Predigten – von Hauptpastor Alexander Röder 10

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Predigten – von Hauptpastor Alexander Röder
10. Sonntag nach Trinitatis
20. August 2017 2. Mose 19, 1-6
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Liebe Gemeinde,
Evangelium mitten in der Wüste. Gottes Evangelium für sein Volk, sein
Eigentum,
sein
königliches
Priestertum,
seine
Heiligen.
Von
dieser
überschwänglichen Liebeserklärung und diesem Bekenntnis Gottes lebt Israel
seit Jahrtausenden und hat selbst in den finstersten Zeiten seiner Geschichte
den Klang dieser Worte nicht vergessen und an dieser Verheißung festgehalten
– selbst, als der Tempel in Jerusalem das erste Mal zerstört wurde. Selbst noch,
als es im Jahre 70 n. Chr. ein zweites Mal und nun endgültig geschah. Selbst
noch in den Verfolgungen und Pogromen, die jüdische Menschen immer
wieder erleben mussten, bis hin zur Shoa, der systematischen Vernichtung
jüdischen Lebens und jüdischer Kultur durch das nationalsozialistische
Deutschland.
Was Gott seinem größten Propheten Mose für sein Volk verheißt – lange vor
dem Einzug ins Gelobte Land und die sich anschließende sehr wechselvolle
Geschichte – nimmt das Neue Testament teilweise wortwörtlich auf und
wiederholt es oder besser noch: setzt es fort. Das wird nur den verwundern,
der das Alte Testament einzig für den Vorhof des Neuen hält und das Volk
Israel zum nicht länger erwählten Volk erklärt. Im Namen des Gottes Abrahams,
Isaaks und Jakobs, im Namen des Gottes und Vaters Jesu Christi kann darf das
niemand tun. Vielmehr bleibt Gottes Erwählung bestehen, wie Paulus so
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eindrucksvoll in seinem Brief an die Römer darlegt und in seinen Worten mit
seiner Herkunft aus diesem Volk und um die Erwählung Israels ringt, das Jesus
als den Messias Gottes nicht erkennen will. Es liegt allein an Gottes Erbarmen,
so schreibt der Apostel am Ende, und schreibt es einer Kirche ins Stammbuch,
die bis in die jüngste Zeit hinein von einem „Schleier vor den Augen des
jüdischen Volkes“ sprach, den Gott wegnehmen möge, um auch Israel die
Wahrheit erkennen zu lassen, aber ihre wahre Einstellung immer wieder
offenbart hat, wenn sie alle Juden pauschal zu Gottesmördern erklärte – mit
allen selbstgerechten und furchtbaren Folgen in der jüdisch-christlichen
Geschichte bis heute, auch bis Charlottesville vor wenigen Tagen, als
Rechtsradikale unverhohlen die Parole „Jews will not replace us“ – sinngemäß
übertragen „Juden werden uns nicht verdrängen“ geschrien haben.
Gott hat sein Volk erwählt, und Gott ist treu. Der Auszug aus dem Sklavenhaus
in die Freiheit markiert den Anfang der Erwählung. Der Bund, den Gott anbietet
und schenkt, und das Volk Gottes, das Gott erwählt und beruft und das sich
erwählt und berufen weiß – schon im Ersten Bund bildet dieser Dreiklang die
Mitte des Glaubens und des Bekenntnisses, aber auch der endgültigen
Verheißung Gottes.
Drei Monate ist Israel seit dem hastigen und zugleich befreienden Aufbruch aus
Ägypten bereits unterwegs. Es hatte seinen Gott bisher als einen gewaltigen,
die Feinde strafenden und kriegerischen Gott kennengelernt. Die Plagen haben
Ägypten schwer getroffen, in der Nacht des Aufbruchs ging der Würgeengel
durch das Land und tötete alle Erstgeborenen der Ägypter und am Ende ertrank
im Schilfmeer die ganze Armee des Pharao.
Nun wurde Israel vorerst zwar nicht mehr verfolgt, aber im Paradies oder
zumindest im Gelobten Land war es darum noch lange nicht und kehrte sich
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bald ab von diesem Gott, der so mächtig an den Fronherren gewirkt hatte. Das
Sklavendasein hatte manche Sicherheiten für das Volk garantiert: Es gab
regelmäßig zu essen, die Menschen hatten ein Dach über dem Kopf und einen
Ort, an dem sie ruhig schlafen konnten. Das war doch nicht nichts, erinnerten
sich die Israeliten eins ums andere Mal, wenn sie ihres Lebens in der Wüste
überdrüssig wurden.
Sie dachten nicht mehr an die Unterdrückung, die ständige Gängelung, die
Willkür und die Brutalität und Menschenverachtung der Ägypter. Gerade
deshalb hatte Israel sich nach Freiheit gesehnt und zu seinem Gott geschrien. In
der Freiheit nun, die eine gewaltige Herausforderung war, in der eigene kluge
Entscheidungen gefordert wurden, Zusammenhalt und Vertrauen, wurde diese
Freiheit als Last empfunden und zugleich die Härte des Sklavendaseins
verdrängt und teilweise sogar verklärt: So schlimm war es gar nicht, und es gab
doch auch Gutes wie die Fleischtöpfe Ägyptens. Eine uralte Geschichte aus dem
Volk Gottes, die ein menschliches Verhalten zeigt, das sich mehr als einmal in
der Geschichte wiederholt hat.
Der Gott Israels weiß um solche Schwankungen in der menschlichen Bewertung
der erlebten Geschichte. Er weiß um den Wankelmut, den eine Lebenssituation
ganz plötzlich im Volk bewirken kann. Darum bietet er seinem Volk Israel
mitten in der Wüste, also am lebensfeindlichsten Ort überhaupt, seinen Bund
an und konkretisiert ihn später in den Zehn Geboten. Sie sollen das Leben vor
Gott und mit den Mitmenschen ordnen und helfen, Geschichte zu gestalten
und das Zusammenleben zu fördern. Gott gibt sie vor, spricht sie hinein in die
neue Freiheit des Volkes und erwartet zugleich, dass das Volk lernt, klug mit
diesen Geboten umzugehen, sie zu beherzigen, damit Leben in der von Gott
geschenkten Freiheit gelingen kann.
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Sie sollen und können verhindern, dass Menschen durch Menschen versklavt
und unterdrückt werden: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen – auch
nicht die Freiheit eines anderen Menschen. Du sollst nicht die Ehe brechen und
nicht begehren, weil du meinst, ein Mensch sei eine Sache, die dir gehört und
die du gebrauchen und missbrauchen kannst, wie es dir nutzt oder dich
befriedigt oder reicher macht.
Noch immer haben sie Bestand, diese Gebote – und längst nicht nur für das
jüdische Volk und Menschen jüdischen Glaubens, sondern für Christen
gleichermaßen.
Auch hier gilt: Kontinutität. Die Gebote haben nichts von ihrer Strahlkraft
verloren, so wie Gott sie einst gegeben hat. Und sie haben nichts von ihrem
mahnenden, erinnernden Charakter verloren, weil sie an so vielen Stellen in
der Welt mit Füßen getreten und grob missachtet werden.
Der Ort in der Wüste, an den das Volk Gottes drei Monate nach seinem
Aufbruch kommt, wird zum Ort der Entscheidung. Gott erinnert noch einmal an
seine Taten in Ägypten und beschreibt zugleich deren Bedeutung für Israel: „Ich
habe euch auf Adlerflügeln getragen und euch zu mir gebracht.“
Ein starkes Bild, das verdeutlichen will, dass keine menschliche Kraft allein
dieses Werk hätte vollbringen können.
Mose wird das Volk vor die Entscheidung stellen: Will es bei diesem Gott
bleiben, der seine Nähe schenkt? Will es eine verheißungsvolle Beziehung zu
seinem Gott? Will es – ja das fordert Gott – seiner Stimme gehorchen?
Als Menschen des 21. Jahrhunderts können wir diese Fragen nicht mehr
kollektiv beantworten. Sie stellen sich vielmehr jedem von uns. Und sie fordern
eine Auseinandersetzung über unseren Glauben, unsere Beziehung zu Gott und
dazu auch den Konsequenzen unserer Erkenntnisse und Antworten für unser
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Leben. Jesus macht das deutlich in seinem Gespräch mit dem Schriftgelehrten,
der ihn nach dem höchsten Gebot fragt. Jesu Antwort ist das Grundbekenntnis
Israels zu dem einen Gott, dem die ungeteilte Liebe des Glaubenden zusteht,
und die Liebe zum Nächsten und sich selbst: Höre, Israel! „So sollst du sagen zu
dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen.“ Hier spricht Gott, und sein
Wort ist es, das seine Macht bezeugt und seine Nähe, seine Liebe und seine
Erwartungen an sein Volk. Höre, Israel. Höre, Volk Gottes. Höre auch, Kirche
Jesu Christi – es ist noch immer dasselbe Wort desselben Gottes, das sich für
uns zudem noch viel dramatischer manifestiert hat in der Menschwerdung
dieses Wortes, in seinem Leiden aus Liebe, seinem Tod am Kreuz aus Liebe,
seinem neuen ewigen Leben aus Liebe zu uns und für uns. Höre, Mensch, und
entscheide dich!
Ist der Gedanke zu drängend, dass Gott uns immer wieder an Weggabelungen
unseres Lebens führt und unsere Entscheidung fordert entsprechend seinem
Gebot? Hören und achten wir auf seine Stimme, die uns meint und berühren
möchte, oder ist der Glaube an Gottes sprechende, Rat gebende, auch
fordernde Nähe über den Anspruch auf Autonomie, die wir fordern und
weitgehend selbstverständlich finden, verblasst? Was bedeutet es, wenn wir
täglich beten: Dein Wille geschehe? Lassen wir ihn geschehen oder setzen wir
nicht viel öfter unseren eigenen Willen durch – oder sind damit beschäftigt, es
zu versuchen?
Wenn das Volk auf meine Stimme hört, so kündet Gott Mose in geradezu
hymnisch-liturgischer Sprache, wird es mein Eigentum, ein Königreich von
Priestern und ein heiliges Volk sein.
Noch einmal: Gott sagt das in der Wüste, sagt es einem Volk, das seine wenigen
Habseligkeiten mit auf die Flucht in die Freiheit genommen hat. Große Worte,
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als noch niemand in diesem Volk an die Wirklichkeit des Tempels in Jerusalem
denkt. Wie weit entfernt ist diese Situation von den herrlichen Gottesdiensten
im Tempel, die das Volk berauschten und es erfahren ließ, dass wahr ist, was
Gott damals in der Wüste verheißen hatte, und ihn mit Zimbeln und Pauken
und Schellen und lauten Halleluja-Rufen lobte und ihm Brandopfer brachte und
doch auch darüber immer wieder vergaß, auf Gott zu hören und seine Gebote
zu bedenken und zu tun, immer wieder vergaß, sich für Gott zu entscheiden,
für den Nächsten und damit auch für sich selbst.
Jetzt ist Israel in der Wüste – und sie ist wie ein Bild für den Alltag; ohne
Tempel, hart, monoton, trocken und mühsam. Und gerade hier gilt, was Gott
verheißt, wenn das Volk gerade hier auf seine Stimme hört und ihr gehorcht
und den Bund hält. Entscheide dich, Volk! Entscheide dich, Mensch.
Hier entscheidet sich, wie wir mit der Würde umgehen, die Gott jedem von uns
verliehen hat: Heilige zu sein, wie Paulus die Christen in seinen Briefen immer
wieder nennt, Priester zu sein, wie es im 1. Petrusbrief steht, und Gottes
Eigentum zu sein. Ja, Gott hat uns nicht nur einmal bei unserem Namen
gerufen bei unserer Taufe. Er tut es immerzu. Er ruft uns bei unserem Namen
und sagt: Du bist mein, und das sind meine Gebote für dich.
Sind wir wie die Emmaus-Jünger, zu denen Jesus sagt, sie seien „zu trägen
Herzens, all dem zu glauben, was die Prophten geredet haben“? Oder brennt
unser Herz für diesen Gott und sein Wort, dass wir es hören und halten?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen
und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
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