© 2004 Carl Hanser Verlag, München www.cad-cam.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. R E P O R T A G E CFD oder Windkanal Viel Wind um nichts? Computersimulationen sind auf dem Vormarsch und schicken sich an, physikalische Versuche in die zweite Reihe zu verdrängen. Immer schneller und genauer lassen sich Eigenschaften und Verhalten komplexer technischer Systeme am Computer untersuchen, bevor auch nur ein Bauteil fabriziert wurde. Auch vor dem Motorsport hat diese Entwicklung nicht Halt gemacht. Und trotzdem werden in der Formel 1 Unsummen in neue Windkanäle investiert, um die Aerodynamik der 900 PS starken Geschosse zu optimieren. Ist die Simulation vielleicht doch nicht der Stein der Weisen, oder handelt es sich hier um eine sinnvolle gegenseitige Ergänzung? Ein fortschrittsgläubiger Ingenieur könnte annehmen, dass mit der wachsenden Verbreitung von Simulationssystemen die letzte Stunde der Windkanal-Versuche geschlagen habe. Schließlich ist es eines der Hauptargumente für die computergestützte Simulation, den Aufwand für den Bau und den Test von Prototypen drastisch zu reduzieren. Warum gehen Formel-1Teams trotzdem her und bauen immer größere und teurere Windkanäle, in denen praktisch rund um die Uhr Gesamtfahrzeuge und Komponenten getestet und optimiert werden? Erst kürzlich hat der im schweizerischen Hinwil beheimatete Formel-1-Rennstall Sauber-Petronas seinen neuen Windkanal 14 CADCAM 3/2004 in Betrieb genommen. Die 70 Millionen Franken teure Anlage gilt als eine der fortschrittlichsten der Formel 1. Teamchef Peter Sauber begründet diesen Aufwand damit, dass die Aerodynamik der wohl wichtigste Faktor bei einem modernen und konkurrenzfähigen Formel-1-Auto sei. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich klarmachen, wie und wo die Aerodynamik das Verhalten des Gesamtsystems ›Formel-1-Fahrzeug‹ beeinflusst. Flugzeugtechnologie – aber anders herum Überspitzt dargestellt, ist ein Formel-1Auto ein Flugzeug, bei dem die aerodyna- mischen Grundprinzipien auf den Kopf gestellt werden. Denn während beim Flugzeug die Auftriebserzeugung im Mittelpunkt steht, benötigt ein Formel-1-Fahrzeug enorme Abtriebskräfte, damit Beschleunigungs-, Verzögerungs- und Querbeschleunigungswerte von mehreren g aufgebaut werden können. Schon bei Autobahn-Richtgeschwindigkeit ist der erreichte aerodynamische Abtrieb so groß, dass ein Formel-1-Auto theoretisch auch an der Decke fahren könnte. Die Abtriebserzeugung allein wäre kein Problem, wollte man nicht gleichzeitig so schnell wie möglich vorwärts kommen; schließlich möchte man ja Rennen gewinnen. Benötigt wird also zusätzlich sowohl © 2004 Carl Hanser Verlag, München www.cad-cam.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. R E P O R T A G E hungsweise am Objekt mit Rauch oder Flüssigkeit visualisiert. Mittels Ähnlichkeitsbetrachtungen werden die Messdaten extrapoliert und geben – vorausgesetzt, die Kalibrierung stimmt – ein detailgetreues Abbild der Strömungsverhältnisse am realen Objekt. Was einfach klingt, wächst sich in der Realität zu sensiblen Technikmonstern aus, die nicht selten den Energiebedarf einer kleinen Ortschaft verschlingen. Die Daten des neuen Sauber-Petronas-Windkanals sind beeindruckend: 3000 kW Leistungsaufnahme, eine Gesamtlänge der Stahlröhre von 141 m mit einem maximalen Durchmesser von 9,4 m, Windgeschwindig- Ein Formel-1-Fahrzeug benötigt enorme Abtriebskräfte, damit Beschleunigungs-, Verzögerungs- und Querbeschleunigungswerte von mehreren g aufgebaut werden können. eine möglichst widerstandsarme Fahrzeugumströmung (bei einem Fahrzeug mit freistehenden Rädern eigentlich ein Anachronismus) als auch eine unter allen ‚Betriebszuständen ausreichende Luftversorgung und Kühlung von Motor, Getriebe und Bremsen. Damit nicht genug, müssen zusätzlich individuelle Anpassungen an unterschiedliche Streckencharakteristika erarbeitet werden. Denn während in Monaco nur der Abtrieb zählt, steht auf Hochgeschwindigkeitskursen wie Monza die Endgeschwindigkeit an oberster Stelle der Prioritätenliste. Dieses komplexe Zusammenwirken unterschiedlicher Einflussgrößen lässt sich nur in den allerwenigsten Fällen analytisch berechnen, weshalb pro Saison leicht mehrere hundert unterschiedliche Flügel- und Verkleidungskonfigurationen gebaut und im Windkanal auf ihre aerodynamische Effizienz hin getestet werden müssen. Einfaches Prinzip – komplex in der Umsetzung Das Prinzip eines Windkanals ist einfach. Luft wird in einem geschlossenen Kreislauf durch Ventilatoren auf eine bestimmte Geschwindigkeit beschleunigt. In diesen Luftstrom wird ein maßstäbliches Testmodell positioniert und zum Beispiel Luftgeschwindigkeit und Druck an diskreten Orten gemessen oder der Luftstrom um bezie- keiten bis zu 300 km/h und eine Testsektion, die einen Querschnitt von 15 qm und die längste Teststrecke der Formel 1 aufweist. Bei einer Modellgröße von 60 Prozent können so Windschatten-Versuche mit zwei Fahrzeugen durchgeführt oder aber Einsatzfahrzeuge beziehungsweise FullsizeModelle bis zu Van-Größe untersucht werden, was prinzipiell auch eine Nutzung außerhalb der Formel 1 ermöglicht. Darüber hinaus können Umgebungsbedingungen, sprich die Relativgeschwindigkeit Fahrzeug/Straße, berücksichtigt werden, indem eine so genannte Rolling Road zum Einsatz kommt. Dabei handelt es sich um ein Stahlband, das unter dem Testmodell analog zur Windgeschwindigkeit mit CADCAM 3/2004 15 © 2004 Carl Hanser Verlag, München www.cad-cam.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. R E P O R T A G E SGI-Rechner eine Rechenzeit von mehreren Tagen und stellt damit eher die Ausnahme dar, die daraus gewonnenen Erkenntnisse beeinflussen jedoch die Komponentenund Systementwicklung nachhaltig positiv. CFD-Simulationen in einem Simulation und Windkanal vertretbaren zeitlichen Rahmen waren die Prämisse, unter der man Auch der modernste Windkanal sich bei Sauber-Petronas auf kann jedoch nicht alle Informatieinige klar abgegrenzte Bereiche onswünsche der Techniker abdecken. Zwar liefern die Messungen Ein Formel-1-Bolide im neuen Windkanal des Formel-1-Rennstalls konzentriert hat, um hierfür praktikable Lösungsszenarien zu entgenaue Daten über den aerodyna- Sauber im schweizerischen Hinwil. Die 70 Millionen Franken teure wickeln und im Alltagsbetrieb zu mischen Ist-Zustand der jeweiligen Anlage gilt als eine der fortschrittlichsten in der Formel 1. implementieren. Einer dieser BereiTestkonfiguration, geben aber keiche, bei dem die Wechselwirkung nen Aufschluss über Abhängigkeizwischen Systemkomponente und ten und deren Ursachen. WindkaGesamtsystem eine zentrale Rolle naldaten werden nur an diskreten spielt, ist der Frontflügel eines ForPunkten ermittelt, man ist mehr mel-1-Wagens. Er ist nicht nur oder minder auf stationäre Prozesse eines der wichtigsten Hilfsmittel beschränkt, und auch thermische bei der Fahrzeugabstimmung, sonEinflüsse (Motorabgase, Kühldern beeinflusst in seiner Position wärme, Bremsen etc.) müssen weitan ›vorderster Front‹ auch nachhalgehend unberücksichtigt bleiben. tig die Aerodynamik des GesamtBleibt also immer noch die Frage fahrzeuges. Die vom Gesamtsystem unbeantwortet, was CFD mehr zu entkoppelte Entwicklung des optileisten vermag. CFD-Analysen liemalen Frontflügels ist eine überfern eine Unzahl von Daten für schaubare Aufgabe. Das Bild ändert Geschwindigkeit, Druck und Temsich allerdings schlagartig, sobald peratur über den gesamten Berech- Auch der modernste Windkanal kann nicht alle Informationswüner in das Gesamtsystem integriert nungsraum. Entsprechend können sche der Techniker abdecken. Mit Strömungssimulation (CFD) wird. Während unter alleiniger sie fast beliebig ausgewertet und können vorab die erfolgversprechendsten Varianten ermittelt und Nutzung des Windkanals die optivisualisiert werden, was speziell die der Entwicklungsaufwand signifikant reduziert werden. male Lösung eine Unzahl von Untersuchung schwer zugänglicher Modellen, Modifikationen und Messungen Bereiche wesentlich vereinfacht. Einer der CFD mit Augenmaß erfordern würde und entsprechend zeitinwohl wichtigsten Vorteile ist aber, dass all diese Möglichkeiten dabei helfen, das Ver- Diese Einstellung wurde sicherlich auch tensiv wäre, konnten mit CFD vorab die ständnis für Ursachen und Zusammen- geprägt von der Erkenntnis, dass trotz aller erfolgversprechendsten Varianten ermittelt hänge zu vertiefen und basierend auf der Fortschritte auf dem Softwaresektor für und der Entwicklungsaufwand signifikant größeren Wissensbasis Folgeprojekte effizi- eine CFD-Analyse, neben ausreichender reduziert werden. enter anzuwickeln. Rechnerleistung, ein relativ hoher Aufwand Auch wenn es um die Berücksichtigung Auch bei Sauber-Petronas ist man sich für das Pro- und Postprozessing nötig ist. thermischer Effekte geht, kommen die Vordieser Vorzüge bewusst, was nicht zuletzt Im hektischen Formel-1-Alltag muss sorg- teile der Simulation zum Zuge. Eine echte dokumentiert wird durch die Verlängerung fältig abgewogen werden, ob der erzielte Herausforderung für Aerodynamiker ist der Partnerschaft mit Fluent, dem Entwick- Nutzen den notwendigen Aufwand recht- sicherlich die Dimensionierung der Bremsler der eingesetzten gleichnamigen Soft- fertigt. Für schnelle Detailänderungen wird kühlung. Hierbei handelt es sich um einen ware, um drei weitere Jahre. Trotzdem sehen deshalb nach wie vor auf die Modifikation transienten Prozess an einem nur schwer Dirk de Beer, Chefaerodynamiker bei Sauber, des physikalischen Modells und die ansch- zugänglichen Ort, in dem zudem noch und Torbjörn Larsson, Leiter der CFD-Gruppe, ließende Windkanalmessung zurückgegrif- rotierende Teile die Hauptrolle spielen. Während im Windkanal eine Optimierung in der Simulation keine direkte Konkurrenz fen. zum Windkanal. Für sie ist die CFD-SimulaAnders sieht es jedoch aus, wenn es um selbst mit massiven Einschränkungen tion eine sinnvolle und wichtige Ergänzung die Erarbeitung von Grundlagen und die unverhältnismäßig aufwändig gewesen der bereits vorhandenen Möglichkeiten und Analyse prinzipieller Abhängigkeiten und wäre, konnten auch hier durch die CFDeine Chance, die Windkanalnutzung zielge- Wechselwirkungen geht. Zwar beansprucht Simulation in vertretbarer Zeit signifikante richteter und effizienter als in der Vergan- beispielsweise die Untersuchung von Fahr- Verbesserungen erzielt werden. Je komplexer also die Zusammenhänge, genheit zu gestalten. zeuggesamtsystemen mit bis zu 100 Millionen Zellen auch auf einem 64-Prozessor desto mehr kommen die CFD-Vorteile zum bis zu 300 km/h abläuft. Die komplette Testkonfiguration lässt sich zusätzlich im einem Bereich von +/-10 Grad drehen, um unterschiedliche Anstellwinkel des Fahrzeugs simulieren zu können. 16 CADCAM 3/2004 © 2004 Carl Hanser Verlag, München www.cad-cam.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. R E P O R T A G E Tragen. Oftmals, nämlich dann, wenn es um Vergleiche unterschiedlicher Varianten geht, begnügt man sich dabei mit qualitativen Aussagen. Vergleiche haben jedoch gezeigt, dass auch die quantitative Übereinstimmung zwischen Simulation und Messung sehr hoch ist. Die heute fünf Spezialisten der CFDGruppe operieren also nicht im luftleeren Raum, sondern erzielen Ergebnisse, die direkt vergleichbar sind und in die Konstruktion einfließen können. Fazit Die eingangs gestellte Frage kann ganz klar dahingehend beantwortet werden, dass sich Windkanal und CFD-Simulation ergänzen und nur im Zusammenspiel eine optimale Entwicklung aerodynamischer Systeme gewährleistet wird. Ohne Frage bietet die CFD-Simulation eine Vielzahl von Möglichkeiten, die beim Windkanal prinzipbedingt nicht möglich sind und welche die Aerodynamik transpa- Je komplexer die Zusammenhänge, umso mehr kommen die CFD-Vorteile zum Tragen. Vergleiche haben gezeigt, dass auch die quantitative Übereinstimmung zwischen Simulation und Messung sehr hoch ist: Die Mess-›Punkte‹ zeigen die Ergebnisse der Windkanalmessungen, die Linien diejenigen der CFD-Analyse. renter und kalkulierbarer machen. Zum pragmatischen Ansatz, unter dem heute im Windkanal gearbeitet wird, kann man keine Alternative bieten. Vielleicht wird es eines Tages den ›virtuellen‹ Windkanal geben. Aber auch er würde sein physikalisches Pendant zur Ergebnisverifikation und Absicherung benötigen. Fest steht jedoch, dass Sauber-Petronas mit der Kombination eines hochmodernen Windkanals und der leistungsfähigen Fluent CFD-Software schon heute die besten Voraussetzungen hat, im Aerodynamikbereich ganz vorne mitzumischen. Ulrich Feldhaus