Taschenatlas der Ernährung von Hans K. Biesalski, Peter Grimm erweitert, überarbeitet Taschenatlas der Ernährung – Biesalski / Grimm schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thieme 2004 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 13 115353 1 Inhaltsverzeichnis: Taschenatlas der Ernährung – Biesalski / Grimm 154 Fettlæsliche Vitamine Vitamin D: Chemie und Metabolismus Die fçr einen Vitamin-D-Mangel typischen Knochendeformationen traten v. a. in den Industriestådten des 19. Jahrhunderts auf: In Boston litten um die Jahrhundertwende ca. 80 % der Kinder der årmeren Schichten an Knochenverformungen. Erst 1919 wurde die symptomatische Behandlung mit Lebertran und natçrlichem Sonnenlicht entdeckt. Bis zur Synthese des Vitamins und damit groûangelegten Prophylaxemaûnahmen vergingen nochmals fast 20 Jahre. Zur Vitamin D-Familie gehært eine Reihe von Verbindungen, die alle Vitaminaktivitåt aufweisen. Die wichtigste Verbindung ist das in tierischen Organismen unter Lichteinwirkung aus 7-Dehydrocholesterol (A) gebildete Vitamin D3 (Cholecalciferol). In Pflanzen kommt in Spuren das Provitamin Ergosterol vor, dessen Metabolit, das Vitamin D2, sich vom D3 nur durch eine Doppelbindung und eine Methylgruppe unterscheidet und die gleiche Vitaminaktivitåt aufweist. Als Mengenangaben dienen Internationale Einheiten: 1 IE entspricht 0,025 mg, 1 mg Vitamin D3 oder D2 sind 40 IE. Durch Hydroxylierung in der Leber an C25 entsteht das Zwischenprodukt 25-Hydroxycholecalciferol. Die Umwandlung in die eigentlich aktive Form des Vitamins erfolgt durch eine weitere Hydroxylierung an C1 zum 1,25-Dihydroxycholecalciferol (1,25-(OH)2-D3), das den Steroidhormonen zuzuordnen ist. Weiterhin gibt es eine Vielzahl von synthetischen Vitamin-D-Analoga, die zur Behandlung von Stærungen der Calciumhomæostase eingesetzt werden. Vitamin D ist per Definition fçr den Menschen kein Vitamin, da es bei Sonnenexposition unter gçnstigen Bedingungen in ausreichender Menge endogen synthetisiert werden kann. Das aus Cholesterol gebildete 7-Dehydrocholesterol wird in der Haut unter UV-Strahlung zum Pråvitamin D3, aus dem unter Wårmeeinwirkung das aktive Vitamin D3 entsteht (B). Mit der Nahrung zugefçhrtes Vitamin D wird als fettlæsliche Substanz in Chylomikronen eingebaut und zur Leber transportiert. Der Transport aller freigesetzten Vitamin-D-Metabolite im Blut, aber auch in der Leber, erfolgt durch ein spezifisches Vitamin-D-bindendes Protein (DBP). In der Niere findet in den Mitochondrien der proximalen Tubuluszellen eine zweite Hydroxylierung zum 1,25-(OH)2-D statt. Ein weiteres Enzym hydroxyliert hier an C24. Dieser Weg wird bei einem Ûberangebot an 1,25-(OH)2-D beschritten und so eine Inaktivierung des Hormons beigefçhrt. Das aktive 1,25-(OH)2-D zirkuliert proteingebunden im Blut und wird so zu seinen Wirkorten transportiert. Der letzte Schritt des Metabolismus, die Hydroxylierung zum 1,25-(OH)2-D, unterliegt einer strengen Kontrolle: 1,25-(OH)2-D wirkt im Sinne einer Feedback-Kontrolle hemmend (Weg zum inaktiven 1,24-(OH)2-D wird beschritten), Parathormon und ein niedriger Phosphatspiegel aktivieren das Enzym. Eine Vielzahl weiterer Faktoren wirken meist indirekt çber Parathormon: Calcium, Ústrogen, Glucocorticoide, Calcitonin u. a. Diese feine Regulation dient der kurzfristigen Anpassung an den Calciumund Phosphatbedarf. Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag Vitamin D 155 A. Chemie 25 Calciol = Vitamin D3 (Cholecalciferol) HO 7-Dehydrocholesterol CHw 1 25 OH HO 25 Calcitriol 1,25-(OH)2-D (1,25-Dihydroxycholecalciferol) Calcidiol 25-OH-D (25-Hydroxycholecalciferol) CHw CHw 1 1 OH HO OH HO B. Vitamin-D-Metabolismus Licht UVB, Wärme Cholecalciferol Vitamin De 7-Dehydrocholesterol Nebenschilddrüse Haut DBP PTH Ausschüttung DBP Niere Vitamin-DSpeicher Leber DBP 25-(OH)-D Nahrung Vitamin D 25-(OH)-D DBP ↑ Hydroxylapatit Knochen Fett, Gallensäure 25-(OH)-D zirkulierend Chylomikronen niedrig Plasma CaÙ+Konzentration 1,25-(OH)w-D Metabolit DBP Galle Ausscheidung ↑ CaÙ+-Retention ↑ CaÙ+Aufnahme Mukosa Intestinum Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag 156 Fettlæsliche Vitamine Vitamin D: Funktion Die klassischen Vitamin-D-Funktionen dienen der Aufrechterhaltung der Calcium (Ca)- und Phosphat (P)-Homæostase. Am besten untersucht ist die zellulåre Wirkung auf den Ca-Transport im Darm (A). Im Zytosol wird 1,25-(OH)2-D wahrscheinlich an einen Zytosolrezeptor gebunden, bevor es im Zellkern an einen mit der DNA assoziierten Kernrezeptor çbertragen wird. Auf diese Art wird die Bildung verschiedener Proteine induziert: Bekannt sind das Calcium-bindende Protein (CaBP), eine ATPase, alkalische Phosphatase, Phytase u. a. Gleichzeitig kommt es zu einer gesteigerten Lipidsynthese und damit zu Verånderungen in den Membranlipiden. Der folgende Schritt ± Transport des Ca von der Bçrstensaummembran zur Basalmembran ± ist unklar. Frçher wurde hierfçr ausschlieûlich das CaBP verantwortlich gemacht, jedoch ist dessen Synthese zu langsam, um den innerhalb weniger Minuten einsetzenden CaTransport allein erklåren zu kænnen. Zu den klassischen Zielorganen von Vitamin D zåhlen auch Knochen und Niere (B). Durch die Tåtigkeit der Osteoklasten und Osteoblasten herrscht im Knochen eine Homæostase zwischen Demineralisation, also der Freisetzung von Ca und P, und Mineralisation. Aufgrund seiner Bedeutung bei der Ca-Homæostase (Bereitstellung von Ca fçr den Organismus) ist Vitamin D fçr die Demineralisation zuståndig. Die verstårkte Knochenresorption unter dem Einfluss von 1,25-(OH)2-D beruht einerseits auf der vermehrten Bildung von Osteoklasten aus Makrophagen, andererseits auf einem viel schneller ablaufenden Vorgang, bei dem 1,25-(OH)2-D die Osteoblasten zur Ausschçttung eines Faktors anregt, der die Osteoklastenaktivitåt stimuliert. Auch die bis heute ungeklårte Wirkung von Vitamin D in der Niere dient der CaHomæostase: Færderung der Ca-Rçckresorption und P-Exkretion in den distalen Nierentubuli. In den letzten Jahren wurden weitere Gewebe und Zellen erkannt, die auf 1,25-(OH)2-D ansprechen (B). Als zellulåre Mechanismen werden dabei die bereits beschriebene Induktion einer Proteinsynthese oder eine Aktivierung verschiedener Phospholipasen (C, A2, D) mit konsekutiver Bildung von second messengern diskutiert. Auch ein spezifischer 1,25-(OH)2-D-Membranrezeptor wird in Betracht gezogen. In vielen Zellen kommt es unter der 1,25-(OH)2-D-Wirkung zur Freisetzung von Ca aus intrazellulåren Speichern. Inwieweit dies als Beitrag zur Ca-Homæostase zu sehen ist oder nur ein intrazellulåres Signal darstellt, ist unbekannt. Die Beobachtung, dass bei VitaminD-Mangel und Knochenerkrankungen oft auch eine Skelett- und Herzmuskelschwåche vorliegt, låsst auf eine Funktion an Muskelzellen schlieûen. Heute wird davon ausgegangen, dass 1,25-(OH)2-D spannungsabhångige CaKanåle an der Membran von Muskelzellen aktiviert und damit an der Regulation des Ca-Transports çber die Membran beteiligt ist. Im Pankreas wird durch 1,25-(OH)2-D die Insulinausschçttung beeinflusst, in der Haut hat das Hormon eine Wirkung auf das Wachstum und die Zelldifferenzierung. Daneben existieren Rezeptoren in Zellen des Immunsystems sowie verschiedensten Tumorzellen, wo 1,25-(OH)2-D zumeist die Zellproliferation hemmt. Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag Vitamin D 157 A. Induktion der Ca-Resorption Na+ CaÙ+ 1,25-(OH)w- D CaÙ+ Blut ATPase ER Zytosolrezeptor Na+ Basalmembran Mitochondrium Kernrezeptor mRNA DNA Lipidsynthese Vesikel ? Zytoplasmatisches CaBP ? (Ca-bindendes Protein) Golgi-Apparat Proteinsynthese CaBP Membranlipide IMCal Bürstensaum ATPase CaÙ+ B. Klassische und neue Vitamin-D-Zielorgane ? Plasmamembran Immunsystem Tumorzellen Membranrezeptor ? CaÙ+↑ IPe neu Haut Hemmung der Zellproliferation Wachstum und Differenzierung Phospholipasen Pankreas Muskel Insulinausschüttung Calciumtransport 1,25-(OH)w- De nahezu alle Zellen? klassisch Zytosolrezeptor Zielgene Niere Calcium- und Phosphathomöostase Kern Knochen Darm Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag 158 Fettlæsliche Vitamine Vitamin D: Vorkommen und Bedarf Das Vorkommen (A) von Vitamin D in der Natur ist sehr begrenzt. Fischleber enthålt sehr groûe Mengen, weshalb Lebertran frçher zur Behandlung und Prophylaxe von Vitamin-D-Mangelerscheinungen erfolgreich eingesetzt wurde. Fettreiche Seefische wie z. B. Bçckling oder Hering enthalten bis zu 30 mg Vitamin D pro 100 g. Die Vitamin-D-Gehalte anderer Fischarten liegen jedoch weit darunter. Der Gehalt in Kuhmilch ist zu vernachlåssigen, er steigt jedoch mit zunehmender Fettkonzentrierung: Sahne (30 %) enthålt 1 mg/100 g, Kåse weist vergleichbare Mengen auf. Muttermilch enthålt sehr wenig Vitamin D ± allerdings liegen neben Vitamin D3 auch die sehr viel aktiveren Vitamin-D-Metabolite vor, so dass bei ausschlieûlichem Stillen die Gefahr einer Rachitis i. a. gering ist. Der Bedarf (B) an exogen zugefçhrtem Vitamin D hångt sehr stark von der Dauer und der Intensitåt der UV-Exposition und der damit verbundenen endogenen Vitamin-D-Synthese ab. Die Zufuhrempfehlung von 5 mg/Tag fçr Kinder und Erwachsene unterstellt eine unzureichende Synthese in der Haut. Wåhrend Schwangerschaft und Stillzeit besteht ein erhæhter Bedarf (10 mg/Tag). Von græûter Bedeutung ist eine regelmåûige exogene Vitamin-D-Zufuhr im Såuglingsalter. Da die Gehalte in Kuhmilch nicht ausreichen und auch Muttermilch einen Mangel v. a. in sonnenarmen Zeiten nicht sicher verhindert, wird heute in jedem Fall eine Vitamin-D-Prophylaxe empfohlen. Alle industriell hergestellten Såuglingsmilchnahrungen sind mit 400 IE = 10 mg Vitamin D3 angereichert. Zusåtzlich wird wåhrend des ersten Lebensjahres die tågliche Zufuhr von weiteren 400 IE in Tablettenform empfohlen. Die tatsåchliche Zufuhr an Vitamin D liegt fçr Erwachsene im Rahmen der Empfehlungen; Kinder, Jugendliche und Øltere nehmen jedoch weitaus weniger Vitamin D auf. Werden die Lebensgewohnheiten dieser Gruppen berçcksichtigt, so fallen die Senioren auf: Da eine UV-Exposition oftmals nicht stattfindet, sind sie fçr einen Vitamin-D- Mangel prådestiniert. Auch Einwanderer, v. a. aus islamischen Låndern, bei denen Frauen oft verschleiert gehen, gelten als Risikogruppen. In den letzten Jahren wurde vereinzelt wieder von Mangelerscheinungen bei Såuglingen und Kleinkindern berichtet, meist in Folge einer ideologisch, weltanschaulich bedingten Ablehnung der vællig ungefåhrlichen Vitamin-D-Prophylaxe (12,5 mg). Erst die massive Ûberdosierung von Vitamin D fçhrt zu einer Hyperkalzåmie, deren akute Symptome wie z. B. Erbrechen und Schwindel relativ unspezifisch sind. Langfristig kommt es zu Verkalkungen ± v. a. massive Nephrokalzinosen sind beschrieben. Bei Erwachsenen wird von toxischen Auswirkungen ab 500±1000 mg Vitamin D pro Tag ausgegangen, bei Kindern ist hiermit u. U. ab 150 mg/Tag (10faches der Prophylaxe) zu rechnen. Diese Mengen sind auch bei starker UV-Exposition oder çber die Ernåhrung allein nicht zu erreichen. Bei der Einnahme von Vitamin D-Pråparaten sollte jedoch die Dosierungsempfehlung eingehalten werden. Unter den Vitamin-D-Mangelerscheinungen (C) ist die Rachitis beim Kind am bekanntesten. Es kommt zu Verformungen von Knochen, v. a. Brustbein, Schådel und Wirbelsåule. Die Osteomalazie ist das Pendant beim Erwachsenen. Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag Vitamin D 159 A. Vorkommen und Tagesbedarf Der Tagesbedarf von 5µg Vitamin D ist enthalten in: 150 g Pilze 250g Rinderleber 500g Huhn, Schweinefleisch 20 g Bückling, Hering 250–500 g Fisch 500 ml Sahne 1500g Sahnejoghurt 5 Stk. Eier 150 g Margarine 500 g Butter 150 g Schmelzkäse 1000 g Mozzarella 500 g Käse (50 %) B. Zufuhrempfehlungen (DACH, 2000) 5 5 Stillende Schwangere 65 und älter 51–64Jahre 25–50Jahre 19–24Jahre 15–18Jahre 13–14Jahre 10–12Jahre 7–9 Jahre 4–6 Jahre 1–3 Jahre 4–12 Monate 0–3 Monate Säuglinge Kinder Erwachsene weiblich männlich w/m 10 5 5 5 5 5 5 5 5 5 µg Vitamin D / Tag A 10mg Vitamin D in industriell hergestellter Säuglingsmilch B Vitamin-D-Rachichitisprophylaxe C im 2. Lebenshalbjahr rückläufiger Anteil an industriell hergestellter Säuglingsmilch 10C+10B 10A 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 C. Mangelerscheinungen Rachitis unverkalkte Knochenmatrix (blau) Biesalski/Grimm, Taschenatlas der Ernährung (ISBN 3131153539) © 2004 Georg Thieme Verlag