fortschritt für die Menschheit betrachten, wenn
h der gesellschaffliche Status der Hälfte dieser Menschheit sich
entscheidend verschlechtert hat? Warum soilten wir davon ausgehen,
135
Naturliche Ressourcen
Funftes Kapitel
134
—
—
Beginnen wir mit der Biologie. Sexualforscher und -forscherinnen
gehen davon aus, daB die menschliche SexuaiitAt grundsätzlich äuBerst
formbar ist, und mcht durch genetische oder hormonale Strukmren
streng determiniert wird.
21 Kinder werden als bisexuelle oder, mit
Freud zu sprechen, >po1ymorph-perverse<< Wesen geboren. Natürlich
befruchten die Manner die Eizelle, und die Frauen tragen Kinder aus
und stilien sie; die männlichen und weiblichen Entwicklungsprozesse,
die diesen Unterschied im Fortpflanzungsverhaiten darsteilen, werden
anhand von funf biologischen Kriterien definieft: Gene oder Chromo
somen, Hormone, Gonaden, innere Fortpflanzungsorgane, äuBere
Geschlechtsorgane. Doch der Abstand zwischen diesem biologischen
Geschlechtsunterschied und der voll entfalteten Konstruktion verge
schlechtlichter und sexueller Identitäten, Verhaltensweisen, Rollen
und Bedürfnisse, die den Erwachsenen ausmachen, ist groB, und er
wird von der Kuitur offensichtiich vollständig durchmessen. Forschun
gen zur sexuellen Identität von Hermaphroditen zeigen zum Beispiel,
daB zwischen dem physiologischen Geschlecht des Kleinkinds end der
endgültigen biologisch/sozialen Geschlechtsidentitiit, die das Kind an
nimmt, eine vollständige Disjunktion besteht. Nicht des physiologische
—
daB die frauenfeindlichen Aufierungen zeitgenossischer Nobeipreis
träger und herausragender Wissenschaftstheoretiker für die Bedeutung,
weiche die Wissensehaft für Wissenschaftler und Offentlichkeit be
vor ailem, wenn wir andere Arten von Meta
sitzt, unwichtig sind
phern in der Wissenschaft als intrinsische Bestandteile des >>Erkennt
niswachstums<< zu betrachten aufgefordert sind? Mir scheint, daB die
Beweislast für die Schuldiosigkeit der Wissenschaft an der fortschrei
tenden Frauenfeindlichkeit bei den Anhangern der Wissenschaft liegt,
nicht bei den Opfern dieser vergeschiechtlichten Bedeutungszuschrei
bungen.
Die gesellschaftliche Konstruktion menschlicher Sexualität
—
;
Männlichkeit und Weiblichkeit. Diese Forschung steckt noch in den
Kinderschuhen, und so ist es für die meisten von uns schwer zu begrei
fen, daB die Formen, in denen die geschlechtiichen und sexuellen
IdentitAten, Praxen und Wünsche (die eigenen wie die der anderen)
sich manifestieren, nur zu einem sehr geringen Teil naturgegeben sind.
Man kann die Rolle des wissenschaftlichen Weitbildes und der einzel
nen Wissenschaften bei der Formung des bioiogischen wie des sozia
len Geschlechts des Sex/Gender-Systems besser verstehen, wenn
man die angeborene Formbarkeit sowohi des biologischen als auch des
sozialen Geschlechts der Menschengattung zu begreifen beginnt. Dar
über hinaus können wir, wenn wir diese Formbarkeit verstehen, uns
besser vorstellen, warum die Uberwindung des sozialen Geschlechts
auch danu notwendig ist, wenn die Anti-DiskriminierungsmaBnahnien
für Frauen in der Wissensehaft ihr Ziei erreichen soilten. Es gibt also
eine ganze Rethe von Gründen, aus denen wir die Herausforderung be
greifen soilten, die die Theorie der gesellschaftiichen Konstruktion für
den biologischen Determinismus darsteilt. Denn dieser ist nicht die
ultirna ratio angesichts der Erosion der Grenzen zwischen Natur und
20 Der Ort der Frauen im Sex/Gender-System ist gesellschaft
Kultur.
lich konstruiert, doch gilt das auch für die Manner. Für diese Behaup
tungen geben biologische, historische, anthropologische und psycho
logische Untersuchungen Beweismaterial an die Hand.
—
Die alltagliche Sinneswahrnehmung hat sich in den letzten Jahrzehnten
so sehr verändert, daB die Annahmen des achtzehnten und neunzehn
ten Jahrhunderts bezugiich biologischer Geschiechtsunterschiede den
Leserinnen und Lesern auf den ersten Buck so fremd und unverständ
lich erscheinen mogen wie die Ansichten eines mittelalterlichen Bauern
oder der ursprtingiichen >>weiblichen Sammlerin<<. Lillian Faderman
schreibt, daB das, was heute ais relativ amateurhaftes Transvestitentum
angesehen würde, vor der Popularisierung freudianischer Theorien
und androgyner Bekleidungsstile kaum entdeckt werden komite. Klei
dung gait ais deutlicher Indikator des Geschiechts: >>Was macht eine
nach Freiheit verlangende Frau in einer Epoche, die noch keine ge
schiechtsneutraie Mode kennt, in der die Menschen glauben, daB die
Kieldung unbezweifelbar das Geschlecht anzeigt mid in der es keine
Notwendigkeit gibt, das Geschiecht anhand von Gesichtszügen und
Muskulatur Zn bestimmen? Sie kann nur versuchen, für einen Mann
gehalten zu werden.<< Unvorstelibar, daB die Kleidung einmal em un
zweideutiger Indikator für das Geschlecht gewesen ist! (Warum wir
von em paar Stunden hin und wieder abgesehen uns derart mit dem
Geschlecht von befreundeten und fremden Personen, die uns begeg
nen, beschäftigen soilten, ist eine andere und geheimnisvolle Sache.)
Simone de Beauvoirs Analyse in Das andere Geschlecht hat in emi
nenter Weise zur Entwicklung aktueller Theorien beigetragen, die
untersuchen, auf weiche Weise Sexuaiität, soziales Geschlecht mid
wahrgenommene Geschiechterdifferenzen geselischaftlich konstruiert
werden. Andere Beiträge zu diesem neuen BewuBtsein stammen von
biologischen, historischen, anthropologischen und psychologischen
Untersuchungen zur Veranderung und Vielfalt der Bedeutungen von
Funftes Kapitel
136
bestinimt für das
Geschlecht, sondern die ErwartenshaltUng der Eltern
Identität des Erwachse
Kleinkind im Vorwege die geschlechtliche
den Wissenschafflerfl auf
22 Und was für diese Fälle gilt, die
nen.
sind zwei his drei
grund ihrer Anomalität auffallen (schatzungSWeise
durfte auch für den Rest
Prozent aller Menschen Herrnaphroditefl),
Erwartenshaltung, die
von uns wahr sein: es ist die gesellschaftliche
Darüber
biologisch-sOZiale Geschlechteride11titen hervorbringt.
Erwartungefl hinsichtljch
hinaus sind, wie bereits angedeutet, unsere
Forschungefl zur Biologie
der Biologie von sozialen Kräften geprägt.
daB die gesellschaftliche
und threr Geschichte lassen den Schiufi zu,
weiche denen zu nützen
Ordnung biologische Konzeptioflefl fOrdert,
oder sie besitzen.
scheinen, die nach Maclit streben, sie verteidigen
Fach Biologie für
Entsprechend revanchiert sich das wissenschaftliche
gesellschafflichefl Ordnung
die Unterstützuflg, die es sich von der
leiht.
—
—
.
die sich besonders mit
In Erganzung zu Merchant und Jordanova,
geschichtlichen Verschiebung
der Rolle der Wissenschaftefl bei der
rnenschlichen Sexualitãt
von Bedeutungen und Verhaltensformen der
Verschiebungen inner
befassen, haben viele andere Autorinnen soiche
Sozialgeschichte untersucht.
haib des ailgerneineren Rahmens der
vor der PopularisierUflg
Fadennans Buch analysiert, warurn sich
neunzehnteri Jahrhunderts
von Freud und vor der Frauenbeweguflg des
was heute wohi als
Manner und Frauen für das begeistert haben,
KulturfOrrnefl galten
Lesbentum bezeichnet würde. In diesen fruheren
zwischen hetero
leidenschaftliChe und lebenslange Freundschaftefl
von mãnnlichen Auto
sexuellen Frauen als normal und wurden sogar
zwischen Men
ritäten als moralische Vorbilder für die Freundschaft
über deren sexuelle
schen uberhaupt angesehen. Diese Beziehungen,
wurden erst zwischen
Komponente sich nichts mit Sicherheit sagen laBt,
23 Es waren die Jahre, die laut
1880 und 1920 als lesbisch etilcettiert.
in denen die F.
Rossiter ungefahr mit der Periode zusammenfielen,
gleichberechtigtefl Zugang zur
ihre erbittertstefl Kampfe urn den
24 Fadermans Untersuchung ist eine
senschaft führten und verloren.
zu jeder
Herausforderung für alle, die glauben, daB HeteroseXUalität
VerhaltensweiSefl beziehen
Zeit mid an jedem Ort sich auf die gleichen
Und wie Merchant und
und die gleichen Bedeutungen besitzen muB.
Manner vor der gesell
Jordanova zeigt Faderman, wie die Angst der
in diesem Fall dureb
schaftlichen GieichbereChtigung der Frauen (die
Jahrhunderts hervorgerufen
die FrauenbeWegUflg des neunzehnten
Wissenschaften eine für beide
wurde) mit den neu sich entwickelnden
Psychoanalyse und bio
Teile nutzlicbe und wertvolle Allianz einging.
.
.
.
I
Natllrliche Ressourcen
137
medizinische Forschungen zum Geschlechtsunterschied erhielten ihre
gesellschaftliche Legitimitat, indem sie Bündnisse, Freundschaften,
Beziehungen usw. zwischen unabhangigen Frauen als pathologisch de
fmierten.
Andere Historikerinnen und Historiker haben andere Aspekte der
Konstruktion von Geschlechteridentitäten und gesellschaftlichen Be
deutungen untersucht. Jeffrey Weeks weist nach, wie eine mit dern
Freudianismus verbundene repressive Gesetzgebung gegen (mann
liche) Homosexuelle urn die Jahrhundertwende in Europa und Amen
ka die Herausbildung selbstbewuBter männlich-homosexueller Ge
meinschaften befOrdert hat. Michel Foucault beschreibt, auf weiche
Weise das masturbierende Kind, die hysterische (etyrnologisch: eine
wandernde Gebärmutter<< besitzende) Frau und der hornosexuelle
Mann im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als Objekte wis
senschaftlicher Forschung allererst geschaffen wurden. Tm Gegensatz
zur geläufigen Annahme, das viktorianische Zeitalter habe sich durch
eine ungewöhnliche Unterdrückung der Diskurse über Sexualität aus
gezeichnet, geht Foucault davon aus, daB die Kultur der damaligen Zeit
an kaum etwas anderes habe denken können.
—
NatUrlich lassen sich (von uns so genannte) masturbatorische,
hysterische und hornosexuelle Verhaltensformen auch schon vor dieser
Epoche nachweisen, doch war die definitorische Typisierung von
Menschen anhand bestimmter (eher untergeordneter) Verhaltens
weisen em
theoretisches
und
politisches Kunststuck der Allianz von
Wissenschaft und Politilc
em erfoigreicher Versuch, zugleich den
Status von Wissenschaft anzuheben und all diejenigen mit gesellschaft
lichen Sanktionen zu bedrohen, die sich thre personlichen Ausdrucks
und Verhaltensforinen nicht von den Bedürfnissen des heraufziehenden
Industriekapitalismus diktieren lassen woilten. Judith Walkowitz be
schreibt, wie in England eine Gruppe von Menschen geschaffen wurde,
die man als Prostituierte bezeichnete. Natürlich war die Prostitution
keine Erfindung der jUngeren Geschichte, doch daB eine Kategorie von
Personen als, sozusagen, Iebenslangliche Prostituierte begrifflich be
stimmt wurde, war ersichtlich eine kulturspezifische Erfindung. (Wie
Wallcowitz bemerkt, wurde diese Etilcettiening ironischerweise durch
die Bemuhungen von Sozialreforrnern, die Prostitution zu beseitigen,
noch unterstutzt.) Die Veränderungen in den gesellschaftlichen Bedeu
tungen und Verhaltensweisen, die die westliche Kultur mit >>Mann<< und
*Framc,
>>rnännlich<<
mid
>>weiblich<<
assoziiert, werden von vielen an
deren Untersuchungen hinreichend dokumentiert.
25
138
—
—
—,
Funftes Kapitel
—,
Die Theorien gesellschaftlicher Konstruktion in der neueren anthro
pologischen Literatur hinterlassen den Eindruck, daB es absolut mchts
was universell und kul
gibt keine Bedeutung und kein Verhalten
turiibergreifend mit Männlichkeit oder Weiblichkeit assoziiert werden
kann. Was in einigen Gesellschaften für männlich gehalten wird, gilt
in anderen als weiblich oder geschlechtsneutral und umgekehrt; die
einzige Konstante scheint die Bedeutung der Dichotomie selbst Zn
sein. Die ursprünglich von Sherry Ortner vorgetragene Behauptung, in
alien Gesellschaften werde Mannlichkeit mit Kultur und Weiblichkeit
mit Natur assoziiert was für die von Merchant und Jordanova unter
wird in
suchten westlichen Geseilschaften ganz offensichtlich ist
26 Diese
zwei Aufsatzsamnilungen aufgenommen und weiter erforscht.
Untersuchungen geben zu bedenken, daB die Dichotomie von Natur
und Kultur selbst genau so modern und westlich ist wie die besondere
Art und Weise, auf die sie in unserer Geseilschaft und ihrer Vorstel
lung vom sozialen Geschlecht sich vermittelt. Moderne westliche Auf
fhssungen vom biologischen und sozialen Geschlecht und die Dichoto
mie von Natur und Kultur haben sich wechseiseitig beeinfluBt. Von
daher soilten wir auf der Basis dessen, was diese Unterschiede in unse
rer Gesellschaft bedeuten und bezeichnen, mit kulturUbergreifenden
Verailgemeinerungen mcht zu schnell bei der Hand sein.
Einerseits zielen diese Studien darauf ab, die Universalität der Di
chotomisierung jener sozialen Verhaltensformen und Bedeutungen,
die in der westlichen Kultur mit Männlichkeit und Weiblichkeit asso
ziiert werden, in Frage zu stellen. So läBt zum Beispiel der in femini
stischen Arbeiten eutwickelte Begriff eines universellen absoluten
Patriarchats<< auBer acht, auf weiche manniglaltige Weise verschiedene
Kulturen Geschlechteridentitäten oder Praxisformen und Bedeutungen :
von Geschlechterverhäitnissen ausgebildet haben. Daruber hinaus
scheint die für das feministische Denken so wichtige Dichotomie von
biologischem und sozialem Geschlecht dem Dualismus von Natur t
Kultur nachgebildet zu sein. Wahrscheinlich sind unsere eigenen am
lytischen Kategorien auf verhängnisvolle Weise mit Echos und Spiegelbildern der von uns kritisierten Begriffe und Theorien durchsetzt.
Andererseits gibt es keine in diesen anthropologischen Ansátzen Un
tersuchte Gesellschaft, in der der Unterschied von sozialem und biolo
gischem Geschlecht bedeutungslos ware. Eine kleine, aber eng zusam
menhangende Gruppe oppositioneller Anthropologinnen vertritt den
Standpunkt, es habe zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten
Geschiechterordnungen gegeben, die egaiitiir strukturiert waren (oder
sind), well sie auf der Grundlage eines komplementären und r”
.
Naturliche Ressourcen
139
oppositionellen Geschlechterverhaltnisses konstruiert wurden.V Aber
Kompiementaritat laBt sich ohne Differenz nicht denken. Darüber
hinaus scheint, selbst wenn diese Anthropologinnen mit ihren Annah
men recht haben, männliche Vorherrschaft die Regel zu sein, die durch
diese moglichen Ausnahmen höchstens bestatigt wird.
—
—
Auf der eher spekulativen Seite anthropologischer Untersuchungen
zur Variabilitãt der Geschlechter fmden sich verschiedene Arbeiten,
die zu rekonstruieren suchen, auf weiche Weise männlich-dominante
Formen der SexualitAt und des sozialen Geschlechts in den Anfängen
der Menschengeschichte entwickelt wurden. Gayle Rubins breit disku
tierte Arbeit ist die feministische Neuinterpretation einer Theorie, in
der sich Levi-Strauss’ Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen mit
einer Lacanschen Lesart von Freuds Analyse der Herausbildung des
sozialen Geschlechts in den Individuen verbindet. Für Rubin sind er
zwungene Heterosexualität, Heirat/Ehe und die geschlechtsspezifi
sche Arbeitsteiiung die Ursachen männlicher Vorherrschaft. Salvatore
Cucchiari taucht sogar noch tiefer in das spärliche Material über die
Ursprftnge menschlicher Kulturen em, um die Annahmen von LeviStrauss und der feministischen Anthropologinnen, die sich (wie etwa
Rubin, Ortner und Michelle Rosaido) aufihn berufen, in Frage zu stel
len. Cucchiari nimmt Höhlenmalereien als Beweismaterial dafür, daB
die Entdeckung/Einführung biologischer Geschlechtsunterschiede,
ausschlieBlich weiblicher Mutterschaft und schliefihicher männlicher
Vorherrschaft erst innerhaib der menschlichen Geschichte selbst
und nicht davor
zum Gegenstand menschlicher Beobachtung und
Bedeutung geworden ist. Im Gegensatz zu Levi-Strauss und späteren
frministischen Theoretikerinnen geht Cucchiari davon aus, daB die Be
schaftigung mit der Dichotomisierung des sozialen Geschlechts nicht
mit den Anfangen der menschlichen Kultur zusammenfiel, sondern
nach der Erfindung von Werkzeugen und der Entwicklung von Spra
che als ungluckliche Lösung einer Spannung auftrat, die zwischen
einer ursprünglich einheitlichen Welt menschlichen Denkens und Ver
haltens und dem langsam sich entwickelnden BewuBtsein davon, daB
nicht jeder Kinder gebären könne, entstand.
—
Anthropologen beiderlei Geschlechts haben uns schon lange Kiar
heit daruber verschafft, daB selbst heute noch nicht jede Kuitur einen
Begriff von Vaterschaft besitzt: die >>Hypothese<<, daB Manner irgend
etwas mit Empfängnis zu ten haben, ist eine theoretische Errungen
schaft. Unsere Kultur ist so besessen von der biologischen und sozia
len Differenz der Geschlechter, daB wir uns eine gesellschaftliche
Welt, in der genitale Unterschiede und von daher auch die Tatsache,
140
—
Funftes Kapitel
daB nur Frauen Kinder gebären unbemerkt blieben, nicht vorzustel
len vermögen. Vielleicht macht die Anerkennung, daB die Entdeckung
der Vaterschaft eine grofie Errungenschaft fruhen theoretischen Den
kens gewesen ist, den Vorschlag Cucchiaris plausibler, der besagt, daB
die ausschlieBlich weibliche Mutterschaft, ja selbst die Differenz der
Geschlechter in der Fortpflanzung vielleicht nicht immer selbstver
standliche beobachtbare Gegebenheiten für Menschen gewesen sind.
28
SchlieBlich haben der Freudschen Theorie verpflichtete psychologi
sche Studien die gesellschaftliche Konstruktion von Sexualitat und so
zialern Geschlecht in bezug auf Individuen und Gruppen untersucht.
Eine dieser Richtungen war von besonderern EinfluB auf feministische
Wissenschaftskritikerinnen in Amerika, weil sie zeigt, auf weiche
Weise Frauen und Manner geschlechtsspezifische Modelle des eige
nen Ich, der Anderen und der Natur entwickeln. Es handelt sich hier
bei urn die Theorie der >Objektbeziehungen<c, die von D.W. Winnicott,
Margaret Mahier, Harry Guntrip und anderen entwickelt wurde.
Später ist sie von Nancy Chodorow, Dorothy Dinnerstein und Jane
Flax innerhaib eines feministischen Rahmens interpretiert und weiter
entwickelt worden.
29 Diese Theorie wird deshaib so genannt, weil sie
die gesellschaftlichen/korperlichen Mechanismen beschreibt, mittels
derer erwachsene Manner und Frauen sich selbst und ihre Beziehungen
zur Welt auf sehr verschiedene Weise modellieren oder vergegenständ
lichen. In Kulturen, wo die Hege und Pflege der Kinder uberwiegend
in den Händen der Frauen liegt, müssen Kleinkinder rnännlichen wie
weiblichen Geschlechts sich ausschlieBlich durch und gegen Frauen zu
Individuen entwickeln. Dieser Kampf bringt für die werdenden Jungen
und Mädchen unterschiedliche Modelle des Ich und seiner Beziehung
zu anderen hervor. Weil die Entstehung des Geschlechts im mensch
lichen Individuum mit der Heranbildung des Neugeborenen zu einer
gesellschaftlichen Person zusammenfällt, ist unsere je gesellschaft
liche Identitilt, die wir als menschliche Wesen besitzen, von unseren
biologisch-sexuellen Identitäten als Mann und Frau oder unseren so
zialen männlich/weiblichen Geschlechtsidentitäten unabtrennbar.
Die Theorie der Objektbeziehungen geht davon aus, daB die biologi-1
sche Geburt des Sauglings em anderer ProzeB ist als die psychologi
sche Geburt der gesellschaftlichen Person. Erstere ist em Geschehnis
von kurzer Dauer (je nach Auffüssung neun Monate oder em paar
Stunden), das von gesellschaftlichen Deterininanten relativ unbeeia
fluBt bleibt. Letztere ist em ProzeB, dessen grundlegende Stadien etwa
drei Jahre wnfassen und der starken sozialen Umwelteinflüssen unterliegt. Die psychologische Geburt ist die erste genuin menschliche
j
Naturliche Ressoisrcen
141
Arbeit. Der Saugling ist alles andere als em passiver Empffinger auBe
rer Reize, vielmehr kampft er urn die Entbindung aus seiner ursprung
lichen Einheit mit der psycho-physischen Umwelt, weiche die Perso
nen darstellen, die für jim sorgen. Diese Umwelt wird in Gesellschaf
ten wie der unseren, die durch asymmetrisch bewertete geschlechts
spezifische Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, durch die Welt der Mut
ter dargestelit. Die erste soziale Arbeit des kleinen Kindes ist äuBerst
schwierig und schmerzvoll, weil es die symbiotische Einheit mit der
mütterlichen Welt nicht verlassen oder aber zu ihr zurückkehren und
zugleich eine Person für sich werden möchte. Und das Kleinkind ist
den Plänen und Verhaltensweisen seiner primaren Bezugspersonen in
hohem MaBe ausgeliefert, es ist seelisch und korperlich in allen Din
gen des alltaglichen Lebens und in der Anerkennung seines Kampfes
auf sie angewiesen.
—
Für Kinder beiderlei Geschlechts ist die Welt, der sie entwachsen
müssen und gegen die sie ihre eigene autonome Identitüt entdecken
und entwickeln, in gewissem Sinne die gleiche: die Mutterwelt. Doch
in einem anderen Sinn steilt sich diese Welt für die Kinder je nach Ge
schlecht sehr verschieden dar: die geschlechtsspezifisch differenzier
ten Erfahrungswelten begirmen mit der Geburt. Hier gehen die Theo
retikerinnen davon aus, daB die männliche Persönlichkeit sich durch
die Individuation und die Trennung von einer Person entwickelt, die
der kleine Junge biologisch nicht werden kann und gegen die er Wiflens
und Kontrollrnechanismen entwickeln mufi, urn nicht gesellschafflich
das zu werden, was sie ist: eine sozial abgewertete Frau. Ihr Körper,
den er als in die ganze Mutterwelt eingebettet erfährt, wird das erste
Modell für die Korper und Welten anderer Menschen Personen, von
denen er wahrnimmt, daB sie anders sind als er, und gegen die er, mit
. dem Risiko des Verlustes seiner Ich-Identität, em
starkes Gefuhl für
Abgrenzung und Kontrolle entwickeln und aufrechterhalten muB.
Seine Ich-Grenzen werden relativ starr. Irn Gegensatz dazu entwickelt
sich die weibliche Persönlichkeit irn Kampf des jungen Madchens urn
Individuation und Trennung von einer Person, zu der sie nichtsdesto
trotz de facto werden wird: eine sozial abgewertete Frau. Ihre Ich
Grenzen bleiben relativ dehnbar.
Die mütterliche Fürsorge äüBert sich bei Mädchen sichtlich anders
s bei Jungen. >>Mütter neigen dazu, in ihren Töchtern eher die Ahn
lichkeit mit und Kontinuität zu sich selbst zu sehen. Dementsprechend
neigen Mädchen dazu, der dyadisch-symbiotischen Einheit der Mut
ter-Kind-Beziehung verhaftet zu bleiben. Das bedeutet, daB die Selbst
erfhrung eines Mädchens darin besteht, fortwährend in Prozesse der
143
Natürliche Ressourcen
Funftes Kapitel
142
Grundsätze, die wir für Entscheidungen irn gesellschaffljchen Leben
insgesamt Zn Rate ziehen. Von daher solite es uns nicht überraschen,
in der wissenschaftljchen Methocte und der wissenschafflichen Ratio
nalitat
rnännliche
Konzeptionen
der
Beziehungen
zu
finden,
die zwi
schen dem Ich, den Anderen und der Natur existieren sollten.
32 In
einer anderen
Untersuchung
bezieht
sich
Isaac
Balbus
auf
die
Theorie
der Objektbeziehungen, urn darzustellen, daB wir in der Lage
sein
soilten, historisch und
kulturspezjfisch
unterschiedliche
Entwürfe
von
Natur und angemessenen menschlichen Beziehungen zur Natur zu
er
klären mid vorherzusagen, indem wir auf die kukurellen Unterschiede
hinsichtlich der Kindererziehung achten.
33
Diese feministischen Neuinterpretationen der Theorie der Objekt
beziehungen haben thre Grenzen und sind nicht ohne Widerspruch ge
blieben. Sie sind auch nicht die einzigen, die sich auf Freud beziehen,
urn auf feministisclie Weise die gesellschaftliche Konstruktion der
Ge
schlechter und der Sexualität in den Individuen zu beschrejben und zu
erklären. Die psychoanalytische Theorie Lacans, die sich enger als die
Theorie der Objektbeziehungen
an
Freuds
Entwurf
des
ödipalen
Dra
mas anlehnt, ist für französiscfie und englische Feminisfinnen
eine
wichtige QueUe gewesen.
—
—
Zusammenfassend kann gesagt werden, daB neuere Forschungen in
der Biologie, der Geschichtswissenschaf, der Anthropologie und der
Psychologie eine Konvergenz ihrer Ergebnisse aufweisen, angesichts
derer die Annahme, das soziale Geschlecht und die Sexualität der
Menschen seien in alien ihren Formen der Identität, des Verhaltens,
der Rollen und des Wunsches oder Begehrens durch die für die Fort
pflanzung notwendigen Geschlechtsunterschiede bedingt, absolut un
glaubwurdig erscheint. Simone de Beauvoir weist darauf hin, daB
Frauen nicht als soiche geboren, sondern dazu gernacht werden; die
neuere Literatur zeigt, daB nicht nur Frauen, sondern auch Manner ge
sellschafflich konstruierte Wesen sind.
In diesem kurzen Uberblick über einige neue Forschungsbeitrage
zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und sozialem
Geschlecht haben wir gesehen, daB viele dieser Untersuchungen die
—
Wenn die Mãnnljchkeit der Wissenschaft nicht der Ausdruck biolo
gisch gegebener Charakterzuge von Männern, sondern die expressive
,J Form gesellschaftlich konstruierter Identitäten, Praxisformen und Be
, dürfnisse ist, und wenn darüber hinaus dieser
>>Masku1inisrnus< für
j Frauen ebenso gefáhrlich und verabscheuungswurdig ist wie für Man
ner
gilt ebendies dann auch für die intellektuellen, ethischen und
politischen Strukturen der Wissenschaft?
[
Vereinigung und Trennung verwickelt und einer Zuneigung verhaftet
zu sein, die durch prirnare Identifikation und die Verschmelzung von
Identifikation und Objektwahl charakterisiert ist<< Im Gegensatz dazu
erfahren Mutter den Sohn als männlichen Gegensatz, so daB Jungen
sehr viel eher aus der präodipalen Bindung entlassen werden und die
primaren Bande der. Liebe und Zuneigung zur Mutter kappen müs
sen<<. Von daher hat die Entwicklung der Jungen >>eine emphatischere
Individuation und eine starker auf Verteidigung bedachte Festigung
der Ichgrenzenc< zur Folge. Für Jungen, mcht aber für Mädchen >>ver
bindet sich der Aspekt der Differenzierung und Individuation mit
30
sexuellen Aspekten<c
Diesen Analysen zufolge wird Männlichkeit durch den erfolgrei
chen Volizug der Trennung definiert, Weiblichkeit dagegen durch die
Aufrechterhaltung von Zuneigung und Verbundenheit. Hier liegt die
Ursache für die Bedrohung der männlichen Geschlechtsidentität durch
unmittelbare Nähe oder durch die starke Identitikation mit den Bedürf
nissen und Interessen bestimmter anderer Menschen, wohingegen die
weibliche Identität durch die Trennung von anderen und durch zu ge
ringe Identifikation mit den Bedürfnissen mid Interessen anderer Men
schen bedroht wird. Die Ausarbeitung von Regein für soziale Inter- I
aktion hilft den Jungen, reibungslos funktionierende Beziehungen her
zustellen, die zu ihrer Aufrechterhaltung (oder zur Aufrechterhaltung
anderer Menschen in thnen) mcht des personlichen Engagements be
dürfen.
Dinnerstein ist der Ansicht, daB die okologische Katastrophe u
die Neigung zum Militarismus auf diesen ProzeB männlicher Verge-i
schlechtlichung zurückzuführen sind. Flax hat äuf zentrale Strukturen
im Denken von Plato, Descartes, Hobbes und Rousseau hingewiesen,
die Ausdrucksformen der >>normalen<< Entwicklungshemmung bei
männlichen Kleinlcindern zu sein scheinen. Und Keller vermittelt
einen kurzen Uberblick über die Bedeutung der Theorie der Objekt
beziehungen für die feministische Auseinandersetzung mit der Wis
senschaft. Andere Analysen sind für die feministische Kritik am
drozentrismus in der Wissenschaft von Bedeutung: Carol Gilligani
Buch über die Theorie moralischer Entwicklung benutzt die feministische Analyse der Objektbeziehungen zur Erklarung der Geschlechts
unterschiede, die sie in ihrer Untersuchung über die moralischen Kon
zeptionen amerikanischer Kinder und Erwachsener entdeckt hat,
sie danach fragte, was em moralisches Problem konstituiert und wie
31 Die Regein der wissen
soiche Probleme gelOst werden soflten.
schaftlichen Forschung sind ebenso moralische Normen wie C
144,
Funftes Kapitel
Wissenschaft in bestimmte historische Verschiebungen unmittelbar
verwickelt sehen. Diese Verschiebungen betreffen die Bedeutungen
und Verhaltensweisen, weiche mit biologischer wie auch gesellschaft
licher Männlichkeit und Weiblichkeit assoziiert worden sind oder wer
den. Nicht nur in Ausnahmefällen stand die Wissenschaft auf der Seite
der stärkeren, das heifit der männlichen und androzentrischen Batail
lone und hat ihnen die definitorische Munition geliefert. Die Ge
schlechterordnung hat sich dafur des öfteren revanchiert und den sich
entwickelnden Wissenschaften bei ihrem Versuch, gesellschaffliche
Anerkennung zu finden, tätige Schützenhilfe geleistet. Auf diese
Weise verbindet und verbUndet sich die Wissenschaft, indem sie die
gesellschaffliche Konstruktion des sozialen Geschlechts und der
Sexualitat betreibt, mit einer männlich dominierten Gesellschaftsord
nung, welche die wissenschaffliche Autoritit zum Zwecke der Auswei
tung gesellschafflicher Macht legitirniert. In der feministischen Kritik
an diesem Bündnis wird die Wissenschaft am radikaisten in Frage ge
stelit.
Gerade die modernen Kulturen haben bestirnmte Geschlechterver
hältnisse herausgebildet, die auf der individuellen Ebene der biolo
gisch-sozialen Geschlechteridentitäten und -verhaltensweisen, auf der:
gesellschaftlichen Ebene der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung
und auf der Ebene des Geschlechtersymbolisrnus Charakterzuge auf
weisen, anhand derer sich die tiefe und vielfältige Verstricktheit der
Wissenschaft in die Entwicklung einer androzentrischen Kultur er-i
klären läBt. Auch wenn wir hier erst am Anfang stehen, können wir zu
begreifen beginnen, wie mystifizierend die Behauptung der Wissen
schaft, sie sei objektiv, leidenschaftslos, wertfrei und von daher sozial
fortschrittlich, sich ausmacht. Mit Virginia Woolf zu sprechen: >>Wie
es aussieht, ist die Wissenschaft mcht geschlechtslos; er ist em Mr
em Vater, und zudem verseucht.<<
Sechstes Kapitel
Feminjstjsche Erkenntnjstheorjen (I):
Die Uberwindung des Empirismus
—
—
,
145
Die androzentñsche Ideologie der zeitgenossischen
Wissenschaft geht
von der Faktizitat und/oder Notwendigkeit
einer Reihe von Dualismen
aus Kultur vs. Natur, rationaler Geist
vs. prärationaler Körper und
irrationale Gefühle und Werte,
Objektivität
vs.
Subjektiviiit,
das Of
fentijehe vs. das Private
urn dann
den
MAnnern
und der Männlich
keit die erste, den Frauen und der
Weiblichjcejt
die
zweite Hälfte jeder
Dichotomje zuzuweisen. Die ferninistische
Kritilc
geht davon aus, daB
eine soiche Dichotomisierung eine Ideologie
irn
strengen Sinne konsti
tuiert: un Gegensatz zu rein wertgebundenen
falschen Annahmen, die
keinerlei gesellschaffijc Macht besitzen,
geht es hierbei urn die
Struicturierung von
Politikund
Praxisformen
gese1lschaftljcer Insti
tutionen, zu welch letzteren auch die
Wissenschaft
gehort.’
Könnte es eine alternative
Erkenntnismethode
geben, die nicht
durch soiche Dichotomjen und Dualjsrnen
determjniert ist? Viele
Feministinnen haben sich zu der Frage,
ob
eine
spezifisch
ferninisti
sche Wissenschaft oder Erkenntnistheorie
rnöglich
sei,
oder
ob wir
uns wenigstens vorzustellen vermöchten,
wie
sie
aussehen
könnten,
zuruckhaltend geãuBert. Die Wissenschaftshjstoijkerin
Donna Hara
y meint, daB Feniinistinnen sich Problemen
wie den folgenden
widmen mUBten:
-
‘Bildet sich heutzutage eine feminist ische
Erkenntnjstheorie heraus, die ähnliche
Jmp1flctjonen
besitzt
wie
die
aus
der
griechischen Wissenschaft und der wissen
schaftjjchen Revolution des siebzehnten
Jahrhunder entstandenen Theorjen?
Würde eine die
wissenschaffliche
Forschung
beeinflussencje feminjstjsche Er
e sich in die Familje der bereits
existierenden
reprhsentationalen
und
istischen Epistemologien einfügen?
Oder
soliten
Femimstinnen
eine radikale
.,rm der
Erkenntnistheorje
entwickeln,
die
die
eines objektiven
tandpunkts und emes Zugangs zur Realität leugnet?Möglichkeit
Würden feministische Mafi
Abe der Erkenntnis das
Dilemma
der
Subjekt-Objektspaltg
oder der Kiuft
i nicht-eingreifende Wissen
und
Vorhersage/Kontrolle
wirldich auf
n können? Eröffnet der Feminjsmus
eine
Einsicht
in
die
Verbindungen zwi
len Wissenschaft
und
Humanjsmus?
Haben
Feministinnen
zu den verwirrenden
dehungen zwischen Erkenntnis und
Maclit
etwas
Neues zu sagen? Würden
ministische Autoritijt und Macht der Benennung
der Welt eine neue Identität,
eine neue Geschichte (story) vermittein können?<?
146
Zweideutigkeit und Ubergang
—
—
—
Sechstes Kapitel
Haraway ist skeptisch, ob die feministische Theorie (zumindest in
ihrer Gestalt von 1981, als these herausfordernden Fragen formuliert
wurden) darauf antworten kann. Ausgelöst wurden ihre Fragen durch
eine Zweideutigkeit, die das feministische Nachdenken über Wissen
schaft kennzeichnete, und die immer noch em Problem darsteilt. Eine
Form dieser Zweideutigkeit ist die Berufung auf Argumente von Tho
mas Kuhn: Manner sehen die Welt auf diese, Frauen aufjene Art; was
für Gründe auBer der Loyalitat zum je eigenen Geschlecht ermoglichen
uns die Entscheidung zwischen diesen einander widersprechenden
Sichtweisen? So gibt es die Ansicht, daB dies zum Beispiel auf den
Widerstreit zwischen den Hypothesen vom >>männlichen Jager<< und
der >weiblichen Sammlerin<< zutrifft (vgl. Kapitel 4).3 Doch wenn
Feministinnen die Moglichkeit eines objektiven Standpunkts und eines
Zugangs zur realen Welt leugnen, dann scheinen sie eine entgeschlecht
lichte Wissensehaft uberhaupt für unerreichbar zu halten. NatUrlieh
sind soiche relativistischen Darstellungen eine Reaktion auf die wohl
begrundete Annahme, daB philosophische und wissenschaffliche
Appelle an objektive und wertfreie Forschung oftmals nur em Deck
mäntelchen für die Weigerung waren, die gesellschafflichen Werte und
Zielvorstellungen, die in der Wissenschaftsgeschichte und den geisti
gen Strukturen der Wissenschaft eine wichtige Rolle gespielt haben,
kritisch zu untersuchen. Doch macht die Anerkennung der Tatsache,
daB die Wissenschaft immer em Produkt der Gesellschaft gewesen ist
daB mithin ihre Projekte und Erkenntnisanspruche die Fingerab
drucke ihrer Produzenten tragen es erforderlich, daB nun der Femi
nismus relativistischer Subjektivität sich hingibt?
Haraway hinterfragt mit Recht, ob die feministische Kritik des eOb
jektivismus<< (d.h. die Annahme, Objektivität sei nur durch Wertfrei
heit zu erreichen) uns zum >>Subjektivismus und Relativismus zwingt
(d.h. zur Annahme, keine wertbezogene Forschung könne objektiv
sein und von daher seien alle Forschungsrichtungen gleichermaBen be
grflndbar). Kann dieser Subjektivismus dem von der etablierten
Wissenschaft behaupteten Dualismus von Tatsachen und Werten, von
>>reiner Wissenschaft<< und moralisch-politischer Gesellschaft über
haupt etwas entgegensetzen? SchlieBlich ist die etablierte Wissensehaft
aufs engste mit den Projekten eines staatlich-militärisch-industriellen
Komplexes verwoben, der bürgerlich, rassistisch und von Männern be
herrscht ist. >>Jedem Tierchen sein Pläsierchen<< ist das die wehrhaf
teste und machtvollste Antwort auf die lebensbedrohenden Projekte,
die von der etablierten Wissenschaft unterstützt werden?
F
:
Die Uberwindung des Empirismus
—
—
147
—
Zudem verfehit der Sprung in den Relativismus den Sinn feministi
scher Entwürfe. Die führenden feministischen Theoretikerinnen sind
mcht darauf aus, em loyales Verhalten gegenuber dem je eigenen
Geschlecht durch em anderes zu ersetzen und >>männerzentrierte<<
Hypothesen durch >>frauenzentrierte<< abzulosen. Statt dessen sollen
Hypothesen angestrebt werden, die von derlei Loyalitäten überhaupt
befreit sind. Sicher müssen wir oft zunächst eine >>frauenzentrierte<<
Hypothese entwerfen, um eine geschlechterfreie uberhaupt verstehen
zu können. Doch das Ziel feministischer Erkenntnissuche besteht
darin, Theorien zu formulieren, in denen die Tätigkeiten von Frauen
als gesellschafthiche Tätigkeiten erscheinen, und in denen die Ge
schlechterverhältnisse als reale
d.h. explanatorisch wichtige
Komponenten der menschlichen Geschichte begriffen werden. Em
solches Projekt hat nichts >>Subjektives<< an sich, es sei denn, man
glaubt, daB die Vorstellung, Frauen seien gesellschaftliche Wesen und
Geschlechterverhältnisse seien explanatorische Variablen, em Zerr
bild darstelle, weiches einzig dern vergeschlechtlichten Begehren ent
springe. Aus der Perspektive feministischer Theorie und Forschung ist
das traditionelle Denken subjektivistisch, weil es androzentrisch ent
steilt ist
eine Behauptung, die Feministinnen unter Berufung auf
ganz traditionelle objektivistische Gründe zu verteidigen bereit sind.
Diese Zweideutigkeit ergibt sich auch, wenn Ferninistinnen sich auf
wissenschaftliche >>Tatsachen<< berufen, urn sexistische >>Tatsachen<<be
hauptungen als wissenschaftlich unbegrundet zurückzuweisen, wäh
rend sie gleichzeitig die Existenz einer beobachtbaren Wirkiichkeit
auBerha1b<< gesellschafflich konstruierter Sprachen und Gedanken
systeme leugnen. Haraway weist darauf hin, daB diese ambivalente
Haltung oft von denselben feministischen Wissenschaftlerinnen einge
nommen wird, die den >>Objektivismus<< am grUndlichsten kritisieren.
Wie können wir uns bei der Unterstutzung alternativer Erklärungs
weisen, die >>weniger falsch<< oder >>wahrheitsgetreuer<< sind, aufunsere
eigene Forschung berufen, wenn wir im gleichen Atemzug dem Argu
ment, wissenschaftliche Tatsachen und ihre Erldärungen seien ver
nünftigerweise der End- und Ausgangspunkt von Begründungen und
Rechtfertigungen, den Boden unter den FüBen wegziehen? Wie kOnnen
wir, urn mit Longino und Doell zu sprechen, zugleich die >>schlechte<<
.wie auch die enormale<< Wissenschaft in Frage stellen?
Em anderes Problem, das Haraways Fragen veranlaBt haben könnte,
wird von Elizabeth Fee aufgeworfen. Soliten wir in der Arbeitsweise
der Laboratorien, in den von feministischen Wissenschafflerinnen an
gewandten Denkweisen und -methoden nach einer neuen Wissenschaft
148
—
—,
Sechstes Kapitel
1
suchen? Oder, wie einige feindselig eingestellte Skeptiker sich be
müBigt fühlen könnten zu fragen: >>Hat der Feminismus eine Alternati- 4
ye zu induktiven und deduktiven Methodologien? Eine Alternative zu
Experiment und Beobachtung? Wenn nicht, was könnte mit einer
feministisehen Wissenschaft gemeint sein?<< Wir haben uns im zweiten
Kapitel mit der verzerrten Wissenschaftsauffassung beschaftigt, die
hinter soichen Fragen steht. Mit dem Argument, >>dafi wir zu diesem
historischen Zeitpunkt keine feministische Wissenschaft, sondern eine
feministische Kritik an der real existierenden Wissenschaft ent
wickeln<<, behauptet Fee, daB wir zuerst eine feministische Gesell
schaft zustandebringen müssen, ehe wir damit beginnen können, uns
eine feministische Wissenschaft uberhaupt vorzustellen. >>Eine sexisti
sche Gesellschaft wird erwartungsgemäB eine sexistische Wissen
schaft entwickeln; gleichermaBen wird eine feministische Gesellschaft
eine feministische Wissenschaft entwickeln. Für uns liegt die Vorstel
lung einer feministischen Wissenschaft in einer feministischen Gesell
schaft so fern wie für die mittelalterliche Bäuerin die Gentechnologie
oder die Produktion einer Raumkapsel; unsere bildlichen Vorstellun4
gen können allerhöchstens umrifihaft und kaum substantiell sein.
Fee hat sicher recht, wenn sie die Bedeutung feministischer Praxis für
die Theorie betont und auf die daraus folgenden Beschränkungen ver
weist, denen imsere Einbildungskraft hinsichtlich der intellektuellen
Strukturen einer noch nicht vorhandenen Welt unterliegt. Doch mufi
em feministisches Progranim für neue Methoden der Erkenntnissuche
auf Sparfiamme kochen, his wir eine feministische Gesellschaft
etabliert haben? 1st die Theorie der Praxis vollig nachgeordnet? Oder
entwickelt sie sich als fortwährender ProzeB aus den Kämpfen urn die
Errichtung einer feministischen.Gesellschaft? Und werden die grund
legenden Neuheiten einer feministischen Wissenschaft in ihren we
sentlichen Theorien und Technologien liegen, oder in ihrer Erkennt
ihrer Theorie der moglichen und erstrebenswerten Ver
nistheorie
hältnisse zwischen der >>menschlichen Natur<< und der von uns dann
oder vielleicht im moglichen Zusammenwirken
begriffenen Welt
beider? (Wie würden wir diese Fragen hinsichtlich der modernen Wis-.
senschaft selbst beantworten?)
-.
Einige Theoretikerinnen sind der Auffassung, daB Vorläufer oder
Merkmale einer feministischen Wissenschaft in den alternativen Praxis
formen zeitgenOssischer Wissenschaftlerinnen entdeckt werden kön5 Zweifelsohne wird deutlich, daB viele Frauen gesellschaftliche
nen.
Interaktionsformen und Umgangsweisen mit der Natur anders kon- ;
struieren als die meisten westlichen Manner; darauf deuteten auch
[
149
—
Urn die moglichen Richtungen, innerhaib derer eine feministische
Wissenschaft entstehen könnte, auszuloten, soilten wir lieber einen
Buck auf die bereits entwickelten Erkenntnistheorien werfen. Was uns
heute als >>wissenschaffliche Methode<< gilt, hat, urn sich herauszubil
den, Jahrhunderte gebraucht. Nur mit Hilfe der grobsten Verallgemei
nerungen über Forschungsweisen und ihre Begrundungsstrategien
könnte Galileis >>Methode<< mit der Elementarteilchenphysik oder der
Genetik in Zusammenhang gebracht werden. (Und, wie wir im zwei
ten Kapitel sahen, ist vieles von dem, was wir für eine wissenschaft
liche Methode halten, tatsachlich kein Kriterium, urn wissenschaffliche
von nicht wissenschaftlich genannten Tatigkeiten zu unterscheiden
em Gesichtspunkt, der den philosophischen Diskurs nach Kuhn stark
beschftigt hat.) Doch einige der Aussagen über Erkenntnissubjekte,
Weibliche Wissenschaffler verstoBen gegen die geschlechtsspezifi
sche Arbeitsteilung, die Frauen auf Hausarbeit oder zweitrangige
Lohnarbeit beschränkt. Doch wie alternativ können die Praxisformen
isolierter Individuen sein, die es auf irgendeine Art geschafft haben,
die Kiuft zwischen Arbeit und gesellschafflicher Identität zu über
brücken? Die Forschungsprogramme der Naturwissenschaften werden
durch internationale Gruppierungen bestimmt, nicht durch isolierte
Forscherinnen und Forscher in den vor Ort befindlichen Laboratorien.
Die (in Kapitel 3 untersuchte) reale Struktur der Wissenschaft ist em
Hindernis für die Entfaltung dessen, was einzelne Wissenschaftlerin
nen an einzigartigen Talenten und Fahigkeiten besitzen mögen. Und
ist, darüber hinaus, eine feministische Wissenschaft nichts weiter als
die Sammiung alternativer Begriffs- und Praxisformen von Wissen
schafflerinnen, ohne Berücksichtigung der Verschiebungen, Ziele und
unterschiedlichen Auffassungsweisen in der feministischen Theorie
und der Frauenbewegung? Kann eine auf die vergeschlechtlichte Iden
that von Frauen sich gründende Wissenschaft eine solide Grundlage
für eine feministische Wissenschaft abgeben?
im vorigen Kapitel angefuhrten feministischen Untersuchungen zur
Theorie der Objektbeziehungen hin. Doch es ware, denke ich, em
Fehler, in gegenwartigen oder vergangenen Praxisformen einzelner
Wissenschaftlerinnen nach den Umrissen einer feministischen Wis
senschaft zu suchen. Wir würden dann für die Vision eines wissen
schaftlichen Weitbildes vielleicht nicht die Vorstellungen mittelalter
licher Bäuerinnen bemühen müssen, statt dessen aber die Einbildungs
kraft von Handwerkern oder Künstlern der FrUhrenaissance zu Rate
ziehen, deren neue Arbeitsweise die umfassende Anerkennung der
6
lbgenden experimenteller Beobachtung ermOglichte.
Die Uberwindung des Empirismus
.
150
Sechstes Kapitel
die zu erkennende Welt und den ErkenntnisprozeB, mittels derer sich
moderne von mittelalterlichen Erkenntnistheorien unterscheiden, sind
schon bei Galilei und semen Vorgangern nachzuweisen. Ahnlich
haben feministische Theoretikerinnen Begriffe von Erkenntnissubjek
ten, der zu erkennenden Welt und dem ErkenntnisprozeB entwickelt,
mittels derer sich feministische Erkenntnistheorien von den vorherr
schenden westlichen Sichtweisen der letzten Jahrhunderte unterschei
den. Und genau diese Erkenntnistheorien sind bereits jetzt für viele
feministische Forschungsweisen maBgebend.
—
Die von uns als erkenntnis- oder wissenschaftstheoretisch anerkann
ten Fragen leiten sich in ihrer modernen Form von einer >>Meditation<
Uber die Implikationen des Aufstiegs der modernen Wissenschaft
selbst her. Descartes, Locke, Hume und Kant unternahmen den Ver
such, die von Kopernikus, Galilei und Newton betriebene Methode der
Erkenntnissuche als vernunftgemáfi zu begreifen. Die Schopfer der
modernen Erkennmistheorien meditierten über das, was sie als Wis
senschaft ansahen, die von individuellen >>Kunsthandwerkern<< hervor
gebracht worden war. Ihre Wahrnehmungen bezogen sich auf das
Wesen und die Tatigkeiten eines, wie sie es auffaBten, individuellen,
>>entkörperlichten<<, aber menschlichen Geistes, dem keine soziale Ver
pflichtung oblag aufler der eigensinnigen Suche nach Kiarheit, Wahr
heit und GewiBheit. Diese Wahrnehmungen sind auch weiterhin die
Grundlagen, auf denen die von uns als erkenntnistheoretisch anerkann
ten Probleme gedeihen. Wenn wir authören, die modernen westlichen
Erkenntms- und Wissenschaftstheorien als phiosophische Gegeben
heiten zu betrachten, können wir statt dessen anfangen, sie als histo
risch verortete Strategien der Begründung und Rechtfertigung zu un
als kulturspezifische Konstruktions- und Ausbeutungs
tersuchen
methoden kultureller Bedeutungen zur UnterstUtzung neuer Arten von
Erkenntnisanspruchen. Immerhin wurde den theologischen Rechtfer
tigungen wissenschaftlicher (und mathematischer) Behauptungen und
Praktiken durch die Verfahrensweisen der modernen Wissenschaft
selbst der legitimatorische Boden entzogen, well diese der Intuition
annebmbarer erschienen als die Theologien, die zu ihrer Rechtferti
gung herhalten muBten.
In ähnlicher Weise gehe ich davon aus, daB der Wesenskern femini
stischer Behauptungen und Praktilcen dazu dienen kann, die Legitirni
tat der modernen Erkenntmstheorien zu unterhöhlen. Diese Theorien
ignorieren explizit den Geschlechterbegriff, während sie implizit spe
zifisch männliche Bedeutungszuschreibungen der Erkenntnissuche für
ihre Zwecke ausnutzen. Explizit geschlechtsbezogene Uberarbeitungen
Die Uberwindung des Empirisinus
151
moderner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien waren für den Femi
nismus die hauptsächlichen Ressourcen der Begrundung und Recht
fertigung. Dies wird erst jetzt von feministischen Theoretikerinnen in
seinem ganzen Umfang erkaunt, obwohl die von uns angeführten
Zweideutigkeiten eine Vorläuferfunktion gehabt haben. Ich schiage
also vor, feministische Erkenntnistheorien als immer noch ubergangs
fOrmige Meditationen über den Wesenskern feministischer Behaup
tungen und Praxisformen zu betrachten. Kurz gesagt soilten wir soiche
Zweideutigkeiten und Widerspruchlichkeiten nicht nur erwarten, son
dern vielleicht sogar hegen und pflegen. In diesem Slime hat Fee recht:
wir werden eine mit ihren erkenntnistheoretischen Strategien vollig
übereinstimmende feministische Wissenschaft erst in einer feministi
schen Gesellschaft besitzen.
In diesem und dem nächsten Kapitel werde ich die in Kapitel 1 bereits
erwähnten feministischen standpunktorientierten Erkenntnistheorien
untersuchen, auf einige Probleme hinweisen, mit denen diese Theo
rien sich konfrontiert sehen, und die dadurch hervorgerufene Tendenz
zum feministischen Postmodernismus erforschen.
Die standpunktorientierten Erkenntnistheorien
des Feminismus
Die standpunktorientierten Erkenntnistheorien grftnden eine spezi
fisch feministische Wissenschaft auf eine Theorie vergeschlechtlichter
Aktivität und gesellschaftlicher Erfahrung. Sie geben Frauen (oder
Feministinnen, je nach Ansatz) in epistemischer Hinsicht den Vorrang,
erheben aber zugleich den Anspruch, die für das aufklarerisch-bürger
liche Weitbild und seine Wissenschaft charakteristischen Dichotomien
7 Es empfiehlt sich, die Standpunkt-Theorien ebenso
zu überwinden.
wie die Ansätze, die sich auf einen feministischen Empirismus be
rufen, als Projekte ether >>Nachfo1gewissenschaft (successor science)
zu betrachten, weiche die ursprUnglichen Ziele der modernen Wissen
schaft auf signifikante Weise zu rekonstruieren suchen. Im Gegensatz
dazu stelit der feministische Postmodernismus diese Ziele direkt in
Frage (wobei es jedoch auch in den standpunktorientierten Ansätzen
postmodernistische Strömungen gibt).
Bei der Betrachtung dieser Argumente lassen sich fünf unterschied
liche, jedoch miteinander verbundene, Gründe herausfiltern, mittels
derer erklärt werden soil, warum eine ferninistische Forschungs
perspektive Interpretationsweisen von Natur und Gesellschaft eröffnen
152
Sechstes Kapitel
kann, die aus der Perspektive spezifisch männlicher Tatigkeiten und
Erfahrungen unmöglich beizubringen sind. Ich werde jeden dieser
Grunde anhand der Schriften jeweils einer Theoretikerin untersuchen,
die diesen besonderen Aspekt der geschlechtsspezifischen Aufspal
tung von Tatigkeiten betont, wobei gesagt werden mufi, daB die Mehr
zahi dieser Theoretikerinnen mehr als nur einen Aspekt behandelt. Die
Darstellungen soilten, ungeachtet ihrer Unterschiede, als einander er
ganzend und mcht widerstreitend verstanden werden.
Die Einheit von Hand, Kopf und Herz in der handwerklichen Arbeit
Hilary Roses >>feministische Erkenntnistheorie für die Naturwissen
schaften< wurzelt in einer post-marxistischen Analyse der Auswirkun
gen einer geschlechtsspezifischen Aufspaltung von Tatigkeiten auf
8 Sie geht von dem Argument aus, daB wir
intellektuelle Strukturen.
die Umrisse einer spezifisch feministischen Erkenntnistheorie in den
Denkweisen und Praxisformen von Wissenschaftlerinnen, deren For
schungsweisen immer noch >>handwerklich<< organisiert sind, ent
decken können, nicht aber in der >>industriell organisierten Arbeit<, die
für den groflten Teil der wissenschaftlichen Forschung charakteristisch
ist. Die Spezifik dieser Erkenntnistheorie liegt in der Art und Weise,
in der ihre Begriffe des Erkenntnissubjekts, der zu erkennenden Welt
und des Erkenntnisprozesses die für die Arbeit der Frauen im ailge
meineren Sinne typische Einheitlichkeit von manueller, geistiger und
emotionaler (*Hand, Kopfund Herz<<) Tatigkeit reflektieren. Diese Er
kenntmstheorie steht mcht nur im Gegensatz zu den cartesianischen
Dualismen (Geist vs. Korper und beide vs. Gefühl und Emotion), die
den aufldärerischen und selbst den marxistischen Entwürfen von Wis
senschaft zugrundeliegen, sondern sie begrundet auch die Moglichkeit
eines >>vollstandigeren Materialismus, einer wahreren Erkenntnis als
die beiden paternalistischen Disicurse sie haben entwickeln können
(Rose 1984, 49). Die Notwendigkeit einer soichen feministischen Wis
senschaft >>wird zusehends dringlicher<<, denn wenn wir die drohende
nukleare Vernichtung und das sich verschärfende soziale Elend ver
meiden wollen, so >>ist für em wissenschaffliches und gesellschaftliches
Transformationsprograinm der kritische Punkt erreicht, an dem wir die
fürsorgende Arbeit und das Wissen, das aus der Beteiigung an ihr sich
herleitet, analytisch aufarbeiten mUssen<< (Rose 1983, 89).
Rose begiunt damit, die Einsichten post-rnarxistischen Denkens zu
analysieren, auf die Feministinnen aufbauen kOnnen. Für Alfred Sohn
Rethel war die Trennung der geistigen von der korperlichen Arbeit im
Kapitalismus die Ursache für die mystifizierenden Abstraktionen der
I
Die Uberwindung des Empirismus
—
—
153
9 Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse
bürgerlichen Wissenschaft.
umfassen viel mehr als die reine Warenproduktion, in der die geistige
und die korperliche Arbeit verschiedenen Bevölkerungsklassen zu
1llt. Wie Marx, so hat auch Sohn-Rethel versäumt zu fragen, weiche
Auswirkungen sich auf die Wissenschaft dadurch ergeben, daB die Ar
beit der Fursorge und Betreuung ausschlieBlich den Frauen zugewiesen
10 In dieser Hinsicht, sagt Rose, unterscheiden sich Post-Marxi
wird.
sten wie Sohn-Rethel nicht von den Theoretikern der Soziobiologie, zu
denen sie ansonsten in vehementem Gegensatz stehen; stillschweigend
billigen sie das >>alles andere als emanzipatorische Prograrnm der So
ziobiologie, die das Schicksal der Frau an ihre genetische Ausstattung
bindet<<. Die Feministinnen müssen das Verhältnis zwischen der be
zahiten und der unbezahiten Arbeit der Frauen analysieren, urn zu
zeigen, daB die fursorgerischen Fähigkeiten der Frauen sozialen und
nicht natürlichen Ursprungs sind und daB es >>die Manner sind, die
ihuen vor allem irn häuslichen Bereich, aber auch am Arbeitsplatz
diese Fahigkeiten entlocken<< (ebd.., 83f.).
Des weiteren analysiert Rose die Beziehung zwischen den wissen
schaftlichen und den häuslichen Arbeitsbedingungen der Frauen und
untersucht die für Frauen sich aus diesen Aktivitäten ergebenden Mog
lichkeiten, einen weiter entwickelten Standpunkt als Produzentinnen
weniger verzerrter und umfassenderer wissenschafflicher Behauptun
gen einzunehmen. Eine feministische Erkenntnistheorie kann nicht
aus dem Nachdenken über die LabortAtigkeit von Frauen erwachsen,
denn dort sind die Frauen aus Uberlebensgründen zur Selbstverleug
nung gezwungen, zugleich aber >>im groBen und ganzen aus dern Pro
duktionssystem wissenschaftlicher Erkenntnis mit seiner ideologi
schen Definitionsmacht hinsichtlich dessen, was objektive Erkenntnis
ist und was nicht, ausgeschlossen<< (ebd., 88). Ihnen wird verweigert,
(männliche) wissenschaftliche Erkenntnissubjekte zu werden, ohne
daB sie sich darum zu dem bekennen dürften, als was sie in erster Linie
11
wahrgenommen werden: Frauen zu sein.
In ihrem Aufsatz von 1983 argurnentiert Rose dahingehend, daB eine
feministische Erkenntnistheorie sich auf die Praxisforrnen der Frauen
bewegung grunden müsse. In threr Beschäftigung mit biologischen
and medizinischen Gesichtspunkten wie Menstruation, Abtreibung,
and medizinischer Seibstindikation und Selbstbehandlung verschmilzt
die Frauenbewegung >>subjektive und objektive Erkenntnis zu einer
neuen Art von Erkenntnis<<. >>Angesichts der Notwendigkeit, die person
liche Erlhhrung von [Menstruations-] Blut, Schmerzen und Anspannun
gen zu integrieren und zu interpretieren, verblaBt der cartesianische
155
Die Uberwindung des Empirismus
Sechstes Kapitel
154
—
können. Und
orientiert sei als die westliche Wissenschaft, berufen 13
chinesischen
dann müBten wir über den Widerspruch zwischen der
ganz und gar
Geschichte einer >>feminisierten Wissenschaft<< und der
Frauenfeind
nicht emanzipatorischen Geschichte der chinesischen
Problem, daB
lichkeit nachdenken. Daraus ergibt sich das schwierige
omien (d.h.
Geschlechterdichotomien als Metapher für andere Dichot
gt werden, die
der Geschlechtersymbolismus) mit Erklarungen vermen
Geschlech
gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den biologischen
em Punkt,
ein
tern als kausale Faktoren in der Geschichte behand
führt diese
mit dem ich mich später befassen werde. Daruber hinaus
ismus mannGedankenlinie direkt auf das Mifitrauen, das der Femin
es hier zu
lichen Konzeptionen von Androgynitat entgegenbringt, weil
für sich selbst
meist urn eine Form des Androgynen geht, die Manner
dteile >>des
begehren und von daher dazu neigen, sich bestimmte Bestan
d die wirk
Weiblichen< für ihre Projekte selektiv anzueignen, währen
bleiben.
lichen Frauen davon ganz unberührt 14
ständigeren
Die bedeutsamsten Schritte in Richtung auf einen >>voll
in der seit
Materialismus, eine wahrere Erkenntnis<< entdeckt Rose
Gebieten von
jUngster Zeit von Frauen betriebenen Forschung auf den
he, in denen
Biologie, Psychologie und Anthropologie. Das sind Bereic
im Gegensatz
handwerMiche<< Forschungsweisen noch moglich sind,
rn beherrschten
zu den >>industriellen<< Formen in den von Männe
stische Denken
Laboratorien. In allen diesen Bereichen hat das femini
en Organismen
zu einern neuen Verständnis der Beziehungen zwisch
lt andererseits
einerseits und zwischen Organismen und ihrer Umwe
se der Dar
gefUhrt. Der Organismus wird >>nicht in der Ausdruckswei
chanismen
winschen Metapher, als passives Objekt der Selektionsme
Teilnebmer, als’
einer gleichgultigen Umgebung, sondern als aktiver
en (ebd., 51).
Subjekt, das seine eigene Zukunft bestimmt<<, begriff
zufolge, em Para
(Die Arbeiten von Barbara McClintock sind, Keller
e<< der an Dar
digma einer soichen Alternative zur >>Herrschaftstheori
win orientierten Biologie. )
spezifisch femi
Roses Vorschlag geht also dahin, die Gründe für eine
gesellschaftlichen
nistische Wissenschaft und Erkenntnistheorie in den
(oder Forsche
Praxisformen und Begriffsschemata der Feministinnen
Forschungsberei
rinnen) zu suchen, die in handwerklich organisierten
ch hervorge
chen tätig sind. Dort können die von Frauen gesellschaffli
ungen neue Ver
brachten Konzeptionen der Natur und der Sozialbezieh
ipatorische
stehensweisen zutagefOrdern, die für die Gattung emanz
n müssen nicht
Moglichkeiten mit sich bringen. Diese Konzeptione
erinnen sein:
unbedingt die ureigenste Erfindung der Wissenschaftl
—
Dualismus ebenso wie der biologische Determinismus und der soziale
Konstruktivismus<<, erklärt Rose. >>Die Arbeit mit der unci an der Er
fahrung der besonderen Unterdruckung von Frauen verschmflzt das
PersOnliche, das Gesellschaftliche und das Biologische. Auf diese
Weise wird aus dem Zusammenspiel zwischen >>neuen Organisations
formen<< und neuen Projekten eine feministische Erkenntnistheorie für
die Naturwissenschaften erwachsen. Im Gegensatz zu den kapitalisti
schen Produktionsverhältnissen und ihrer Wissenschaft widerstehen
die Organisationsformen der Frauenbewegung der Aufteilung von
geistiger, korperlicher und fürsorgender Tatigkeit auf versehiedene
Menschengruppen oder -kiassen. Und das Ziel feministischer Wissen
schaft besteht darin, den Frauen das Wissen zu vermittein, das sie be
notigen, urn unseren eigenen Korper verstehen und darnit umgehen zu
können: Subjekt und Objekt der Rrschung fallen in ems. Die aus
dieser vereinheithchten Tatigkeit im Dienste der Seibsterfahrung er
wachsenden Annahmen und Uberzeugungen sind angernessener als
jene, die aus den aufgespaltenen Tatigkeitsformen resultieren und nur
dem Zweck der Profitmonopolisierung und der sozialen Kontrolle
dienen.
Dieser Aufsatz lieB eine LUcke zwischen den Wissens- oder Macht
verhaltnissen, die in einer auf das Begreifen des eigenen, des weiblichen
KOrpers zielenden Wissenschaft moglich sind, undjenen, die benotigt
werden, damit eine feministische Wissenschaft ausreichende Durch
schlagskraft entwickeln kann, urn die etablierten Wissenschaften wie
Physik, Chemie, Biologie und Soziologie zu ersetzen. Irn Aufsatz von
1984 versucht Rose, diese Lücke zu schliefien, indem sie den moglichen
Ursprungsbereich einer spezifisch feministischen Erkenntnistheorie
erweitert. Die Ursprunge einer Erkenntnistheorie, die die Legitimität
des Subjektiven, die notwendige Vereinigung des Intelligiblen mit dem
Emotionalen und die Ersetzung der Vorherrschaft von Reduktionismus
und Linearitãt durch die Harmonie des Ganzheitlichen und Kornplexen
befurwortet, kann in den Formen entdeckt werden, die Foucault >>un
terdrückte Wissensformen<< nennen würde Verstehensweisen, die in
der Geschichte der Wissenschaft versunken sind (Rose 1984, 49).
Rose denkt bier an die von Carolyn Merchant dargesteliten und aus
gearbeiteten okologischen Probleme, die auch das Werk von Rachel
Carson durchziehen, und sie denkt an die Forderung, den Reduktionis
mus in Richtung auf eine holistische >Feminisierung der Wissenschaft<
zu überwinden, die zurn Beispiel von David Bohm und Fritjof Capra
erhoben wird. Sie hätte sich hier auch auf Joseph Needhams roman
tische Idealisierung der chinesischen Wissenschaft, die weiblicher
156
—
Sechstes Kapitel
—
—
Hinweise darauflassen sich in den >unterdrückten Wissensformen< der
Wissenschaftsgeschichte fmden. Doch können wir hier eine Beobach
tung wagen, die Rose mcht macht: wenn diese Begrifflichkeiten nicht
irgendeiner bestimmten gesellschaftlich-politischen Erfahrung ent
wie die Atome
springen oder dieser Ausdruck verleihen, sind sie
der alten Griechen dazu verdammt, bloBe intellektuelle Denk- und
Merkwurdigkeiten zu bleiben, die auf ihre >>gesellschaftliche Geburt
innerhaib des Wissenschaftsbetriebes warten, bis sie einer Gruppe in
die Hände gelegt werden, die soiche Konzeptionen benötigt, urn thre
Bestimmung innerhalb der Gesellschaftsordnung auf die Natur zu pro
jizieren. Man kommt mcht daran vorbei, zu bemerken, daB die Auffas
sung von Organismen als aktiven Teilnehmern bei der Bestimmung
threr eigenen Zukunft in der >>Natur<< genau das Verhältnis >>entdeckt,
weiches der feministischen Theorie zufolge bisher nur für Manner
(der herrschenden Schicht) GUltigkeit besessen hat, jedoch für Frauen
ebenso gUltig sein solite, da auch sie gesellschaftliche Wesen sind, die
Geschichte machen. Manner haben innerhaib der für sie typischen
Herrschaftsform ihre eigene Zukunft aktiv vorangetrieben; in einer
entgeschlechtlichten Gesellschaftsordnung könnten auch die Frauen
am Entwurf ihrer Zukunft aktiv beteiligt sein.
Ob nun Rose dieser SchluBfolgerung zustimmen wUrde oder nicht
sie geht davon aus, daB die Ursprunge einer als Nachfolgewissenschaft
fungierenden feministischen Erkenntnistheorie in den Konzeptionen
des Erkenntnissubjekts, des Erkenntnisprozesses und der zu erkennen
den Welt zu finden sind, welche das Wesen einer von Frauen betriebe
nen Forschung ausmachen. Die substantiellen Behauptungen dieser
Forschung sind in Hinsicht auf die unterschiedlichen Tatigkeiten und
geseilschafthichen Erfithrungen der Frauen zu begrunden, die sich aus
der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ergeben. Enthält diese
Erkenntnistheorie nicht immer noch em Zuviel an aufldärerischer
Vision? Eine Frage, die ich nicht nur an diesen Entwurf einer stand
punktorientierten Theorie richte.
Die unterdruckte Tatigkeit der Frauen: sinnlich, konkret,
beziehungsorientiert
Wie Rose, so verortet auch die politische Theoretikerin Nancy Hartsock die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine feministische
Nachfolgewissenschaft in einer postmarxistischen Theorie der Arbeit
(oder Tätigkeit) und thren Auswirkungen auf das geistige Leben, und
auch sie fmdet bei Sohn-Rethel wichtige Anhaltspunkte. Aber Hartsock beginnt mit der Metatheorie von Marx, mit seiner >>Vorstellung,
Die Uberwindung des Empirismus
157
daB eine richtige Einschatzung der Klassengesellschaft nur von einer
der beiden hauptsachlichen Kiassenpositionen in der kapitaiistischen
6 In der gelebten Wirklichkeit der Frauen
Gesellschaft erfolgen kann<<J
finden wir das Fundament für eine Erkenntnistheorie, die sowohi die
aufklärerische als auch die marxistische Epistemologie beerben kann.
Für Hartsock wie für Rose liegt in der vergeschlechtlichten Arbeits
teilung der Grund für die groBere Angemessenheit feministischer Er
kenntnisanspruche wie auch die Wurzel, aus der, in der Nachfolge der
Aufldärung, eine ausgereifte Wissenschaft erwachsen kann. Diese fe
ministische Nachfolgewissenschaft wird allerdings anticartesianisch
sein, dean sie transzendiert die aus der Trennung von geistiger und
korperlicher Arbeit hervorgegangene Dichotomie von Denken und
Handein und steht somit zu ihr im Widerspruch. Allerdings setzt Hartsock hier andere Akzente als Rose.
Kennzeichnend für die Frauen ist thre >>sinnlich-menschliche Tatig
keit, Praxis<<, die auf zweierlei Weise institutionalisiert ist: Frauen
tragen zurn Lebensunterhalt (zur >>Subsistenz<<) und zur Kindererzie
hung bei. Diese Tatigkeit umfafit die für das Uberleben der Gattung
notwendige Produktion von Lebensmitteln, Kleidung und Unterkunft,
bei der die Frauen
.zu Hause wie bei der Lohnarbeit standig mit einer durch Veranderungen und Qua
litäten geprägten Welt in Beruhrung kommen. In diese Welt der Gebrauchswerte,
der konkreten, qualitativ mannigtaltigen und sich verändernden materiellen Pro
zesse, sind sie viel umfassender eingebunden als die Manner. Und wenn das Leben
selbst aus sinnlicher Tatigkeit besteht, dana können die Frauen auf der Grundlage
ihres Beitrags zum Lebensunterhalt einen Punict erreichen, an dem die den Waren
produzenten im Kapitalismus mögliche materialistische Weltanschauung und Be
wufltseinsstruktur, an dem mithin das KlassenbewuBtsein sich vertieft und inten
siviert.<< (Hartsock 1983b, 292)
...
Wenn man jedoch die Bedingungen weiblicher Tatigkeit hinsichtlich
der Kindererziehung untersucht, so werden gerade hier die Schwach
punkte der marxistischen Analyse überaus deutlich. *Nicht nur tagtäg
lich, sondern auch auf lange Sicht sorgen Frauen fUr die Produktion
und Reproduktion von Männern (und anderen Frauen). Dieser Aspekt
verdeutlicht, wie unangemessen der Produktionsbegriff als Beschrei
bung für die Tätigkeit von Frauen ist. Em menschliches Wesen hervor
zubringen ist (notwendigerweise) etwas vollig anderes als die Produk
Einen anderen Menschen in seiner Eat
tion eines Gegenstandes.
wicklung zu unterstützen, die Kontrolle nach und nach zu lockern, die
Grenzen des eigenen Handeins zu erfahren<<, das alles sind grund
legende Charakteristilca der ausschlieBlich Frauen zugeordneten Auf
gabe der Kindererziehung und -betreuung. *Die mit der Reproduktion
vermachte Er1hrung der Frauen steilt eine Einheit mit der Natur dar,
160
Sechstes Kapitel
die Welt aus der Perspektive der Unterdrtickten zu begreifen. Es geht
dabei nicht darum, das erkenntnistheoretische und politische Engage
ment von einem Geschlecht auf das andere zu ubertragen, sondern es
geht urn die Uberwindung des sozialen Geschlechts durch seine Trans
zendierung. Em soiches Engagement liegt auf der politisch-gesell
schaftlichen und nicht nur auf der rein intellektuellen Ebene.
—
Es gibt, so Hartsock, Formen der Arbeitsteilung, die tiefgreifender
sind als die von Marx analysierten. Sie bringen rnännliche Vormacht
stellungen in der Politik hervor und verbünden pervertierte Erkennt
rnsanspruche mit der Perversität der herrschenden Macht. Eine
Wissenschaft, die aus der Uberschreitung und Umgestaltung dieser
Teilungen und der ihnen entsprechenden Dualismen entstünde, ware
eine machtvolle Kraft für die Beseitigung von Macht. In einem frühe
ren Aufsatz ging Hartsock davon aus, daB der für die Geschichte der
politischen Theorie so wichtige Begriff der Macht verschieden inter
pretiert werden kann. Gegen die Macht als Herrschaft uber andere
setzen feministische Denk- und Praxisformen die MOglichkeit von
Macht als Energie, die anderen Menschen und dem eigenen Ich zuteil
wird und die in Formen gegenseitiger Machtübertragung ihren Aus
19 Ich denke, daB dieser zweite Machtbegriff und die Art
druck findet.
von Erkenntnis, die damit verbunden werden könnte, das offensicht
liche Paradoxon von Hartsocks Berufung auf die Idee einer Nachfolge
wissenschaft wie audi auf postmoderne Tendenzen zu beseitigen in
der Lage ist. Man kann nur dann auf einer erkenntnistheoretisch orien
tierten Philosophie beharren, wenn die in der Erkenntnistheorie impli
zierte Politisierung des Denkens<< em auf Gegenseitigkeit angelegtes
Projekt ist mit dem Ziel, jene herrschenden Mächte zu beseitigen,
20 Das heiBt,
die die Politisierung des Denkens notwendig machen.
eine soiche Erkenntnistheorie ware in dem MaBe ein Ubergangs- H
projekt, in dem wir uns in eine der Herrschaft uberdrüssige Kultur und
damit in Menschen umwandeln, deren Denken der Politisierung nicht
mehr bedarf.
.1
Hartsocks Begründungen für eine feministisehe Erkenntnistheorie
sind zugleich weiter und enger gefafit als die von Rose. Sic sind enger,
weil Hartsock die Tendenzen zu einer spezifisch feministischen E
kenntnistheorie in der politischen Theorie (>>Wissenschaft<<) und d
Kampf der Feministinnen, und nicht einfach in den für Frauen charak ,
teristischen Tätigkeiten lokalisiert. Die Denk- und Praxisformen der
Frauen bleiben, sofern sic nicht durch den feministischen Kampf und
die Analyse vermittelt werden, Bestandteil der von männlicher Vor
21 Doch ihre Begrundungen sind zugle
herrschaft geprägten Welt.
Die Uberwindung des Empirismus
161
weiter, dennjede feministisch inspirierte Forschung, die von den Kate
gorien und Wertungen weiblicher Subsistenzproduktion und Haus
arbeit ausgeht, und am Kampf für feministische Ziele interessiert
(wiederum im Sinne von engagiert) ist, bereitet einer die Wissenschaft
der Aufidarung beerbenden Erkenntnistheorie den Boden. Die von
Frauen organisierte Gesundheitsbewegung und die alternativen Auf
fassungen vom Verhältnis zwischen Organismus und Urnwelt, auf die
Rose hinweist, wären (insoweit sic die Ziele der feministisclien Eman
zipation unterstützen) bedeutsame Beispiele für soiche Forschungen.
Doch gilt das für alle natur- oder sozialwissenschaffljchen Forschungs
vorhaben, die die Tatigkeit der Frauen als gesellschafthich determi
niert betrachten, und die Natur und Gesellschaft im Hinbljck auf
politische Ziele des Feminismus zu erklären suchen. In Hartsocb
Darstellung findet sich immer noch eine bedeutsame Lücke zwischen
der ferninistischen Tätigkeit und einer Wissenschaft/Erkenntnjs.
theorie, die stark und politisch mächtig genug ist, das aufldärerische
Weltbild zu entthronen. Doch in den engeren wie auch den weiteren
Gesichtspunkten versucht Hartsocks Darstellung Zentirneter für Zen
timeter die Lücke zu schlieBen, indem sic die Grundlegung für die
Nachfolgewissenschaft auf den ganzen Bereich der politischen und
wissenschaftlichen Projekte des Feminjsmus ausdehnt und, zumindest
implizit, auch Aktivitäten mit einbezieht, bei denen sich münnliche
wie weibliche Feministinnen engagieren.
Es gibt hinsichtlich der Grundlagen, auf die beide Theoretikerjnnen
die Nachfolgewissenschaft stellen wollen, noch einen wichtigen Un
terschied. Anders als Hartsock halt Rose die >>fürsorgende<< Arbeit der
Frauen für die entscheidende menschuiche Tatigkeit, die von den
marxistischen Analysen vernachlassigt wird. Für Hartsock liegt die
Einzigartigkeit der weiblichen (im Unterschied zur proletarischen)
Arbeit in ihrer grundsätzlicheren Opposition zum Dualismus des
Geistigen mid Körperlichen, der für das männlich-burgerliche Denicen
und Handeln so kennzeichnend ist. Hartsock betrachtet die proletari
sche Arbeit (der Manner) als Ubergangsform zwischen der mannlich
bürgerlichen und der weiblichen Arbeit, weil diese auf viel grund
e Weise in die selbst-bewuBten, sinnlichen Verarbeitungs
prozesse unserer ailtaglichen (natUrlichen wie gesellschafflichen)
Umgebung eingelassen und von daher die spezifisch menschliche
ätigkeit ist. Für Rose unterscheidet sich die weibliche Arbeit kate
gorial von der männlichen Arbeit proletarischer wie bürgerlicher
“rovenienz.
162
Sechstes Kapitel
Die Wiederkehr des Verdrangten in derfeministischen Theorie
Die Psychotherapeutin und politische Theoretikerin Jane Flax beschreibt
die beiden in der feministischen Erkenntnistheorie existierenden Ten
denzen zur Nachfolgewissenschaft einer- und zum Postmodernismus
andererseits explizit als einander widerstreitend. In dem späteren von
zwei Aufsätzen, die ich untersuchen werde, tritt sie dafür em, daB der
Pbstmodernismus das Projekt einer Nachfolgewissenschaft ersetzen
solle, doch werden in beiden Aufsätzen die zwei Tendenzen in einer
Weise verbunden, die für sie offensichtlich keinen Widerspruch zu ent
halten scheint.
In einem 1980 geschriebenen (aber erst 1983 veröffentlichten) Auf
satz erhebt Flax die Forderung nach dem Proj ekt einer >>Nachfolge
wissenschaft<<:
>>Die Aufgabe einer feministisehen Erkenntnistheorie liegt darin, die Art und
Weise aufzudecken, in der das Patriarchat unseren Erkenntnisbegriff wie auch den
konkreten Gehalt von Erkenntnismaterialien zersetzt und selbst das noch als eine
emanzipatorische Tat behauptet hat. Ohne adiiquate Erkenntnis der Welt und unse
rer Geschichte in der Welt (und dies sehlieBt die Erkenntnis des Erkennens em)
können wir keine angemessenere gesellschaftliche Praxis entwickeln. Dergestalt
ist eine feministische Erkenntnistheorie sowohi em Aspekt feministischer Theorie
als auch die Vorbereitung und das hauptsachliche Element einer angemesseneren
Theorie der Politik und der menschlichen Natur.<< (Flax 1983, 269)
Und an anderer Stelle heiBt es:
>>Auf diese Weise reprSsentiert die feministische Phiosophie die Wiederkehr des
Verdrangten, die EntbloBung der je besonderen gesellschaftlichen Wurzeln aller
augenscheinlich abstrakten und universellen Erkenntnis. Diese Arbeit kdnnte einer
angemesseneren Gesellschaftstheorie den Boden bereiten, in der Philosophie und
empirische Erkenntnis erneut vereint sind und sich gegenseitig bereichern.<< (Ebd.,
249)
Die feministische Philosophie, meint Flax, solle die Frage stellen:
>>Wie sind die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen, so daB be
stimmte Fragen und bestimmte Antworten darauf für die Philosophie
konstitutiv werden?< (ebd., 249). In diesem Zusammenhang wird eine
feministische Lesweise der Theorie der Objektbeziehungen (vgl. Kapi
tel 5) em nützliches philosophisches Werkzeug; es lenkt unsere Auf
merksamkeit auf die geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen des
Ich, der Anderen, der Natur und der Beziehungen zwischen diesen
drei Komponenten, die für Kulturen kennzeichnend sind, in denen
hauptsachlich den Frauen die Verantwortung für die Kindererziehung
obliegt. Flax interessiert sich insbesondere für den engen Zusammen
hang zwischen den männlichen Wahrnehmungen des Ich, der Anderen
und der Natur und der Defmition philosophischer Problernatiken. Aus
dieser Perspektive esind augenscheinlich unlösbare Dilemmata in der
Die Uberwindung des Empirismus
163
Philosophie nicht das Produkt immanenter Strukturen des mensch
lichen Geistes und/oder der Natur, sondern Reflexionsformen verzerr
ter oder erstarrter gesellschafflicher Verhältnisse*c (ebd., 248). Anders
als bei den Frauen bleibt die Ich-Struktur der Manner einem abwehr
bereiten infantilen Bedürfnis verhaftet, andere zu beherrschen und!
oder zu unterdrücken, urn die eigene Identität zu bewahren. In Kultu
ren, wo die Betreuung und Erziehung der Kleinkinder ausschlieBlich
den Frauen zugewiesen wird, werden Jungen hinsichtlich der Tren
nung des frühkindlichen Ichs von seinem ersten >>Anderen<< und der
Entwicklung individueller Ientität sich in unlösbare Widerspruche
verstricken, die genau jenen entsprechen, weiche in den Werken west
licher Philosophen als >>Widerspruch des Menschen selbst<< erneut auf
tauchen.
Die westliche Philosophie problematisiert die Beziehungen zwischen
Subjekt und Objekt, Geist und Korper, Innen und Aufien, Vernunft und
Verstand; doch bestünde zu dieser Problernatisierung keine Not
wendigkeit, wenn das Ich in seinem Kern nicht ausschliefihich gegen
Frauen definitorisch abgegrenzt würde.
‘in der Philosophie ist das Sein (Ontologie) vom Erkennen (Erkenntnistheorie),
und sind beide Bereiche wiederum von der Ethik oder der Politilc geschieden wor
den. Kant hat diese Teilungen abgesegnet und in ein von der Struktur des Geistes
selbst abgeleitetes Fundamentalprinzip verwandelt. Line Folge theses Prinzips
bestand in der starren Trennung von Tatsachen und Werten, die in den Haupt
strömungen der angloamerikanischen Phiosophie tiefe Spuren hinterlassen hat.
Tm Endeffekt war die Phiosophie dazu verurteilt, die Themen, die für das mensch
liche Leben von grofiter Bedeutung sind, mit Schweigen zu ubergehen.e (Ebd.)
—
—
Würde sich die männlich frühkindliche Abgrenzungs- und Individua
tionsproblematik nicht ausschlieBlich gegen Frauen richten, dann ware
die emenschliche Erkenntnis<< in einem wesentlich geringeren Mafie
mit den Widersprüchen der frühkindlichen Trennung und Individua
tion beschaftigt. Die Analyse enthüllt, daB sich hinter den meisten
Rn-men von Erkenntnis und Vernunft eine Entwicklungshemmung
verbirgt. Wenn der ‘Andere’ beherrscht und/oder unterdrückt werden
muB, start bei gleichzeitiger Anerkennung der Differenz in dasje
eigene Ich integriert zu werden, dann können Trennungs- und Indivi
duationsprozesse [der frühkindlichen Phase] mcht abgeschlossen und
wahrhaft gegenseitige Beziehungen nicht entwickelt werden<< (ebd.,
269). Nur wenn der oder die erste eAndere<< nicht beherrscht und/oder
unterdruckt, sondern em das je eigene Ich integriert wird, kann die
menschliche Erkenntnis die eher dem Erwachsenenstadium zugehö
renden Probleme der Maxiinierung gegenseitiger Beziehungen und
der Anerkennung von Differenzen reflektieren.
164
...
Sechstes Kapitel
Flax will nicht darauf hinaus, daB die GroBen Manner der Philoso
phiegeschichte ihre Zeit besser auf den Couchen von Psychoanalyti
kern zugebracht hätten (waren sie denn verfUgbar gewesen), statt sich
mit Philosophie zu beschaffigen. Ebensowenig ist die Phiosophie nur
die männliche Rationalisierung schmerzhafter fruhkindlicher Erfah
rungen. Vielrnehr, so sagt sie, enthullt eine feministische Untersuchung
der >>normalen<< Beziehungen zwischen frühkindlichen Prozessen der
Vergeschlechtlichung und Denkmustern männlicher Erwachsener, daB
die [männliche] Phiosophie in ihrer FAhigkeit, die Erfahrungen von
Frauen und Kindern zu verstehen, grundsatzlich eingeschrankt istc;
insbesondere enthüllt sie die Neigung der Philosophen, ihre eigenen
Erfhrungen mcht als typisch männliche, sondern als ailgemein
menschiiche Paradigmata zu begreifen (ebd., 247). Wenn wir die von
den erwachsenen Männern unterdrückten frühkincllichen Widerspruche
aufdecken, deren Lösungen<< in ihrer abstrakten und universalisieren
den Form den kollektiven Beweggrund wie auch den Themenbereich
der patriarchalen Erkenntnistheorie bilden, dann haben wir die ersten
Schritte in Richtung auf eine feministische Erkenntnistheorie getan.
Alles Denken in patriarchalischen Kategorien bringt die weiblichen
Erfithrungsdimensionen tendenziell zum Verschwinden. Doch kann
die Erfahrung der Frauen mcht in sich selbst eine hinreichende Bedin
gung für Theoriebildung sein, denn *sie mufi, als der andere Pol der
dualistischen Aufspaltungen, integriert und transzendiert werden<<.
Von daher erfordert eine angemessene feministische Philosophie >>eine
revolutionare Theorie und Praxis.
Es geht urn mcht weniger als eine
neue Stufe in der menschlichen Entwicklung, auf der zum ersten Mal
überhaupt die Gegenseitigkeit sich als Grundlage gesellschaftlicher
Verhältnisse herausbilden kann<< (ebd., 270).
In diesem früheren Aufsatz geht Flax davon aus, daB frühkindliche
Widerspruche für Frauen weniger problematisch und leichter auflos
bar sind als für Manner. Diese schmale Lücke zwischen den Ge
schlechtern ist die Vorform einer sehr viel breiteren Kiuft, die sich
zwischen patriarchalen und nicht-patriarchalen Formen der Kinder
erziehung auftut. Die auf Abwehr und Abgrenzung ausgerichteten ver
geschlechtlichten Ich-Identitiiten kOnnten durch wechselseitig ausge
richtete, entgeschlechtlichte Identitäten ersetzt werden, wenn Manner
wie Frauen gleichermalien für die frUhkindliche Erziehung und für das
öffentliche Leben verantwortlich wären. Für soiche Identitaten würden
die Formen und Prozesse des Erkennens und des Erkannten anders
sich darstellen als für abgrenzungsorientierte Identitäten. Die wahre
menschliche Erkenntnis, zu der eine feministische Erkenntnistheorie
1
I:
Die Uberwindung des Empirismus
—
165
den Weg weist, wird weniger verzerrt und wirklichkeitsnäher sein als
die jetzt und realiter existierenden Erkenntnisformen. Und da die Be
griffe eines reziproken oder wechselseitigen Erkennens beziehungs
und kontextorientiert sein müssen, und von daher die Dualismen der
aufklärerischen Erkenntnistheorie hinter sich lassen können, führt uns
der Feminismus in der Tat einer echten Nachfolgewissenschaft ent
23
gegen.
In einem vier Jahre spãter geschriebenen Aufsatz entwickelt Flax
ganzlich andere Vorstellungen. Ging sie (wie oben beschrieben) zu
nächst davon aus, dali Praxisformen der Kindererziehung ihre Spuren
bei kulturell so unterschiedlichen Philosophen wie Plato, Locke, Hob
bes, Kant, Rousseau und zeitgenössischen angelsachsischen Denkern
hinterlassen hätten, so stelit sie nun die skeptische Frage, ob das
Patriarchat sich der Denkformen nur auf eine einzige Weise bemäch
tigt babe. Gleichermalien findet sie die Vorstellung, dali es >>einen
feministischen Standpunktc< gebe, der >>wahrer sei als die vorhergegan
genen (miinnlichen)<<, problematisch. >>Jeder feministische Standpunkt<c,
so sagt siejetzt, >>ist notwendigerweise partiell und parteilich. Jede, die
vom Standpunkt der Frauen aus zu denken versucht, mag einige
Aspekte der gesellschaftlichen Totalität erhellen, die zuvor durch die
herrschende Sichtweise unterdrückt worden sind. Doch keine von uns
kann für. ‘die Frau’ sprechen, weil es keine soiche Person gibt, aufler
in einer spezifischen Formation von (bereits vergeschlechtlichten)
Beziehungen zum ‘Mann’ und zu vielen konkreten und unterschied
lichen Frauen.<<
Genau bier schlägt sich für Flax die Affinität feministischer Theorie
zur postmodernen Philosophie in besonderer Weise nieder:
...
Die feministische Theorie ist eine Spielart der postmodernen Philosophie und
teilt als soiche mit ähnlichen Denkweisen die Ungewifiheit darüber, wie die Er
klarung und/oder Interpretation der menschlichen Erthhrung mit geeigneten
Grundlagen und Methoden versehen werden kann. Zeitgenossische Feministinnen
schliel3en sich postmodernen Philosophinnen und Philosophen in bezug aufwichti
ge metatheoretische Fragen an, die sich urn das Wesen und den Status von Theorie
Es fehien allgemeingtiltige Regein der Kategorisierung,
bildung selbst drehen.
24
Beurteilung mid Geltung.<<
Diese Affinität zur Postmoderne, sagt Flax, ist grundsãtzlicherer Natur
als die feministischen Versuche, eine Nachfolgewissenschaft zu ent
wickein: Ungeachtet einer verständlichen Neigung für die (scheinbar)
logische, geordnete Welt der Aufklarung, gehortdiefeministischeTheorie
eher zum Bereich der postmodernen Philosophie. Dennoch argumen
tiert dieser zweite Aufsatz in seinem Kern für eine besondere Auffas
sung des sozialen Geschlechts, die, Flax zufolge, die unangemessenen
166
—
Sechstes Kapitel
—
und verwirrenden Begriffsbildungen sowohi der traditionelien als auch
der feministischen Geseilschaftstheorie ersetzen soil. Das soziale Ge
schlecht solite ais beziehungsorientiert verstanden werden; Geschlech
terbeziehungen und -verhältnisse sind nicht durch die Natur determi
niert, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse,
und feministische Theoretikerinnen >>müssen die Geschichte(n) der
Frauen und unserer Tatigkeiten für und in die Darstellungen und das
Selbstverständnis des Ganzen<< der gesellschaftiichen Verhältnisse
>>wiedergewinnen und einschreiben<<.
Einerseits hat Flax irn Endeffekt die feministischen Tendenzen zu
einer Nachfoigewissenschaft als Bestandteii von Entwürfen einer
bei Männern so offensichtiichen
abgrenzungsorientierten Ich
identitAt ausgewiesen. Für sie ist die postmoderne skeptische Betrach
tungsweise der aufklärerischen Dualismen, die die erkenntnistheoreti
sche >Politisierung des Denkens< garantieren, der Stoflkeii, der in die
Entwürfe einer beziehungsorientierten Ichidentität fiihrt. Die Uber
windung der (spezifisch mãnnlichen) Dualismen der Aufldarung wird
fir unsere Kultur als ganze erst nach einer >>Revolution in der mensch
lichen Entwickiungc< möglich sein. Doch unterstelit nicht, anderer
seits, Flax’ eigene Darstellung der für die männlich beherrschten Ge
sellschaften typischen verzerrten und verfestigten Verhäitnisse, daB es
eine >>objektive Grundlage für die Unterscheidung zwischen wahren
und falschen Annahmen<< gibt? Und läBt sich nicht vermuten, daB sie
selbst dieser Art von Erkenntnistheorie verpflichtet ist? Und auch
wenn alle für Femimstinnen mOgiichen geschichtsbedingten Verste
hensweisen (respektive >>feministischen Standpunkte<<) partieli und
parteilich wären, könnten sie nicht dennoch >>wahrer [sein] als die vor
angegangenen (männlichen)<<?
Das zwiespaltige Bewufitsein entfremdeter Forscherinnen
Die kanadische Wissenssoziologin Dorothy Smith hat in einer Reihe
von Veroffentlichungen erforscht, was es bedeuten würde, eine Sozio
logie zu konstruieren, die vom >>Standpunkt der Frauen<< ausgeht. Ob
wohi sie sich auf die Soziologie beschränkt, sind ihre Argumente für
die Forschung in den Sozial- und Naturwissenschaften insgesamt ver
ailgemeinerbar. In ihrem jungsten Aufsatz setzt sie sich direkt mit dem
Problem auseinander, wie der Entwurf einer Nachfoigewissenschaft
aussehen müBte, weiche die zerstörerischen Dualismen (Subjekt/Ob
jekt, Innen/Aufien, Vernunft/Emotion) der aufklärerischen Wissen
schaft transzendieren könnte. >>Ich beschaftige mich hier rnit dern Pro
blem von Denkmethoden, die das Projekt einer Soziologie für Frauen
Die Uberwindung des Empirismus
—
167
—
verwirklichen werden. Es handeit sich dabei urn eine Soziologie, wel
che die von ihr untersuchten Personen nicht in Objekte verwandelt,
sondern in ihren anaiytischen Vorgehensweisen die Präsenz des Sub
jekts als eines Handelnden und Erfahrenden bewahrt. Demzufolge ist
das Subjekt jene Erkennende, deren Weitbegreifen durch die Arbeit
der Soziologin erweitert werden kann.<<
25 Smith ist der Ansicht, daB
die von Forscherinnen erfahrenen Formen der Entfremdung für die
gieichzeitige und nicht-widerspruchliche Entwickiung dessen, was
ich als Nachfolgewissenschaft und postmoderne Projekte bezeichnet
habe, geeignet sind.
Wie die der anderen Theoretikerinnen steht auch Dorothy Smiths
Erkenntnistheorie in der Nachfoige der marxistischen Theone der Ar
beit. (Es ist vieileicht mcht ganz korrekt, Flax ebenfalis in diesen Zu
sanimenhang einzuordnen, es sei denn in Hinsicht auf thre Diskussion
des frühkindiichen Entwickiungsprozesses als erster rnenschlicher
Arbeit, die natürlich gemafi dern Geschlecht des >>arbeitenden< Klein
kindes geteilt ist.) Smith fragt weder nach dern Ursprung und der
Entwickiung der Geschiechter, noch nach der Entstehung der abgren
zungsorientierten Abstraktionen westlicher Geselischaftstheorie, Wis
senschaft und Erkenntnistheorie aus den frühkindlichen Erfahrungen
der Manner, und von daher auch nicht nach den Gründen, aus denen
Frauen und Manner an spezifisch weiblichen und rnannlichen Aktivi
tAten sich beteiligen wollen. Das heiBt, sie diskutiert nicht das Pro
blem, auf weiche Weise als ursprünglich androgyn geborene >Animai
wesen<< unserer Gattung mit ihrer gesellschafflichen und natüriichen
Umweit interagieren, urn dann zu den vergeschiechtlichten Menschen
zu werden, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen. Wie Rose wen
det sie sich den struktureilen Arbeitsbedingungen für Wissenschaft
lerinnen (Soziologinnen) zu, urn dort eine urnfassendere Vorsteilung
von den materieilen Bedingungen zu gewinnen, die eine spezifisch fe
ministische Wissenschaft ermogiichen.
Während Rose die für die weibliche Tatigkeit bezeichnende Einheit
von Hand, Herz und Kopf betont, betrachtet Smith drei andere Ge
sichtspunkte, die der Arbeit von Frauen gerneinsam sind. Zunächst
sind die Manner dadurch der Notwendigkeit enthoben, sich urn thre
korperiichen Belange oder urn ihre lokalen Existenzbedingungen kürn
mern zu müssen; sie können, vom alltäglichen Kleinkram befreit, sich
in die Welt der abstrakten Begrifffichkeiten versenken. Zweitens >>ver
knupft<< und formt die Arbeit der Frauen dadurch die Begriffe der
Manner zu solchen, die administrative Forrnen des Herrschens aus
drücken. Je besser die Frauen diese konkrete Arbeit (Hartsocks >>Weit
169
Die Uberwindung des Empirismus
Sechstes Kapitel
168
—
Mutter ist die Hausarbeit weder das eine noch das andere. Eine Dar
unsere
stellung der Hausarbeit vom >>Standpunkt der Frauen<< aus
Erfiihrung unserer Lebensweisen wUrde sich von einer auf Begriffen
der rnännlichen Wissenschaft basierenden Darstellung sehr unter
scheiden: die Stimme des Subjekts der Forschung und die Stimme der
27 Es ware das Bei
Forscherin würden kulturell erkennbar werden.
spiel einer Wissenschaftflir und nicht uber Frauen; und diese Wissen
schaft würde versuchen, anstelle von Verhaltensforrnen (menschliche
>>Materie in Bewegung<<) gesellschaftliche Verhältnisse zu erkiaren
oder zu interpretieren, und dies auf eine Weise, weiche den Frauen die
gesellschafflichen Verhaitnisse verständlich rnacht, innerhaib derer
thre Erfahrung sich vollzieht.
—
Smith geht, wie ich denke, davon aus, daB diese Art von Wissen
schaft nicht deshaib >objektiv< ware, weil sie sich der Kategorien einer
archimedischen<<, leidenschaftslosen, abgespaltenen >>dritten Ver
sion<< bedienen würde, die zwischen den einander widerstreitenden
perspektivischen Wahrnehmungen gesellschaftlicher Verhaitnisse ver
mittelte, sondern weil sie sich der umfassenderen und verzerrungs
freieren Kategorien bedienen würde, die vorn Standpunkt historisch
lokalisierbarer und gesellschafflich untergeordneter Erfahrungen aus
29 Es ist jedoch schwierig, ihre expliziten Annahmen
verfügbar sind.
darüber, wie die Welt der Frauen zu interpretieren oder zu erkiaren
sei, in Richtung auf eine feministische Wissenschaft zu verallgemei
nern, deren Ziel darin besteht, die ganze Welt zu erklaren. Sie mahnt
die Leserschaft oft, daB die Erfahrung der Forschungssubjekte (der
Frauen, deren Leben die Forseherin erldärt) als endgUltige Autorität
aufzufassen sei. Doch viele feministische Forscherinnen gehen davon
—,
Smith verschmilzt hier interpretatorische, explanatorische und
kritisch-theoretische Tendenzen in der Philosophie der Sozialwissen
schaften miteinander, die vorher unvereinbar gewesen sind. In keinern
dieser Diskurse ist die >>autoritative Darstellung<< allein Sache der for
schenden (d.h. in der Forschung aktiv handeinden) Personen. Da
Smith die Autorität der Forscherin mit der AutoritAt der Forschungs
subjekte auf eine erkenntnistheoretische Stufe steilt die Forscherin,
die die Lebensbedingungen der Frauen interpretiert, erkiart, kritisch
wird
untersucht, erkiart zugleich thre eigenen Lebensbedingungen
die Problernatik des Gegensatzes von Absolutisrnus und Relativisrnus
obsolet. Diese beiden Positionen gehen namlich von einer Trennung
zwischen der forschenden Person und dem Forschungssubjekt aus, die
nicht existiert, wenn beide einen gleichermaBen untergeordneten Platz
28
in der Gesellschaft einnehrnen,
—
der Sinnlichkeit, der Qualitäten, der Veranderung<<) ausfuhren, desto
unsichtbarer wird sie für die Manner. Und these, befreit von den Not
wendigkeiten des alltaglichen Lebens, können nunmehr nur noch das
für wirklich halten, was ihrer abstrakten geistigen Welt entspricht. Wie
Hegels Herr, dern die Arbeit des Knechts nur als Verlängerung seines
eigenen Seins und Wollens erscheint, sehen Manner die Arbeit der
Frauen nicht als reale Tätigkeit an, die selbst gewählt und gewolit ist,
sondern sie erschemt ihnen als em >>natUrliches< Tun, als instinkt
gebundenes oder ernotionales Werk der Liebe. Auf these Weise werden
die Frauen von der rnännlichen Kulturauffissung und ihren Kategorien
>>des Gesellschafflichen<<, >>des Historischen<< und >>des Menschlichen
ausgeschlossen. SchlieBlich kann die tatsächliche Erfahrung, die
Frauen mit und in ihrer Arbeit machen, innerhaib der verzerrten Ab
straktionen der männlichen Begriffsschemata weder verstanden noch
ausgedrückt werden. Frauen sind threr eigenen Erfahrung entfrerndet,
denn die rnännlichen Begriffsschemata sind zugleich die herrschen
den, mittels derer die weibliche Erfahrung für Frauen definiert und
kategorisiert wird. (Darauf zielt auch Hartsock, wenn sie von den
Ideologien spricht, die das gesellschaftliche Leben für jeden und jede
strukturieren.) Die Bildung für Frauen, urn weiche die Feministinnen
des neunzehnten Jahrhunderts gerungen haben, hat, Smith zufolge, die
>>Besetzung des weiblichen BewuBtseins<< durch männliche Experten
der herrschenden Kiasse zur Vollendung geführt.
26
Diese Charakterzüge weiblicher Tatigkeiten sind eine Ressource,
auf die eine spezifisch feministische Wissenschaft zurückgreifen kann.
Für viele Frauen entwickelt sich zwischen dem, wie wir unsere Tätig
keit erfahren und den uns zur Verfugung stehenden Kategorien, mit
denen wir dieser Erfahrung Ausdruck verlethen können, eine >>Ver
werfungslinie<<: wir haben nur die Kategorien der Herrschaft und der
Wissenschaft. Für Forscherinnen verschärft dieser Bruch sich noch.
Wir sind zuallererst Frauen, und selbst wenn wir allein, ohne Kinder
oder mit Bediensteten leben, kümmern wir uns urn unsere physischen
Belange und unsere lokalen Existenzbedingungen, und norrnalerweise
auch urn die der Kinder und Manner. Doch wenn wir die Welt der Wis
senschaft betreten, werden wir dazu ausgebildet, soziale Erfahrungen
in Kategorien zu beschreiben und zu erklären, die das Wesen dieser
Erfahrungen nicht zu erfassen vermögen. Smith zitiert das Beispiel
von Untersuchungen zur Zeiteinteilung, in denen Hausarbeit zur Ar
beit wie auch zur Freizeit gerechnet wird. Diese duale Struktur basiert
auf der mannlichen Erfahrung, die Lohnarbeit für andere von selbst
verantwortlicher Tätigkeit abgrenzt. Doch für verheiratete Frauen und
170
Sechstes Kapitel
aus, daB die Erfithrung der Manner wie der Frauen innerhalb der cxi
stierenden Erkenntnisstrukturen unangemessen interpretiert, erklärt
oder kritisiert wird: man denke an the neuere Literatur zur Kriegsmen
talitAt der Manner, an the kritische Neuinterpretation der mannlichen
Erfahrung von Vergeschlechtlichung in der Theorie der Objektbezie
hungen, an Smiths eigenes Uberdenken der Erfahrungen, die Manner
als Soziologen machen. Dennoch billigt sie den Erfahrungen von Man
nern der herrschenden Kiasse nicht die Art von Autoritat zu, auf der
sie hinsichtlich der Erfithrung von Frauen besteht. In alien vier Auf
sätzen zeigt ihre Argumentation, warum wir die untergeordnete Erfah
rung der Frauen als forschungsbezogene Start- und Zielpunkte nehmen
soilten, die in erkenntnistheoretischer Hinsicht der mannlichen Er
fahrung vorzuziehen sind. (Smiths Argumentation ahnelt der von
Hartsock, die den Kategorien weiblicher Tatigkeiten den erkenntnis
theoretischen Vorzug gibt und laBt sich auch auf Flax beziehen, die
den Feminismus als Enthullung der von Mannern unterdruckten Per
spektiven begreift. Alle drei kehren zu Hegels Dialektik von Herr und
Knecht zurftck, um ihren Standpunkt zu erlautern.)
Wenn ich Smith aufdiese Weise interpretiere, bleiben em paar unge
löste Probleme in ihrer Darstellung zuruck, aber es wird klar, daB sie
den Frauen sowohl als Forschungssubjekten win auch als Forscherin
nen eine ursprUngliche wissenschaftliche Autoritfit verleihen mOchte,
Ihrer Meinung nach soilte der Feminismus nicht der Objektivitat oder
der erkenntnistheoretisch motivierten Politisierung des Denkens per
se miBtrauen, sondern deren verzerrten und unwirksamen Formen, die
in der Wissenschaft der Aufidarung verwurzelt sind. Wie Flax, so be
tont auch Smith, daB es viele verschiedene feministische Versionen der
>>Realitfit<< geben wird, weil die Frauen in vielen verschiedenen Reali
tfiten leben, doch soilte von allen angenommen werden, daB sie urn
fassendere, verzerrungsarmere und weniger pervertierte Verstehens
weisen hervorbringen, als es eine Wissenschaft vermag, die mit den
Mflnnern der herrschenden Klasse und ihren Tätigkeiten verbundet ist.
Neue Personen und die verborgene Hand der Geschichte
Em letzter Punkt betrifft die geschichtlichen Veranderungen, die eine
feministische Theorie und folglich eine feministische Wissenschaft
und Erkenntnistheorie ermOglichen, wie ich an anderer Stelle gezeigt
30 Auch hier konnen win von der marxistischen Analyse lernen.
habe.
>>So wenig<<, sagt Engels, >>wie alle ihre Vorganger konnten die groBen
Denker
hinaus fiber die Schranken, die ihnen ihre
des
18.
Jahrhunderts
31 Erst indem in den Industriegeseilschaften
eigne Epoche gesetzt hatte.<<
4
[
Die Uberwindung des Empirismus
—
—,
171
des neunzehnten Jahrhunderts em >>Konflikt zwischen Produktivlcraf
em Konflikt, der >>objektiv,
ten und Produktionsweise<< entstand
auBer uns, unabhangig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen
konnte die Kiassen
Menschen, die ihn herbeigefiihrt<< existiert
struktur der vorhergegangenen Gesellschaften zum ersten Mal in
ihrem vollen Umfang entdeckt werden. >>Der moderne Sozialismus ist
weiter nichts ais der Gedankenreflex dieses tatsachlichen Konflikts,
seine ideelle Ruckspiegelung in den Kopfen zunachst der Klasse, die
32
direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse.<<
Ahnlich kOnnen wir erst jetzt die feministischen Anschauungen des
achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts als nur >>utopische<< Mo
33 Die Feministinnen beiderlei Geschlechts konnten
mente begreifen.
in den damaligen kulturellen Zusammenhangen das Elend der weib
lichen Lebensbedingungen und seine Uberflussigkeit erkennen, doch
zeigen sowohl thre Ursachendiagnosen wie auch ihre Rezepte für die
Emanzipation der Frauen, daB die vielschichtigen und nicht immer
offensichtlichen Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung
rnannlicher Herrschaft nicht begriffen wurden. Weder der liberale
noch der marxistische Feminismus, ja vielieicht nicht einmal die dok
trinareren Stromungen der radikalen und sozialistischen Feminismus
versionen der mittsiebziger Jahre verfügen fiber kategoriale Schemata,
die umfassend oder flexibel genug sind, um die historische und kultu
relle Anpassungsfáhigkeit mannlicher Herrschaft oder ihr chamaleon
artiges Talent, in anderen kulturellen Hierarchien rassistischer oder
34
ldassenspezifischer Provenienz zu gedethen, erfassen zu konnen.
Komplexere (wiewohi nicht unproblematische) Analysen, die em Ge
spur für kulturelle Zusammenhange besaBen, muBten das Entstehen
historischer Veranderungen in den Geschlechterverhaltnissen abwarten.
Diese Verandeningen haben einen tiefgreifenden Widerstreit hervorge
bracht. Auf der einen Seite werden durch die Spezifik der Kultur
bevorzugt Personen hervorgebracht, die durch Rasse, Masse und so
ziales Geschlecht gesellschafflich detenniniert sind, auf der anderen
Seite stehen die Denk- und Handlungsformen einer zunehmend groBer
werdenden Anzahl von Frauen (inklusive einiger Manner), die nicht
langer em verstürnmeltes Leben führen, einer getährlichen und tinter
drückerischen Politik ausgesetzt scm woilen, weiche durch die archai
schen Formen der Reproduktion noch verstarkt wird.
Wenn wir auch diesen historischen Moment nicht in einer genauen
Analogie zum eKonflikt zwischen Produktivkraften und Produktions
weise<< beschreiben können (und warum soilten win das überhaupt?), so
sind win doch in der Lage, viele Aspekte der besonderen okonomischen,
i1i
1:
172
—
—
—
Sechstes Kapitel
politischen und geselisehafflichen Verschiebungen, die diesen Mo
ment hervorgebracht haben, deutlich zu erkennen. Da war einmal die
Entwicklung und umfassende Verbreitung bilhiger und wirksamer
Mittel zur Geburtenkontrolle, die der kapitalistischen und imperialisti
schen BevOllcerungspolitilc in der Dritten Welt und in den eigenen Lan
dern diente. Da gab es zum zweiten den Niedergang des industriellen
Sektors bei gleichzeitigem Wachstum der Dienstleistungsbereiche,
wodurch Frauen in die Lohnarbeit einbezogen wurden und das Indu
strieproletariat seine Vorrangstellung verlor. Da gab es zum dritten die
emanzipatorischen Hoffnungen, die in den Vereinigten Staaten und
Europa
durch
BUrgerrrech
die
tsbewegung
politischen
und
den
Radika
lismus der sechaiger
Jahre
entfacht
worden
waren.
Da
schnellte vier
tens die Scheidungsra in
Höhe
die
und
Zahi
te
die
der Familien, in
denen Frauen das Oberhaupt bildeten, wuchs
was zum Tell seine
Ursache darin hatte, daft der Kapitalismus die Manner dem Familien
leben entfremdete und sie zu einer nwinging singles<c-Lebensweise
verfuhrte, die den Guterkonsum anheizte; zum Teil lag es auch an der
wachsenden (wiewohi immer noch sehr beschränkten) Fahigkeit der
Frauen, auch ohne Ehe okonomisch uberleben zu kOnnen; und zum
Teil zweifelsohne an der Verfiigbarkeit von Verhutungsmitteln, die
das, was in den guten alten Zeiten eLiebelei<< genannt wurde, weniger
kostenintensiv machte. Da wurde fünftens die &Feminisierung<< der
Armut in zunehmendem Mafle erkannt (und moglicherweise auch die
reale Zunahme der Armut von Frauen), die sich mit der wachsenden
Scheidungsrate und der Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit
verband, so daft die Lebensaussichten der Frauen sich im Vergleich
mit denen ihrer Mutter und Grofimütter gänzlich anders gestalteten:
nunmehr konnten
und sollten
Frauen jeder Gesellschaftsklasse
Plane für em Leben nach oder anstelle der Ehe entwerfen. Da gab es
sechstens die Eskalation internationaler Konflikte, die eindeutig zeig
ten, wie sehr das psychische Herrschaftsbedürfnis der Manner sich mit
der Rhetorilc und Politilc nationalistischer Herrschaftsansprüche in
Einklang befand. Zweifellos konnte diese Liste der Vorbedingungen
für das Entstehen des Feminismus und seiner Vorstellungen von einer
Nachfolgewissenschaft und einer feininistischen Erkenntnistheorie
noch urn einige signifikante Punkte erweitert werden.
—
Dergestalt ist, um Engels zu paraphrasieren, die feministische Theo
ne nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen Konflikts, seine
ideelle Rückspiegelung in den Kopfen zunächst der Masse, die direkt
unter ibm leidet
35 Entwürfe zu einer feministischen
der Frauen.
Wissenschaft und Erkenntnistheorie sind nicht ausschlieftlich die
r
J’
[
[
•
Die Uberwindung des Empirismus
—
173
Produlcte von Beobachtung, Willenskraft und intellektueller Brilanz
jener Fahigkeiten also, weiche die Wissenschaft und die Erkennt
nistheonie der Aufklärung als Ursachen des Erkenntnisfontschritts
betrachtete. Sie sind der Ausdruck von Denkweisen, in denen eine
neue Ant von historischen Personen, die aus diesen gesellschaftlichen
Veränderungen erwachsen sind, Natur und Gesellschaft begreifen icon
36 Eine wichtige Gruppe wird dabei von Personen gebildet, deren
nen.
Tatigkeiten immer noch spezifisch fraulich<< sind, und die doch zu
gleich sich Proj ekten des offentlichen Lebens zuwenden, die traditio
nellerweise als mannlich galten. Diese *Verletzung<< einer (zumindest
was unsere jüngste Vergangenheit betrifft) uberkomrnenen geschlechts
spezifischen Arbeitsteilung vermittelt nicht nur einen enkenntnistheo
retisch fortgeschrittenen Standpunkt für das Projekt einer Nachfolge
wissenschaft, sondern leistet auch Widerstand dagegen, daft die ver
zenrenden Dualismen der Moderne sich fortsetzen kOnnen. Warum
soilten wir uns dagegen sträuben, den in der feministischen Wissen
schafi und Erkenntnistheorie erreichten Verstehensweisen em gewis
ses Mali von wenn auch nicht historischer Unvermeidbarkeit, so doch
wenigstens geschichtlicher Moglichkeit zuzuschreiben?
Ich bin immer noch der Ansicht, daft eine histonische Darstellung
eine wichtige Komponente feministischer Standpunkttheonien ist: mit
ihrer Hilfe konnen die Venschiebungen in den gesellschafflichen Struk
turen nachgewiesen werden, die neue Verstehensweisen ermoglichen.
Eirie Standpunkttheorie, die these (mit Kuhn zu sprechen) >>Rolle der
Geschichte in der Wissenschafbc nicht erkennt und anerkennt, lalit die
Vorbedingungen ihrer eigenen Entstehung im Dunkein. Allerdings
denke ich mittlenweile, daft jene Art der Darstellung, die ich weiter
oben beschnieben habe, noch viel zu viel von ihrem marxistischen
Erbe, und damit auch von den auflclärenischen Bestandteilen des Mar
xismus, bewahrt. Jene geschichtlichen Veranderungen, aus denen die
postmoderne Henausforderung des Feminismus an die Auflclärung wie
auch an den Marxismus erwachst, bleiben von ihr unbegriffen. Eine
umfassendere Diskussion theses Gesichtspunkts verschieben wir auf
das nächste Kapitel.
Wir sahen in ersten Kapitel, daft den feministische Empirismus
sexistische und androzentrische Stnuktunen als gesellschaftliche Ver
zenrungen, als Vonuntelle ansieht, die auf falschen Annahmen (verur
sacht durch Abenglauben, tradiente Gewohnheiten, Unwissen, falsche
Erziehung) und feindseligen Einstellungen beruhen. Diese Vonurtelle
gehen genade auf der Ebene den Auswahl und Definition wissenschaft
licher Probleme in die Forschung em, lassen sich aber auch in der
Die Uberwindung des Empirismus
175
174
substantiellen Behauptungen einer feministischen Wissenschaft und
der feministischen erkenntnistheoretischen Strategic, die diese Be
hauptungen begrunden und rechtfertigen soil.
Die Erkenntnis dieser Inkohärenzen fUhrte zur Entwicklung der fe
ministischen Standpunlct-Strategien. Sic scheinen mit jenen Elemen
ten des feministischen Empirismus, die dessen traditionelle Form
unterminieren, vereinbar zu scm. Die auf diesen Standpunkt bezoge
nen Erkenntnistheorien grUnden, wie der feministische Empirismus,
in den Kennzeichnungen von Frauen als einer gesellschaftlichen Gruppe
und von Mannern als einer gesellschaftlichen Gruppe. Diese Kenn
zeichnungen fuhrten zur inneren Inkohärenz des feministischen Empi
rismus. Sind nun die Standpunkt-Theorien vielleicht in anderen Berei
chen von einer inneren Inkohärenz geprägt?
Sechstes Kapitel
Forschungsplanung und im Sarnmeln und Interpretieren von Beweis
material entdecken. Folgt man der Strategic des feministischen Em
pirismus, so können soiche Verzerrungen durch die strengere An
wendung der existierenden Normen wissenschafilicher Forschung
beseitigt werden. Darüber hinaus ermöglichen soziale Befreiungs
bewegungen >>den Menschen, die Welt aus einer umfassenderen Per
spektive zu erblicken, weil sie die der Erkenntnis und Beobachtung
37 Die Frauen
hinderlichen Tkrnungen und Scheukiappen beseitigen<c
bewegung schaffi die Moglichlceit einer soichen umfassenderen Per
spektive und bringt zudem eine groBere Zahi von Wissenschaftlerin
nen hervor, die auf androzentrische Verzerrungen sensibler reagieren
als Manner.
—
—
—
Allerdings unterminiert diese Begründungsstrategie zentrale An
nahmen des empiristischen Diskurses, von dem sic abstammt (um em
Wort von Zillah Eisenstein zu paraphrasieren: der feministische Empi
rismus hat eine radilcale Zukunft), und genau darin in dieser inneren
lnkohärenz können wir den Ubergangscharakter dieser Erkenntnis
und die potentiellen QueliflUsse ihrer radilcalen
theorie erblicken
Haltung.
38
—
—
Der feministische Empirismus stelit drei aufeinander bezogene und
inkohärente Annahmen des traditionellen Empirismus in Frage. Er
stens bezweifelt er, daB die gesellschaffliche Identitat des Beobachters
für den >>Gehalt<< der Forschungsresultate ohne Belang ist, denn der
Androzentrismus der Wissenschaft ist nicht nur deutlich erkennbar,
sondern wirkt sich auch zerstörerisch aus, und scm fruchtbarster Ur
sprung liegt in der Auswalil wissenschaftlicher Probleme. Von daher,
so wird argumentiert, sind Frauen als gesellschafthiche Gruppe mi
Gegensatz zu Männern als gesellschafthicher Gruppe eher in der Lage,
Forschungsprobleme auszuwählen, die die gesellschaftliche Erfah
rung der Menschen mcht verzerren. Zweitens bezweifelt der feministi
sche Empirismus die Fahigkeit der methodologischen und soziologi
schen Wissenschaftsnormen, androzentrische Verzerrungen wirklich
beseitigen zu konnen; scion die Normen selbst scheinen insofern der
Verzerrung zu unterliegen, als sic unflihig ward, den Androzentris
mus aufzuspuren. Drittens steilt er die Annahme, die Wissenschaft
mUsse vor politischen Eingriffen geschutzt werden, zur Disicussion.
Er geht davon aus, daB zumindest einige politische Formen die der
die Objektivität der
gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen
Wissenschaft befOrdern können. Weil die Begründungsstrategien des
feministiscben Empirismus die Inkohärenzen des traditionellen Empi
rismus offenlegen, fUhren sic auch zu einer Inkohärenz zwischen den
I
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