Gunhild Berg Zur Konjunktur des Begriffs „Experiment“ in den Natur

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Gunhild Berg
Zur Konjunktur des Begriffs „Experiment“ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften,
erscheint in:
Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.): Wissenschaftsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts
als Begriffsgeschichte. Bielefeld (transcript) [vorauss.] 2008
Kaum ein anderer Begriff erfährt in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung, aber auch
in der wieder erwachten Diskussion über die ‚zwei Kulturen’ eine solche Konjunktur wie der Begriff des ‚Experiments’.1 Konkurrenzfähig ist in der Forschungslandschaft des vergangenen Jahrzehnts allein der Begriff ‚Wissen’, einschließlich seiner Komposita und Derivate, den die Geisteswissenschaften fächerübergreifend produktiv wie expansiv fokussieren. Die diversen Wortschöpfungen mit ‚Experiment’ erscheinen als das plakative Aufgreifen weniger von etablierten Definitionen, vielmehr von (Natur-)Wissenschaftlichkeit suggerierende Konnotationen des ExperimentBegriffs. Denn seine Distribution aus den Naturwissenschaften transferiert nicht zugleich eine in
allen ihren Bestandteilen konsensfähige Definition. Die diskursive Ausbreitung des ExperimentBegriffs seit der Frühen Neuzeit erfaßt die verschiedenen Disziplinen nicht ohne - zum Teil erhebliche - Umgewichtungen und Neufassungen seiner semantischen Komponenten. Diese mögen
zum einen aus Sprecherintentionen resultieren, zum anderen sind sie durch Materialität, Methodik und Funktionalität der jeweiligen für das Experimentalparadigma neu hinzugewonnenen
Diskursfelder bedingt. Darüber hinaus mag es Rückwirkungen zwischen dem umgangssprachlichen Gebrauch und den metaphorischen Anleihen nicht-naturwissenschaftlicher Verwendung des
Experiment-Begriffs geben, die von den naturwissenschaftlichen Definitionsgehalten oft unberührt bleiben. Signifikant ist jedenfalls im Ergebnis, daß der Experiment-Begriff in der Mehrheit
der modernen Wissensfelder und -disziplinen präsent ist. Doch soll hier nicht die semantische
Ausweitung und Aufweichung durch die wissenschaftliche Verwendung des Wortes im alltagssprachlichen Bedeutungshorizont als mögliches Indiz für mangelnde Sprachkritik und -reflexion,
forcierte Bedeutungsbeliebigkeit oder gar unwissenschaftliches Vorgehen kritisiert werden. Vielmehr stellt der Beitrag die Frage nach dem Problem hinter diesem Befund, nach den wissenschaftshistorischen und wissenssoziologischen Sprachfunktionen. Lediglich den Ausgangspunkt
1
Einen Überblick über die historische Erforschung des Experiments in der wissenschaftlichen Praxis durch den New
Experimentalism bietet Klaus Hentschel: Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment, Instrumentation und Theorie; in: Christoph Meinel (Hg.): Instrument – Experiment. Historische Studien. Berlin,
Diepholz 2000. S. 13-51. Zur Zwei-Kulturen-Debatte bzw. dem Verhältnis von Literatur und (Natur-)Wissenschaft
vgl. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht; in: IASL 28 (2003) 1, S. 181231; sowie zuletzt „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen. Hg. v.
Caroline Welsh u. Stefan Willer. München (Fink) 2008.
1
für diese Frage stellt daher eine Skizze der vielfältigen Verwendungsweisen des Begriffs und der
dazugehörigen kritischen Argumente dar, denen sich diese Verwendungen ausgesetzt sehen. Doch
können weder alle Einwände, durch die eine naturwissenschaftliche Methoden- zur puristischen
Sprachkritik avanciert, noch ihre Entkräftung hier umfassend abgehandelt werden. Denn der
Merkmalskatalog des Experiment-Begriffs ist sowohl variations- als auch insbesondere selektionsfähig und bietet dadurch breite Anschlußfähigkeit. Deshalb kann für die Aufarbeitung der historischen Nuancen und Modifikationen des Experiment-Begriffs in den verschiedenen Feldern seiner Verwendung nur auf ein künftige Arbeit verwiesen werden.2
Natur- kontra geisteswissenschaftliche Verwendungen des Experiment-Begriffs
Die naturwissenschaftlichen Bestimmungen des Experiments umgreifen seit der Frühen Neuzeit
neben seiner explorativen wenigstens auch seine Verifikations-, Beweis- und Demonstrationsfunktion.3 Die modernen Sozialwissenschaften definieren ‚Experiment’ unter expliziten Verweisen
auf die Naturwissenschaften als Instrument der Überprüfung vorgängiger Theoriebildung und als
Instrument der Erkenntnisvermehrung entlang prototheoretischer Erfahrungen.4 Damit orientieren sich ihre Auffassung von ‚Experiment’ am paradigmatischen Begriffsverständnis der modernen Naturwissenschaften.
Die Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaften dagegen selegieren in ihren Verwendungen des
Experiment-Begriffs in der Mehrzahl der Fälle nur einen seiner semantischen Aspekte: den eines
einmaligen Aktes des Ausprobierens neuartiger (künstlerischer) Techniken. Sie konturieren ‚Experimentieren’ als sowohl innovativen als auch singulären (nicht-reproduzierbaren) Akt der Er5
findung, Entdeckung oder Schöpfung. Damit reduzieren sie die Bedeutungsbreite des naturwis-
senschaftlichen Experiment-Verständnisses und scheinen dessen naturwissenschaftliche Prägun-
2
Zur Wortgeschichte vgl. bereits Jörg Armin Kranzhoff: Experiment. Eine historische und vergleichende Wortuntersuchung. Phil. Diss. Bonn 1965. Die historische Bedeutungsvielfalt des Experiment-Begriffs um 1800 reißt an Michael Schmidt: Zwischen Dilettantismus und Trivialisierung. Experiment, Experimentmetapher und Experimentalwissenschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 5 (2005), S.
63-87. – Vf.in dieses Beitrags arbeitet derzeit an einer noch ausstehenden wissens- und kultursoziologischen Geschichte der Begriffe „Experiment“ und „Experimentator“ seit dem 17. Jahrhundert.
3
Vgl. Friedrich Steinle: [Art.] Experiment; in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Stuttgart, Weimar.
3. Bd. (2006), Sp. 722-728.
4
Vgl. etwa die Artikel „Experiment“ in: Wörterbuch der Soziologie. Hg. v. Karl-Heinz Hillmann. 4., überarb. u. erg.
Aufl. Stuttgart 1994, S. 207; Soziologie-Lexikon. Hg. v. Gerd Reinhold, Siegfried Lamnek, Helga Recker. 4. Aufl.
München, Wien 2000. S. 162-163; Pädagogisches Wörterbuch. Hg. v. Hans-Joachim Laabs u.a. Berlin 1987, S.
121-122.
5
„In den bildenden Künsten gibt es handwerklich-technische Experimente und solche mit neuartigen, gewagten
Ausdrucks- und Formvorstellungen und Gestaltungsversuchen.“ ([Art.] Experiment; in: Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. Hg. v. Harald Olbrich u.a. Leipzig 1989, 2. Bd., S. 404.) Dieselbe Definition findet sich auch in der digitalen Neuauflage Berlin 2001 (= Digitale
Bibliothek, 43).
2
gen zu ignorieren. Doch blenden sie die naturwissenschaftlich dominierte Definitionsmacht des
Begriffs durchaus nicht aus, die als expliziter oder impliziter Referenzpunkt stets erhalten bleibt.
Dies exemplifiziert der Artikel „Experimentell“ (hier zitiert anstelle des nicht vertretenen Lemmas
‚Experiment’) von Georg Jäger im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ (1997):
„Expl[ikation]: Allgemein wird ein erkundendes, probierendes, ungewohntes Vorgehen in der
Literatur als experimentell bezeichnet, […].“6 Unter der folgenden Rubrik „Begriffsgeschichte/
Sachgeschichte“ kontrastiert Jäger die kunstbezogene mit der naturwissenschaftlichen Bedeutung
des Begriffs:
„In den exakten Wissenschaften bezeichnet das Experiment ein methodisches Vorgehen zur
Gewinnung bzw. Überprüfung von Erkenntnissen im Rahmen von Theorien. Bei der Rede
vom Experiment im Kunstzusammenhang […] bleibt der Begriffsgebrauch zumeist metaphorisch, da wesentliche Definitionsmerkmale fehlen: der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und folglich die Möglichkeit der Überprüfung durch Wiederholung. Das
[…] künstlerische[n] Experiment […] ist nicht funktional ausgerichtet auf Erkenntnisgewinn
oder Naturbeherrschung. Häufig sind künstlerische Experimente selbstbezüglich auf
Erfahrungen der mitwirkenden Aktanten bezogen.“
7
Jäger stellt heraus, daß das künstlerische Experiment 1. eines theoretischen Rahmens, 2. systematischer Methodik, 3. Überprüfbarkeit und Wiederholbarkeit, 4. der Intention des Gewinns allgemein zugänglichen Wissens sowie 5. der Kontrollfunktion natürlicher Phänomene ermangele.
Das künstlerische Experiment zeichnet sich demzufolge dadurch aus, daß ihm „wesentliche Defintionsmerkmale“, genauer: alle Merkmale der naturwissenschaftlichen Experiment-Definition,
die hier angelegt wird, fehlen. Ein solcher Befund provoziert die Fragen danach, inwiefern, warum und wozu ein naturwissenschaftlicher Experiment-Begriff, der als unerläßliche Vergleichsfolie
auch von Jäger zitiert wird, überhaupt auf Literatur und Kunst angewandt wird.
Denn diese Rekurse legen offen, daß die Geisteswissenschaften die naturwissenschaftliche Deutungshoheit über den Experiment-Begriff anerkennen, indem sie sie in ihrer Bedeutungsexplikation kolportieren. Die metaphorische Verwendung des Experiment-Begriffs für die schönen Künsten insistiert auf das (unbestrittene) Recht zur Übernahme des Wortes. Doch als Metapher erforderte diese Verwendung einen gemeinsamen semantischen Referenzpunkt,8 den bislang die
Naturwissenschaften bestimmen. So überrascht es nicht, daß sich die geisteswissenschaftlichen
Verwendungen des Begriffs, die von der naturwissenschaftlich geprägten Bedeutung abweichen,
6
Vgl. Georg Jäger: [Art.] Experimentell; in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3.
neubearb. Aufl. 3 Bde. Berlin, New York 1997-2003. Bd. 1 (1997), S. 546-547, hier S. 546.
7
Ebd., S. 546f.
8
Die metaphorische Übertragung erfolgt aus dem eigentlichen Bedeutungszusammenhang auf einen anderen, im
entscheidenden Punkt aber vergleichbaren Vorstellungsbereich. Vgl. Gero von Wilpert: [Art.] Metapher; in: Ders.:
Sachwörterbuch der Literatur. 7., verbess. u. verm. Aufl. Stuttgart (Kröner) 1989, S. 568-569, hier S. 568. Vgl. zu
den Arten der Ähnlichkeitsbeziehung (similitudo) Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine
Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart (Steiner) 1990. § 558, S. 285f.
3
kritischen Argumenten ausgesetzt sehen, die die Bedeutungen aus dem naturwissenschaftlichen
Definitionsrahmen ins Feld führen.
Das literaturwissenschaftliche Verständnis von ‚Experiment’ beschränkt sich oft auf seine motivischen Darstellungen in literarischen Texten und ein kreatives Erproben von literarischen oder
essayistischen Techniken, von Worten und Sprache durch den Schriftsteller, das ggf. der germanistischen Epochen- oder Gattungscharakterisierung dienstbar gemacht wird (Episches Theater,
9
Konkrete Poesie). Als Experimentator fungiert in der literaturwissenschaftlichen Darstellung
meist die literarische Figur selbst oder der Autor. Die Literatur- und Kunstwissenschaften könnten sich daher dem Vorwurf ausgesetzt fühlen, daß sie den naturwissenschaftlichen Aspekt des
Explorativen am Experiment für den kreativen Aspekt der Kunstproduktion hielten. Zwar schafft
der Experimentator im Labor Versuchsbedingungen, die nicht den in der Natur vorfindlichen
gleichen, doch bedeutet sein Segmentieren und Isolieren eines Wirklichkeitsausschnitts nicht
dessen freie Gestaltung. Ablauf und Resultat des Forschungsexperiments bleiben immer den Naturgesetzlichkeiten unterworfen; im Unterschied zum Kunstexperiment, dessen Materialität zwar
ebenfalls auf diese Weise gebunden ist, dessen eigentliches Ergebnis, das sinnhaft-ästhetische
Kunstprodukt in seiner spezifischen Form, aber nicht auf die Einhaltung dieser Grenzen festgelegt, vielmehr daraufhin angelegt ist, sie zu überschreiten. Der irrtümliche Schluß vom wissenschaftlichen auf den ästhetischen Versuchsvorgang verwechselt somit ‚künstlich’ mit ‚künstlerisch’.
Ähnlich wie die Kunst wird der Essay als geschriebenes Experiment betrachtet. Das zeitnahe Aufleben von Essay und Experimentalmethode (Michel de Montaigne, Francis Bacon) legt die Annahme der Gleichursprünglichkeit oder gar Vorgängigkeit der literarischen vor der wissenschaftli10
chen Methode im Empirismus der Frühen Neuzeit nahe. Diese Annahme ist hinsichtlich eines
experimentellen Handelns durchaus einsichtig, das ohne das schriftliche Festhalten seiner Ergebnisse letztlich wirkungslos und unbekannt bliebe.11 Das sukzessive, indefinite Vorgehen des experimentellen Forschens wie des essayistischen Nachdenkens erscheint als Umsetzung einer auf
Empirie aufruhenden bzw. praxisrelevanten Form des Philosophierens. In der Folge von Induktions- und Empirismus-Forderung bildeten sich die neuzeitlichen Disziplinen und Fächerhierarchien aus und lösten die disziplinäre Philosophie ab, die bis zum Barock als Einheitswissenschaft
für Naturerforschung wie -reflexion zuständig gewesen war. Innerhalb dieser Veränderung des
Baus der neuzeitlichen Wissenschaften reüssiert das Experiment als disziplinenübergreifendes
9
Vgl. u.a. Gero von Wilpert: [Art.] Experiment; in: ders. 1989, S. 278; oder Klaus Wiegerling: [Art.] Experimentelle
Literatur; in: Ralf Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart, Weimar 2000, S. 142-143.
10
Anhand des neuzeitlichen Konzepts der Erfahrung vgl. Michael Gamper: Dichtung als „Versuch“. Literatur zwischen Experiment und Essay; in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 17 (2007) 3, S. 593-611.
11
Vgl. zur Rhetorizität des Experiments Charles Bazerman: Shaping written knowledge. The genre and activity of the
experimental article in science. Madison, WI 1988.
4
Instrumentarium. Im Unterschied dazu verlor der Essay an Bedeutung, da die Naturwissenschaften ihre eigenen Meß- und Protokollsprachen ausbildeten, die sich nicht (mehr) in der korrigiblen essayistischen Wiedergabe, sondern mit um Eindeutigkeit bemühten, mathematischen, tabellarischen oder graphischen Darstellungen ihrer experimentell gewonnenen Resultate versichern. Aufgrund seiner Textsortenmerkmale aber ist der Essay nicht interpretationsresistent; er
intendiert nicht die eindeutige Repräsentation von Wirklichkeit oder Wahrheit.12
Die Nähe von experimentellem Spiel und essayistischer Gattungsfreiheit suggeriert einen beiden
Formen gemeinsame Tendenz zur Ergebnisoffenheit: „Experimentieren ist ein radikal ergebnisof13
fenes Unternehmen“, spitzen Birgit Griesecke und Werner Kogge zu. Diese frei flottierende
schöpferische Potentialität, die dem Experiment zugesprochen wird, aber wird von den Konditionen gerichteter Beobachtung durch das experimentierende Subjekt restringiert.
Zum einen muß es aus der Praxissicht des Naturwissenschaftlers verfehlt erscheinen, Experimente
als Prozesse mit offenem Ausgang zu interpretieren. Denn ein Experimentator muß Annahmen
über den Experimentverlauf und –ausgang hegen, die, so vage sie auch immer sein mögen, keine
gänzliche ‚Offenheit’, sondern allenfalls Ungewißheit über den Ausgang des Experiments bedingen.14 Diesen Annahmen geben Naturwissenschaftler mit Experimentierplanung und -anordnung
Ausdruck. Sie sehen sich daher weit häufiger mit Versuchsergebnissen konfrontiert, die ihrer Erwartung nur annähernd entsprechen, als daß das ungeahnt eingetroffene Ergebnis sie zu prinzipiell neuen Entdeckungen inspirierte. Ein unerwarteter Ausgang wäre für den Naturwissenschaftler
schlicht das Scheitern des Versuchs, nämlich die Enttäuschung seiner Erwartung, die seltener zur
Erklärung des Nichtergebnisses, als vielmehr zur Modifikation des Experimentverlaufs führt.
Mängel werden zuallererst dem Versuchsaufbau, Meßfehlern und anderen Fehlerquellen zugeschrieben, als daß die Theorie verändert oder eine neue aufgestellt würde. Das ‚falsche’ Ergebnis,
das aus einer ‚falschen’ Theorie resultiert, liefert ja gerade nicht die Erklärung seines Zustandekommens mithilfe derjenigen Versuchsanordnung, aus der es resultiert. Problembewältigung besteht in der Wiederholung des Experiments unter gleichen und veränderten Bedingungen. Diese
Revision wird so lange erfolgen, bis das ursprünglich gewünschte Ergebnis hergestellt ist oder das
12
Vgl. E. Ostermann: [Art.] Essay; in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen (Niemeyer) 1994. 2. Bd., Sp. 1460-1468.
13
Vgl. Birgit Griesecke; Werner Kogge: Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der
neue Experimentalismus; in: Marcus Krause; Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Peotologien
des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 41-72, hier S. 43. Ähnlich auch Krause / Pethes über das
empirisch unterbestimmte „Konzept Möglichkeit / Potentialität“, das sowohl Wissenschaft als auch Literatur präge;
vgl. Marcus Krause; Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19.
Jahrhundert; in: dies. (Hg.) 2005, S. 7-18, hier S. 17 (Hervorh. i. O. getilgt; GB).
14
In dieser Weise präzise etwa Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001, S. 11-30.
5
Unternehmen abgebrochen wird. In den vielleicht spektakulärsten, zugleich aber auch seltensten
Fällen führt ein solcher Mißerfolg zu einer Entdeckung oder zu einer neuen Theorie.15
Zum anderen bleibt auch in der Folge der transzendentalphilosophischen Urteilskritik nicht sub16
jektiv gebundene Wirklichkeitsprätention, sondern Wahrheit das Ziel der Forschung. Den Na-
turwissenschaften geht es nicht um die Erkenntnis möglicher Wahrheiten, vielmehr um die Erkenntnis der wahren Wirklichkeit. Daran ändert auch die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie nichts,17 in deren Folge es bei Experimenten nicht um das beliebige, wahrscheinliche oder
mögliche Denkbare geht, sondern um die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ergebnisses
aus einem vorhersagbaren Ergebnisfeld. Die ‚nur’ stochastische Prognosefähigkeit der modernen
Physik bedeutet in deren Sicht keine Relativierung des Objektivitäts- oder Realitätsgrades ihrer
Erkenntnisse.18
Zum dritten widerspricht die Annahme unbegrenzter Kreativität im Experiment der diskursiven
Beschränktheit des Intellekts, der Wirklichkeitswahrnehmung sowie der technisch-operativen
Fähigkeiten des Menschen. Der Experimentator wird vom Ergebnis seiner Arbeit nicht überrascht, denn sähe er etwas ihm gänzlich Unbekanntes und zugleich Unerwartetes, würde er es mit
bekannten Theorien nicht interpretieren können. Ludwik Fleck entwickelte seine Theorie von
„Denkstil“ und „Denkkollektiv“ exemplarisch aus der Praxis naturwissenschaftlicher Laborarbeit.
Fleck zeigt die geringe Denkfreiheit des Forschers, die am Konstrukt der wissenschaftlichen Tatsache als Zeichen des „größte[n] Denkzwang[s] bei kleinster Denkwillkürlichkeit“ aufscheint,19
bei der es sich also um den größten Widerstand gegen freies Denken und gegen von der Erwartung abweichende Ergebnisse handelt.
Der Experiment-Begriff erweist sich in der (im weiteren Sinne) geisteswissenschaftlichen Forschung als besonders flexibel einsetzbar, semantisch aufladbar und erweiterbar. Nicht selten werden dann seine naturwissenschaftlichen und/oder seine verschiedenen historischen Bedeutungsnuancen zugunsten einer reduzierten, ahistorischen oder metaphorischen Verwendung ausge-
15
Vgl. generell Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 11. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp)
1991.
16
Das Ziel der Wahrheitssuche in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie ignoriert Venus gegenüber dem der
Wirklichkeitsprätention, die nur die Künste erfüllen könnten, da sie „nichtbegrifflich und genetisch nicht nachvollziehbar“ sind; vgl. Jochen Venus: Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments; in: Krause / Pethes (Hg.) 2005, S. 19-40, hier S. 25-27.
17
Zu deren wissenschaftshistorischen Folgen vgl. etwa Otto Gerhard Oexle: Begriff und Experiment. Überlegungen
zum Verhältnis von Natur- und Geschichtswissenschaft; in: Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien.
Hg. v. Vittoria Borsò u. Christoph Kann. Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2004. S. 19-56, hier S. 35ff.
18
Aufgrund des „Primat[s] der Empirie“ vgl. dazu Gunnar Berg: Flecks Konstruktivismus aus Sicht der Physik; in:
Bo ena Chołuj; Jan C. Joerden (Hg.): Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck
und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis. Frankfurt/M. (Lang) 2007. S. 387-394, bes. S. 390f.
19
Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom
Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Mit e. Einl. hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt/M. 1980, bes.
S. 124.
6
blendet.20 Diesbezüglich überwiegen in literatur- und kulturgeschichtlichen Verwendungen der
inhaltliche Aspekt des Explorativen und der formale Aspekt des regellosen Ausprobierens von
Formen und Techniken.21 Der Rückgriff der gegenwärtigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung auf naturwissenschaftliche Terminologie führt zum inflationären Gebrauch des
Experiment-Begriffs, oft in der Form „Experiment und ...“,
22
sowie von „Experimental“-
Komposita unterschiedlicher semantischer wie funktionaler Bandbreite und methodischer Reflexionstiefe, gerade auch in plakativ wirkenden Titelgebungen.
23
Peter McLaughlin registrierte diesen Trend schon in den frühen 1990er Jahren. Er konstatiert
einen Forschungsaufschwung zum Thema ‚Experiment’, der bereits seit einem Jahrzehnt anhalte
und durchaus produktive Ergebnisse vorgelegt habe. „Aber das Thema ist auch Mode geworden.
Das Stichwort ‚Experiment’ ist so populär geworden, daß man in dieser Hinsicht nicht mehr von
dem Wort ‚Experiment’ im Titel einer Schrift auf deren Inhalt schließen darf.“24 So begrüßt auch
Klaus Hentschel in seinem Forschungsbericht aus dem Jahr 2000 einerseits die positive Öffnung
des Untersuchungsgegenstandes, warnt aber anderereits zugleich vor der „Gefahr eines Verlusts an
Auflösungsschärfe durch zu breite Begriffsbildung“.25 Zu einem ähnlichen Befund semantischer
Aufweichung gelangen Griesecke und Kogge 2005 bezüglich des ‚Gedankenexperiments’. Sie
diagnostizieren, daß sich in Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaften „ein sehr allgemeiner Gebrauch“ dieses Begriffs ausgebreitet habe. „Vom naturwissenschaftlichen Terminus ‚Experiment’ wird in erster Linie das Element der fingierenden Konzeption übernommen […].“ Ohne
Überlegungen zur ‚Laborarbeit’ (Ablauf und Testmaterial) aber „kann jeder Entwurf eines Szenarios als ‚Experiment’ gelten und der Begriff ‚Experiment’ wird letztlich zum Synonym für ‚Fiktion
20
Dafür seien nur zwei Beispiele genannt: Den Experiment-Begriff auf den innovativen Aspekt reduzieren etwa Henning Schmidgen; Peter Geimer; Sven Dierig: Einleitung; in: dies. (Hg.): Kultur im Experiment. Berlin 2004, S. 7-14,
hier S. 14. Einen modernen Experiment-Begriff legt beispielsweise – allerdings in systematischer Absicht - auf sein
historisches Quellenmaterial an Nicoals Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen (Wallstein) 2007.
21
Die Auswahl aus der Menge an jüngeren Arbeiten, die Künstler als Experimentatoren beschreiben, muß zwangsläufig willkürlich erscheinen; vgl. u.a. Christine Lubkoll; Günter Oesterle (Hg.): Gewagte Experimente und kühne
Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Würzburg 2001; Nicola Kaminski: KreuzGänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Paderborn 2001; Alexander Košenina: Karl Philipp Moritz.
Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman. Göttingen (Wallstein) 2006; Theo Steiner:
Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst. München (Fink) 2006.
22
Vgl. z. B. Stefan Hajduk: Experiment und Revolution. Zur ästhetischen Theorie des historischen Naturalismus; in:
Weimarer Beiträge 51 (2005) H. 2, S. 236-254; oder Christina Brandt: Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code. Göttingen (Wallstein) 2004.
23
Oft genug erfährt in diesen Wortschöpfungen das Grundwort keine semantische Präzisierung durch das Bestimmungswort ‚Experimental-’ mehr. Ungeklärt bleibt z. B. „Experimentalzynismus“; vgl. Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Berlin, New York (de Gruyter) 2002. S. 184. Krause / Pethes setzen sich in ihrer Einleitung zur begrifflichen
Schärfung von „Experimentalkultur“ mit Karin Knorr-Cetina, Hans-Jörg Rheinberger einerseits und Joseph Vogls
Wissenspoetologie anderseits auseinander, doch können nicht alle Beiträge des Sammelbandes dieses Programm
umsetzen, das einer „unverbindliche[n] metaphorische[n] Vereinnahmung“ des Experiment-Begriffs in der Literatur
entgegenwirken sollte; vgl. Krause / Pethes 2005, S. 10-12, Zitat auf S. 10.
24
Peter McLaughlin: Der neue Experimentalismus in der Wissenschaftstheorie; in: Hans-Jörg Rheinberger, Michael
Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften
1850/1950. Berlin 1993, S. 207-218, hier S. 208.
25
Hentschel 2000, S. 19.
7
im allgemeinen’“.26 In solch vagem Sinne aber formulieren Marcus Krause und Nicolas Pethes bei
ihrem Versuch, den Experimentbegriff auf die Literatur zu übertragen: „An die Stelle der Referenz auf Empirie tritt dann im Modus der Fiktion der Versuch, eine nicht erfahrbare Welt den27
noch mit dem Index der Stimmigkeit zu versehen.“ Für den Gebrauch des Experiment-Begriffs
in der Kunst halten Michael Lentz und Martin Maurach fest, daß ‚Experiment’ „ein stets umstrittener, heute praktisch nicht mehr analytisch verwendbarer Begriff“ sei.28
Derartige Begriffsverwendungen und -bildungen sollen hier weder katalogisiert, noch kategorisiert oder bewertet werden, vielmehr wird im folgenden nach ihrer wissenschaftsstrategischen
Funktion gefragt. Festzuhalten aber bleibt, das trotz der Hausse zum Forschungsthema ‚Experiment’ es bislang an einer Geschichte dieses Begriffs mangelt. Lorraine Daston moniert das noch
gegenwärtig weit verbreitete ahistorische Experimentierverständnis, das annimmt, daß seit dem
17. Jahrhundert die Schlüsselmerkmale des Experiments ein für allemal festgelegt seien, und das
29
deshalb seine „überraschende und produktive Weiterentwicklung“ gänzlich vernachlässige. Al-
lein philosophische Lexika erfassen bislang historische Definitionen des Experiment-Begriffs in
repräsentativer Breite. Doch fragt die traditionell philosophisch verstandene Begriffsgeschichte
überwiegend nach überzeitlich gültigen Kriterien für Wesen, Funktion und Erkenntnisrelevanz
des Experiments. Sie erbringt historisch angelegte Darstellungen, die den Wandel des Begriffs
unter diesen Aspekten auf dem epistemologischen Höhenkamm von der Antike bis zur Neuzeit
abschreiten.30
Die Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen aus dem Experiment-Begriff
Verfolgt man die historischen Verwendungen des Experiment-Begriffs nicht in erkenntnistheoretischer, sondern in wissenssoziologischer Sicht, zeigt sich, daß der Transfer von ExperimentBegriff und -Methode Praktiken legitimieren und neue akademische Disziplinen begründen
konnte. Denn die Übertragung des neuzeitlichen Experiment-Begriffs der Physik auf die übrigen
26
Vgl. Griesecke / Kogge 2005, S. 44. – Auf die Begriffsgeschichte von „Gedankenexperiment“ kann im hier gegebenen Rahmen nicht eingegangen werden. Zum wissenschaftstheoretischen Aspekt vgl. ebd.; zum wissenschaftshistorischen Aspekt vgl. Sigrid Weigel: Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und
Literatur; in: Thomas Macho, Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M. (Fischer) 2004, S. 183-205.
27
Krause / Pethes 2005, S. 17.
28
Michael Lentz; Martin Maurach: [Art.] Experiment; in: Schnell (Hg.) 2000, S. 140-142, hier S. 142.
29
Lorraine Daston: Die Biograpie der Athene oder Eine Geschichte der Rationalität; in: dies.: Wunder, Beweise und
Tatsachen. Aus d. Engl. v. Gerhard Herrgott, Christa Krüger u. Susanne Scharnowski. Frankfurt/M. 2001, S. 7-27,
hier S. 12.
30
Als Standards vgl. etwa G. Frey: [Art.] Experiment; in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel, Stuttgart 1972. 2. Bd., Sp. 868-870; Ulrich Röseberg, Nikos Psarros: [Art.] Experiment; in: Enzyklopädie Philosophie. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1999. 1. Bd., S. 376-380. So auch die Studie von Karen
Gloy: Die Bedeutung des Experiments für die neuzeitliche Naturwissenschaft; in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2005) 2, S. 153-165.
8
Felder der Natur- und Soziallehre läßt deren Gegenstandsbereiche zum Teil erst methodisch modifizierbar, sichtbar, darstellbar und somit erforschbar werden. Dazu zählen etwa die Naturlehren
von „Luft und Licht“ im 17. Jahrhundert, die durch Experimente mit Prisma und Luftpumpe
31
32
vorangebracht werden, oder die Lehren von Elektrizität und Magnetismus im 18. Jahrhundert.
Aus der Untersuchung der verschiedenen „Luftarten“ im Labor entsteht die moderne Experimental-Chemie als eigenständige Disziplin.33 Die Debatte über die Rolle der Empirie setzt sich bereits
um 1750 mit der Anwendung der experimentalphysikalischen Methode in den um die Anthropologie erweiterten Geltungsgebieten auseinander. Denn ähnlich wie in den Selbstexperimenten zu
den Wirkungen der Elektrizität lassen sich gedankliche Assoziationsketten und Gefühlsreaktionen
am eigenen Leibe erfahren. Gemeint sind nicht Gedankenexperimente, sondern gerichtete Erfahrungen der introspektiven Selbstbeobachtung, die bestimmte seelische oder körperliche Ausgangszustände provoziert, um deren Wirkungen so bewußt als möglich mental und affektiv zu durchleben, an sich selbst wahrzunehmen und unmittelbar anschließend so exakt wie möglich rational
wiederzugeben.
Jean Le Rond d’Alembert lobt im „Discours Préliminaire de l’Encyclopédie“ John Locke, der die
moderne wissenschaftliche Methode des Experiments auf die Psychologie übertragen habe: „Kurz,
er führte die Metaphysik auf ihre wirkliche Seinsbestimmung zurück, auf eine Experimentalphy34
sik der Seele, […].“ Damit stellt er Locke in eine Reihe mit Francis Bacon, den er als den Be-
gründer der modernen Wissenschaften und ihrer Ordnung ehrt, weil er auf die Notwendigkeit
einer Experimentalphysik aufmerksam gemacht habe, und mit Robert Boyle, den „Vater der Experimentalphysik“.35 Vorbildlich sei Lockes Verfahren der Selbstexperimentation zum Gewinn
konkreter psychologischer Einsichten: „Nachdem er sich [selbst; G.B.] sozusagen lange genug
betrachtet hatte, wies er in seiner ‚Abhandlung über den menschlichen Verstand’ den Menschen
nur den Spiegel vor, in dem er sich selbst betrachtet hatte.“36 Bezeichnenderweise spricht Georg
Friedrich Meier um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch von der „Kunst“ und nicht der Wissenschaft der Selbstexperimentation im psychologischem Erfahrungsfeld. Denn die empirische Psychologie in Deutschland war von Christian Wolff namhaft gemacht und von Johann Gottlob
31
Zur Geschichte der Institutionalisierung der Experimentalphysik an kontintentaleuropäischen Universitäten vgl.
Gerhard Wiesenfeldt: Leerer Raum in Minveras Haus. Experimentelle Naturlehre an der Universität Leiden, 16751715. Amsterdam, Berlin, Diepholz 2002.
32
Vgl. Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen (Wallstein)
2003.
33
Vgl. u.a. Martin Heinrich Klaproth: Vorlesungen über die Experimental-Chemie. Nach einer Abschrift aus dem
Jahre 1789. Bearb. u. hg. v. Rüdiger Stolz. Berlin (Engel) 1993; Justus von Liebig: Über das Studium der Naturwissenschaften. Eröffnungsrede zu seinen Vorlesungen über Experimental-Chemie im Wintersemester 1852/53. München (Cotta) 1852.
34
Der methodische Unterschied zwischen der „Physik der Körper“ und der Physik der Seele, auf den d’Alembert im
Anschluß an die zitierte Bemerkung hinweist, besteht in der (Nicht-)Identität von Beobachtungsobjekt und –subjekt
bei physikalischen vs. psychologischen Experimenten. Vgl. Jean Le Rond d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie
(Discours Préliminaire de l’Encyclopédie) [1751]. Hg. u. eingel. v. Erich Köhler. Hamburg (Meiner) 1955. S. 157.
35
Vgl. ebd., S. 139, 161.
36
Ebd., S. 157.
9
Krüger zur „Experimental-Seelenlehre“ der gerichteten Beobachtung ausgebaut worden.37 Doch
die mangelnde Steuerbarkeit der Beobachtung und die Reflexion der Wahrnehmungsproblematik
vermehrten etwa zeitgleich zu d’Alemberts Verweis auf Locke die Forderungen nach methodischer Verbesserung von Selbstexperimentationen. Meier wünschte: „Es würde gewiß eine ungemein nützliche Unternehmung seyn, wenn man die Kunst genauer untersuchte, wie man mit sich
selbst Experimente machen […] solle.“38 Anweisungen zu Selbstexperimenten stellen für ihn die
sicherste, einzig Gewißheit verbürgende Grundlage für psychologisches Wissen dar.
Immanuel Kant definiert den Unterschied zwischen den (später so genannten) Natur- und Geisteswissenschaften, indem er exemplarisch Chemie und Seelenkunde / Psychologie einander gegenüberstellt. Entscheidend dafür, daß aber „eine historische, und, als solche, so viel möglich
systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht
Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden“ könne, sei die
unhintergehbare Subjektivität der äußeren Wahrnehmung respektive die mangelnde Objektivier39
barkeit der inneren Wahrnehmung. Indem Kant den Experimentator als transpersonales Subjekt
der Wissenschaft bestimmt, legt er den konstruktivierenden und operationalisierenden Charakter
des Experiments offen.40 Doch entgegen dem erkenntnistheoretischen Widerstand, den beispielhaft Meiers Argumentation, der die Rolle der ästhetischen Erkenntnis in den Wissenschaften
hervorhob, in Kants rationalistischer Urteilskritik findet, werden im späten 18. Jahrhundert Pädagogik (Ernst Christian Trapp), Erfahrungsseelenkunde (Karl Philipp Moritz), die Vorgängerin
der später disziplinären Psychologie, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Experimentelle Psychologie (Gustav Theodor Fechner) gegründet.
Die Operationalisierbarkeit des Experiments als Methodenreservoir ermöglicht es, nicht allein auf
Beobachtung und damit auf eine nicht erzwingbare, nur zufällige Datensammlung angewiesen zu
sein. Der genetische Begriffstransfer von ‚Experiment’ bietet den neuen Erfahrungswissenschaften
Legitimität. Genauer: Die moderne Ausprägung der Disziplinen kann erst in Folge der ‚Experimentalisierung’ der Naturlehre entstehen.41
Neben dieser Ausdifferenzierung neuer (natur-)wissenschaftlicher Teilbereiche fallen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Experiment-Begriffe auf, bei denen es sich um rein sprachliche
Analogiebildungen handelt, die unabhängig von konzeptionellen Ähnlichkeiten mit den kontemporären wissenschaftlichen Experimentiervorstellungen als ‚Experimental’-Komposita operieren.
37
Vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica. Nachdr. d. Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1738. Hg. von Jean École. (=
Gesammelte Werke. Abt. 2, Bd. 5). Hildesheim u.a. (Olms) 1968; Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental- Seelenlehre. Halle, Helmstädt (Hemmerde) 1756.
38
Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. 5 Tle. Halle im Magdeburgischen (Hemmerde) 1753-1761. 2.
Tl. (1754), § 422, S. 434.
39
Vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften. Riga 1786. Vorrede, S. XI.
40
Vgl. Gloy 2005.
41
Mit dem Zeitraum nach dem Abschluß dieses Transfer- und Institutionalisierungsprozesses beschäftigt sich der
Sammelband von Rheinberger / Hagner (Hg.) 1993.
10
Gerade diese Neubildungen, bei denen es sich oft genug um okkasionelle Wortschöpfungen handelt, indizieren die fortschreitende diskursive Ausbreitung des Experiment-Begriffs. Begrifflich
wird die neue Methode in neuen Konstellationen erprobt und als Grundlage für weitere neue
Disziplinen angedacht.
Experiment-Begriff und -Methode werden nicht nur auf seelische und gedankliche Vorgänge,
sondern auch auf gesellschaftliche Phänomene angewandt, die mithilfe des Bestimmungswortes
analog zum naturwissenschaftlichen Erfahrungsbereich diagnostiziert und klassifiziert werden
konnten. Für eine solche Bestimmung nutzt ihn Georg Christoph Lichtenberg, wenn er die französische Revolution als „Experimental-Politik“ bezeichnet.42 Während Lichtenberg mit „Experimental-Politik“ die Folgen eines historischen Ereignisses in die Zukunft verfolgen will, wendet
Novalis den Blick zurück: Er betrachtet „das Gegenwärtige“ als „Resultat des langen historischen
Experiments oder Factums“. Dies sei „Geschichte an sich“; im Unterschied zur „pragmatische[n]
43
Geschichte“ zum statistischen Zwecke, die wohl als eine rein mathematisch-numerische Ge-
schichtsschreibung aufzufassen ist, die ihre Zahlen nicht interpretiert.
Methodenanalogie zwischen Physik und Philosophie extrapolierte Claude-Adrien Helvétius, der
sich „une Morale comme une Physique experimentale“ zu entwickeln zum Ziel setzte.44 Er ging
von der Annahme aus, daß die sittliche Welt wie die natürliche mechanisch verfaßt sei, und
glaubte daher, „man müsse die Sittenlehre ebenso behandeln wie alle anderen Wissenschaften
und eine neue Moral ebenso entwickeln wie eine experimentelle Physik.“45 Novalis kombinierte
die Begriffe „Experimentalreligion und Philosophie“ miteinander und prägte darüber hinaus in
einem isolierten Eintrag den Begriff „Experimentalreligionslehre“.46 Nicht nur auf die Religion,
auch auf die Poesie übertrug Novalis, der beim Lichtenberg-Schüler Wilhelm August Lampadius
studiert hatte, die experimentelle Methode der Physik. Im „Allgemeinen Brouillon“ äußerte er die
Vermutung, daß die „Wort und Zeichenmalerey“ eine „Experimentalphysik des Geistes“ sei.47
Die Verbindung von physikalischer Experimentation und philosophischer Selbstbeobachtung legt
auch Novalis’ Sentenz in den „Fragmenten und Studien“ nahe: „Experimentalphysik des Ge48
müths. (Gedanken sind vom Ich durchdrungne, angeschaute, Bewegungen und Actionen.)“
42
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher; in: ders.: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München
(Hanser) 1968-1992. 1. Bd., LI 322.
43
Novalis: Das Allgemeine Brouillon. (Materialien zur Enzyklopädistik) 1798/99; in: ders.: Werke, Tagebücher und
Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. München (Hanser) 1978. 2. Bd.,
S. 473-720, hier S. 494.
44
Vgl. Claude-Adrien Helvetius: De l’esprit [1758]. Texte revu par Jacques Moutaux. (Libraire Arthème Fayard)
1988. S. 9.
45
Vgl. Claude-Adrien Helvétius: Vom Geist. Berlin, Weimar (Aufbau-Vl.) 1973. S. 75.
46
Vgl. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 2. erg.,
erw. u. verbess. Aufl. in 4 Bdn. u. einem Begleitband. Stuttgart, Berlin, Köln u.a. (Kohlhammer) 1988. 2. Bd., S.
650; 3. Bd., S. 565.
47
Vgl. Novalis 1988, 3. Bd., S. 387. Vgl. hierzu Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik.
Lichtenbergsche Konjunktive. 3. Aufl. München (Beck) 1993, S. 133f.; und Daiber 2001.
48
Vgl. Novalis 1988, 3. Bd., S. 595.
11
Allen Transfers dient das naturwissenschaftlich-physikalische Experiment als gemeinsamer Referenzpunkt. Daß die Methode der Experimentalphysik in andere Gegenstandsbereiche exportiert
wird, belegen die präzisen Formulierungen einer „Experimentalphysik“ der „Seele“, des „Geistes“
und des „Gemüths“ des Menschen. Der Experiment-Begriff der klassischen Naturwissenschaften
der unbelebten Natur wird zur Beschreibung und Erkundung von Seelen- und sozialem Leben
des Menschen, Erkenntnispsychologie und Philosophie übernommen. Auffällig ist an diesen
Übertragungen, daß im zeitgenössischen Sprachgebrauch unter den bis in die erste Hälfte des 19.
Jahrhunderts gebildeten Zusammensetzungen noch keine Grundwörter aus den Bereichen Kunst
und Literatur zu finden sind.
In
dieser
diskursiven
Ausbreitungsbewegung
setzt
sich
das
‚Experiment’
als
(na-
tur-)wissenschaftliche Leitmethode spätestens im 19. Jahrhundert in allen natur- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen durch. Seine Expansion folgt aus den Bemühungen, Wissensfelder
zu ver(natur-)wissenschaftlichen, an die sich im wissenschaftsprogrammatischen Sinne disziplinäre Neugründungen bzw. Institutionalisierungen anschließen. So wird der experimentalwissenschaftliche Kanon um Experimentalgeologie, -chemie, -biologie, Experimentelle Morphologie
und Experimentalphonetik erweitert,49 außerdem um Experimentelle Psychologie (Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt) und Experimentalmedizin. Zwar kann der Begriff „ExperimentalMedicin“ schon Albrecht von Haller zugeschrieben werden, doch blieb eine solche Bezeichnung
für die von ihm vorgeschlagene Form der Medizinerausbildung nominell wie institutionell vorerst
50
ohne Folgen für den akademischen Fächerkatalog. Die Experimental-Komposita des 19. Jahr-
hunderts belegen die Tragweite des Experiments in den Wissenschaften, das als grundsätzliches
Erkenntnisprinzip wie als Disziplinenbezeichnung universitär verankert wird.
Unter den vielen Neubildungen fällt der Begriff „Experimentalmagie“ auf, der mit den begrifflichen Anleihen an die Experimentalmethode einerseits und die als nicht- oder vorwissenschaftlich
verpönte Magie andererseits gewissermaßen größtmögliche Gegensätze der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit wieder zusammensetzt. Im 18. Jahrhundert hatten sich in leidenschaftlich geführten
Polemiken Akademiker, die die neuen experimentellen Disziplinen vertraten, gegen die intellektuelle wie ökonomische Konkurrenz der reisenden Experimentatoren, die zumeist nicht über universitäre Ausbildung und Anbindung verfügten, zu behaupten versucht, indem jene den Status
der Wissenschaftlichkeit allein für ihr experimentelles Vorgehen beanspruchten und sich über
dieses Kriterium von diesen abgrenzten, die sie als „Zauberer“ mit „Ein-Talerkünste[n]“ brandmarkten.51 Eine Wiedervereinigung des esoterischen Wissens mit den exoterischen Wissenschaf49
Vgl. die entsprechenden Lemmata im Handwörterbuch der Naturwissenschaften. 2. Aufl. Hg. v. R. Dittler, G.
Joos u.a. Jena 1932. Vgl. auch Jäger 1997, S. 547.
50
Vgl. Johann Georg Zimmermann: Das Leben des Herrn von Haller. Zürich (Heidegger) 1755. S. 273.
51
Georg Christoph Lichtenberg: Anschlag-Zeddel in Namen von Philadelphia; in: ders. 1968-1992, 3. Bd., S. 253255, hier S. 253. Vgl. zu diesem Gelehrten-Laien-Streit der Experimentatoren des 18. Jahrhunderts Hochadel 2003,
bes. 5. Kap.
12
ten aber strebt um 1900 etwa Ludwig Staudenmaier an, der die Magie als „besondere Wissenschaft“ neben der experimentellen Psychologie, Psychophysik und Physiologie begründen wollte.52 Schon Arthur Schopenhauer hatte postuliert, die Magie und der animalische Magnetismus
als ihr zugehörig bildeten „die empirische oder Experimental-Metaphysik“. Deren Experimente
bewiesen als „praktische Metaphysik“ nun unumstößlich nicht nur die Richtigkeit der ‚alten’
Lehren der Magie, sie verifizierten auch die „theoretische Metaphysik“, als die Schopenhauer sein
53
Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1818) ansah. Während Schopenhauer aber zwi-
schen theoretischem Lehrgebäude einerseits und dessen experimentellem Nachweis andererseits
unterschied, wollte Staudenmaier die Experimentalmethode als Erkenntnismittel in der Magie
einsetzen. Im Unterschied zu vielen seiner Vorgänger und Nachfolger verteidigte er nicht die Superiorität oder Alterität des Okkultismus gegenüber der Wissenschaft, um die wissenschaftliche
Psychologie zu diskreditieren, vielmehr wollte er der Magie mithilfe experimenteller Methodik
den ihr bislang verweigerten wissenschaftlich-akademischen Gradus verleihen. Experimentalmagie
sollte „eine regelrechte exakte und experimentelle Naturwissenschaft“ werden. Dazu benötige der
künftige Magier „ein gewisses Maß“ an naturwissenschaftlicher Bildung, besonders in Physik,
Chemie, Anatomie, Physiologie, Pathologie und Psychologie, aber auch in Magiegeschichte.54 Der
Weg zur Wissenschaftlichkeit führt über die naturwissenschaftliche Methodik empirischer Experimente. Mit unzähligen Selbstversuchen bemühte sich Staudenmaier zu beweisen, daß die Magie
„mit allgemein anerkannten Naturgesetzen und Erfahrungstatsachen keineswegs im Widerspruch
steht, im Gegenteil, daß sie […] durch dieselben zu erklären ist.“
55
Voraussetzungen für einen wissenschaftlichen Status sind die Methoden der gerichteten Beobachtung und des Experiments. Sie erlauben die Statuserhöhung im akademischen Feld der Disziplinen. Sie hatten die „beiden Schwesternwissenschaften“ der Magie längst in den Rang anerkannter
Wissenschaften führen können, „indem aus einer Astrologie eine Astronomie und aus einer Alchemie
eine
Chemie
gewoden
ist“.56
Diesen
Erfolgen
nacheifernd
erobert
das
(Selbst-)Experiment, wie das Beispiel Staudenmaier zeigt, auch esoterische Wissensfelder des Okkultismus, Spiritismus u.ä., um diese als Wissenschaft respektiert und in den universitären Kanon
52
Vgl. Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft. Von Dr. Ludwig Staudenmaier kgl. ord. Hochschulprofessor
der Experimentalchemie in Freising bei München. Leipzig (Akadem. Verlagsgesell.) 1912, S. 174.
53
Vgl. Arthur Schopenhauer: Animalischer Magnetismus und Magie; in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. 4. Aufl. Mannheim (Brockhaus) 1988. 4. Bd., S. 99-127, hier S. 104f., 127.
54
Vgl. Staudenmaier 1912, S. 35, 177.
55
Vgl. Ludwig Staudenmaier: Versuche zur Begründung einer wissenschaftlichen Experimentalmagie [Auszüge]; in:
Torsten Hahn, Jutta Person, Nicolas Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von
Experiment und Paranoia 1850-1910. Frankfurt/M., New York 2002, S. 72-93, hier S. 73f. (Hervorh. i. O. getilgt).
Vgl. dazu Nicolas Pethes: L’aliéné ne raisonne plus expérimentation? Ludwig Staudenmaiers Experimentalmagie
zwischen Okkultismus und Psychoanalyse; in: ebd., S. 293-314.
56
Vgl. Staudenmaier 1912, S. 181.
13
aufgenommen zu sehen.57 Das Experimentalparadigma aus Physik und Chemie hält Einzug in die
Lebenswissenschaften sowie in den Okkultismus und schließlich in die Psychoanalyse.58 Der diskursiv wirkungsvolle Transfer von Experiment–Methode und -Begriff in den überwiegenden
grammatischen Formen des Bei- oder Bestimmungsworts „experimentell“/ „Experimental-“ findet
in den Naturwissenschaften seinen Anfang. Aus dem naturwissenschaftlichen Verständnis heraus
begründet der Experiment-Begriff innerhalb des akademischen Feldes die selbstdefinitorische
Zuschreibung neuer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert,
vermehrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablieren können. Als imitierte naturwissenschaftlich-experimentelle Methodik dringt der Experiment-Begriff außerdem in die Bereiche von
Literatur und Kunst, Ästhetik und Poetik ein. Fechner begründete nicht allein die Psychophysik,
sondern erarbeitete zudem mehr als hundert Jahre nach Alexander Gottlieb Baumgartens
„Aesthetica“ eine „experimentale Aesthetik“.59
Die vielfältigen Versuche, die experimentelle Methode auch für literarische Produkte anzuwenden, repräsentieren in programmatischer Weise die Autoren des Naturalismus. Prominenter
Höhepunkt für diese Entwicklung der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist Emile Zolas
„Roman expérimentale“, dessen „Konzept einer explorativen Literatur“ gesellschaftliche Phänomene im literarischen Versuchsablauf durchexerziert.60 So wie Claude Bernard den Paradigmenwechsel hin zum Experiment für die Medizin durch die disziplinäre und institutionelle Ablösung
der Physiologie von der Anatomie vollzogen hatte, intendierte Zola die Erweiterung des experimentellen Untersuchungsobjekts vom physischen auf das sensitive, geistige und soziale Leben im
literarischen Versuchsfeld.61 Der Dichter müsse Beobachter und Experimentator zugleich sein, ein
provozierender Beobachter, um inhaltlich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Einflußreich für die
Umsetzung dieses Programms in der deutschsprachigen Literatur wurden Wilhem Bölsches „Prolegomena einer realistischen Ästhetik“.62 Zu diesem Programm ist etwa auch Arno Holz’ Bemühen zu zählen, auf induktive, von ihm als (natur-)wissenschaftlich erachtete Weise das Kunst- als
ein Kausal- und Naturgesetz zu finden, das er mithilfe „unendliche[r] Proben“ für alle Einzelfälle
zu verifizieren suchte.
63
57
„Selbstverständlich träume ich dabei bereits von Professuren der Magie an den Universitäten.“ (Staudenmaier
1912, S. 177) Damit ist Staudenmaiers Überzeugung verbunden, in der Magie „geradeso gut wie in jeder andern
experimentellen Wissenschaft planmäßig“ Nachwuchs ausbilden zu können; vgl. ebd., S. 34.
58
Vgl. Pethes 2002, S. 294.
59
Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetic. Lateinisch-deutsch. Übs. u. hg. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg (Meiner) 2007; Gustav Theodor Fechner: Zur experimentalen Aesthetik. Leipzig (Hirzel) 1871.
60
Emile Zola: Le roman expérimentale [1880]. Présentation, notes par François-Marie Mourad. Paris (Flammarion)
2006. Vgl. dazu u. a. Michael Gamper: Normalisierung/Denormalisierung, experimentell. Literarische Bevölkerungsregulierung bei Emile Zola; in: Krause / Pethes (Hg.) 2005, S. 149-168, hier S. 150.
61
Claude Bernard: Introduction à l’étude de la médicine expérimentale. Paris 1865; vgl. dazu Gamper 2005, S. 151.
62
Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik.
Leipzig (Reissner) 1887.
63
Vgl. Hanno Möbius: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage
bei Arno Holz. München (Fink) 1980. S. 33-35. Es erscheint als symptomatisch, daß Holz Bölsche eine ungenaue
Verwendung des Experiment-Begriffs vorwarf; vgl. ebd., S. 33.
14
Spätestens über seinen Gebrauch in den bildenden und schreibenden Künsten sowie in Poetik
und Ästhetik dringt der Experiment-Begriff nach der Wende zum 20. Jahrhundert dann auch
vermehrt in diejenigen Wissenschaften ein, deren Gegenstand Kunst und Literatur sind.64 In den
einschlägigen Lexika werden überwiegend inhaltliche und Formexperimente unterschieden: So
lasse etwa der Experimentalroman Empirismus und Beobachtung hinter sich, indem er als literarisch generierte Anthropologie und Soziologie agiere.65 Die Auffassung vom Experimentalcharakter der Kunst, insbesondere durch Technikwechsel und Formversuche, dominiert (Experimentelles Theater). Das Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts sei die „Experimentalästhetik der Mo66
derne“, die die Autonomisierung von künstlerischem Subjekt und Material radikalisiere. In der
programmatischen Ästhetik nach 1945 wird ‚Experiment’ zum kämpferischen Begriff, mit dem
der Kult um den autonomen subjektiven ‚Schöpfer’ entlarvt werden soll. Experimentelle Kunst
gestaltet sich als eine Theorie und Praxis, die konventionalisierte Rezeptionsmuster und
67
-handlungen unterläuft und verändert.
Im 20. Jahrhundert bedienen sich die verschiedenen Disziplinen, Kunst- und Wissensfelder des
Experiment-Begriffs nur unter stark reduzierten Aspekten. Diese Rudimente des historisch vielfältigen Experiment-Begriffs innerhalb der Disziplinen der Gegenwart geben Auskunft über die
semantischen Bedingungen ihrer historischen Entstehung, Herausbildung, Etablierung sowie
über ihre moderne Selbstdefinition. Die metasprachlichen, sozial- und wissenschaftsstrategischen
Funktionen dieses Begriffstransfers wie programmatische (wissenschaftliche) Innovation, Selbstlegitimation, Wissenschaftlichkeitsausweis, Empirizität, Schein-Gegründetheit, Glaubwürdigkeit,
Modernitätsausweis, Reklame o.ä. müssen am jeweiligen Einzelfall des zeit- und diskursspezifischen Schnittfeldes der disziplinären Kontexte nachgezeichnet werden.
Die wissenssoziologische Verwendung des Experiment-Begriffs
Das ‚Experiment’ gerät zu einem der Hauptgradmesser für Wissenschaftlichkeit, so daß alle diejenigen Disziplinen, die ohne empirische Beobachtungen und Versuche auskommen müssen, Statusprobleme im akademischen wie gesellschaftlichen Feld haben. Zu den wenigen Ausnahmen
unter den geschichtlich forschenden Wissenschaften, die materielle Experimente im Sinne der
Naturwissenschaften durchführen können, gehören Experimentelle Archäologie und Experimen64
Zur Verwissenschaftlichung von Literatur, Poetik und Literaturwissenschaft um 1900 vgl. Gregor Streim: Introspektion des Schöpferischen. Literaturwissenschaft und Experimentalpsychologie am Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Projekt der „empirisch-induktiven“ Poetik; in: Scientia Poetica 7 (2003), S. 148-170.
65
Vgl. Gamper 2005, S. 151.
66
Vgl. Silvio Vietta; Dirk Kemper: Einleitung; in: dies. (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 1-55, hier S. 31.
67
Vgl. Lentz / Maurach 2000, S. 140. Der Artikel bietet den Versuch, moderne Kunstexperimente zu typisieren, und
damit einen Beitrag zur dringend notwendigen Differenzierung.
15
telle Wissenschaftsgeschichte, die historische Materialien, Herstellungsverfahren, Versuchsaufbauten u. ä. imitieren.68 Die Geisteswissenschaften befleißigen sich neuer, mathematischnaturwissenschaftlicher adaptierender Methoden, die wenigstens Empirizität reklamieren, wenn
ihr Gegenstand Experimentierung behindert (z. B. Empirische Rezeptionsästhetik, Empirische
Literaturwissenschaft), oder die Mathematisierung ihres Faches anstreben (z. B. Mathematische
Texttheorie, Topologische Strukturanalyse, Stilstatistik, Stochastische Sprachmodelle, Linguistische Datenverarbeitung). Schließlich war es den Lebens- und Sozialwissenschaften nach Gründungsversuchen im 18. Jahrhundert auf vermeintlich vorbildlichem Verfahrenswege zumeist spätestens im 19. Jahrhundert gelungen, sich mittels einer konsequent empirisch-experimentellen
Methodik den Naturwissenschaften und vor allem auch deren Status wieder anzunähern. Statussignale sind die Einrichtung von Lehrstühlen, die Berechtigung zur akademischen Graduierung
und Ausbildung in den jeweiligen Fächern.69 Ein weiteres Signal für diesen Statuszugewinn setzte
Ende des 20. Jahrhunderts die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, die erstmals
auch nicht klassisch naturwissenschaftliche Disziplinen aufnahm. Sie erweiterte ihre traditionsreichen naturwissenschaftlichen und medizinischen Sektionen um solche geistes- und sozialwissenschaftlichen Sektionen wie ‚Empirische Psychologie und Kognitionswissenschaften’, ‚Ökonomik
und empirische Sozialwissenschaften’ sowie ‚Kulturwissenschaften’, deren geisteswissenschaftlich
ausgebildete Mitglieder das Methodenideal der Naturwissenschaften für sich anzuerkennen bereit
sind. Die Leopoldina wird künftig – im Zusammenwirken mit den Länderakademien – als Nationale Akademie die deutsche Politik beraten und die Interessen der (Gesamtheit der) deutschen
Wissenschaftler im Ausland vertreten.70 Trotz dieses generellen Repräsentationsanspruchs schließt
die künftige ‚Leitakademie’ nicht-empirisch arbeitende Wissenschaftler von einer Mitgliedschaft
aus. Das entscheidende Kriterium für öffentliche Wahrnehmung also ist die, wenn nicht experimentelle, so doch wenigstens empirische Methodik der jeweiligen Disziplinen.
Geisteswissenschaften, die traditionell eher hermeneutischen Verfahren verpflichtet sind, sind in
dieser Hinsicht wenig konkurrenzfähig. Einerseits befördern ihre semantischen Adaptions-, Selektions- und Umdeutungsverfahren den Begriffstransfer, andererseits verliert der Begriff dadurch,
wie eingangs gezeigt, an semantischer Eindeutigkeit. Seine stärker metaphorischen als historisch
oder naturwissenschaftlich basierten Verwendungen zeigen, daß er nicht übertragen, sondern
funktionalisiert, daß er zum umkämpften Begriff wird. Diese Instrumentalisierung des Begriffs
68
Vgl. Falk Rieß: Erkenntnis durch Wiederholung – eine Methode zur Geschichtsschreibung des Experiments; in:
Michael Heidelberger; Friedrich Steinle (Hg.): Experimental essays – Versuche zum Experiment. Baden-Baden
(Nomos) 1998. S. 157-172. Programmatisch zu dieser Methode als performativer Historiographie: Heinz Otto Sibum: Experimentelle Wissenschaftsgeschichte; in: Meinel (Hg.) 2000, S. 61-73.
69
Zum Status- und Hierarchiesystem im wissenschaftlichen Feld vgl. Gerhard Fröhlich: Kontrolle durch Konkurrenz
und Kritik? Das „wissenschaftliche Feld“ bei Pierre Bourdieu; in: Boike Rehbein, Gernot Saalmann, Hermann
Schwengel (Hg.): Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz (UVK) 2003, S.
117-129, hier S. 118ff.
70
Vgl. die Pressemitteilung der Leopoldina vom 19.02.2008 unter http://www.leopoldina-halle.de/cms/de/pressemitteilungen/einzelansicht-pressemitteilung/article/268/leopoldina-ue.html (Stand: 20.02.2008).
16
unterscheidet sich sowohl von der Funktionsweise der „Erwartungsbegriffe“ im Sinne Reinhart
Kosellecks als auch von den historischen „Kampfideen“, die Norbert Hinske untersucht hat, die
beide auf die positive oder negative ideologische Aufladung bestimmter Bedeutungen zielen, auf
die Verteidigung oder gemeinsame Frontstellung sowie auf die zukünftige Realisation von Ideen
oder Programmen.71 Die Verwendung des Experiment-Begriffs aber strebt weniger die semantische Vereinnahmung denn die Usurpation des Begriffs einschließlich seiner bereits festgeschriebenen Konnotationen an, etwa mithilfe der Verwendungsmaximierung des Worts. In ihrem
Streit, den sie untereinander in Diskussionen über Methoden, Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeit austragen, ringen die verschiedenen Disziplinen um akademische Anerkennung und damit um symbolisches kulturelles und ökonomisches Kapital.
72
Einen von der naturwissenschaftlichen Definitionsmacht abhängigen Affekt zeigt etwa Hans Magnus Enzensberger, der insistierte, daß der Begriff ‚Experiment’ im Verständnis der klassischen
Physik gebraucht werden müsse. Eine Übertragung des Begriffs auf Literatur und Dichtkunst sei
deshalb aus seiner Sicht unwissenschaftlich, ein „’simple[r] Bluff’“.73 Enzensberger will damit das
Vorgehen der Geisteswissenschaften im Umgang mit dem naturwissenschaftlich dominierten
Experiment(-Begriff) als unwissenschaftlich entlarven, weil es nicht naturwissenschaftlich sei.
Diese Tautologie ignoriert die historische und kulturelle Veränderlichkeit der Semantik des Experiment-Begriffs. Enzensberger übernimmt damit die Strategie der sprachlich-definitorischen Abgrenzung, die bereits jene Experimentatoren an den Universitäten des 18. Jahrhunderts verfolgten, die ihren fahrenden Kollegen ‚Bluff’, Trickbetrug und Zauberei vorwarfen. In der Etablierungsphase der Experimentalmethode positionierten sich die Naturwissenschaftler gegenüber
Magiern und Dilettanten mit diesem sprachlichen Modus; in der Phase ihrer Diskursdominanz
werden damit diejenigen andrängenden Geistes- und Kulturwissenschaftler abgewehrt, die nicht
wie Enzensberger bereits überzeugt sind.
Über Wissensspezialisierung bildete sich das gesellschaftliche Teilsystem ‚Wissenschaft’ in der
Frühen Neuzeit heraus, das die Funktionen der Politikberatung und Herrschaftslegitimierung
übernahm. Dank seines Wissensvorsprungs kann sich der Gelehrte zum einen nach unten sozial
71
Vgl. Reinhart Koselleck: Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte; in: Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg (Winter) 2003, S. 3-16, hier S. 9f.; Norbert Hinske: Die tragenden
Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie; in: Raffaele Ciafardone (Hg.): Die Philosophie der
deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Dt. Bearb. v. N.H. u. Rainer Specht. Stuttgart (Reclam) 1990, S.
407-458, hier S. 412, 426f. – Im Unterschied zu diesen ideengeschichtlichen Bewertungen drückt sich für Fleck das
dezidiert „soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes“ in „Schlagworte[n]“ und „Kampfrufe[n]“ aus, die eine
erkenntnispraktische, sozial konstitutive über ihre emotionale Wirkung entfalten; vgl. Fleck 1980, S. 59.
72
Zur distinktiven Macht der Begriffe als Instrumente sozialer Gruppierung, Klassifikation und Ordnung vgl. Pierre
Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übs. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982, bes. S. 748.
73
Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde; in: Einzelheiten. Frankfurt/M. 1962. S. 309f.; zit.
n. Hans Schwerte: Der Begriff des Experiments in der Dichtung; in: Reinhold Grimm; Conrad Wiedemann (Hg.):
Literatur und Geistesge schichte. Berlin 1968, S. 387-405, hier S. 401.
17
abgrenzen, zum anderen seine sozialen Aufstiegschancen verbessern.74 Das Experiment begründete
die szientifische Weltsicht der Moderne, die von instrumenteller Beobachtung und Experimentation geprägt ist, und erlaubte die superiore Stellung der Naturwissenschaften unter den wissen75
schaftlichen Disziplinen. Durch das Experiment wurde der Naturforscher zum Naturwissen-
schaftler, indem es ihn befähigt, Ursachen anzugeben und Vorhersagen zu treffen. Dem Kausalitätsparadigma kann in überzeugender, nachvollziehbarer Weise der experimentierende Naturwissenschaftler gerecht werden. Erklärungskompetenz als Form des kulturellen Kapitals sichert ihm
das sozioökonomische Kapital des Expertenstatus. Dessen Symbolkraft bindet Wissenschaftlichsein an Experimentation und Beobachtbarkeit (durch Wirklichkeitsbezug, Erfahrbarkeit, Reproduzierbarkeit usw.). Als Exklusionskriterium für Wissenschaftlichkeit setzt sich die naturwissenschaftliche Definitionsvorgabe für das ‚Experiment’ durch.
Den soziokulturellen ‚Kampf ums Wort’ beschreibt Pierre Bourdieu als „jene symoblischen Strategien, deren Ziel es ist, sich die Diskrepanz zwischem Nominellem und Realem zunutze zu machen, sich der Wörter zu bemächtigen, um in den Besitz der Dinge zu kommen, oder auch der
Dinge in der weiteren Hoffnung, bald auch die sanktionierenden Wörter zu erhalten; […].“76 Im
Falle des Experiment-Begriffs sind mit seinem Besitz zwar keine sozialen Funktionen oder Titel,
aber wenigstens indirekt kulturelles Kapital verbunden. Begriffsverwendungen, die die „Diskrepanz zwischen Nominellem und Realem“ durch nicht konventionalisierten Gebrauch ausnutzen,
faßt Bourdieu ebenfalls als vorsätzliche Erschleichung eines Signifikanten durch Inbesitznahme
des Signifikats. Mit den folgenden Strategien wolle sich der Sprecher entweder des sozial distinguierenden Titels (Wortebene) oder des damit verbundenen kulturellen Kapitals (Bedeutung auf der
Ebene des Wirklichkeitskorrelats) bemächtigen: „Funktionen zu bekleiden, ohne im Besitz der
entsprechenden Titel zu sein (die ‚Erfüllungsgehilfen’), um so wenigstens Ansprüche auf legitime
Titel geltend machen zu können oder […] sich zur eigenen Kennzeichnung des vorteilhaftesten
Markenzeichens zu bedienen – wenn es sein muß, dabei bis hart an die Grenze des Betrugs zu
gehen wie jene Töpfer, die sich Kunsthandwerker nennen oder wie die als Ingenieure sich titulierenden Techniker […].“77 Übertragen auf die Verwendung des Experiment-Begriffs bedeutete das
also, daß die Geisteswissenschaften versuchen, das Wort zu vereinnahmen, semantische Aspekte
des Begriffs und darüber semantische Felder seiner Verwendung zu besetzen. Daß es sich dabei
nach Bourdieu um Strategien handelt, „die wie jedes Konkurrenzverhalten, die entscheidenden
Abstände aufrechtzuerhalten suchen, letzten Endes aber nur der fortlaufenden Inflation der Titel
74
Zur Entstehung des modernen Wissenschafts- als Sozialsystem vgl. grundlegend Rudolf Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert). Frankfurt/M. 1991.
75
Zu dieser Überlegenheit vgl. auch Christoph Meinel: Instrument – Experiment; in: ders. (Hg.) 2000, S. 9-12, hier
S. 9.
76
Vgl. Bourdieu 1982, S. 750.
77
Vgl. ebd., S. 751. (Hervorhebg. von mir; GB).
18
Vorschub leisten […],“78 bestätigen die fortdauernde Rivalität der beiden Kulturen um finanzielle
Ressourcen sowie die häufige Verwendung eines semantisch diffusen Experiment-Begriffs als
Stellvertreter-Begriff dieses Kampfes.
Es greift also zu kurz, die ‚Unrichtigkeit’ der Begriffsverwendung zu monieren, vielmehr deutet
die Aneignung des Experiment-Begriffs durch die Geisteswissenschaften auf einen metasprachlichen Mechanismus mit strategischen, wissenschaftspolitischen Funktionen hin. Die historische
Semantik des Experiment-Begriffs zeigt auf, daß in der wissenssoziologischen Dimension der Geschichte dieses Begriffs eine Konnotation seine Verwendung dominiert, die die Trophäe dieses
Kampfes um den Experiment-Begriff zu sein scheint: Der Experiment-Begriff wird als ‚Versuch’
79
mit zweifelsfreier Wissenschaftlichkeit konnotiert – insbesondere in der gegenwärtigen nicht-
naturwissenschaftlichen Verwendung und im allgemeinsprachlichen Verständnis.80 Trotz aller
Proteste ist die naturwissenschaftliche Definitionsmacht über den Experiment-Begriff ungebrochen, die noch in Abgrenzungsbemühungen stets referierte Bezugsebene bleibt, denn auch unausgesprochen bleiben nicht verwendete Inhaltselemente des Referenzpunktes als metaphorische
Konnotationen wirksam.81 Es hat den Anschein, als ob die Geisteswissenschaften über die Teilhabe am Begriff (gleichgültig, ob via Definition, Verwendung, Methodik o.a.) für ihren Anspruch
kämpfen, am gesellschaftlich respektierten und prämierten (Natur-)Wissenschaftsdiskurs teilzuhaben.
Abgrenzung und Annäherung in der Zwei-Kulturen-Debatte über den Experiment-Begriff
Die symbolische Bedeutung des Experiment-Begriffs plausibilisiert seine verstärkte Indienstnahme in der (erneut) intensivierten Diskussion über die „zwei Kulturen“ im vergangenen Jahrzehnt.
Beiden Parteien dient der Experiment-Begriff (neben Naturgesetz, Wissen u.ä.) als Argument in
der Diskussion über das Verhältnis von Natur- zu Geisteswissenschaften, von (Natur-)Wissenschaft zu Literatur und Kunst.82
Die Zwei-Kulturen-Debatte schreibt sich als Methodenstreit seit dem 19. Jahrhundert her und
schlägt sich in den Geisteswissenschaften als Bestreben der Historiker nieder, einerseits naturwissenschaftliches Vorgehen zu adaptieren (Heinrich von Sybel, Thomas Buckle), andererseits die
78
Ebd.
Die Konnotation von Wissenschaftlichkeit im alltagssprachlichen Gebrauch markiert auch der Duden: „Experiment, das; -e[s], -e <lat.> ([wissenschaftlicher] Versuch)“; vgl. [Art] Experiment; in: Duden. Rechtschreibung der
deutschen Sprache. 21. Aufl. Mannheim u.a. (Duden) 1996. S. 268.
80
Das schließt kritische Diskussionen über Experimente nicht aus, denn diese werden überwiegend (natur-)wissenschaftsintern geführt und dringen selten aus diesem exklusiven Kreis heraus nach außen.
81
Zu dieser Wirkung der Metapher vgl. Hendrik Birus: [Art.] Metapher; in: Weimar (Hg.) 1997-2003, 2. Bd., S.
571-576, hier S. 572.
82
Zur Aktualität von Metaphern als Kommunikationsinstrumenten in den disziplinären „Machtkämpfen und
Freundschaftsbünden“ vgl. Katrin Kohl: Metapher. Stuttgart, Weimar (Metzler) 2007. S. 129.
79
19
Unabhängigkeit, gar Überlegenheit der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften zu postulieren (Wilhelm Dilthey). Beide Positionen blieben mit ihren diversen Nuancen bis in die Gegenwart bestehen.83 So erkennt beispielsweise Nicolas Pethes die Vorherrschaft der Naturwissenschaften bei der Faktenerarbeitung an, gesteht aber allein der Literaturwissenschaft die Kompetenz zu,
84
über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft zu befinden. Peter McLaughlin verweigert
eine Annäherung der beiden Kulturen, indem er meint, daß die Geschichtswissenschaft die einmalig vorfindlichen Ereignisse und ihre Ursachen wahrheitsgemäß beschreibe, das Experiment
aber keine wahrheitsfähigen Aussagen über die Realität treffen könne, da es „nicht unsere Repräsentation der Natur mit der Natur als solcher, sondern mit der Natur, soweit wir sie manipulieren
85
können,“ vergleiche. McLaughlin hebt darauf ab, daß die Naturwissenschaften im Experiment
nur verschiedene Artefakte, daß sie nur einen Zustand (eine Repräsentation) und seine technische
Reproduktion korrelieren könnten, doch ignoriert er, daß auch die Beschreibung historischer
Ereignisse nicht mehr als deren Repräsentation verbürgen kann.
Diesen epistemologischen Einschnitt bedingten die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie
auf der einen Seite (Niels Bohr, Werner Heisenberg)86 sowie Geistes- und Sozialwissenschaftler
wie Max Weber, Georg Simmel und Ernst Cassirer auf der anderen Seite. Weber verstand historische Erkenntnis nicht als Rekonstruktion, sondern als Konstruktion, als „denkende Ordnung des
empirisch Gegebenen“, die Anspruch darauf erheben könne, als Erfahrungswissenschaft zu gel87
ten. In diesem Sinne weist Gerhard Oexle den Historikern und Kulturwissenschaftlern zu Be-
ginn des 21. Jahrhunderts die Aufgabe zu, über die Bedingungen und Grenzen wissenschaftlicher
Erkenntnis nachzudenken. Oexle geht davon aus, daß die beiden Kulturen einander nicht ausschließen müssen, sondern ergänzen können. Die Trennungslinie der Wissenschaftsauffassungen
verlaufe zwischen der Überzeugung, in der Wissenschaft Realität abzubilden; und der Annahme,
den wissenschaftlichen Gegenstand erst in der Reflexion des empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Subjekts zu konstituieren. Verstünde man mit Alfred Gierer die Naturwissenschaften als
Produkt der Kultur, erhelle die Komplementarität von Natur- und Geschichtswissenschaften
88
hinsichtlich ihres Objekts.
Im Anschluß an Oexle wäre aber als vergleichbares Vorgehen der Natur- und Geschichts- bzw.
Geisteswissenschaften nicht allein die Empirizität des Materials und dessen Repräsentationsstatus
zu reklamieren. Wenn für beide Kulturen gleichermaßen gilt, daß ihr Material empirisch und
83
Vgl. dazu ausführlich Oexle 2004, bes. S. 24ff.
Vgl. Pethes 2003, S. 191.
85
Vgl. McLaughlin 1993, S. 216.
86
Vgl. dazu Berg 2007.
87
Vgl. Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]; in: ders.:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 5. Aufl. Tübingen 1982, S. 146-214; wdg. n. Oexle 2004, S. 32.
88
Vgl. Oexle 2004, S. 52f., 55. Zur Repräsentationsfunktion der ‚objektiven Realität’, die allen Wissenschaften gemeinsam ist, vgl. auch schon Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des
wissenschaftlichen Feldes. Aus d. Franz. übertr. v. Stephan Egger. Konstanz (UVK) 1998. S. 29.
84
20
dessen interpretatorische Darstellung konstruiert ist, indem sie die gewonnenen Fakten in einen
historisch veränderlichen Wissenskontext einordnen, dann gehen die Akteure beider Kulturen,
Naturforscher wie Historiker, strukturanalog vor weniger in dem, was sie darstellen (die Repräsentation von Realität) als vielmehr in der Weise, wie sie es interpretieren und darstellen (in der
Experimentalanordnung der Tatsachen). Ihre Gemeinsamkeiten wären also nicht allein hinsichtlich Material und Ziel, darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer experimentellen Methodik stärker
zu akzentuieren.
Als Experimentator wird in sozialer Hinsicht eine Wissenschaftlerpersönlichkeit, hinsichtlich des
ästhetischen Produktionsprozesses der Autor oder Künstler und auf Textebene eine literarische
89
Figur angesehen. Experimentator aber kann, wie Hans Schwerte pointiert, auch der Literatur-
wissenschaftler sein. Schwerte bietet eine Lösung des Verwendungskonflikts, die literarische Exploration mit der naturwissenschaftlich geforderten Demonstrationsoption versöhnt: Dem Künstler bleibe vorbehalten, mithilfe des dichterischen Experiments Sprache, Formen und damit Wirklichkeit zu erkunden. Seine Aufgabe sei es nicht, den Zweck oder Nutzen des Kunstwerks zu
bestimmen. Dies sei vielmehr Sache der Philologie, nämlich dasjenige Nachprüfbare und Wiederholbare, das der literarische Text biete, zu untersuchen und zu lehren.90 Über die Funktionsteilung zwischen Kunstproduzent und –wissenschaftler hinaus stellt sich indes die Frage, ob nicht
allein der Literaturhistoriker hinsichtlich eines literarischen Werkes und seiner (repetierbaren)
Rezeption, sondern der Historiker generell auf Gedankenebene wie ein Experimentator verfährt:
Denn die Faszination, die der naturwissenschaftliche Experimentator ausstrahlt, besteht nicht
allein in der Macht darüber, bestimmte Effekte erzeugen zu können, als vielmehr in seiner Fähigkeit, die Ursachen bestimmter Phänomene identifizieren zu können. Ursachenwissen ist unerläßliche Voraussetzung für jene intellektuell wie sozial erklärungsmächtigen Effekte.
Experimental-, Kausalitäts- und Historizitätsparadigma konsolidieren sich im 18. Jahrhundert,
wobei die Experimentalmethode dasjenige Instrument zu sein scheint, das Kausalität und Chronologie vermittelt. Das Experiment bedingt einen sukzessiven zeitlichen Ablauf von Anfangs- und
Endzustand, von Ursache und Wirkungen, die durch den Experimentator auf diese künstliche
Weise (re-)konstruiert werden. Das Ziel der Erkenntnis dieser Verfahren sind die Entdeckung
und Erklärung natürlicher Phänomene. Die Parallele, historische Fakten wie Fakten der Natur zu
verstehen, datiert auf die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaften im späten 18. Jahrhundert.91 Als Ziel der Menschheitsgeschichte wird „die Kenntniß der menschlichen Natur“ und
89
Zu Schwerte alias Hans Ernst Schneider vgl. Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NSVergangenheit der deutschen Hochschulen. Hg. v. Helmut König, Wolfgang Kuhlmann u. Klaus Schwabe. München 1997.
90
Vgl. Schwerte 1968, S. 401.
91
Die Institutionalisierung der Disziplin beschreibt Rudolf Vierhaus: Die Universität Göttingen und die Anfänge der
modernen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert; in: Hartmut Boockmann; Hermann Wellenreuther (Hg.):
Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1987, S. 9-29.
21
Kultur proklamiert.92 Zivilisationsgeschichte wird daher in strikter Analogie zur Naturgeschichte
konzipiert. Erforderlich seien dafür nicht vollständige Begriffe, sondern die Vollzähligkeit der
Gegenstandsbereiche als „vollständiges Inventar“ des Menschen, der ihn umgebenden Natur und
der Wechselbeziehungen zwischen beiden. Dieses empirisch-quantifizierende Verfahren sollte
angesichts der Problematik, daß der Standort des Historikers subjektiv gebunden ist, die Objektivität historischer Aussagen gewährleisten.93 Diese Tendenz zur Vernaturwissenschaftlichung der
Geschichtsschreibung setzte im 19. Jahrhundert etwa Johann Gustav Droysen fort, der die Geschichts- als empirische Wissenschaft definierte. Die Errichtung einer entsprechenden Methodenbasis zielte auf die „Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft“ (1863), so Droy94
sens gleichnamiger Essay.
Im modernen Sinne zielt die Tätigkeit des Historikers als eines Experimentators nicht allein auf
eine Verstehens-, sondern auf eine Konstruktionsleistung, die dem Verstehen notwendig vorhergeht. Damit handelt der Akteur der ‚experimentellen’ Versuchsanordnung historischer Fakten
dem Kausalitätsparadigma der modernen Naturwissenschaften gemäß, das seit dem
19. Jahrhundert in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften gleichermaßen gilt,95 auch
wenn die historisch arbeitenden Wissenschaften keine sicheren Prognosen über die Zukunft erstellen können. Ursachensuche ist methodenkritisch nicht im Sinne einer Einbettung des vorfindlich Aufgesuchten in einen größeren metaphysischen, teleologischen Zusammenhang zu verstehen, also nicht als Sinnzuweisung zu einem Ganzen, sondern als rekonstruierende Protokollierung sukzessiver Elemente, von denen eines aus dem anderen folgt oder mit ihm zusammenhängt
- unter gehöriger Ausblendung aller als nicht einflußreich erachteter Faktoren, also als
(Re-)Konstrukt der Ereignisse in einer künstlich isolierten Umwelt (d.i. die historische Abhandlung). Denn der Historiker verleiht der Sachgeschichte (den historischen Tatsachen) - in einer Art
Gedankenexperiment im naturwissenschaftlichen Verständnis - nicht nur eine zeitliche, ehemals
auch oft eine finale (teleologische), traditionellerweise überwiegend eine kausale, auch mit moderner Analyse immer noch eine ordnende, Korrelationen, Verknüpfungen, Kontexte und Koinzidenzen aufzeigende respektive herstellende Struktur. Für eine nachvollziehbare Darstellung sind
92
Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit [Lemgo 21793]. Reprint Königstein (Scriptor) 1981.
S. 19; wdg. n. Jörn Garber: Selbstreferenz und Objektivität: Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung; in: Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750-1900. Hg. v. Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill u. Jürgen Schlumbohm. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1999, S. 137-185, hier S.
156.
93
Vgl. dazu Garber 1999, S. 153f., 184. - Zum „Kollektivsingular ‚Geschichte’“, der zeitgleich entsteht, vgl. Koselleck 2003, S. 14f.
94
Vgl. Oexle 2004, S. 26.
95
So die programmatischen Definitionen der Soziologie als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend
verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Max Weber: Soziologische
Grundbegriffe. 6. Aufl. Tübingen (Mohr) 1984. S. 19) und der Geisteswissenschaften (der „Poetik“) als „innere
Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach kausaler Methode […].“ (Wilhelm Dilthey: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik [1887]; in: ders.: Gesammelte Schriften. 6 Bd.: Die geistige Welt. 2.
Hälfte: Abh. zur Poetik, Ethik und Pädagogik. Leipzig, Berlin (Teubner) 1924, S. 103-241, hier S. 125)
22
Angaben über Effekte, ihre Bedingungen und Einflüsse in der Chronologie der Abläufe unerläßlich. Doch selbst im Falle ihrer unvermittelten Darbietung wird bereits durch Auswahl der Ereignisse und Zeugnisse ein struktureller Zusammenhang unvermeidlich suggeriert und damit eine
Bedeutung anheimgestellt.
Die Verbindung zwischen Geschichts- und Naturwissenschaft will Oexle anhand der „Kategorien
von ‚Begriff’ und ‚Experiment’“ neu erörtern lassen. Unter Verweis auf Clifford Geertz fordert er
die Geschichtswissenschaften als „empirische Hypothesenwissenschaften“ auf, den epistemologischen Status von historischen ‚Fakten’ zu überdenken.96 Doch verbindet die beiden Kulturen
nicht allein der Status ihrer Objekte, der nur ein repräsentativer sein kann, wie Oexle anmahnt,
sondern darüber hinaus das experimentelle Verfahren ihrer Darstellung. Die wissenschaftliche
Tatsache ‚entsteht’ laut Fleck im Labor, in dem sie auf experimentellem Wege allmählich konturiert wird. Nicht von der Tatsache, sondern vom Begriff (für das Phänomen) geht Heisenberg
aus, der die Arbeit am Begriff als „tastende Versuche“ versteht, die Wirklichkeit allmählich zu
erfassen: Die modernen Naturwissenschaften seien sich „bewußt, […] daß wir stets irgendwo in
der Mitte anfangen müssen, über die Wirklichkeit zu sprechen mit Begriffen, die erst durch ihre
Anwendung allmählich einen schärferen Sinn erhalten, und daß selbst die schärfsten, allen Anforderungen an logischer und mathematischer Präzision genügenden Begriffssysteme nur tastende
Versuche sind, uns in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden.“97 Tatsachen sind
wie ihre sprachlichen Bezeichnungen und ihre theoretischen Erklärungen Konzepte, die der Gegenstand experimenteller Arbeit sind: Die Naturwissenschaften entdecken die natürlichen Tatsachen über Begriffe, die durch experimentelle Forschung aufgestellt und geschärft werden; die
Geschichtswissenschaften entdecken historische Tatsachen und ihre Zusammenhänge auf dem
98
gedanklichen Wege ihres quasi-experimentellen Anordnens und Durchlaufens.
Die Tatsachen beider Kulturen, historische wie ‚natürliche’ Fakten, sind also Ziel, Resultat und
Material für begrifflich gefaßte, konsensuelle Annahmen über die Wirklichkeit, die zeitabhängig
veränderlich sind. Insofern geschichts- wie naturwissenschaftliche Tatsachen als Ergebnisse und
Folgen menschlicher Handlungen aufgefaßt werden und ihre Darstellung widerspruchsfrei ist,
verbürgen sie nicht die denkbar beste, aber doch die wirklichste Wirklichkeit, die wir kennen
können. Die Aufgabe, diese einzelnen Elemente zu erkennen, widerspruchsfrei miteinander zu
verbinden und darzustellen (im Experiment, im Versuchsprotokoll, in der wissenschaftlichen
96
Vgl. Oexle 2004 sowie ders.: Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte;
in: ders. (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität? 2. Aufl. Göttingen 2000, S. 99-151, hier S. 148. – Zum Status von „kulturellen Tatsachen“, „jederzeit beides [zu
sein], gemacht und bedeutsam, materiell und ideell, real und konstruiert“ vgl. Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2006, bes. S. 63.
97
Vgl. Werner Heisenberg: Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes [1941]; in: ders.: Wandlungen in den
Grundlagen der Naturwissenschaft. Zehn Vorträge. 12. Aufl. Stuttgart (Hirzel) 2005, S. 89-108, hier S. 107f.; Hinweis von Oexle 2004, S. 40.
98
Gemeint ist die systematische naturwissenschaftliche Experimentation; nicht das probierende oder assoziative Vorgehen in Sprachspielen u.ä.
23
Abhandlung) und durch diese Darstellung zu Aussagen zu gelangen, ist die Aufgabe des naturforschenden wie des historischen Wissenschaftlers. Naturwissenschaftliche und historische Methodik
‚experimentieren’ strukturanalog an dieser Form der Wirklichkeit.
Historisch arbeitende Geistes- sind folglich insofern ‚Experimental’-Wissenschaften als sie zum
wenigsten die folgenden Aspekte mit naturwissenschaftlichem Experimentieren teilen: Arbeit an
den ‚Tatsachen’; ‚natürliche’ Fakten als Objekte; Isolierung eines empirischen Wirklichkeitsausschnitts; Idealisierung des ‚natürlichen’ Ablaufs im Experiment bzw. in der chronologischen Reihung; Künstlichkeit der Versuchsanordnung; variable Selektion des Materials; Interpretation der
Ergebnisse durch Auswahl- und Strukturierungsleistung; Vorgängigkeit der Hypothese bzw. Voreinstellungen soziokultureller usw. Art; den Anspruch, daß der Ablauf der beschriebenen Ereignisse ‚natürlich’ und folglich realitätsgetreu und wahrheitsfähig ist; aber auch das Problembewußtsein bzw. die Reflexion dessen aufgrund der oft irreduziblen Komplexität der natürlichen
Vorgänge.
Die Reproduzierbarkeit des Resultats ist in der Empirie des Materials gegeben, aber auch in der
Rezeption, die Nachvollziehbarkeit gewährleisten muß. Tut sie dies nicht, wird Wahrhaftigkeit
bezweifelt und der historische Ablauf dieser oder anderer Materialien in weiteren experimentellen
Aufbauten (Abhandlungen) erprobt. Dieses iterative, experimentell basierte Erkenntnisstreben
eint Natur- und Geisteswissenschaften.
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