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Rezensionen
Andreas Exenberger/ Carmen Cian, Der
weite Horizont. Globalisierung durch
Kaufleute (Geschichte und Ökonomie 16).
Studienverlag, Innsbruck/ Wien/ Bozen
2006, 158 S., € 18,90.
Dieses Buch hat zwei Anliegen: Den Grad
der Globalisierung im Mittelalter am Beispiel Venedigs und der Hanse aufzuzeigen
und – angesichts der kontroversen Diskussion
der Globalisierung in der Öffentlichkeit – die
Notwendigkeit von begrifflicher Schärfe zu
demonstrieren. Nach einem (eigentlich überflüssigen) Versuch, die landläufigen Vorurteile
gegen das „finstere“ und „rückständige“ Mittelalter abzubauen (Kapitel 2 „Das Mittelalter“,
S. 9-24), nennen die Autoren die Kriterien, die
für sie die Einheitlichkeit des Mittelalters als
Epoche bestimmen (Gliederung der Gesellschaft in drei ordines; Zeitverständnis; Art der
Ökonomie; integrierter Charakter der Gesellschaft unter religiösen Vorzeichen), und bestimmen den Betrachtungszeitraum (ca. 12001500). Das Kapitel „Globalisierungskonzepte“
(S. 25-44) zählt die Ansätze zur Begriffsbestimmung aus wirtschaftswissenschaftlicher
(mitunter wirtschaftshistorischer), sozialwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher
und fundamentaloppositioneller Perspektive
auf und plädiert für eine Erweiterung des üblichen, rein wirtschaftlichen Verständnisses
der Globalisierung. Dementsprechend fällt
die eigene Definition aus: Globalisierung sei
ein „transdimensionales (also nicht nur wirtschaftliches) Phänomen mit Prozesscharakter,
das verstärkte Interaktionen von Menschen
über größere Distanzen erfordert und zu verstärkter Interdependenz zwischen den davon
betroffenen Räumen und Bereichen führt“
(S. 43). Davon ausgehend untersuchen die
Autoren die Globalisierung in den Bereichen
Kultur (inklusive Religion), Gesellschaft und
Wirtschaft (insbesondere die Vernetzung der
Arbeits-, Kapital- und Warenmärkte). Die
Hauptkapitel beschäftigen sich mit Venedig
(S. 45-90) und der Hanse (S. 91-134). Alle
möglichen Aspekte beider Gemeinwesen werden angesprochen. Einheitlich ist nur die Nennung der Gewährsleute und die kurze Skizze
der historischen Entwicklung bis ca. 1200 am
Anfang des jeweiligen Abschnitts.
Das Kapitel über Venedig fährt fort mit
der Darlegung der Stadtverfassung, der Wirtschaftspolitik, des Handels und des Transports, der Währung und des Finanzwesens
(Banken, Kredit, Wechselbrief), der Formen
der Handelsgesellschaften, der Territorialpolitik, der Sozialstruktur, der Kirche (insbesondere der Beziehungen zur Kurie) und des
Ausklangs der Serenissima. Das Kapitel über
die Hanse schildert deren Entwicklung zur
„Großmacht“, würdigt sie als „Städtebund“,
diskutiert Lübecks Rolle als „Haupt der Hanse“, erörtert Handel und Finanzwesen, erwägt
die Rückständigkeit der Hanse, skizziert die
Entwicklung der Auslandskontore, fragt nach
dem Grad der politischen Integration, diskutiert Verfassung und Sozialstruktur einiger
Hansestädte, schildert die hansische Alltagskultur (Architektur, Kleidung, Religion) und
den Ausklang der Hanse. Im Schlusskapitel
(S. 135-145) stellen die Autoren fest, dass es
trotz gewisser vereinheitlichender Tendenzen
(Handelskontakte,
Wechselbeziehungen,
Währungsräume) keine gesamteuropäische
Weltwirtschaft gegeben habe, insbesondere
weil ein Zentrum fehlte. Vielmehr habe es
mindestens vier Weltwirtschaften im europäischen Mittelalter gegeben, die durch die Hegemonie der Hanse, Venezianer, Flamen und
Genuesen in einem jeweils begrenzten Raum
(S. 139) charakterisiert waren. Gewisse Ansätze zur Globalisierung finden die Autoren
in der Politik, zumal bei der Hanse wie auch
in Venedig „Kompetenzen an eine höhere
Ordnung“ abgegeben wurden (S. 140 f.) und
Vereinheitlichungsbestrebungen innerhalb des
jeweiligen Wirtschaftsraums sowie Abgrenzungsversuche nach außen hin zu konstatieren sind. Am stärksten finden die Autoren die
kulturellen Globalisierungstendenzen, die vor
allem durch die Kirche getragen wurden. Ein
Bankhistorisches Archiv, 33. Jahrgang, Heft 2/2007
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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kurzes Literaturverzeichnis (S. 147-158) rundet das Werk ab.
Auch wenn der Rezensent die Grundthese
akzeptiert, es habe (zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht) durchaus eine Globalisierung
im Mittelalter gegeben, muss konstatiert werden, dass dieses Buch in fast jeder Hinsicht
äußerst problematisch ist. Dem babylonischen
Wirrwarr der Globalisierungskonzepte ist nicht
durch die Vorlage einer Definition abgeholfen,
die so umfassend ist, dass sie auf alles passt.
Und wenn man eine eigene Definition vorlegt,
erübrigt es sich, die – implizit abgelehnten –
sonstigen Voten in aller Breite darzulegen. Die
infolge der breiten Globalisierungsdefinition
selbst auferlegte Katholizität der Darstellung
in den Kapiteln über Venedig und die Hanse
erweckt den Eindruck der Willkürlichkeit. Versäumt wurde dementsprechend die Konzentration auf ausgewählte Schwerpunkte, die dazu
geeignet wären, den Grad der Globalisierung
sektorenweise exakter zu bestimmen. Hinzu
kommt, dass die Literaturkenntnisse der Autoren massive Lücken aufweisen. Zwar ist die
Literaturschelte das Lieblingsjagdrevier kleinkarierter Kritiker, aber in diesem Falle sind die
Versäumnisse wirklich gravierend. Dies gilt
nicht nur in Bezug auf Venedig (Lanes These
der Friedensrente fehlt, ebenso Hocquets Dissertation über den Salzhandel, Kedars Buch
über die Folgen des Zusammenbruchs der pax
Mongolica, Spuffords Geldgeschichte sowie
die Veröffentlichungen von Lane und Mueller
über die venezianischen Banken und von de
Roover über den Wechselbrief etc.),1 sondern
auch und insbesondere hinsichtlich der Hanse. Die Probleme beginnen damit, dass bei der
1
Frederic C. Lane, Venice. A Maritime Republic.
Baltimore 1993 (dt. Seerepublik Venedig. München
1980); Jean-Claude Hocquet, Le sel et la fortune de
Venise. 2 Bde. Lille 1979-1982; Benjamin Z. Kedar,
Merchants in Crisis. Genoese and Venetian Men of
Affairs and Fourteenth-Century Depression. New
Haven 1976; Peter Spufford, Money and its Use
in Medieval Europe. Cambridge 1988; Frederic C.
Lane/ Reinhold C. Mueller, Money and Banking in
Medieval and Renaissance Venice, 2 Bde. Baltimore
1985-1997; Raymond de Rover, L’évolution de la
lettre de change, XIVe-XVIIIe siècles (Affaires et
gens d’afaires 4). Paris 1953.
Nennung der Gewährsleute (S. 91) vernichtend rezensierte, populärwissenschaftliche
Werke (Ziegler; Zimmerling)2 und fundierte
wissenschaftliche Untersuchungen kritiklos
zusammengestellt werden. Darüber hinaus
halten die Autoren vielfach veraltete, zwingend widerlegte Thesen für stichhaltig. So behaupten sie zum Beispiel, dass der hansische
Handel ausschließlich aus dem Ost-West-Handel bestand (S. 108 f.) und dass das Gästerecht
sowie die Kreditverbote die Butenhansen vom
hansischen Wirtschaftsraum fernhalten sollten
(S. 122). Die (missratene) Darlegung der Formen hansischer Handelsgesellschaften fußt auf
Afflerbachs Magisterarbeit3 statt auf Cordes’
Habilitationsschrift.4 Außerdem führen die
Autoren Thesen ins Feld, die nirgends in der
Literatur belegt sind und die sie auch nicht
beweisen. So wird Lübeck eine „Hegemonialpolitik“ im 13. Jahrhundert unterschoben, die
angeblich darauf hinzielte, das lübische Recht
möglichst umfassend durchzusetzen (S. 98).
Genauso hanebüchen sind die Behauptungen,
dass der Rechtszug an den Lübecker Rat ein
„Ärgernis für andere politische Machthaber
im Gebiet der jeweiligen Stadt“ gewesen sei
(S. 104), dass Tagfahrt und Hansetag zwei unterschiedliche Größen waren (S. 101 f.) und
dass die Rezesse des Hansetags lediglich das
Gewohnheitsrecht festschrieben, wenn auch
nur teilweise (S. 101). Hinzu kommen massive
Schnitzer: So werden der Investiturstreit um
100 Jahre nach 1177 (S. 86) und die Gotland2
3
4
Uwe Ziegler, Die Hanse. Aufstieg, Blütezeit und Niedergang der ersten europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Eine Kulturgeschichte von Handel und Wandel zwischen 13. und 17. Jahrhundert. Bern 1994;
vgl. dazu die Rezension in Hansische Geschichtsblätter 113 (1995), S. 169-171. Ferner Dieter Zimmerling, Die Hanse. Düsseldorf/ Wien 1976; hierzu
die Besprechung in Hansische Geschichtsblätter
95 (1977), S. 85 ff.
Thorsten Afflerbach, Der berufliche Alltag eines
spätmittelalterlichen Hansekaufmanns. Betrachtungen zur Abwicklung von Handelsgeschäften (Kieler Werkstücke, Reihe A: Beiträge zur schleswigholsteinischen und skandinavischen Geschichte 7).
Frankfurt am Main 1993.
Albrecht Cordes, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 45).
Köln/ Weimar/ Wien 1998.
Bankhistorisches Archiv, 33. Jahrgang, Heft 2/2007
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart
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Urkunde Heinrichs des Löwen um 20 Jahre
nach 1181 (S. 92) verlegt.
Nun könnte man einwenden, dass diese Kritik kleinlich ist, wollen doch die Autoren nicht
neue Erkenntnisse zur Geschichte Venedigs
und der Hanse vorlegen, sondern den Nachweis, es habe bereits im Mittelalter Globalisierung gegeben, auf der Grundlage rezipierter
Forschungsergebnisse führen und nebenbei
eine bitter benötigte begriffliche Schärfe in
die Globalisierungsdiskussion einbringen. Allerdings scheitert das Werk nicht nur an der
mangelnden Stringenz der Argumentation,
sondern auch an seinen eigenen Ansprüchen.
Die Arbeitsdefinition von Globalisierung ist so
allumfassend, dass sie der Untersuchung keine
Richtung weist und sich somit als unbrauchbar erweist. Im Bereich der Wirtschaft, wo die
mittelalterliche Globalisierung nach Meinung
des Rezensenten am ehesten zu beweisen ist,
finden die Autoren nur gewisse Anzeichen
einer wirtschaftlichen Vereinheitlichung Europas. Der Nachweis selbst schwacher Globalisierungstendenzen im politisch-sozialen
Bereich krankt an der (von Pitz bereits 2001
widerlegten)5 Vorstellung, dass die Hansestädte und ihre Bürgerschaften politische Funktionen und Kompetenzen an den Hansetag abgegeben hätten. Der Nachweis im kulturellen
Bereich ist vollends misslungen. Wenn man
die Kirche als Trägerin der Globalisierung betrachtet, wie dies die Autoren machen, ist man
nach der Logik der eigenen Argumentation
zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass die
kulturelle Globalisierung allerspätestens mit
der Zentralisierung der Kirche im 11. Jahrhundert begonnen hat, wenn nicht gar mit den
ökumenischen Konzilien der Antike oder mit
der ersten Missionspredigt des Apostels Paulus an die Heiden. Im Gesamtergebnis muss
man feststellen, dass das Buch keinen stringenten Beweis für die These führt, vielfach
schlichtweg falsch ist und der These, mit der
5
Ernst Pitz, Bürgereinigung und Städteeinigung. Studien zur Verfassungsgeschichte der Hansestädte und
der deutschen Hanse (Quellen und Darstellungen
zur hansischen Geschichte N. F. 52). Köln/ Weimar/
Wien 2001.
der Rezensent im wirtschaftlichem Bereich
durchaus einverstanden ist, zumal er sie mit
in die Forschungsdiskussion eingeführt hat,6
einen Bärendienst erweist.
Erlangen
Stuart Jenks
(Prof. Dr. Stuart Jenks, Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Kochstr. 4, D-91054 Erlangen)
Uwe Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (1456-1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (Veröffentlichungen der Sächsischen Akademie
der Wissenschaften zu Leipzig. Quellen
und Forschungen zur sächsischen Geschichte 28). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 1.007 S., € 96,–.
Der Charakter des Staats ergibt sich nach Rudolf Goldscheid, dem Begründer der modernen Finanzsoziologie, in jeder historischen
Phase aus der Analyse des Funktionalzusammenhangs zwischen seinen Finanzen und der
jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung.
Der Staatshaushalt sei „das aller verbrämenden Ideologie entkleidete Gerippe des
Staates“. Obwohl Goldscheids fundamentale
Erkenntnis häufig zitiert wird, wurde sie in der
historischen Forschung bisher noch kaum umgesetzt, sieht man einmal von einigen wenigen
Ausnahmen ab. Schirmer geht in seiner jetzt
vorgelegten Untersuchung zu den sächsischen
Finanzen in den zwei Jahrhunderten zwischen
1456 und 1656 von einem solchen Funktionalzusammenhang aus. Schon von daher sind von
dieser Arbeit besondere Aufschlüsse und Einsichten über Charakter und Funktionsweise
des frühmodernen Staates zu erwarten. Nicht
zuletzt handelt es sich bei Sachsen um das,
nächst den habsburgischen Erblanden, reichs6
Stuart Jenks, Von den archaischen Grundlagen bis zur
Schwelle der Moderne, in: Michael North (Hrsg.),
Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im
Überblick. München 2000, S. 15-106, hier S. 106.
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te und mächtigste Territorium des Heiligen
Römischen Reiches.
Als Ziel der Untersuchung benennt der
Autor die Analyse der „kursächsischen Staatsfinanzen im Kontext des Staatsbildungsprozesses“ (S. 49). Dabei setzt er an dem – für
das Verständnis der neueren Geschichte Europas – archimedischen Punkt an, wenn er
von der kontinuierlichen Neuverschuldung
als „ein[em] Kriterium frühmoderner Staatlichkeit“ (S. 266) ausgeht. Dabei betrachtet
Schirmer landesherrliche und landständische
Finanzwirtschaft als Funktions- und Handlungseinheit (S. 607 f.). Auch wenn im Titel
des Bandes nur das Kurfürstentum genannt
wird, wird für die Zeitspanne zwischen der
Leipziger Teilung (1485) und dem Schmalkaldischen Krieg (1546/47) auch das Herzogtum
in die Untersuchung einbezogen. Beide wettinischen Territorien werden vergleichend analysiert.
Der Beginn des Untersuchungszeitraumes
wird durch eine mehrstufige Reform der Finanzverwaltung markiert, in deren Zuge die
Stufe des Domänenstaates (Schumpeter) überwunden wird. Am Ende der Reformära wies
Sachsen alle Merkmale des Finanzstaats (Oestreich, Krüger) auf, auch wenn die Domänen, zu denen auch der Bergbau zu rechnen
ist, zeitweise immerhin noch 53,5 Prozent der
kurfürstlichen Gesamteinnahmen lieferten.
Am Ende des Untersuchungszeitraumes, das
in das Todesjahr Johann Georgs I. fällt, war
Sachsen in das Zeitalter des Steuerstaats eingetreten.
Das Ziel der Finanzreformer des 15. Jahrhunderts war die Kosteneinsparung durch
Straffung und Intensivierung der Rechnungskontrolle sowie durch die Minderung des Personals der landesherrlichen Amtsverwaltung.
Eine zentrale zukunftsweisende Maßnahme
dürfte die Abschaffung des Anweisungssystems zu diesem – im Vergleich zu anderen Territorien – verhältnismäßig frühen Zeitpunkt
gewesen sein. Merkmale der sächsischen
Finanzstaatlichkeit sind neben dem hohen
Anteil an Steuereinnahmen die Setzung der
Schwerpunkte innerhalb der Finanzverwal-
tung, wie sich diese aus den Unterlagen des
ersten kursächsischen Landrentmeisters Johann von Mergenthal ergibt: (1.) den Ämtern,
die nach wie vor den Kern der kurfürstlichen
Finanzen ausmachen, und (2.) dem Bergbau
folgt unmittelbar (3.) das Schuldenwesen (einschließlich Verpfändungen) in seinem engen
Konnex mit den Einnahmen aus indirekten
Steuern, die seit 1470 unter der Kontrolle der
Landstände eingehoben wurden. Seit 1470
war der Steueranteil an den Einnahmen „niemals bedeutungslos“ (S. 27). Bereits im Jahre
1473 machten Steuern 38,5 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Diese wurden von den
Grundherren eingetrieben, die nur 75 Prozent
des Steueraufkommens an die landesherrliche
Kammer abführten, 25 Prozent aber selbst vereinnahmten. Auch dies ist – im Unterschied zu
anderen Reichsterritorien – als ein Zeichen einer besonders engen Interessengemeinschaft
von Adel und Landesherrschaft zu werten.
Konsequent legt der Autor den Hauptschwerpunkt auf die fürstenstaatliche Kreditaufnahme. Von dieser geht die hauptsächliche
Dynamik der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung aus. Nicht zuletzt
wegen der Einnahmen aus dem Bergbau, die
dem Kurfürsten den Ruf eines unermesslich
reichen Fürsten eintrugen, lag die landesherrliche Kreditwürdigkeit offenbar zunächst
noch weit über dem Kreditbedarf bzw. dem
Krediterfordernis. Über die Untersuchung von
Entstehung und Umgang mit der fürstlichöffentlichen Schuld gelangt Schirmer zu der
zentralen Erkenntnis, dass landesherrliche und
landständische Administrationen in ihren ökonomischen und sozialen Verflechtungen mit
der sächsischen Gesellschaft ein und dasselbe
Netzwerk konstituierten. Landesherrliche und
landständische Finanzen spiegeln damit die
Einheit der Herrschaft von Fürst und Landständen wider. Die oft bemühte These vom
Dualismus von Fürst und Landschaft in der
Frühen Neuzeit bedarf damit für Sachsen zumindest einer Relativierung. Insgesamt wird
schon aus den sächsischen Quellen für das 15.
und frühe 16. Jahrhundert erkennbar, dass die
Gläubiger der Wettiner entweder „selbst zur
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ernestinischen resp. albertinischen Landschaft
[gehörten], oder [...] über beste Beziehungen
zu jenen, die ad personam oder ex officio auf
dem Landtag vertreten waren, [verfügten]“,
und erst recht gilt dies für die Zeit nach 1570:
„…die wichtigsten und fast alleinigen Gläubiger des Landes [rekrutierten sich] aus den
Landständen“ (S. 33).
Mit der Gründung des Obersteuerkollegiums (OSK) im Jahre 1570 wird die landesherrliche Schuld institutionalisiert. Damit wird ein
entscheidender Schritt in der Entwicklung zur
modernen öffentlichen Schuld zurückgelegt
und die laufende Kapitalzufuhr für Handel,
Gewerbe und Landwirtschaft aus dem Steuer- und Abgabenaufkommen der produktiven
Bevölkerung des Landes ist staatlich-institutionell abgesichert. Das OSK setzte sich aus
vier ständischen sowie vier landesherrlichen
Vertretern zusammen. Neben der Zweckbindung der Steuer war vor allem „die geregelte
Schuldenbedienung wichtigstes Ziel“ des OSK
(S. 609). Seiner rechtlichen Stellung nach ein
ständisches Kontrollorgan war diese Behörde
ihrer ökonomischen Funktion nach ein Ausschuss zur Wahrnehmung der gemeinschaftlichen Geschäftsinteressen aller Gläubiger des
kursächsischen Fürstenstaats.
In absoluten Ziffern ausgedrückt vereinnahmten die Gläubiger jährlich die gigantische
Summe von 155.000 fl. allein an Zinserträgen
bei einer landesherrlichen Verschuldung von
durchschnittlich 3,1 Mio. fl. im letzten Drittel
des 16. Jahrhunderts. Es wird Aufgabe künftiger Forschungen sein zu untersuchen, in welcher Weise sich diese Umverteilung von Kapital über den fürstenstaatlichen Haushalt auf die
Sozialstruktur sowie auf die Polarisierung der
Vermögensverhältnisse konkret auswirkte.
Angesichts der regelmäßigen Zinserträge
in dieser Höhe verfestigte sich offenbar die
allgemeine Auffassung von der fürstenstaatlich-öffentlichen Schuld als ein ertragreiches
„Anlageobjekt“ mit staatlich garantierter Sicherheit. Anfänglich noch spürbare Bestrebungen zur Schuldentilgung traten in den
Hintergrund (passim, insbes. S. 266-269).
Kurfürst August scheint der letzte sächsische
Regent gewesen zu sein, in dessen Regierungszeit es noch einmal Ansätze, wenn auch nur
schwache, zum Sparen gegeben hat. Danach
steigen die Ausgaben scheinbar ungebremst
weiter. Die Gesamtentwicklung der Einnahmen war durch den Anstieg der Einkünfte
von unter 50.000 fl. unter Kurfürst Ernst auf
etwa 1.100.000 fl. unter Johann Georg I. im
Jahre 1650 gekennzeichnet. Der relative Anteil der Steuern stieg von 22 Prozent im jährlichen Durchschnitt der Jahre 1478-1482 auf
über 70 Prozent im Jahre 1612. Selbst unter
den Belastungen des Dreißigjährigen Krieges
nahm dieser Anteil nur noch geringfügig zu.
Der stärkste Anstieg erfolgte – dem Verlauf
der Verschuldung entsprechend – seit Kurfürst Christian I. (1586-1591), während der
Steueranteil vor 1586 mehr oder weniger stark
schwankte, immer der zeitlichen Begrenzung
der ständischen Steuerbewilligungen entsprechend.
Nachdem der Steueranteil schon 1612 einen relativen Anteil von über 70 Prozent der
Gesamteinnahmen erreicht hatte, war eine
weitere relative Steigerung des Steueranteils
anscheinend auch während des großen Krieges
nicht mehr möglich. Die Verschuldung wuchs
während des Dreißigjährigen Krieges weiter
und stieß gegen Kriegsende an ihre Grenzen.
Der kursächsische Haushalt verteilte nunmehr
nahezu 600.000 fl. jährlich aus Steuern, Abgaben und Diensten der Untertanen an die Gläubiger um – gegenüber dem Schuldendienst
des Kurfürsten Ernst (S. 131) eine Steigerung
von rund 1.900 Prozent. Allerdings wurde in
den Jahren nach dem Krieg die Schuld nicht
in voller Höhe bedient, anscheinend aber ohne
die offizielle Erklärung des Staatsbankrotts.
Hinter den angeführten Ziffern verbirgt
sich eine drastische Steigerung der materiellen Belastung der produzierenden Bevölkerung, die sowohl absolut als auch relativ einen
ständig wachsenden Anteil ihrer Arbeitserträge abgeben musste. Die Belastung aus den indirekten Steuern, die Niedrigeinkommen am
stärksten treffen, stieg von 1488 bis 1535 um
ca. 500 Prozent (S. 272, Tab. 15). Zwischen
1555 und 1720 wuchs allein die Belastung der
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kursächsischen Untertanen aus direkten und
indirekten Steuern noch einmal um weitere
rund 1.000 Prozent (S. 869, Graphik 12), hinzu kamen die grundherrlichen und städtischen
Dienste und Abgaben. Dementsprechend
floss im Jahre 1650 allein in den Schuldendienst das Zehnfache dessen, was die kursächsische Kammer etwa noch in den 1470er und
1480er Jahren an Gesamteinnahmen verzeichnet hatte. Diese Werte und Angaben dürften in
etwa der Entwicklung in Bayern entsprechen,
für das Winfried Schulze für den Zeitraum
zwischen 1480 und 1660 eine Steigerung
von 2.200 Prozent bei der Landsteuer sowie
300 bis 400 Prozent bei den grundherrlichen
Abgaben nannte. Auch hier bietet Schirmers
Arbeit eine Grundlage für die zukünftige Erforschung der Verwertung dieses Kapitals.
Was nun die Ausgaben insgesamt betrifft,
so stiegen diese mit den üblichen Schwankungen von etwa 50.000 fl. im Jahre 1473
auf weit über eine Mio. fl. in den Jahren nach
dem Dreißigjährigen Krieg, nachdem die kurfürstliche Kammer die während des Krieges
teilweise eingestellten Zahlungen wieder
aufnahm. Der Anteil der Ausgaben für die
Schuldenfinanzierung stieg von 21,9 Prozent
im Jahre 1482 auf rund 50 Prozent der Gesamteinnahmen „um 1650“ (S. 867). In absoluten Zahlen ausgedrückt nahm der Kurfürst
jetzt 1,1 Mio. fl. ein. Davon verwendete das
OSK insgesamt 592.074 fl. für die Schuldenbedienung. Schon im letzten Viertel des
16. Jahrhunderts hatte die absolute Höhe der
Verschuldung – dies sei hier noch einmal zum
Vergleich angeführt – rund drei Mio. fl. bei einer jährlichen Einnahme von etwas mehr als
einer Mio. fl. betragen.
Nächst der Bedienung der Schulden stellt
die Hofhaltung den zweitgrößten Posten der
regelmäßigen Ausgaben dar. In diesem Zusammenhang macht Schirmer deutlich, dass
nicht der Hof der Primus motor der staatlichen Entwicklung war, sondern dass es umgekehrt die Finanzoligarchien waren, um die
sich „gleichsam höfische Strukturen bilden“
(S. 30). Somit dürfte die „Domestizierung des
Adels“ in den frühmodernen sächsischen Staat,
die nach herkömmlichen Verständnis über den
Hof erfolgte und gewissermaßen als eine der
autonomen Stellung des Adels entsprechende
Integration in den frühmodernen Staat galt, als
ein Prozess der Vernetzung der führenden zwei
bis drei Dutzend schriftsässigen Adelsfamilien
untereinander und mit dem Fürstenhaus zu interpretieren sein.
Ein gewisser Mangel der Arbeit zeigt sich
darin, dass indirekte und direkte Steuern, ungeachtet ihrer grundsätzlich unterschiedlichen
Qualität sowie ökonomischen und sozialen
Implikationen, unter ein und derselben Rubrik
„Steuern“ zusammengefasst werden. Umso
dankbarer nimmt man zur Kenntnis, dass
in den Tabellen 79 und 80 für den Zeitraum
1613 bis 1628 die beiden Steuerarten dann
doch einmal getrennt aufgeführt werden. Aus
diesen Tabellen geht hervor, dass die Einnahmen der kurfürstlichen Kammer aus der direkten Steuer (Landsteuer) und der indirekten
Steuer (Tranksteuer) während des fraglichen
Zeitraums in einem Verhältnis von etwa 1:1,8
standen. Damit stellt sich die Entwicklung in
Sachsen durchaus als im Einklang stehend mit
derjenigen anderer Territorien dar. Finanzsoziologisch von Bedeutung ist hier, dass die
Hauptlast der indirekten Steuer, wie bereits
angeführt, von den einkommensschwachen
Schichten getragen wurde und diese Steuerart
in den meisten anderen Territorien im weiteren
Verlauf der Frühen Neuzeit gleichzeitig an Bedeutung zunahm, während die direkte Steuer
ihre Bedeutung verlor.
Eine Unstimmigkeit fällt bei der stichprobenartigen Überprüfung der Tabellen auf:
Während in der Tabelle 66 für die Jahre 1602
bis 1604 260.157 fl. für die Schuldentilgung
angegeben werden, ergibt sich aus der Tabelle 62 für denselben Zeitraum ein jährlicher
Schnitt von 256.987 fl. Wie gesagt, kein wesentlicher Unterschied. Indessen bleibt ein
Fragezeichen.
Entscheidend ist jedoch, dass in Schirmers
Untersuchung die fürstenstaatliche Verschuldung in ihren historischen Wurzeln sowie ihrer
ökonomischen und sozialen Dynamik im Zentrum steht und nicht zuletzt dem politischen
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Handeln der Gläubiger und ihrem Einfluss
breites Interesse eingeräumt wird. Schirmer
lässt die Verschuldung und die ökonomische,
soziale und politische Dynamik, die von ihr
ausgeht, als Primus motor der Herausbildung
des frühneuzeitlichen Steuer- und Abgabenwesens und damit letztlich des modernen Staates
selbst erkennbar werden.
Das methodische Konzept und die systematische Anlage der Untersuchung bewegen
sich durchweg auf dem aktuellen Forschungsund Erkenntnisstand der Finanzgeschichte,
die daher als exemplarisch für – wünschenswerte – zukünftige Untersuchungen weiterer
Territorien gelten kann. Die gesammelten
Ergebnisse dürften insgesamt zu einem qualitativ neuen Gesamtbild der Epoche beitragen.
Insgesamt bringt die Untersuchung qualitativ
neue Erkenntnisse über die zentralen Funktionen und Aufgaben des frühmodernen Staates,
insbesondere zwingt sie zur Neubewertung
von Bedeutung und Dynamik der öffentlichen
Schuld.
Greifswald
Werner Buchholz
(Prof. Dr. Werner Buchholz, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, Philosophische Fakultät, Historisches
Institut, Lehrstuhl für Pommersche Geschichte und Landeskunde, Domstraße 9a, D-17487 Greifswald)
Herbert H. Kaplan, Nathan Mayer Rothschild and the Creation of a Dynasty. Stanford University Press, Stanford/ California 2006, 194 S., £ 29,95.
Der Aufstieg der Rothschilds gehört zu den erstaunlichsten Erfolgsstories der europäischen
Finanzgeschichte. Der 1743 oder 1744 in der
Frankfurter Judengasse geborene Mayer Amschel Rothschild begründete ein Handels- und
Bankhaus, das unter seinen fünf Söhnen in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die führende
Stellung unter den europäischen Banken einnahm. Der Aufstieg aus dem engen Ghetto in
prächtige Villen und Schlösser innerhalb nur
einer Generation begründete den legendären
Ruf der Familie, der sich in zahllosen literarischen Bearbeitungen, aber auch in antisemitischen Phantasmen äußerte. Die Ursachen
dieses Aufstiegs sind bis heute in vielen Punkten ungeklärt – nicht zuletzt auch dadurch,
dass die Familie nur einen sehr restriktiven
Zugang in ihre Archive zuließ und z. B. bei
der Schließung des Frankfurter Hauses 1901
vier Eisenbahnwaggons mit Archivalien in
die Papiermühle kamen. Das hat sich in den
letzten Jahrzehnten geändert und insbesondere die reichen Bestände des Rothschildarchivs
London mit dem täglichen Briefwechsel der
fünf Brüder bieten ein bei weitem noch nicht
ausreichend ausgeschöpftes Quellenmaterial
für die europäische Geschichte in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Herbert Kaplan hat in seiner minutiösen
Untersuchung den Versuch unternommen, die
entscheidenden Jahre des Aufstiegs zwischen
1806 und 1816 zu analysieren. Im Mittelpunkt steht Nathan Rothschild, der 1798 ein
Handelshaus in Manchester, dem Zentrum der
europäischen Textilindustrie, gegründet hatte
und von dort aus seinen Vater in Frankfurt,
aber auch Geschäftspartner auf dem Kontinent mit Stoffen belieferte. Nathan wurde
später von seinen Brüdern in Anspielung auf
Napoleon als der „kommandierende General“
der Familie eingeschätzt, seine hohe Risikobereitschaft und die schludrige Buchführung
wurden von seinem Vater und anderen engen
Geschäftspartnern aber immer wieder hart kritisiert. Ein entscheidender Schritt in Nathans
Karriere war 1806 die Heirat mit Hanna Cohen, der Tochter eines der führenden jüdischen
„merchant bankers“ in London. Zwei Jahre
später nach dem Tod seines Schwiegervaters
Levy Barent Cohen übersiedelte Nathan selbst
nach London und konzentrierte sich auf das
Bankgeschäft.
Kaplan gelingt es, die wesentlichen Ursachen für den Erfolg der Rothschilds herauszuarbeiten. Ab 1809 verlagerte sich Nathan auf
den profitablen Handel mit Gold- und Silber in
Münzen- und Barrenform sowie mit Wechseln,
bei dem er vor allem von den stark schwan-
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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kenden und sehr unterschiedlichen Marktpreisen zwischen Südamerika, England und dem
Kontinent profitierte. Der Handel war durch
die Kriege zwischen England und Frankreich
sowie die Kontinentalsperre mit einem sehr
hohen Risiko behaftet. Nathan gelang es aber,
in enger Zusammenarbeit mit seinem Vater bis
zu dessen Tod 1812 und mit seinen vier Brüdern ein dichtes Netz von Geschäftspartnern
auf dem Kontinent aufzubauen, mit deren Hilfe er den Handel mit Gold- und Silber sowie
mit Wechseln erfolgreich ins Werk setzte. Auf
dieser Grundlage konnte Nathan, der Einwanderer aus Frankfurt, mit zum Teil zweifelhaften
Geschäftsmethoden zum idealen Partner der
englischen Regierung werden. Ende 1813
stand Wellingtons spanische Armee vor dem
Einmarsch nach Frankreich. Das militärische
Unternehmen war jedoch höchst gefährdet, da
das Schatzamt es nicht schaffte, die im Norden der iberischen Halbinsel und im Süden
Frankreichs operierende Armee ausreichend
mit Gold- und Silberwährung für die Löhnung
und Versorgung der Soldaten auszustatten. In
dieser kritischen Situation beauftragte John
Charles Herries, der für die Armeeversorgung
zuständige Beamte im Schatzamt, den jungen
aufstrebenden Bankier aus Deutschland mit
der Organisation dieser Versorgung. Gestützt
auf das in den Jahren zuvor aufgebaute und im
Schmuggelhandel erprobte Netz gelang es Nathan und seinen Brüdern, die Versorgung Wellingtons mit großen Summen sicherzustellen.
Nach diesem Erfolg beauftragte Herries die
Rothschilds ebenfalls mit der Übermittlung
der Subsidienzahlungen an die verbündeten
Staaten, sodass die Familie unter der Führung
von Nathan innerhalb weniger Jahre eine dominante Stellung unter den konkurrierenden
Banken erringen konnte und James bereits
1820 mutmaßte, dass sie „die reichsten Leute
in Europa“ seien.
Kaplan schafft es, Banken- und Finanzgeschichte prägnant und anschaulich zu präsentieren und durch das Dickicht der Legenden
und Mythen, die sich um die Rothschilds ranken, einen quellengestützten Pfad zu schlagen.
Ein Beispiel hierfür ist die in der Forschung
bislang unumstrittene These, dass das große
Vermögen des von Napoleon ins Exil getriebenen Kurfürsten von Hessen, dessen umfangreiche Anlagen in englischen Staatsanleihen
die Rothschilds nach 1806 monopolisieren
konnten, eine zentrale Rolle für Nathans Erfolg gespielt habe. Kaplan zeigt dagegen, dass
für diese auch von den Rothschilds selbst später gern verbreitete Einschätzung eigentlich
die Quellen fehlen. Hier ist wie in vielen anderen Fragen der Rothschild-Geschichte noch
weitere Forschung notwendig.
Frankfurt am Main
Fritz Backhaus
(Fritz Backhaus, Stellvertretender Direktor, Jüdisches
Museum Frankfurt am Main, Untermainkai 14-15, D60311 Frankfurt am Main)
Rainer Liedtke, N. M. Rothschild & Sons.
Kommunikationswege im europäischen
Bankenwesen im 19. Jahrhundert. Böhlau,
Köln/ Weimar/ Wien 2006, 271 S.,
€ 32,90.
Die Macht und der Reichtum der Bankierfamilie Rothschild hat schon das Staunen und den
Neid der Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts
auf sich gezogen. Bekannt ist das einem ihrer
weiblichen Mitglieder zugesprochene Wort, es
könne in Europa keinen Krieg geben, solange
die Rothschilds dagegen seien. Und so rankten sich seit je her zahlreiche Mythen um die
Geschichte des Hauses Rothschild. Doch erst
die vor zehn Jahren erschienene monumentale
Studie von Niall Ferguson konnte mit einigen
Legenden aufräumen, weil hier erstmalig ein
Historiker Zugang zu den in London befindlichen reichhaltigen Archivbeständen der weit
verzweigten Familie erhalten hatte. Aus diesen Beständen schöpft auch die vorliegende
Studie, bei der es sich um die überarbeitete
(und verhältnismäßig kurze) Fassung der Gießener Habilitationsschrift von Rainer Liedtke handelt. Liedtke untersucht darin das weit
über die Grenzen Europas hinausreichende
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Netz der Informationszuträger und Geschäftsbevollmächtigten vor allem der Londoner
Niederlassung der Rothschilds. Dieses Netz
verschaffte, so mutmaßten schon zeitgenössische Beobachter, den Rothschilds oft einen
entscheidenden Informationsvorsprung gegenüber ihren Konkurrenten.
Liedtkes Studie besteht im Wesentlichen
aus drei Teilen: Nach knappen Überblicken
über die Rolle der Privatbanken im 19. Jahrhundert sowie über die Familie und die Banken der Rothschilds in diesem Zeitraum folgen
(1.) eine Rekonstruktion des Rothschild’schen
„Agentennetzwerks“ zwischen der Spätnapoleonischen Zeit und den 1870er Jahren; (2.)
eine Untersuchung der Beziehungen zwischen den Rothschilds und ihren Agenten;
(3.) schließlich drei Fallstudien zu besonders
wichtigen oder typischen Agenten.
Bereits einleitend diskutiert Liedtke die
Komplexität der Funktions- und Sozialfigur
des „Agenten“, die zwischen fest angestellten
auswärtigen Informationssammlern einerseits
und fremden (aber den Rothschilds nahestehenden), ökonomisch und rechtlich ganz unabhängigen Banken andererseits changierte,
wobei manche Agenten im Lauf der Zeit ihre
Position auf dieser Skala durchaus zu ändern
in der Lage waren. Aus der Struktur, der Qualität und der Quantität der Kommunikationsstränge zwischen den Rothschilds und diesen
Partnern entwickelt Liedtke die Entstehung
und die Funktionsweise des „Agentennetzwerks“, das er zunächst in drei zeitlichen Einschnitten (1825, 1850 und 1875) untersucht.
Obwohl er dabei gelegentlich auf Termini und
Kategorien der Netzwerkanalyse zurückgreift
und vor allem immer wieder die Asymmetrie
dieses ganz auf die Rothschilds, vor allem auf
das der Untersuchung ihren Namen gebenden
Londoner Haus N. M. Rothschild & Sons zugeschnittene Netzwerk betont, bleibt dieser
Zugriff eigentümlich arbiträr. Beispielsweise
unternimmt der Autor trotz der hervorragenden
Überlieferungslage keinen Versuch, das Material quantifizierend auszuwerten. Dadurch
bleibt beispielsweise die Intensität und die
unterschiedliche qualitative Ausformung der
Beziehungen zwischen dem zentralen Londoner Haus und den verschiedenen Typen von
Agenten weitgehend im Dunklen. Tatsächlich
untersucht Liedtke nicht das Gesamtnetzwerk,
sondern nur Ausschnitte daraus, nämlich die
bei den Rothschilds eingehenden Informationen sowie eine Reihe als signifikant erachtete
Individuen.
Ein wesentlicher Einflussfaktor für die
Konturen des Agentennetzwerks stellte gegen Ende des Untersuchungszeitraums eine
technische Neuerung, nämlich die elektrische
Telegraphie, sowie das Aufkommen von
Nachrichtenagenturen dar, die die Informationsgeschwindigkeit enorm erhöhten und aufgrund der damit verbesserten Informationsund Kontrollmöglichkeiten den aufwändigen
Unterhalt des bis dahin etablierten Netzwerks
zu einem guten Teil überflüssig machten.
Zentral für die Auswahl der Agenten war
ihre Vertrauenswürdigkeit. Offenbar mangelte
es den Rothschilds zu keiner Zeit an fachlich
kompetenten Kandidaten für jene Agententätigkeit, wohl aber an vertrauenswürdigen
Männern. Umso auffälliger ist der mehrfach
von Liedtke hervorgehobene Befund, dass
die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit in dieser
Frage kaum eine Rolle spielte, mit anderen
Worten: dass es für die Auswahl der Agenten
kaum von Belang war, ob es sich um Juden
oder um Nicht-Juden handelte. Folglich finden
sich auch zahlreiche nicht-jüdische Akteure im
Agentennetzwerk. Ein wesentlicher Teil der
Vergütung der Agenten erfolgte immateriell:
Er bestand in der vielfach genutzten Möglichkeit, lukrative Eigengeschäfte zu tätigen, die
ihnen allein aufgrund ihres Status als Agent
des Hauses Rothschild angetragen wurden.
Die Tätigkeit für die Rothschilds stellte also
im wahrsten Sinne ein „soziales Kapital“ dar.
Noch wichtiger ist jedoch Liedtkes Abschlussbefund: Das Agentennetzwerk der
Rothschilds sei so „einzigartig“ gewesen wie
die Rothschilds selbst (ein Urteil, das den Wert
der Studie vorderhand nur schmälern kann,
weil ihre Ergebnisse in keiner Weise verallgemeinerbar wären). Entscheidend für den geschäftlichen Erfolg der Familie war demnach
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in erster Linie, dass neben dem Agentennetzwerk ein zweites Geschäfts- und Informationsnetzwerk bestand, nämlich dasjenige der über
halb Europa verteilten Familienmitglieder.
Gerade zur Bestimmung des Verhältnisses
zwischen diesen beiden Netzwerken wären
quantitative Analysen allerdings wünschenswert gewesen. Überhaupt macht sich das
Fehlen systematischer und auf Synthesen zielender Perspektiven in dieser Arbeit schmerzhaft bemerkbar. So erfolgt an keiner Stelle
ein umfassender Literaturüberblick oder eine
Einordnung in die Forschungsdiskussion. Die
Verarbeitung der vor allem in der Londoner
Niederlassung akkumulierten Informationen
durch die Entscheidungsträger, also die Chefs
der verschiedenen Häuser, bleibt weitgehend
unklar. Ein Urteil über den Einfluss der in den
Netzwerken zirkulierenden Informationen auf
das unternehmerische Entscheidungsverhalten
der Rothschilds in Relation zu anderen Faktoren zu fällen, bleibt letztlich dem Leser allein überlassen.
Trier
Morten Reitmayer
(PD Dr. Morten Reitmayer, Universität Trier, Fachbereich
III: Neuere und Neueste Geschichte, D-54286 Trier)
Wissenschaftsförderung der SparkassenFinanzgruppe e. V. (Hrsg.), Regionalgeschichte der Sparkassen-Finanzgruppe,
Bd. 1 (Sparkassen in der Geschichte,
Abt. 3: Forschung 19). Deutscher Sparkassenverlag, Stuttgart 2006, 300 S.,
€ 42,69.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Sparkassen ein wichtiges Forschungsfeld der Geschichts- und Kulturwissenschaften ausmacht.
Die Sparkasse und ihre Vorläufer, die Leihhäuser und Waisenkassen, waren gemeinnützige Unternehmen und Finanzinstitute, die die
Armen und Geringverdienenden unterstützten
und in ihren Statuten soziale Aufgaben fest-
schrieben. Eben dieser Aspekt war ein wesentlicher Motor der Sparkassenneugründungen
im 18./19. Jahrhundert.
Besonders aktiv engagiert sich die Wissenschaftsförderung der Sparkassen-Finanzgruppe e. V. mit Sitz in Bonn für die historische
Aufarbeitung der Sparkassen. Mit der Veröffentlichung des ersten Bandes „Regionalgeschichte der Sparkassen-Finanzgruppe“
konnte nun ein Desiderat geschlossen werden,
in dem die Entwicklung der Sparkassen Nordund Ostdeutschlands von ihrer Gründung an
bis zur Gegenwart rekapituliert wird. Der
zweite Band über die Sparkassen West- und
Süddeutschlands wird demnächst folgen. Das
Besondere an dem erfreulichen Vorhaben ist,
dass die Dezentralität der Sparkassen betont
wird und die Studie daher raumbezogen ist,
d. h. es wird die Geschichte der Sparkassen in
den einzelnen deutschen Bundesländern, der
Stadt Berlin sowie den ehemaligen preußischen
Provinzen – Schleswig-Holstein, Bremen
und Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg,
Pommern, Brandenburg, Anhalt, Sachsen und
Schlesien – beschrieben. Dieser der territorialen Vielfalt der deutschen Geschichte geschuldete Ansatz führt zwangsläufig zu einer
– vom Herausgeber erwünschten – Neujustierung der Perspektive von einer nationalen
Sichtweise hin zu einer regionalen Betrachtung. Zu hoffen ist, dass eine eigenständige
Untersuchung, in der die vielfältigen sparkassenrelevanten englischen, französischen und
österreichischen Transferprozesse behandelt
werden, künftig vorbereitet und somit auch
der europäische Kontext der Sparkassengeschichte beleuchtet wird.
Die hier zu rezensierende Studie ist in acht
Kapitel unterteilt: Sie beginnt mit einem Vorwort des Herausgebers – stellvertretend durch
den Vorsitzenden der Wissenschaftsförderung
Werner Netzel –, dem die Einführung aus der
Feder von Thorsten Wehber folgt; Hans Jürgen Kieback widmet sich der Entwicklung der
Sparkassen-Finanzgruppe in Schleswig-Holstein; Günter Ott den Sparkasseninstituten in
Bremen und Hamburg; Karl Heinrich Kaufhold und Axel Schnell beleuchten die Sparkas-
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sengeschichte in Niedersachsen; Willi A. Boelcke, Wolfgang Quast und Wolfgang Schröder
widmen sich der Sparkassengeschichte in
Berlin; Willi A. Boelcke, Hubert Kiesewetter
und Hans-Georg Günther behandeln die Sparkassengeschichte im heutigen Gebiet des Ostdeutschen Sparkassenverbandes und Konrad
Fuchs konzentriert sich auf die Sparkasseninstitute in Schlesien (bis 1945). Ergänzt wird
die redaktionell sehr gut betreute Arbeit durch
ein Abkürzungs-, ein Quellen-, ein Literatursowie ein Abbildungsverzeichnis. Schließlich
werden die Autoren kurz vorgestellt. Neben
Wissenschaftlern und Vertretern aus der Sparkassenpraxis ist auch ein Publizist unter den
männlichen Beiträgern.
Positiv herauszuheben an dem Sammelband ist, dass eine hohe homogene Dichte
erreicht werden konnte. Der Anspruch, „mehr
als eine Aneinanderreihung von ‚Einzelgeschichten’ bieten zu wollen“ (Wehber, S. 15),
konnte eingelöst werden. Der Sammelband informiert über
• die Gründung und Motive der Gründung
der einzelnen Sparkassen und Verbände,
• die Entwicklung der Angebote und Leistungen,
• die Organisation und den Betrieb,
• die ökonomische Bedeutung sowie die sozialen und kulturellen Aktivitäten,
• die Entwicklung der sparkassenrelevanten
Verbandsstrukturen,
• die politischen und ökonomischen Herausforderungen der Sparkassen (Weltwirtschaftskrise von 1929, Neuaufbau
nach 1945, Deutsche Wiedervereinigung
1989/90) und
• den Wettbewerb der Sparkassen mit Banken und Genossenschaften.
Als besonders gelungen und kenntnisreich
sind die Beiträge von Karl Heinrich Kaufhold,
Hubert Kiesewetter und Konrad Fuchs hervorzuheben. Der Artikel von Kaufhold zeichnet sich durch die intensiven Vorstudien und
exzellenten Recherchen über die Göttinger
kommunale Sparkasse aus. Der Aufsatz von
Fuchs über die Sparkassen Schlesiens konzentriert sich auf eine traditionsreiche, aber beina-
he vergessene Sparkassenlandschaft. In dem
Aufsatz über die Sparkasseninstitute in Sachsen von Hubert Kiesewetter werden die vielen
Facetten der Sparkassengeschichte durch den
Rückgriff auf umfangreiche Primärquellen
anschaulich herausgearbeitet. Die Sparkassen
entwickelten sich, so Kiesewetter, zu Universalbanken, die sich von Privatbanken nur noch
durch das Prinzip der Gemeinnützigkeit und
der Mündelsicherheit unterschieden (S. 220).
Doch bei allem Bemühen um eine wissenschaftlich fundierte Darstellung bleibt der Eindruck bestehen, dass es sich hier doch letztlich nur um eine reine Erfolgsgeschichte der
Sparkassen und Sparkassenverbände handelt.
Es hätte einen Mehrwert ergeben, wenn die
Autoren etwas mehr Mut gehabt hätten für die
kritische, wissenschaftliche Aufarbeitung von
Fehlentwicklungen und ungenutzten Chancen.
Auch bleibt die NS-Zeit auffällig unbeleuchtet. Dennoch: Der zu rezensierende Sammelband präsentiert die Sparkassengeschichte als
ein faszinierendes und vielschichtiges Thema,
dem hoffentlich noch weitere die Wissenschaft
und Forschung bereichernde historische Untersuchungen folgen werden.
Mainz/ Bonn
Martin Peters
(Dr. Martin Peters, Institut für Europäische Geschichte,
Alte Universitätsstraße 19, D-55116 Mainz)
Heinz Siebold/ Dirk Schindelbeck, Eine
Bank wie keine andere. 140 Jahre Volksbank Freiburg. Ein historisches Lesebuch. Promo-Verlag, Freiburg i. Br. 2007,
168 S., € 10,–.
Am 30. Dezember 1866, also wenige Monate
nach Beendigung des Deutschen Kriegs zwischen Preußen und Österreich sowie ihren
jeweiligen Verbündeten – und damit zugleich
dem Ende des Deutschen Bundes –, gründeten 83 Freiburger Bürger eine gewerbliche
„Vorschusskasse auf Schulze-Delitzsch’scher
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Grundlage“, die fortan als „Freiburger Gewerbebank“ firmieren sollte und im Jahr 1973 ihren
heutigen Namen „Volksbank Freiburg e.G.“ erhielt. Im Januar des Jahres 1867 nahm die Kreditgenossenschaft ihre Geschäftstätigkeit auf.
Sie widmete sich vor allem der Förderung des
Handwerks sowie Gewerbes und erweiterte
sukzessive ihre Tätigkeit auf die Interessen des
gesamten Mittelstandes. Die Mitgliederzahl
stieg rasch; heute sind fast 44.000 Personen
Mitglieder und damit zugleich Teilhaber der
Bank. Wie sich die Zahl der Mitglieder und
Kunden enorm erweiterte, so auch die Aufgabenstellung der Bank, die über die städtischen Grenzen hinaus maßgebend für deren
genossenschaftliches Umfeld und die Region
Schwarzwald, Breisgau, Kaiserstuhl geworden
ist. Sie hat den Schritt von der primär städtisch
orientierten Freiburger Genossenschaftsbank
zur regionalen mittelständischen Volksbank,
hervorgegangen aus zahlreichen Fusionen
– unter anderem auch mit Raiffeisenbanken –,
erfolgreich gemeistert.
Dieses „historische Lesebuch“ zeichnet
übersichtlich die verschiedenen Entwicklungslinien der Bank nach, und zwar vielfach vor
dem Hintergrund der allgemeinen politischen
und wirtschaftlichen Entwicklungen. Die Studie ist umfassend recherchiert, differenziert
gegliedert und angenehm lesbar. Die Zitate,
die die Ausführungen illustrieren, sind sorgfältig ausgewählt. Obwohl im Zweiten Weltkrieg
Quellenverluste eingetreten sind, konnten auch
die Geschehnisse vor 1945 genau rekonstruiert werden. Zahlreiche zeitgenössische Fotos
und Faksimiles von Originalunterlagen, unter
anderem aus Firmen-, Privat- und städtischen
Archiven, sowie Statistiken dokumentieren
und ergänzen die Aussagen und vergegenwärtigen bildhaft die Entwicklungsgeschichte der Bank. Auch die komplexe Geschichte
der Fusionen wird übersichtlich dargestellt.
Von besonderem Interesse sind ebenfalls die
Porträts und Viten der Gründer der Freiburger
Gewerbebank. Es ist selten, dass die Gründungsgeschichte einer Genossenschaftsbank
des 19. Jahrhunderts heute noch so anschaulich rekonstruiert werden kann.
Dieses vorbildlich gestaltete Buch ist für
alle, die sich für die Geschichte der Kreditgenossenschaften, die Hintergründe und Zusammenhänge interessieren, eine empfehlenswerte
und lehrreiche „Lektüre“.
München
Ludwig Hüttl
(Prof. Dr. Ludwig Hüttl, Genossenschaftsverband Bayern
– Historischer Verein Bayerischer Genossenschaften –,
Türkenstraße 22-24 D-80333 München)
Harald Wixforth (Hrsg.), Bankiers und Finanziers – Sozialgeschichtliche Aspekte
(Geld und Kapital 8). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 184 S., € 37,–.
Es steht fest, dass sich die Biographie in der
Zeitgeschichte ihre vielfach umstrittene zentrale Rolle nicht nehmen lässt; hätte man Zweifel,
so würde man durch den Erfolg neuer Werke
zu Ludwig Quidde oder Paul von Hindenburg
– um nur einige herauszugreifen – eines besseren belehrt.17Trotz der breiten Resonanz auf
Biographien von Hermann Josef Abs und Hjalmar Schacht aus den Federn von Lothar Gall
und Christopher Kopper28bleibt dieser Ansatz
aber im Bereich der Bankgeschichte offenbar
noch begründungsbedürftig; im Bereich der
Finanzwelt scheint sich die Erwartung einer
personenunabhängigen, durch Strukturen determinierten rationalen Handlungsweise sehr
viel stärker zu halten, als die Praxis eines extrem personenbezogenen Anreiz- und Vergütungssystems suggerieren würde.
Die von Harald Wixforth verfasste Einleitung zu diesem Band macht dagegen umfassend
deutlich, welches bislang kaum ausgeschöpftes
Potenzial in einer personenbezogenen Betrachtung steckt, und die unterschiedlichen Fallstu17 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858-1941). Eine Biografie (Schriften des Bundesarchivs 67). Düsseldorf 2007; Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft
zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007.
28 Lothar Gall, Der Bankier. Hermann Josef Abs. Eine
Biographie. München 2006; Christopher Kopper,
Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers
mächtigstem Bankier. München/ Wien 2006.
Bankhistorisches Archiv, 33. Jahrgang, Heft 2/2007
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dien, welche den Band ausmachen, dokumentieren das in personenbezogenen Geschichten
von Wirtschaftsunternehmen und Finanzbehörden am konkreten Objekt.
Der Band beginnt mit einer Darstellung der
Geschichte des Amsterdamer Bankhauses Insinger & Co. in den turbulenten Konjunkturen
der post-napoleonischen Ära und der Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Die Beiträge von
Sabine Rossbach und Monika Pohle Fraser
widmen sich dem Bild der Bankiers und der
Spekulanten in der breiteren kulturellen Wahrnehmung, Rossbach am Beispiel der Echos
des Law-Bankrotts in Goethes Faust, Fraser
anhand des Problems der Abgrenzung von
(legitimer) wirtschaftlicher Spekulation und
(illegitimem) Hasardspiel im bürgerlichen Tugendkanon des langen 19. Jahrhunderts.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf Studien zu Bankiers des späten 19. und frühen
20. Jahrhunderts. Andreas Graul untersucht
Gustav und Victor von Klemperer nicht als
Direktoren der Dresdner Bank, sondern als
Kunstmäzene. Žarko Lazarević beschreibt die
Entstehung eines slowenischen Bankwesens
und die Rolle führender Familien im Rahmen
dieses Prozesses. Harald Wixforth diskutiert
die Auswirkungen von nationalen Spannungen
auf das Bankwesen der Zwischenkriegszeit. In
gewissem Sinne komplementär sind die beiden
Überlegungen zu größeren Biographien von
Zentralbankiers: während es Agnes Pogány
hier vorwiegend darum geht, Alexander Popovics, den Leiter der österreichisch-ungarischen
und der (auch nach 1919 königlich-) ungarischen Notenbank ins kollektive Gedächtnis
der Wissenschaft zurückzuholen, liefert Christopher Kopper interessante Überlegungen
zum Problem der Biographie von Bankiers im
Allgemeinen und Hjalmar Schachts im Besonderen. Ein Diskussionsbeitrag zu Perspektiven
der Sparkassengeschichte von Harald Wixforth
beschließt den Band, der durch die Kreativität
der Beiträge mehr als wettmacht, was ihm auf
den ersten Blick an Homogenität fehlen mag.
Frankfurt am Main
Andreas Fahrmeir
(Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, Johann Wolfgang GoetheUniversität, FB 08 – Philosophie und Geschichtswissenschaften, Historisches Seminar, Neuere Geschichte, D60629 Frankfurt am Main)
Christoph Kreutzmüller/ Thomas Weihe,
Eugen Panofsky (1855-1922). Berliner
Bankier, Stadtrat und Stadtältester (Jüdische Miniaturen. Spektrum jüdischen
Lebens 65). Teetz 2007, 64 S., € 5,90.
Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts spielten
Privatbankiers noch eine wichtige Rolle im
deutschen Finanzsystem. Nähere Informationen besitzen wir jedoch nur über die wenigsten von ihnen. Die überwiegende Zahl
der häufig als Kleinstunternehmer agierenden
Bankiers verschwand durch Übernahmen oder
Geschäftsaufgaben. Schriftliche Zeugnisse ihrer Tätigkeiten liegen heute kaum mehr vor.
Eine Ausnahme von dieser Regel bildet – mit
Abstrichen – Eugen Panofsky, Teilhaber des
Berliner Privatbankhauses Jacquier & Securius. Hier haben sich im Besitz der Familie
manche Dokumente erhalten, die Christoph
Kreutzmüller und Thomas Weihe erstmals
auswerten.
Eugen Panofsky wurde 1855 als Kind jüdischer Eltern in Tarnowitz im Regierungsbezirk Oppeln geboren. Nach dem Besuch des
Gymnasiums in Breslau siedelte er 1874 nach
Berlin über, wo er ein Jahr später als Kassierer
in die Privatbank Jacquier & Securius eintrat.
1888 heiratete Panofsky Helene Weil aus Baden-Baden, die ebenfalls jüdischer Konfession
war. Schon vor seiner Eheschließung war er
zum Prokuristen von Jacquier & Securius bestellt worden. Im Jahr 1902 folgte der nächste
Karriereschritt. Panofsky wurde nun in den
Kreis der Teilhaber aufgenommen, sein Anteil
bis 1919 auf etwa 30 Prozent erhöht. Die Geschäfte seines Bankhauses erstreckten sich in
jener Zeit vornehmlich auf Börsen- und Bodenspekulationen. Darüber hinaus engagierte
sich die Bank in der Braunkohlenindustrie
und in der Berliner Brauwirtschaft. Die Mitbegründung der Rheinischen AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (Rheinbraun) war die wohl prominenteste Tat von
Jacquier & Securius.
Für sein Bankhaus dachte Panofsky offenbar dynastisch. Beide Söhne wurden zu Nachfolgern ausgebildet. Der ältere fiel im Ersten
Weltkrieg, sodass der zweite Sohn Alfred das
Erbe bei Jacquier & Securius antrat. Für seine
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einzige Tochter arrangierte Panofsky die Ehe
mit Georg Hirschland, dem späteren Inhaber
des Essener Bankhauses Simon Hirschland.
Als etablierter Privatbankier engagierte sich Eugen Panofsky auch in zahlreichen
karitativen Vereinen, so als Schatzmeister
des Vaterländischen Frauenvereins oder als
Vorsitzender eines Vereins für die Fürsorge
geistesschwacher Kinder. Von 1909 bis 1919
kümmerte er sich im Hauptausschuss des
Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens um wirtschaftliche Fragen.
Sein weiteres Engagement galt der Stadt Berlin. 1910 wurde Panofsky in deren Magistrat
gewählt, seit 1911 wirkte er als unbesoldeter
Stadtrat – nicht als Stadtverordneter, wie die
Autoren schreiben – in der Finanzverwaltung.
1916 übernahm er zudem den Vorsitz in der
Hochbaudeputation und wurde Mitglied in
der städtischen Kriegskommission. 1919 verpasste er die Wiederwahl und wurde mit dem
Ehrentitel eines Stadtältesten verabschiedet.
Gesundheitlich mittlerweile schwer angeschlagen, verstarb Eugen Panofsky 1922 an
den Folgen einer Operation.
Der schmale Band liefert in drei Kapiteln
interessante Einblicke in das Leben Eugen
Panofskys. Diese sind wertvoll, denn noch
immer weiß die Forschung viel zu wenig über
die Privatbankiers der zweiten Reihe. Eine
Fragestellung fehlt dem Buch allerdings. Dies
ist jedoch keine Nachlässigkeit der Autoren,
einen systematischen Zugriff auf das Leben
Panofskys lässt die mangelhafte Quellenlage
einfach nicht zu. Eine dichte Überlieferung
liegt ausschließlich für die Jahre des Ersten
Weltkriegs vor, sodass die oben genannten
Einblicke in das Denken und Handeln Panofskys für frühere Jahre fehlen. Auch die Unternehmensgeschichte von Jacquier & Securius
ist nicht immer greifbar. Dass die Quellen
nicht reichlicher fließen, kann den Autoren
kaum zum Vorwurf gemacht werden. Es bleibt
ihr Verdienst, in einem flüssig geschriebenen
Büchlein Eugen Panofsky der Vergessenheit
entrissen zu haben.
Köln
Dominik Zier
(Dominik Zier, Hausarchiv Sal. Oppenheim jr. & Cie.,
Unter Sachsenhausen 4, D-50667 Köln)
Sonja Heiss, Die Institutionalisierung
der
deutschen
Lebensversicherung
(Schriften zur Rechtsgeschichte 130).
Duncker & Humblot, Berlin 2006, 383 S.,
€ 84,–.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland die ersten Lebensversicherungsunternehmungen gegründet, staatliche Vorgaben dazu gab es nur in Preußen
(im Allgemeinen Landrecht von 1794). Im
Wesentlichen entwickelten die Gründer auch
die Regeln, nach denen die Unternehmungen
auf Dauer bestehen und wirken sollten. Im
Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit von Sonja Heiss, einer juristischen Dissertation, stehen die Regelwerke von acht „beständigen“
Lebensversicherungen, die die Bestimmungen zur Unternehmensorganisation, zu den
Vertragsbedingungen und zur Versicherungstechnik einschließlich der Tarife enthielten. In
einem umfangreichen Anhang (S. 212-362)
werden diese seinerzeit durch den Druck verbreiteten Regelwerke, also Statuten, Verfassungen und „Pläne“, erneut abgedruckt, da sie
heute schwer zu ermitteln und meist nur noch
in Archiven überliefert sind. In der eigentlichen Monographie werden die Regelwerke
als das selbstgeschaffene Recht der Gründer
systematisch dargestellt und verglichen.
Die Darstellung erschöpft sich damit aber
nicht: Aus der vielfältigen zeitgenössischen
und Forschungsliteratur wird der Gründungsund Institutionalisierungsprozess bis etwa
1850 untersucht, versehen mit vielen und
vielfach längeren zeitgenössischen Zitaten,
die teils interessant, teils kurzweilig zu lesen sind, teilweise aber doch besser in einem
weiteren Quellenanhang hätten ihren Platz
finden sollen. Die Darstellung enthält auch
biographische Angaben zu den meist prominenten Gründern wie Ernst Wilhelm Arnoldi,
Levin Anton Wilhelm Benecke, Josef Riesler
u. a., wie auch Angaben zur Gründung selbst.
Gerahmt wird dies mit einer Skizze der politischen und versicherungswirtschaftlichen
Ausgangssituation. In einem Ausblick werden
weitere Gründungen bis zum Jahr 1871 und
die Entwicklung der untersuchten Unterneh-
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
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men bis zur Gegenwart dargestellt, nur die
„Gothaer“, die „Alte Leipziger“ und die „Berlinische“ tragen noch ihren alten Namen, die
meisten sind aufgekauft bzw. fusioniert.
Die Dissertation sollte ursprünglich auch
untersuchen, welche Rolle die Interessen der
Versicherten bei der rechtlichen Institutionalisierung gespielt haben. Dies ließ sich allerdings nur in der relativ pauschalen Form falsifizieren, dass der Schutz der Versicherten kein
Leitmotiv war, sondern schlichtweg die Etablierung der jeweiligen Lebensversicherung.
Hier zeigen sich die Grenzen der rechtshistorischen Untersuchung: Zum einen standen adäquate Quellen zu den Versicherteninteressen
nicht zur Verfügung oder wurden nicht ausgewertet, und zum anderen ist die Untersuchung
eben keine sozial- und wirtschaftshistorische
Studie, die quantitative Angaben ermittelt und
analysiert, also auch solche zu Bilanzen, Dividenden, Gratifikationen bzw. Tantiemen und
Bestandsentwicklung, d. h. dem eigentlichen
„Geschäft“. Auch die schwierige Frage nach
den Rechnungsgrundlagen wird nicht gestellt
und beantwortet – die Verfasserin untersucht
nur Gründungen bis 1843, in diesem Jahr aber
wurde erstmals die Tafel der 17 englischen
Gesellschaften veröffentlicht!
Insgesamt handelt es sich um eine nützliche und solide Dissertation, die den Forschungsstand gut lesbar zusammenfasst, aber
nicht wesentlich fortführt. Eine Fortführung
der „Geschichte“ dieser Gründerunternehmen
über die Gründungsphase hinaus, mindestens
bis zum Jahr 1914, mit einer Darstellung des
zunehmend dichteren Gesamtgeflechts der Bezüge einschließlich der Kodifikationen und der
Konkurrenz wäre sehr wünschenswert gewesen, Quellenmaterial dazu gibt es in Hülle und
Fülle, vor allem dann, wenn man Zeitschriften
und Zeitungen einbezieht. Aber eine Dissertation hat ja meist einen begrenzten Zweck.
Kassel
Florian Tennstedt
(Prof. Dr. Florian Tennstedt, Universität Kassel, Fachbereich 4: Sozialwesen, Institut für Sozialpolitik und
Organisation Sozialer Dienste, Arnold-Bode-Straße 10,
D-34109 Kassel)
Martin Lengwiler, Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870-1970 (Industrielle Welt.
Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 69). Böhlau, Köln/
Weimar/ Wien 2006, 445 S., € 54,90.
Seit ihrem Entstehen hat die Sozialversicherung sehr nachhaltig einzelne Lebensformen
verändert. Sie hat zur Medikalisierung der
Bevölkerung beigetragen und der modernen
Gesellschaft einen Weg aufgezeigt, wie sie
zentralen Risiken der Arbeits- und Lebenswelt zu begegnen hat. Betrachtet man diesen
Umgang mit Risiken in seiner historischen
Entwicklung, so wird neben dem veränderten
Vorgehen der direkt Beteiligten auch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz dieser
Rezepte deutlich. Der Autor, Privatdozent für
Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, untersucht diesen Wandel am Beispiel der
staatlichen Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) für den Zeitraum seit ihrer
Gründung im Jahre 1918 bis etwa 1970. Er
geht davon aus, dass die Sozialversicherungen
Schlüsselinstitutionen sind „für die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung von Risikoperzeptionen und risikobezogenen Verhaltensmustern“, wobei sie verschiedene Risiken
der Industriegesellschaft mit den Mitteln der
Statistik und Wahrscheinlichkeitsmathematik
kalkulierbar sowie durch den Einsatz der wissenschaftlichen Expertise auch politisch regelbar gemacht haben. Mit der Institutionalisierung dieser so gearteten Risikopolitik habe der
moderne Sozialstaat auf die Soziale Frage des
ausgehenden 19. Jahrhunderts geantwortet.
Dabei konnte die wissenschaftliche Expertise
bzw. die Verwissenschaftlichung von Risiken
neben den Zwangsinstrumenten der Unfallversicherung entscheidend zu deren Akzeptanz
und zu einem veränderten Verhalten der Versicherten gegenüber Unfallrisiken beitragen.
Der Verfasser zeigt Schritt für Schritt auf,
wie sich die wissenschaftliche Expertise auf
der Grundlage von entsprechenden Statistiken
zu einer „politischen Vertrauenstechnologie“
entwickelte, wie Versicherungsleistungen kal-
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kuliert wurden und sich die Beteiligten über
das beste Finanzierungssystem gestritten haben. Auch im Falle der Suva standen den
Verfechtern des Kapitaldeckungsverfahrens
diejenigen des Umlageverfahrens gegenüber. Ausführlich geht Martin Lengwiler auf
die Risikoforschung in der Arbeits- und der
Lebensversicherungsmedizin ein. Er behandelt den Einfluss der amerikanischen Safety
First-Bewegung, diskutiert das Gendering
der Risikowahrnehmung und behandelt die
Kontroversen zwischen Suva, Ärzten und
Arbeitnehmern. Die Grenzen der Verwissenschaftlichung im Versicherungsalltag zeigt er
am Beispiel der Silikose auf, er dokumentiert
die Institutionalisierung der Unfallprävention
nach 1945 sowie am Beispiel der Verkehrssicherheit den Lernprozess der Versicherten.
Die Ergebnisse sind in drei Thesen zusammengefasst: (1.) die Verwissenschaftlichung
erfolgte nicht in Form eines deduktiven Anwendungsprozesses, sondern in Wechselwirkung „zwischen wissenschaftlicher Expertise
und institutionellem Wirkungsfeld“; (2.) der
Verwissenschaftlichungsprozess stieß an seine
Grenzen wegen der überlieferten Risikowahrnehmung der Arbeiter, der Gutachterverfahren
sowie der tagespolitischen Schwerpunktsetzungen; (3.) die staatliche Unfallversicherung
fand trotz zahlreicher Kontroversen in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Institution eine breite Zustimmung, und zwar nicht
so sehr auf der Grundlage wissenschaftlicher
Expertisen, sondern vielmehr als Folge organisatorischer Umstände, insbesondere infolge
ihrer „korporatistisch-partizipatorischen Entscheidungsstrukturen“. Es waren vor allem
die mit Vertretern unterschiedlicher Gruppen
besetzten Gremien der Sozialversicherung,
die sich als hoch effiziente Schlichtungsinstrumente erwiesen. Die gesamte Studie zeigt
höchst eindrucksvoll die Verwissenschaftlichung von Risiken in der Berufswelt, die
Veränderung in der allgemeinen Einstellung
zu diesen Risiken sowie die Entwicklung des
Risk Managements bis 1970. Das Buch besticht durch seine Fragestellung und seinen
wissenschaftlichem Ansatz. Martin Lengwiler
hat eine bemerkenswerte Studie vorgelegt, die
von der Konzeption und den Ergebnissen her
zweifelsohne Vorbildcharakter hat, auch wenn
dies nicht für die teilweise sehr komplizierte
Sprache gilt.
Marburg/ Lahn
Peter Borscheid
(Prof. Dr. Peter Borscheid, Universität Marburg, FB Geschichte und Kulturwissenschaften, Wilhelm-RöpkeStr. 6c, D-35032 Marburg/ Lahn)
Historische Gesellschaft der Deutschen
Bank (Hrsg.), Die Deutsche Bank in Hannover (Die Deutsche Bank in Einzelbänden 9). Piper, München 2007, 148 S.,
€ 7,90.
Die Deutsche Bank in Hannover kann im Jahre 2007 auf eine 150-jährige Vergangenheit
zurückschauen, obwohl die Deutsche Bank
– wie bekannt – erst 1870 in Berlin gegründet
wurde und somit erst 137 Jahre alt ist. Dieser
Widerspruch ist aufhebbar, denn 1857 wurde die Hannoversche Bank als Vorläufer der
Deutschen Bank im damaligen Königreich
Hannover gegründet. Sie war die Notenbank
des Staates und auch die bedeutendste private
Geschäftsbank.
Der erste Kontakt der Hannoverschen
mit der Deutschen Bank datiert auf das Jahr
1897, als die Berliner auf der Suche nach Verbindungen mit führenden Regionalbanken
waren und die Hannoversche Bank ihr Kapital erhöhte. So entwickelte sich eine durch
gegenseitige Interessen begründete Gemeinschaft mit entsprechenden Vertretungen im
Aufsichtsrat. Insbesondere durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und die dadurch bedingte ansteigende Inflation war die
Ertragskraft der Regionalbank im Nordwesten
derart geschwächt, dass Ende 1920 die Fusion
mit der Deutschen Bank eingegangen wurde
und die Firmenbezeichnung fortan „Hannoversche Bank Filiale der Deutschen Bank“
lautete. Im Wesentlichen waren die Geschäfte
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dieselben wie vor der Fusion: Kunden und
Personal änderten sich kaum. Im Jahre 1932
wurde dann der Name „Hannoversche Bank“
aus der Firma entfernt.
An die Zeit des Nationalsozialismus, in der
die Bank ab den Kriegsjahren von 1940 bis
zum Einmarsch US-amerikanischer Verbände am 10. April 1945 nicht nur einen Kampf
um das ökonomische, sondern vor allem um
das körperliche Überleben zu überstehen hatte
– noch Ende März 1945 wurde das Gebäude
am Georgsplatz schwer getroffen –, schloss
sich die Phase der Zerschlagung und Rezentralisierung an, zunächst als Bank unter britischer Militärverwaltung von 1945 bis 1952
und dann als „Norddeutsche Bank AG“ in
Hannover von 1952 bis 1957.
Seit 1957 – also vor 50 Jahren – firmiert
das Finanzunternehmen in der traditionellen
Form als „Deutsche Bank“ in Hannover. Das
Geschäft des Instituts ist nun geprägt von neuen Produkten und neuen Strukturen im Filialgeschäft. Für die Gesamtbank ist die Deutsche
Bank in Hannover eine der wichtigsten Hauptfilialen im Inland mit Fokus auf den Osten des
Bundeslandes Niedersachsen. Mit der wachsenden Bedeutung als internationale Messestadt hat die Deutsche Bank in Hannover von
dem Standort profitiert – vor allem als exportfinanzierende Institution und als Anbieter von
Finanzsektor-Innovationen auf der Computermesse CeBIT.
Die vorliegende Publikation besteht im wesentlichen aus zwei Teilen: dem historischen
Teil, der von Martin L. Müller, seit 2006 Leiter des Historischen Instituts der Deutschen
Bank in Frankfurt am Main, verfasst wurde,
und der abschließende Teil „Die Deutsche
Bank in Hannover heute“, der von der Geschäftsleitung verantwortet wird. Dazu kommen Übersichten über die leitenden Personen
seit der Gründung.
Die sechs historischen Hauptteile der Publikation: „Das Königreich Hannover und
seine Wirtschaft“, „Die Hannoversche Bank
(1856-1920)“, „Der Bankplatz Hannover
nach 1900 und die Filiale der Disconto-Gesellschaf“, „Die Filiale der Deutschen Bank
(1920-1945)“, „Zerschlagung und Rezentralisierung (1945-1957)“ und „Die Deutsche
Bank in Hannover seit 1957“ sind in gut lesbarem Duktus geschrieben und sorgfältig aus
den Quellen und Akten, heute Archivbestandteile des Historischen Instituts der Deutschen
Bank, erarbeitet.
Zahlreiche gut ausgewählte Illustrationen
tragen dazu bei, das Interesse des Lesers an
dem zuweilen spröden Stoff zu steigern. Hervorzuheben ist, dass es dem Verfasser sehr gut
gelingt, die historische Entwicklung der Bank
in ihrem Umfeld dazustellen. So bleibt nicht
unerwähnt, dass der spätere Reichspräsident
Paul von Hindenburg, der in Hannover ehrenvoll als General-Feldmarschall im Ruhestand
wohnte, der prominenteste Kunde der hannoverschen Filiale war.
Müller schreibt in seiner Übersicht „Das
Königreich Hannover und seine Wirtschaft“:
„Nach dem Tod König Wilhelms IV. (von
Großbritannien) folgte ihm seine Tochter
(sic!) auf den englischen Thron“ (S. 10). Wie
bekannt, starb der Monarch kinderlos. Die
spätere Königin Victoria war die Tochter seines jüngeren Bruders Edward, Herzog von
Kent. Der Autor hätte hier ein genealogisches
Nachschlagewerk konsultieren sollen.
Im Darstellungsteil über die Zeit des Nationalsozialismus wird auch den politisch
durchgesetzten Überführungen von Vermögen
und Firmen aus jüdischem in nichtjüdisches
Eigentum nachgegangen und dargelegt, inwieweit die Gesamt- und die Filialbank in den
Prozess der „Arisierung“ involviert waren.
Eine genaue Fallzahl für die Deutsche Bank
in Hannover konnte Müller nicht feststellen,
aber Einzelfälle wie die Metall- und Farbwerke in Oker/ Harz und die Bekleidungsfirma Gödecke & Mittelmann in Celle. Für den
historischen Teil kann konstatiert werden,
dass Darstellung, Gewichtung und Wertung
mit klugem Augenmaß vorgenommen werden.
Für den numismatisch Interessierten ist von
Interesse, dass die Deutsche Bank in Hannover im Jahre 1983 das ehemalige Königliche
Münzkabinett zu Hannover erworben hat und
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seitdem einen Ausstellungsraum im Hauptgebäude am Georgsplatz unterhält.
Bremen
Dieter Leuthold
(Prof. Dieter Leuthold, Sprecher des Instituts für Unternehmensgeschichte IFUG, Hochschule Bremen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Werderstraße 73, D28199 Bremen)
Caroline Fohlin, Finance Capitalism and
Germany’s Rise to Industrial Power. Cambridge University Press, Cambridge 2007,
392 S., £ 48,–.
Seit etwa einem Jahrzehnt ist Caroline Fohlin
eine der produktivsten Wissenschaftlerinnen
im Bereich der deutschen Bankengeschichte.
Ihr jüngst erschienenes Buch „Finance Capitalism and Germany’s Rise to Industrial Power“
fasst die Ergebnisse ihrer Forschung zusammen, stellt sie in einen Zusammenhang und
ergänzt sie um Ausführungen zur Börsengeschichte. Insgesamt ist das Buch gut gelungen.
Es sei jedoch sogleich darauf hingewiesen,
dass es – ebenso wie die Aufsätze von Caroline
Fohlin – einen sehr starken Fokus auf die zwei
bis drei Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg sowie auf die Beziehungen zwischen Aktienkreditbanken und Industrieaktiengesellschaften
hat. Die Bedeutung anderer Typen von Kreditinstituten sowie die Beziehungen zwischen
den Akteuren innerhalb der Banken werden
nahezu vollständig aus der Untersuchung ausgeblendet.
Im ersten Kapitel führt Fohlin aus, dass sie
durch neue und bekannte Evidenz ein möglichst genaues und ausgewogenes Bild des
deutschen Finanzsystems zeichnen und zu
vielen, teilweise seit Generationen geführten
Kontroversen beitragen möchte (S. 7). Dazu
wird in Kapitel 2 zunächst ein Überblick über
die deutsche Bankengeschichte, vor allem
die Kontroverse über den Einfluss von Großbanken auf die Industrialisierung, gegeben.
Dem folgt in Kapitel 3 ein Abriss der gän-
gigen theoretischen Überlegungen bezüglich
Banken und Wertpapiermärkten. Die nun folgenden Kapitel 4 bis 6 bilden das Kernstück
der Monographie; in ihnen werden zahlreiche
Hypothesen zur Bedeutung der Aktienkreditbanken für die deutsche Industrialisierung neu
untersucht.
In Kapitel 4 stellt Fohlin die aggregierte
Entwicklung des Bankensektors, den Anteil
der Aktienkreditbanken daran sowie die Bilanz- und Gewinnstruktur der Aktienkreditbanken dar. Dies geschieht nahezu ausschließlich auf Grundlage der bereits 1976 von der
Bundesbank veröffentlichten Daten, sodass
die Darstellung nicht neu, aber durchaus informativ und übersichtlich ist. Des Weiteren wird
die Unternehmenskonzentration innerhalb des
Aktienkreditbankensektors dargestellt. Ein
interessantes Resultat ist, dass zwar die Konzentration im deutschen Bankensektor angestiegen, in Deutschland jedoch geringer geblieben ist als in England. Zudem untersucht
Fohlin, ob es eine dynamische Korrelation
zwischen dem Wachstum der Bilanzsumme
der Aktienkreditbanken und dem Wirtschaftswachstum gab; sie kann keinen statistisch signifikanten Zusammenhang finden und lehnt
damit die klassische Hypothese ab, dass die
Großbanken kausal für die Industrialisierung
gewesen seien. Dieses Ergebnis basiert jedoch
lediglich auf Daten für die Periode 1895-1913,
sodass schon aufgrund der geringen Zahl der
Beobachtungen kein statistisch signifikanter
Zusammenhang zu erwarten war. Unklar
bleibt auch, warum Fohlin nicht auf die vorliegenden Daten zur aggregierten Bilanzsumme
der Aktienkreditbanken und zur Konzentration der Aktienkreditbanken während der Jahre
1848 bis 1882 zurückgegriffen hat.
Unter dem Schlagwort „Corporate Governance“ behandelt Fohlin in Kapitel 5 die Beziehungen zwischen Aktienkreditbanken und
Industrieaktiengesellschaften. Dabei reduziert
sich Fohlins Verständnis von „Corporate Governance“ weitgehend auf die Mitgliedschaft
von Bankiers in den Aufsichtsräten der Industrieaktiengesellschaften. Zunächst wird überzeugend dargelegt, dass Banken kaum am Ak-
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tienkapital von Industrieaktiengesellschaften
beteiligt waren und ihre Macht vermutlich ihren Grund in der Ausübung von Depotstimmrechten hatte. Da zum Depotstimmrecht und
zur Eigentümerstruktur jedoch keine Daten
vorliegen, kann diese Hypothese weder gestützt noch verworfen werden. Bei den Beziehungen zwischen Banken und Industrie
konzentriert sich Fohlin auf die Verbindungen
durch Aufsichtsratsmandate. Sie zeigt, dass
Banken vor allem in solchen Unternehmen
vertreten waren, die an der Börse notiert
waren, wohingegen die Abhängigkeit von
Fremdkapital kein Grund für die Wahl eines
Bankvertreters in den Aufsichtsrat war. Dieses
Ergebnis ist überzeugend dargelegt, allerdings
nur für die beiden Jahrzehnte vor dem Ersten
Weltkrieg. In Kapitel 6 untersucht Fohlin, ob
die Beziehungen von Industrieunternehmen
mit Banken über Aufsichtsratsmandate die
Gewinne dieser Unternehmen und deren Investitionsverhalten positiv beeinflusst haben.
Ein solcher Zusammenhang kann nicht aufgefunden werden. Allerdings stellt sich heraus,
dass börsennotierte Unternehmen eine durchschnittlich bessere Entwicklung aufwiesen als
Industrieunternehmen, die nicht an der Börse
notiert gewesen sind.
Die zentralen Ergebnisse der Kapitel 5 und
6 zeigen, dass die Notierung von Unternehmen an der Börse und nicht die Beziehungen
zwischen Unternehmen und Banken relevant
waren. Dieses Ergebnis ist mutig und läuft
dem typischen Bild des bankbasierten Finanzsystems zuwider. Kapitel 7, in dem das
Börsengeschäft untersucht wird, ist daher der
innovative Beitrag von Fohlins Buch. Zunächst beschreibt Fohlin die Entwicklung des
Börsenwesens in Deutschland und untersucht,
ob regulative Eingriffe des Staates die Börsenentwicklung beeinflussten. Sie kommt zu dem
Schluss, dass weder das Börsengesetz noch
die steigenden Börsensteuern die Entwicklung
des Aktienmarktes wesentlich beeinflussten.
Des Weiteren stellt sie fest, dass sich Banken
und Börse nebeneinander entwickeln konnten:
Die Banken hatten die Entwicklung der Börse
nicht ver- oder behindert. Dies zeigt sich vor
allem daran, dass die Entscheidung eines Industrieunternehmens, sich an einer Börse notieren zu lassen, von der Unternehmensgröße
und nicht von engen Beziehungen zu einer
Bank abhing. Auch wenn die Kreditbanken
den Börsengang durchführten, waren sie für
die Entscheidung zum Börsengang nicht ausschlaggebend.
Das nun folgende achte Kapitel fasst auf
50 Seiten die deutsche Bank- und Börsengeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur frühen
Bundesrepublik zusammen. Das Kapitel ist
viel zu kurz, um der Materie gerecht zu werden, und hätte daher entfallen können. Kritisch
angemerkt sei zudem, dass Fohlin Ergebnisse
aus der Unternehmensgeschichte, die neueste
Forschung zur Bank- und Börsengeschichte
der Gründerjahre sowie Monographien zur
Börsengeschichte nicht berücksichtigt. Auch
die verwendeten quantitativen Daten sind teilweise veraltet. Beispielsweise verwendet Fohlin den von Donner im Jahre 1934 berechneten
Aktienindex und nicht die neueren Zeitreihen
von Eube oder Ronge.19Auch ist es manchmal
schwierig, die Herkunft von Fohlins Daten zu
überprüfen, da die Quellen nicht genannt werden. Insgesamt ist das Buch von Fohlin jedoch
ein gut gelungener Beitrag zur quantitativen
Geschichte der Aktienkreditbanken im Kaiserreich.
Bonn
Carsten Burhop
(PD Dr. Carsten Burhop, Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Kurt-SchumacherStr. 10, D-53113 Bonn)
19 Otto Donner, Die Kursbildung am Aktenmarkt.
Grundlagen zur Konjunkturbeobachtung an den
Effektenmärkten (Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 36). Hamburg 1934; Steffen
Eube, Der Aktienmarkt in Deutschland vor dem
Ersten Weltkrieg: eine Indexanalyse (Schriftenreihe
des Instituts für Kapitalmarktforschung – Center for
Financial Studies an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main, Monographien 17).
Frankfurt am Main 1998; Ulrich Ronge, Die langfristige Rendite deutscher Standardaktien. Konstruktion
eines historischen Aktienindex ab Ultimo 1870 bis
Ultimo 1959 (Europäische Hochschulschriften, Reihe V: Volks- und Betriebswirtschaft 2901). Frankfurt am Main et al. 2002.
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Ferdinand von Weyhe, A. E. Wassermann.
Eine rechtshistorische Fallstudie zur „Arisierung“ zweier Privatbanken (Rechtshistorische Reihe 343). Peter Lang Verlag,
Frankfurt am Main et al. 2007, 187 S.,
€ 41,10.
Die „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft in
der Zeit des Nationalsozialismus war in den
letzten Jahren wiederholt Gegenstand der wirtschaftshistorischen Forschung. Mit der Rolle
der Großbanken als Kollaborateure und Profiteure des Regimes rückte auch die Frage nach
der „Entjudung“ des deutschen Bankwesens
in den Blickpunkt. Mittlerweile liegen gerade
zur „Arisierung“ der Privatbanken, also der
bankbetrieblichen Personen- und Einzelunternehmen, zahlreiche Studien vor. Sie beschäftigen sich mit der Verdrängung jüdischer
Bankiers aus dem Privatbanksektor mittels
vergleichender Branchen- und vertiefender
Einzelfallstudien. Immer geht es dabei um
die wirtschaftliche Ausschaltung von zuvor
ökonomisch oft sehr erfolgreichen und sozial
angesehenen Mitgliedern der deutschen Wirtschaftselite, mit deren Verdrängung der traditionsreiche Bankentypus der Privatbanken in
seiner Gesamtheit marginalisiert wurde und
nahezu vollständig von der Bildfläche des
deutschen Wirtschaftslebens verschwand.
Der Rechtshistoriker Ferdinand von Weyhe fügt der historischen Rekonstruktion des
Verdrängungsprozesses in diesem Sektor eine
Fallstudie hinzu. Die vorliegende Fassung
seiner 2006 an der Universität Regensburg
fertiggestellten Dissertation behandelt die
„Arisierung“ der beiden Bankhäuser A. E.
Wassermann in Berlin und Bamberg. Hierbei
handelt sich um alteingesessene Banken mittlerer Größe, die sich auf die Industriefinanzierung der regionalen Wirtschaft (Bamberg)
bzw. auf den internationalen Effekten-, Devisen- und Rembourshandel (Berlin) spezialisiert hatten. Besondere Bedeutung kam den
Banken nach der „Machtergreifung“ durch
die Förderung jüdischer Emigration im Rahmen der Paltreu (Palästina-Treuhandstelle zur
Beratung deutscher Juden) bzw. des Haava-
ra-Abkommens zu. Beide wurden 1938 auf
ähnliche Art und Weise „arisiert“, indem der
Firmenbesitz der Familie Wassermann in die
Hände betriebsfremder Nachfolger überging.
Die Arbeit gliedert sich in vier chronologisch angelegte Kapitel. Einleitend werden die
Unternehmen vorgestellt. Beide Bankhäuser
besaßen in den 1920er Jahren trotz wachsender Konkurrenz durchaus noch gute Wachstumsbedingungen. Großen Anteil hieran hatte
die geglückte Aufgabenteilung zwischen den
beiden Banken der Familie. Die Hauptstadtniederlassung überflügelte das Bamberger
Stammhaus aufgrund ihrer Erfolge am Berliner
Börsenplatz rasch und emanzipierte sich 1928
auch rechtlich von der Muttergesellschaft. Die
Verbindung zwischen den Bankhäusern wurde
allerdings durch gemeinsame Geschäfte und
enge personelle Überschneidungen in der Geschäftsleitung aufrechterhalten. Die Bamberger Bankleiter Albert und Julius Wassermann
waren formell auch Teilhaber des Berliner
Geschäftes. Umgekehrt waren seitdem die aus
einem zweiten Familienzweig stammenden Inhaber der Berliner Bank, Max und Georg von
Wassermann sowie Sigmund Wassermann und
der einzige externe Teilhaber Joseph Hambuechen, passive Partner des ehemaligen Stammhauses.
Von Weyhe zeigt im zweiten Kapitel wie
sich die Geschäftstätigkeit der jüdischen Privatbanken nach 1933 einengte. Die Banken
sahen sich vermehrt auf einen jüdischen Kundenkreis zurückgeworfen und mussten im Alltagsgeschäft erhebliche Einbußen einstecken.
In der Beschreibung der zunehmenden Diskriminierung jüdischer Unternehmer konzentriert sich der Autor stark auf eine rechtliche
Ebene und rekapituliert die Entwicklung der
antijüdischen Gesetzgebung des NS-Regimes.
In Anlehnung an die mittlerweile über vierzig Jahre alte Studie von Helmut Genschel
beschreibt er den wirtschaftlichen Verdrängungsprozess in Phasen. Nach einer Zeit der
anfänglichen antijüdischen Angriffe sorgten
Schachts „schützende Hand“ und außenpolitische Rücksichtnahmen in Zeiten der Olympiade 1936, so von Weyhe, für eine zeitwei-
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lige Beruhigung des Verfolgungsdrucks, der
dann schließlich 1937/38 wieder anhob und
in der staatlich legitimierten Ausschaltung
jüdischer Wirtschaftstätigkeit mündete. Für
den Fortgang der Analyse wirkt diese starre Phaseneinteilung, die mittlerweile in der
Forschung vielfach in Frage gestellt wurde,
eher hinderlich. Dies fällt gerade vor dem
Hintergrund auf, dass der Autor, sobald er
den Blick von der übergeordneten Ebene auf
sein Fallbeispiel lenkt, sehr facettenreich unterschiedlichste Diskriminierungs- und Verfolgungsinstrumente aufführt, die von zahlreichen Partei- und Verwaltungsstellen schon
vor 1938 gegen die Bankhäuser eingesetzt
wurden. Detailliert setzt sich die Studie mit
der Verdrängung der Wassermann-Privatbankiers aus den Aufsichtsräten von Industrieunternehmen und dem Verlust von Firmenbeteiligungen auseinander. Auch wurde die Bank
schon 1936 – also in der Phase der lange Zeit
angenommenen Schonfrist für jüdische Wirtschaftstätigkeit – von den Finanzbehörden der
Devisenvergehen und von der nationalsozialistischen Hetzpresse der Steuerhinterziehung
beschuldigt. Diese direkten Angriffe gegen
ihre Unternehmen prägten die Verfolgungserfahrungen der jüdischen Bankiers sicherlich
nachhaltig. Mit der Aufnahme der „arischen“
Bankiers Bernstorff und Joachim von Heinz in
den Kreis der Berliner Teilhaber versuchte die
Familie schon 1937, dem steigenden „Arisierungsdruck“ der Behörden entgegenzuwirken.
Beide Banken wurden 1938 schließlich
durch das Ausscheiden der jüdischen Besitzerfamilie und die Aufnahme befreundeter nichtjüdischer Bankiers aus dem Kundenumfeld in
die Geschäftsleitung „arisiert“. Auf der Basis
der vorliegenden „Arisierungsverträge“ ist die
Studie in der Lage, die technische Abwicklung der Übernahme genau zu rekonstruieren.
Eine Stärke der Arbeit ist dabei nicht nur, die
Schwierigkeiten der finanziellen Auseinandersetzung und der Neufundierung mit Kapital im
Zuge der Umformierung der Geschäftsleitung
aufzuzeigen, sondern sich durch ausführliche
biographische Notizen auch der Motive und
dem Verhalten der Erwerber anzunähern. Trotz
einer auf den ersten Blick „freundschaftlichen
Arisierung“ kam es auch hier wie in zahlreichen vergleichbaren „Arisierungsfällen“
im Privatbankwesen zu einer zweifelhaften
Festlegung der „Verkaufspreise“ mittels einer
Unterbewertung der Geschäftssubstanz (insbesondere der Wertpapiere) und des Goodwill.
Allein der finanzielle Verlust der Bankiers belief sich nach Feststellung der Wiedergutmachungsbehörden aus dem Jahr 1956 auf umgerechnet 350.000 DM. Die psychologische
Wirkung von persönlicher Verfolgung und
dem Verlust des familieneigenen Unternehmens ist dagegen kaum messbar.
Die solide recherchierte Studie wartet mit
einigen neuen Quellen und Erkenntnissen zur
„Arisierung“ der Wassermann-Bankhäuser
auf. Dabei erweist sich der rechtshistorische
Zugriff als zweischneidiges Analyseinstrumentarium. Einerseits werden die vorliegenden
Vertragsunterlagen kompetent analysiert und
damit neue Einblicke in die „Techniken“ der
Übernahme von Privatbanken im Zuge eines
Inhaberwechsels gewonnen. Andererseits werden diese Ergebnisse aber allzu oft durch eher
allgemeine Aussagen über die formale Inkraftsetzung und Umsetzung antijüdischer Gesetze
verzerrt und letztlich ungenügend in den historischen Kontext des Verdrängungsprozesses
eingebettet. Alles in allem handelt es sich um
eine gute, in ihrer Aussagekraft aber begrenzte Studie, die den Forschungsstand zur „Arisierung“ der Privatbanken zu ergänzen, nicht
aber grundlegend zu erweitern vermag.
Göttingen
Ingo Köhler
(Dr. Ingo Köhler, Georg-August-Universität Göttingen,
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Platz der
Göttinger Sieben 5, D-37073 Göttingen)
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Schweizerische Nationalbank (Hrsg.),
Die Schweizerische Nationalbank 19072007. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2007, 865 S., € 64,–.
Die Entwicklung moderner Finanzsysteme
im 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie groß der
Stellenwert einer leistungsfähigen Zentralnotenbank und der von ihr praktizierten Geldpolitik ist. Durch ihre Intervention ließen sich
Finanzkrisen entscheidend mildern, durch ihr
Zögern bei der Festlegung der Geldpolitik
wurden Verwerfungen im Bankwesen verschärft. Sowohl für die positiven als auch für
die negativen Auswirkungen der Notenbankpolitik gibt es in der europäischen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts ausreichend
Beispiele. Die Geschichte der Notenbanken
bildet daher seit langem einen wichtigen Forschungsschwerpunkt der ambitionierten bankhistorischen Forschung. Eine Fülle von Arbeiten wurde zu diesem Komplex inzwischen
publiziert, einschließlich voluminöser Festschriften, die zumeist anlässlich eines Notenbankjubiläums erschienen. Nach der Bank of
England, der Österreichischen Nationalbank
und der Deutschen Bundesbank folgt nun die
Schweizerische Nationalbank (SNB), die ihre
Geschichte von 1907 bis 2007 anlässlich ihres
100-jährigen Bestehens in einem von ihr herausgegebenen Sammelband Revue passieren
lässt.
Diese ebenfalls voluminöse Publikation
gliedert sich in drei Teile: Teil 1 behandelt
die ersten 75 Jahre ihres Bestehens, Teil 2 die
letzten 25 Jahre, während in Teil 3 die schweizerische Geldpolitik seit den 1980er Jahren
ebenso thematisiert wird wie aktuelle geld- und
währungspolitische Fragen. Bei den Autoren
des ersten und des dritten Teils handelt es sich
um international renommierte Wissenschaftler
aus den Disziplinen der Bankgeschichte bzw.
der Geld- und Währungspolitik, während die
Beiträge des zweiten Teils überwiegend von
Mitarbeitern der Schweizerischen Notenbank
selbst verfasst wurden.
Der erste Teil des Bandes besteht aus zwei
großen Beiträgen. Zunächst behandeln Micha-
el Bordo und Harold James die Geschichte der
SNB von ihrer Gründung bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs. Dabei zeigen sie, dass die
SNB bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie
viele andere Zentralnotenbanken in Europa die
Konvertibilität der Banknoten in Gold aufgeben musste, was im Verlauf des Kriegs zu einer – für die heutigen Schweizer Verhältnisse
fast undenkbaren – massiven Geldentwertung
führte. Nach Ende des Ersten Weltkriegs gelang es der SNB jedoch relativ schnell, durch
eine rigide Geldpolitik die Inflation deutlich
abzubauen und zu stabilen Währungsverhältnissen zurückzukehren. Ende 1924 war sie
eine der ersten Notenbanken in Mitteleuropa, welche de facto die alte Vorkriegsparität
und damit den Goldstandard wiederherstellen
konnte. Gerade durch ihre rigide Geldpolitik
entwickelte sich die Schweiz in dieser Zeit zu
einer Insel der währungs- und finanzpolitischen
Stabilität sowie zu einer wichtigen Drehscheibe des internationalen Geldverkehrs, während
andere Länder in Mitteleuropa längerfristig
mit instabilen Geld- und Währungsverhältnissen zu kämpfen hatten.
Vor diesem Hintergrund konnte die SNB
ihre erfolgreiche Geldpolitik auch in der Weltwirtschaftskrise und der Zeit der großen währungspolitischen Verwerfungen zu Beginn der
1930er Jahre fortsetzen, wie Bordo und James
plausibel nachweisen können. Die Goldbindung des Schweizer Franken galt auch während des gesamten Zweiten Weltkriegs und
wurde damit zu einem wesentlichen Faktor der
Währungsstabilität. Bordo und James kommen
daher zu der Schlussfolgerung, dass die SNB
bis 1945 eine ausgesprochen positive Rolle für
die Währungsstabilität und die Etablierung der
Schweiz als wichtigen internationalen Finanzplatz spielte. Die beiden Autoren verschweigen jedoch nicht, dass die Goldgeschäfte der
SNB mit der Deutschen Reichsbank während
des Zweiten Weltkriegs aus politischen, vor
allem aber aus moralischen Gründen verwerflich waren, da die Leitung des Züricher Instituts keinerlei Skrupel zeigte, sich im Handel
mit geraubtem und konfisziertem Gold zu engagieren.
Bankhistorisches Archiv, 33. Jahrgang, Heft 2/2007
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
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Peter Bernholz zeigt im zweiten Beitrag
des ersten Teils, dass die Politik der SNB in
der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis
zum Übergang zu flexiblen Wechselkursen im
Jahr 1973 von zwei Leitmotiven geprägt war:
Zum einen hielt sie an der Konvertibilität des
Frankens in Gold fest, zum anderen konnte sie
erfolgreich ihr Ziel umsetzen, die Geldmenge
im engen Einklang mit der Gütermenge bzw.
der Gesamtwirtschaft wachsen zu lassen. Zudem beteiligte sich die SNB zunehmend an
internationalen Kredit- und Währungsoperationen, um das durch Geldentwertung bedrohte
Weltwährungssystem so lang wie eben möglich aufrechtzuerhalten. Bernholz kann dabei
deutlich machen, welche bedeutende Rolle
die Direktoren der SNB in diesem Kontext
spielten. Weder die Interventionen der SNB
noch ihre Zusammenarbeit mit anderen Notenbanken konnte jedoch verhindern, dass
die Prinzipien des lange Zeit geltenden Fixkurssystems infolge der wachsenden Dollarschwemme und der weltweiten Inflation aufgegeben werden mussten. Die SNB versuchte
seit Mitte der 1970er Jahre, den Zufluss ausländischer Gelder und damit die Aufwertung des
Frankens in Grenzen zu halten. Ihr Ziel, dem
seit Mitte der 1970er Jahre existierenden europäischen Währungsverbund beizutreten, ließ
sich aufgrund des französischen Vetos nicht
realisieren, wie Bernholz auf der Grundlage
bisher nicht zur Verfügung stehender Quellen
aus den Archiven der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der Bank of England
und der SNB zeigen kann. Dennoch bleibt zu
konstatieren, dass die SNB in dieser Periode
der Neuausrichtung der internationalen Währungspolitik ihren Stabilitätskurs erfolgreich
fortsetzen konnte, wodurch sich die Position
der Schweiz als Finanzplatz von internationalem Rang ausbauen ließ.
Die Beiträge des zweiten Teils behandeln
neben der Geld- und Währungspolitik der
letzten 25 Jahre die Rolle der SNB im internationalen Zahlungsverkehr, in der Währungspolitik und bei der Aufrechterhaltung der Finanzstabilität. Einige Beiträge gehen zudem
auf die Reform der Geld- und Währungsver-
fassung sowie auf bestimmte Aspekte des operativen Geschäfts der SNB ein, zu denen auch
die Auseinandersetzung um die Rolle des Instituts während des Zweiten Weltkriegs gehört.
Die Beiträge des dritten Teils richten sich ausschließlich an ein spezifisches Fachpublikum
und sind daher in englischer Sprache verfasst.
Sie befassen sich fast ausschließlich mit aktuellen Fragen der Finanz- und Währungspolitik und verlassen daher das Feld der bankhistorischen Forschung. Dennoch decken die
Beiträge des vorliegenden Bandes, vor allem
die des ersten Teils, ein großes Spektrum des
Entwicklungswegs der SNB während der letzten 100 Jahre ab. Als Essenz lassen sie deutlich werden, wie groß der Stellenwert der
Zentralnotenbank in der Schweiz sowohl mit
Blick auf die erfolgreiche Verteidigung der
Währungsstabilität war als auch – darauf basierend – für die Etablierung des Landes als
internationaler Finanzplatz. Die Geschichte
der SNB während der letzten einhundert Jahre
wird damit auch zu einem Lehrstück für erfolgreiche Notenbankpolitik in Europa.
Bremen
Harald Wixforth
(Dr. Harald Wixforth, Universität Bremen, FB 08 – Sozialwissenschaften, Institut für Geschichtswissenschaft,
Bibliotheksstraße 1, D-28359 Bremen
Ranald C. Michie, The Global Securities
Market. A History. Oxford University
Press, Oxford 2006, 399 S., £ 66.–.
Ein Desideratum ersten Ranges steht nun
in den Regalen, eine globale Geschichte der
Wertpapiermärkte. Verfasst wurde sie von
einem ihrer besten Kenner, Ranald C. Michie,
Geschichtsprofessor in Durham. Die Arbeit
schlägt einen großen zeitlichen Bogen vom
12. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sie fußt
auf den Forschungen des Autors der letzten
30 Jahre.
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Der Autor berücksichtigt ausschließlich
englischsprachige Literatur, was sich vor
allem bei den frühen Kapiteln negativ bemerkbar macht. So werden weder der spätmittelalterliche Rentenmarkt einiger norddeutscher
Städte noch der Kuxenhandel erwähnt, der
vom 15. bis zum 17. Jahrhundert in sächsischen und fränkischen Städten stattfand und
in den Jahrzehnten um 1500 eine bemerkenswerte Spekulationswelle erlebte. Die Literatur
dazu ist freilich verstreut, schon etwas älter
und auf deutsch geschrieben. Ein wenig mehr
Informationen hätte man sich auch gewünscht
über die „Weltbörsen“ Antwerpen und Lyon
im 16. Jahrhundert, ihr Material, ihre Marktteilnehmer, ihre Rolle bei der Liquiditätsanlage großer Handelshäuser und die Auswirkungen der spanischen und französischen
Staatsbankrotte. Auch im darauf folgenden
Kapitel über das 18. Jahrhundert hätte Michie
gut daran getan, über den Tellerrand der üblichen Fixierung auf London und Amsterdam
hinauszublicken. So entgehen ihm sowohl die
Emission und der Handel mit den Papieren
der von Friedrich dem Großen angestoßenen
Aktiengesellschaften wie die Entstehung und
frühe Erfolgsgeschichte des Pfandbriefs, eines
völlig neuen Wertpapiertyps, der von Preußen
ausgehend zwei Jahrhunderte deutsche Wertpapiergeschichte schrieb.
Je näher die Darstellung der Gegenwart
rückt, desto vollständiger wird sie jedoch. So
ist die Gewichtung des Autors in den letzten
zweihundert Jahren auch aus Sicht des Rezensenten völlig in Ordnung. Obwohl (ganz zu
Recht) London auch im vierten Kapitel über
den Zeitraum zwischen 1850 und 1914 den
breitesten Raum einnimmt, kommen doch nach
und nach Paris, New York und einige deutsche
Plätze hinzu und werden ausreichend gewürdigt. Amsterdam begleitet den Leser ohnehin
schon zweieinhalb Jahrhunderte. Ab 1870
wird die Darstellung immer ausführlicher. Insbesondere treten nun auch Wertpapiermärkte
außerhalb Europas und Nordamerikas aus dem
Schatten.
Je mehr Details über einen Zeitraum bekannt sind, desto mehr entfernt sich Michie
von der Ereignisgeschichte traditioneller Darstellungen und desto mehr stellt er die Funktionalität historischer (und gegenwärtiger)
Wertpapiermärkte in den Mittelpunkt. Dabei
spielen auch rein organisatorische Aspekte
eine wichtige Rolle, was der Autor sogar mit
einem gesonderten Teil der Zusammenfassung am Ende des Buches hervorhebt. Bei
aller Liebe zum Detail liegt die Stärke des
Werkes daher nicht in seiner Vollständigkeit,
sondern in der Präsentation der Fakten. Der
Aufbau der einzelnen Kapitel gehorcht einem
einheitlichen Schema. Den Darstellungen der
wichtigsten nationalen Märkte folgt die der internationalen Finanzbeziehungen. Gut lesbare
Einführungen und Zusammenfassungen zu jedem der sieben Kapitel und ein umfassendes
Resümee am Ende des Buches runden das Bild
ab. Klarer und stringenter hätte man es nicht
machen können. Besonders erfreulich, weil
gewagt und gewonnen, ist die Fortführung der
Darstellung bis in die jüngste Vergangenheit,
sodass dem Leser bei allen Brüchen über die
Jahrhunderte die große Kontinuität der Wertpapiermärkte vor Augen geführt wird. Die
grundlegenden Motive und Funktionen von
Kapitalaufnahme und -anlage sind über Jahrhunderte hinweg gleich geblieben. Die Darstellung der jüngsten Zeit ist genauso klar und
zielstrebig formuliert wie die des Mittelalters
– bemerkenswert angesichts des Umstands,
dass manch andere historische Darstellung die
Faktenflut umso weniger kanalisiert, je näher
sie der Gegenwart kommt. Überhaupt ist die
Stärke Michies vor allem, die großen Trends
und Zusammenhänge stringent aufzuzeigen
und überaus lesbar und lebendig auf den Punkt
zu bringen. Wer dagegen Details über Entwicklungen außerhalb Michies Fokus finden
möchte, der ist nach wie vor auf die verstreute
Sekundärliteratur angewiesen. Michies Buch
ist eine gut lesbare und fundierte, ja brillante
Zusammenfassung; das große Kompendium
dagegen fehlt weiter.
München
Hartmut Kiehling
(Dr. Hartmut Kiehling, Astallerstr. 6, D-80339 München)
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Jonathan Kirshner, Appeasing Bankers.
Financial Caution on the Road to War.
Princeton University Press, Princeton, NJ
et al. 2007, 233 S., $ 24,95.
In seinem Buch „Appeasing Bankers. Financial Caution on the Road to War“ beschäftigt
sich Jonathan Kirshner mit einem Thema, das
bisher nur wenig Beachtung gefunden hat. Er
untersucht den Einfluss des Finanzsektors auf
die Politikformulierung und die internationalen Beziehungen, insbesondere in Konfliktzeiten. Indem er zu einem vertieften Verständnis der Rolle des Finanzsektors in Kriegs- und
Konfliktzeiten beiträgt, erweitert er auch empirisches Wissen.
Kirshner eröffnet sein Werk mit der Hypothese, dass der Finanzsektor eines Landes
kein Befürworter von Krieg ist und eher
vorsichtige und zurückhaltende Sicherheitsstrategien und -politiken bevorzugt. Mit dem
Finanzsektor meint er die ganze Bandbreite
von Bankiers und Banken, Finanzinstituten,
Versicherungen, die unterschiedlichen Märkte, aber auch die Zentralbanken und Finanzministerien. Sein Kernargument ist also das
von finanzieller Umsicht oder Vorsicht als
einer Art Gesinnung und Neigung des Finanzsektors. Ein weiteres, aber sekundäres Argument ist, dass der Druck der Regierungen, die
Finanzinstitute in ihrem Land zu beruhigen,
auch für die internationalen Beziehungen von
Bedeutung ist (S. 1): Krieg führe, so Kirshner,
zu Instabilität; aber gerade die Akteure des Finanzsektors brauchen und wollen makroökonomische Stabilität, die sich wiederum auch
positiv auf die internationalen Beziehungen
auswirkt. Krieg hingegen wirke sich negativ
auf den Wert und die Stabilität von Geld im
Allgemeinen, von Wechselkursen, Staatsetats
wie auch den Umgang mit finanziellen Ressourcen aus (S. 2). Regierungen im Krieg unterliegen meistens der Versuchung, mit allen
Mitteln Ressourcen zum Unterhalt und zur
Stärkung ihrer Armeen zu beschaffen, selbst
dann, wenn die ergriffenen Maßnahmen sich
negativ auf andere Bereiche oder das ganze
Land auswirken; dabei spielt es keine Rolle,
auf welchem Kontinent sich das Land befindet
oder welche Regierungsform es besitzt.
Die Finanzsektoren der jeweiligen Länder
erweisen sich als diejenigen mit der größten
Vor- und Umsicht in Bezug auf Krieg wie
auch auf Politiken, die zu Krieg führen können. Die Motivation liegt nicht in Idealen oder
in bestimmten Positionen zu einem jeweiligen
Konflikt, sondern ist pragmatischer Natur. Negative Konsequenzen von Kriegshandlungen
auf die Wirtschaft und Stabilität sollen schlicht
vermieden werden (S. 9).
Kirshner testet sein Hauptargument an einer Reihe von Fällen: (1.) der Krieg zwischen
Spanien und Amerika im Jahr 1898, (2.) Japan sowie (3.) Frankreich in der Zeit zwischen
dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, (4.)
Korea und der Anfang des Kalten Krieges und
(5.) der Falklandkrieg. Dabei geht er auch auf
wichtige Theorien der internationalen Beziehungen ein. Am Ende des Buchs zieht Kirshner Schlussfolgerungen und versucht unter
Bezugnahme auf weitere Faktoren eine Synthese der gewonnenen Aussagen und Ergebnisse, was ihm auch gut gelingt.
Im Fall des Spanisch-Amerikanischen
Krieges zeigte sich, dass sich der gesamte amerikanische Finanzsektor geschlossen gegen
den Krieg stellte (S. 44), während sich in Japan die Stimmung gegen den Krieg zwar hielt,
der zunächst starke Einfluss des Finanzsektors
jedoch bald zu Gunsten eines wachsenden militärischen Einflusses zurückging (S. 60, 70).
Am Beispiel Frankreichs zeigt Kirshner, dass
die finanzielle Vorsicht des Guten zu viel war
und zu Übervorsicht und einem Mangel an Reaktionen führte (S. 89). Diese Vorsicht schadete somit doch der Wirtschaft und dem Land, da
sie Frankreich davon abhielt, sich stärker für
einen Krieg gegen Deutschland zu wappnen.
In diesem Fall wäre das Land eventuell besser
gefahren, so Kirshner, wenn der Finanzsektor
weniger Einfluss gehabt hätte (S. 121). Auch
im Fall von Korea blieb der Finanzsektor bei
seiner Position gegen Krieg und forderte trotz
großer Gegenkräfte makroökonomische Stabilität; bei der Wahl „zwischen Inflation und
Stalin“ wurde erstere als größere Bedrohung
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angesehen (S. 124). Auch im letzten der untersuchten Fälle war der Finanzsektor derjenige
mit der stärksten Gegenposition zum Falklandkrieg, der, obgleich ein kleinerer Konflikt,
welcher vergleichsweise wenig Schaden bringen konnte, doch als unnötig angesehen wurde (S. 155, 202). Insgesamt zeigen alle Fälle
die Abneigung des Finanzsektors gegen Krieg
und Konflikt.
Im letzten Kapitel argumentiert Kirshner,
dass Kriege, aber auch aggressive Sicherheitsstrategien eine destabilisierende Wirkung
auf die internationalen Finanzmärkte haben,
so z. B. durch Kapitalflucht, den wachsenden Druck auf den Wechselkurs und der erschwerten Finanzmittelaufnahme im Ausland. Kirshner schreibt dem internationalen
Finanzsektor somit einen nicht unerheblichen
Einfluss auf die nationale Politik der verschiedenen Staaten zu, da diese wiederum daran
interessiert seien, den internationalen Finanzsektor zu besänftigen (S. 206). Allerdings, so
räumt Kirshner ein, bestimmen auch andere
Faktoren sowohl die Einflussnahme des Finanzsektors als auch die Reaktion seitens des
Staates darauf (S. 208), worauf er jedoch weniger detailliert eingeht und sich in diesem
Punkt auf einige Spekulationen beschränkt.
Reife Marktwirtschaften, so argumentiert
der Autor weiter, scheinen auf den Druck des
Finanzsektors eher anzusprechen als Staaten
mit nicht-marktwirtschaftlichen Ordnungen
(S. 218-221). Eine Ausnahme stellen allerdings die USA dar, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Größe und internationalen Stärke
diesem Druck weniger unterliegen. Diese Position ist aber nicht stabil und kann sich mit
neuen Entwicklungen ändern. Eine Finanzkrise, die sich auch stark auf den Dollar und
die Erwartungen an ihn auswirkt, könnte eine
Reihe von Effekten auslösen und schließlich
auch das aktuelle Finanzverhalten der USA
drastisch ändern (S. 222 f., 225).
Kirshner belegt seine Argumentation in
überzeugender Weise. Er zeigt mit detaillierten historischen Beispielen aus verschiedenen Ländern die destabilisierende Kraft von
Kriegen in den Bereichen des Finanzsektors.
Wenn der Autor aber auf die Bedeutung des
Finanzsektors in internationalen Beziehungen
verweist und die Rolle dieses Sektors in den
Fallstudien beschreibt, so kann man sich am
Ende nicht der Frage erwehren, warum denn
der Finanzsektor seine Neigung zur Vorsicht
nicht stärker zur Vermeidung von Kriegen einsetzt oder einsetzen kann. Auch wenn Kirshner in seinem Buch nicht primär intendiert, die
Gründe dafür zu untersuchen, so bleibt doch
der Wunsch nach einer Antwort auf diese Frage. Damit ist sein sekundäres Argument nicht
zufriedenstellend geführt. Das Buch würde insgesamt noch an Bedeutung gewinnen,
wenn die von ihm vorgebrachten Spekulationen weiter untersucht und zu Erkenntnissen
führen würden.
Das Werk ist im Ganzen gut verständlich
geschrieben, gut strukturiert und es wird klar
argumentiert. Der Bezug zum Hauptargument
wird in den Fallstudien immer wieder gut
nachvollziehbar hergestellt. Nicht zuletzt aus
diesem Grund sowie seiner eingangs beschriebenen empirischen Bedeutung kann das Buch
sowohl Experten wie auch Laien empfohlen
werden.
Hamburg
Sybille Reinke de Buitrago
(Sybille Reinke de Buitrago, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Beim Schlump 83, D-20144 Hamburg)
Oliver Konrads, Die Mittelstandsförderung der Sparkassenorganisation – Anspruch und Wirklichkeit. Eine Analyse
der Jahre 1948-1963 unter Beachtung
von Wettbewerbsaspekten (Europäische
Hochschulschriften, Reihe 5: Volks- und
Betriebswirtschaft 3260). Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main et al. 2007, 366 S.,
€ 59,70.
In seiner 2006 an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Regensburg
eingereichten Dissertation analysiert Oliver
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Konrads – ein „Sparkassenpraktiker“ der Landesbank Hessen-Thüringen – das Verhältnis
zwischen dem seitens der Sparkassenorganisation erhobenen Anspruch, das exklusive Institut für die Belange des Mittelstands zu sein,
und ihrem tatsächlichen Beitrag zur Mittelstandsförderung in der jungen Bundesrepublik
Deutschland.
Die zentrale Frage seiner Arbeit ist, inwiefern die nach innen und außen kommunizierten Ambitionen der Sparkassen und ihrer
Verbände mit der ökonomischen Wirklichkeit
des Rekonstruktionsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg korrelierten. Schwerpunktmäßig
untersucht Konrads dabei die Jahre von der
westdeutschen Währungsreform bis zur Hochphase des bundesdeutschen „Wirtschaftswunders“ (1948-1963) und versucht, insbesondere
den seinerzeit vorherrschenden Wettbewerbsbedingungen gerecht zu werden. So begründet
er die Wahl für das zeitliche Ende seiner Untersuchung mit der Tätigkeitsaufnahme der Wettbewerbskommission für das bundesdeutsche
Kreditgewerbe im Jahr 1963, initiiert durch
die damaligen Kontroversen um die vermeintliche Vorzugsstellung und Privilegierung der
Sparkassen; wobei die Enquete wohlgemerkt
erst 1968 zu einem abschließenden Ergebnis
kam.
Strukturell ist die Monographie in fünf
Kapitel gegliedert: Nach einer siebenseitigen
Einleitung, die das Untersuchungsfeld grob
absteckt, die Struktur der Arbeit vorstellt und
sowohl den Forschungsstand als auch die verwendeten Quellen zu „würdigen“ (S. 6) beabsichtigt, widmet sich das zweite Kapitel der
„Situierung des Untersuchungsgegenstandes
– Rahmenbedingungen, Definitionen und Vorgeschichte“. Dementsprechend befasst es sich
zunächst mit dem ideologischen und rechtlichen Fundament, auf dem einerseits die Verbandsrhetorik fußt („öffentlicher Auftrag“),
andererseits die reale Sparkassenpolitik aufbaut. Im Zuge dessen wird die historische Entwicklung der Sparkassen und des Deutschen
Sparkassen- und Giroverbandes (S. 10 ff.)
knapp umrissen. In der Folge vermeidet der
Autor jedoch eine klare Definition des Mit-
telstands, weil diese soziale Gruppe, ob ihrer
inneren Fragmentiertung und Heterogenität,
analytisch nur schwer fassbar und offensichtlich schwer operationalisierbar ist. Deswegen
entschließt sich Konrads für eine Orientierung
an zeitgenössischen Begriffsbestimmungen.
Er lässt bewusst unterschiedliche Definitionen
– teilweise aus betriebswirtschaftlicher Perspektive, teilweise aus Sparkassensicht – im
Raum oszillieren und umgeht damit die Tücken semantischer, aber auch quantitativer
und qualitativer Präzision: „Dieser Umstand
lässt weiterhin die These zu, dass der Mittelstandsbegriff möglicherweise nur eine „Hülle“ darstellt, die je nach Situation über einen
bestimmten Personenkreis gestülpt werden
kann [...]. Auf eine weitere Vertiefung dieser
Thematik wird aufgrund fehlender Notwendigkeit für den Fortgang der Arbeit verzichtet“
(S. 26). Doch genau jener Verzicht bzw. genau
jene Übernahme der jeweils von den Sparkassen gebrauchten Mittelstandsdefinitionen,
die während des Untersuchungszeitraums
eben nicht standardisiert, sondern variabel,
kontextuell, situativ und intuitiv waren, birgt
die Gefahr eines für die kritische Quellenanalyse erforderlichen Distanzverlustes – was
sich auch stellenweise in Kapitel 3 der Arbeit
bewahrheitet (vgl. S. 50). Dieses Kapitel zielt
auf den empirischen Abgleich zwischen dem
Anspruch der Mittelstandsförderung und der
Realität der Mittelstandskreditvergabe bundesdeutscher Sparkassen, wobei die Untersuchung den Befund erhärtet, dass sich hier eine
Kluft auftut. So vergaben die Sparkassen im
Untersuchungszeitraum 19,4 Prozent ihrer
gesamten mittel- und langfristigen Kredite an
den gewerblichen Mittelstand, inklusive der
mittelständischen Wohnungsbaudarlehen waren es knapp 34 Prozent (vgl. S. 186). Dies
stuft der Autor, gemessen am Anspruch, als
„relativ gering“ (S. 99) ein und untermauert
seine Position anhand zweier mittelständischer
Gruppen: Handwerk und Handel.
Die von Konrads vorgenommene Bewertung relativiert sich jedoch nach Ansicht der
Rezensentin unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Kontextes – ganz abgesehen
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von der Tatsache, dass die Sparkassen mit
einem Anteil des Mittelstands von 78 Prozent
am gesamten kurzfristigen Kreditvolumen ihrem Zielvorhaben durchaus gerecht wurden.
In Anbetracht des bis Mitte der Dekade außergewöhnlichen Kreditbedarfs der Kommunen
für den Wiederaufbau und die Instandsetzung
der Infrastruktur sind die an den Mittelstand
vergebenen Kredite nicht zwingend als „gering“ zu bewerten. Immerhin können strukturfördernd eingesetzte Kredite im Sinne der
Neuen Institutionenökonomik als mittelbare
Mittelstandsförderung interpretiert werden,
weil dadurch die Transaktions- und Opportunitätskosten für Unternehmen erheblich sinken. Hingegen beanstandet Konrads zu Recht,
dass die Liquiditätsvorschriften übererfüllt
wurden und die noch flüssigen Mittel dem
Mittelstand hätten zufließen können. Sie taten
es aber faktisch aufgrund des seinerzeit noch
vorherrschenden „Sicherheitsdenkens“ nicht.
Die Mentalität der Sparkassen war folglich
noch stark risikoavers. Darüber hinaus eruiert
die Untersuchung Konrads, dass private Spareinlagen ebenso wie diejenigen von Unternehmen nur geringfügig der mittelständischen
Kreditvergabe zuflossen. Darum bewertet der
Autor die Sparkassenkreditpolitik als überwiegend „konservativ“ (vgl. S. 183 ff.). Doch
mit zunehmendem Wettbewerb machten sich
dann gewisse Veränderungen der Kreditstruktur und der Kreditvergabepolitik bemerkbar.
Um diese Verschiebungen zu rekonstruieren,
stellt das vierte Kapitel einen Vergleich zwischen der Entwicklung im Sparkassensektor
mit jener der Volksbanken – stärkster Konkurrent auf dem Feld der Mittelstandskreditgewährung – an. Hierbei zeigt sich, dass
letztere Institutsgruppe durchschnittlich höhere Wachstumsraten im Mittelstandskreditgeschäft aufwies und bei ihr die Volumina bei
kurz- und mittelfristigen Krediten nicht signifikant voneinander abwichen – was sich vor
dem unternehmenshistorischen und -kulturellen Hintergrund genossenschaftlicher Kreditinstitute nach Auffassung der Rezensentin
einmal mehr relativiert. Schließlich wurden
gewerbliche Kreditgenossenschaften Mitte
des 19. Jahrhunderts primär für die Förderung mittelständischer Unternehmen gegründet, während eben die Mittelstandsförderung
durch die Sparkassenorganisation weder in der
ersten Gründungswelle noch in der Zeit nach
1945 primäres Unternehmensziel war. Umso
beachtlicher scheint es, dass die bundesdeutschen Sparkassen im langfristigen Kreditgeschäft und insbesondere in der Finanzierung
des Handwerks eine marktbeherrschende Stellung einnahmen.
Diese bereits auf Makroebene skizzierten
Sachverhalte prüft und veranschaulicht Konrads am Fallbeispiel der Bonner Sparkassen
(Kapitel 5): Die Kreditvergabepolitik variierte
von Institut zu Institut, wobei manche progressiver als andere agierten, was aber en total weder der positiven Geschäftsentwicklung noch
der positiven Entwicklung der Kreditvolumina der Bonner Sparkassen einen Abbruch tat.
Dabei förderten sie vornehmlich durch Kurzfristkredite den gewerblichen Mittelstand, die
„Förderung gewerblicher Mittelstandsunternehmen mit langfristigen Investitionskrediten
fand somit nur auf niedrigem Niveau statt“
(S. 320). Trotz kleinerer Abweichung folgten
die Bonner Institute überwiegend der allgemeinen Entwicklung der bundesdeutschen
Sparkassen.
Das sechste und letzte Kapitel rundet die
Dissertation durch eine Rekapitulation der
gewonnenen Erkenntnisse ab und kommt zu
einer „abschließenden Bewertung“ der Sparkassenmittelstandsförderung. Dabei fällt die
ursprüngliche Fragestellung, „inwieweit die
Sparkassen ihrem selbst gestellten Anspruch
gerecht wurden, [...] für den Analysezeitraum
nicht uneingeschränkt positiv aus. [Und einmal mehr zeigt sich:] Sie erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise“ (S. 333).
Aachen
Rebecca Belvederesi-Kochs
(Rebecca Belvederesi-Kochs M.A., RWTH Aachen,
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Templergraben 83, D-52056 Aachen)
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