Komorbidität und Familienstrukturen beachten

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Schwerpunkt
Suchterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
Komorbidität und Familienstrukturen
beachten
OLIVER BILKE-HENTSCH, WINTERTHUR
Zusammenfassung
Dr. med.
Oliver Bilke-Hentsch
MBA
[email protected]
Drogenbedingte Störungen bei Jugendlichen stellen schwere Belastungen für den Patienten und seine Familie dar und gefährden die Entwicklung in
höchstem Masse. Kommt eine manifeste Abhängigkeit hinzu, kumulieren die klinischen und sozialen Probleme vor allem in Risikopopulationen. Im
praktischen Alltag hat sich in den letzten zehn Jahren die Tendenz verfestigt, dass auch jugendliche
Patienten mit psychiatrischer Komorbidität nur selten auf Drogen verzichten. Vor allem der Alkoholund der Cannabiskonsum sind zum täglichen Begleiter im Sinne der Selbstmedikation geworden.
Komorbiditäten mit Depression, ADHS, psychotischen Störungen und Traumafolgestörungen prägen die komplexen Situationen, die hausärztlichpädiatrischer Früherkennung und fachärztlicher
Frühintervention bedürfen. Zur Basisdiagnostik
gehören die mehrfache Erfassung der Symptomatik sowie die Eigen-, Familien- und Drogenana­
mnese. Für die Therapie ist grundsätzlich das am
wenigsten restriktive Setting mit einer hinreichenden Sicherheit und Effektivität der Behandlung zu
wählen. Eine stationäre Entgiftung kann erforderlich sein. Der Einbezug der Familie, z.B. durch eine
Multidimensionale Familientherapie (MDFT) ist
in jedem Fall sinnvoll. Die permissiven sozialen
Rahmenbedingungen einerseits und der nicht zu
gewinnende «Krieg gegen die Drogen» andererseits stellen aber zusätzliche gesellschaftliche Herausforderungen dar.
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■ Die Entwicklung einer Suchtproblematik ist
zwar letztlich ein langfristiges individuelles biopsychosoziales Geschehen, das den Einzelnen betrifft.
Dennoch lassen sich einige Grundmuster feststellen, die insbesondere bei Risikopopulationen eine
frühe Gefährdung und damit die Notwendigkeit
­einer frühen Intervention häufig begleiten [1]. Es
handelt sich hierbei um:
• Früher Beginn (vor dem 12. Lebensjahr)
• Schnelle Dosis- und Verbrauchssteigerung
• Konsum zunehmend oder ausschliesslich allein
und nicht in Peergroups
• Wahlloser Ersatz einer Substanz durch die
­andere
• Vollständiger Wechsel der Peergroup
• Dauernde gedankliche Fokussierung auf Suchtmittelkonsum.
Differenzielle Epidemiologie
Im Jugendalter als vulnerabler Zeitspanne werden
die meisten ersten Erfahrungen mit psychoaktiven
Substanzen gemacht. Das Einstiegsalter für Nikotin liegt – trotz zurückgehender Raucherquote seit
Ende der 1990er – bei 13–14 Jahren, mit Alkohol
haben drei Viertel der bis zu 17-Jährigen ihre erste Erfahrung. Der Erstkonsum von illegalen Drogen beginnt etwas später. Die bei Weitem häufigste­
erste illegale Droge ist Cannabis, wobei beispielsweise schon 0,6% der 12- bis 13-jährigen Deutschen einschlägige Konsumerfahrungen gemacht
haben. Der Anteil der konsumerfahrenen Jugendlichen steigt bis 17 Jahre auf 13,5%. Bis 25 Jahre
haben 40,9% aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen erste Erfahrungen mit Cannabis
gemacht, wobei der Cannabiskonsum insgesamt
rückläufig ist.
Für jede Altersstufe ist dabei der Anteil konsum­
erfahrener Jungen höher als derjenige der Mädchen
(umfassend zur aktuellen epidemiologischen Studienlage siehe [2]).
Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen werden nur dann wiederholt, wenn sie mittelfristig positiv besetzt sind. Der vom Konsumenten erlebte
alterierte Bewusstseinszustand (Rausch) muss geeignet sein, eine spezifische Wiederholungsmotivation zu erzeugen. Daher ist klar zu unterscheiden
zwischen den Extremen eines einmaligen Probierkonsums im Sinne einer Lebenszeitprävalenz und
dem intensiven Dauerkonsum im Sinne einer wochen- oder tagesrelevanten Prävalenz.
In|FO|Neurologie & Psychiatrie
2013; Vol. 11, Nr. 5
Schwerpunkt
Entwicklungsaufgaben und
­Entwicklungspsychopathologie
Die entwicklungsdynamische Bedeutung des Bewältigens von sog. Entwicklungsaufgaben liegt u. a.
im typischen Charakter biografischer Übergänge
begründet (Tab. 1). Nicht bewältigte frühe Entwicklungsaufgaben verringern die Wahrscheinlichkeit
einer erfolgreichen Bewältigung nachfolgender
Entwicklungsaufgaben. Es entwickeln sich sukzessive mehrfach belastete Biografien, in denen die
Probleme auch ohne Steigerung des Konsums weiter eskalieren [3]. Aus dieser Kettenreaktion darf
ein Grundsatz der Prävention und Frühintervention abgeleitet werden: Jede zeitliche Verzögerung
in der Suchtentwicklung bedeutet eine relevante
Beförderung der individuellen Entwicklung [4].
Hierzu gehören auch und besonders die adäquate
und zeitgerechte Behandlung von jugendpsychiatrischen Störungen und seelischen Fehlentwicklungen in der Adoleszenz.
Klinische Modellbildung
Psychologische Modelle fokussieren vor allem auf
Lernen, Coping, Konfliktdynamik und Motivation
sowie familienassoziierte Faktoren. Biologisch orientierte Modelle stellen Veränderungen der Hirnund Körperorganik in den Vordergrund (z.B. sog.
Suchtgedächtnis). Soziologische Modelle betonen
die makrosoziale Einbettung des Suchtgeschehens.
Hierzu gehört auch die soziale Definition der Sucht
oder des Missbrauchs, welche historisch und regional unterschiedlich ausfallen kann (Übersicht in
[5]).
Hilfreich für das individuelle Verständnis ist weiterhin das etablierte transtheoretische Modell, das
Suchtentwicklung und Beendigung des Konsums
als einen Kreisprozess (circulus vitiosus) beschreibt,
bei dem aber an jeder Stelle des Prozesses unterschiedlich eingegriffen werden kann [6].
Diagnostik und Differenzialdiagnose
Das mehrfache Erfassen der Symptomatik und die
Eigenanamnese, Familienanamnese und eine genaue Drogenanamnese bilden die Basis jeglicher
Diagnostik. Hinzu kommt die systematische Erfassung und Bewertung der psychosozialen (Tab. 2)
und der medizinisch-biologischen Folgen des
Suchtmittelkonsums (Tab. 3).
Das persönliche ärztliche Gespräch sollte sich
eher den interaktionellen, schulischen und leistungsbezogenen Problemen zuwenden – und nicht die
Details von Drogenmengen, Beschaffung etc. in den
Vordergrund stellen. Der Darstellung des Jugendlichen selbst ist in einer frühen Phase des Konsums
hohe Bedeutung beizumessen. Die Dissimulationsund Verschleierungstendenzen, die für den ernsthaft Drogenabhängigen typisch sind, finden sich
beim schädlichen Gebrauch noch nicht ausgeprägt,
so dass den Angaben des Jugendlichen über Menge, Art der Drogen und Konsummuster im Grundsatz Glaubwürdigkeit zukommt.
In|FO|Neurologie & Psychiatrie
2013; Vol. 11, Nr. 5
Tab. 1
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Durch Sucht gestörte Entwicklungsaufgaben (Adoleszenz)
Erwerb einer adäquaten Geschlechterrolle
Gestaltung der Beziehungen zum anderen Geschlecht
Erlangen einer intrafamiliären Autonomie
Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern
Akzeptanz des eigenen Körpers und seiner Veränderungen
Erwerb beruflichen Wissens und Vorbereitung auf die Erwerbstätigkeit
Erlernen eines verantwortlichen Sozialverhaltens
Akzeptanz und Wahrnehmung der Bürgerrolle in der Gesellschaft
Finden und Aufrechterhalten funktionaler Freundeskontakte
Tab. 2
Psychosoziale Explorationsthemen bei Jugendlichen
• Vergesellschaftung mit Alkohol- und Drogenkonsumierenden und/oder
dissozialen Jugendlichen
• Bisherige negative Konsequenzen des Substanzkonsums in familiärer,
schulischer und psychosozialer Hinsicht
• Kriminelle Aktivitäten, z.B. Diebstähle, Dealen
• Bisherige Strafen wegen Verstoss gegen BtM, Eigentumsdelikten oder
aggressiven Gewalthandlungen im Zusammenhang mit Substanzkonsum
• Therapieauflagen seitens der Schule, von den Eltern selbst oder durch
­Gerichtsbeschluss
• Riskantes Sexualverhalten (ungeschützter Sexualverkehr, Promiskuität,
­Prostitution)
• Ressourcen des Kindes/Jugendlichen
• Einholen von Informationen aus der Schule (mit Einverständnis der Eltern!)
• Aktueller Leistungsstand
• Fehlzeiten (entschuldigt und unentschuldigt)
• Vergesellschaftung mit bereits als delinquent bekannten Jugendlichen
Tab. 3
Medizinisch-suchtpsychiatrische Explorationsthemen
• Auffälliges Verhalten in der Schule (Übermüdung, Verlangsamung, Geistesabwesenheit im Unterricht, inadäquater Affekt, ungewöhnliche affektive
Ausbrüche)
• Entwicklung der Leistungen (Leistungsknick?)
• Erhöhte Impulsivität
• «Sensation seeking» oder erheblicher Rückzug
• Motivation zur Konsumreduktion oder Abstinenz
• Alle konsumierten Substanzen mit Beginn des Konsums sowie des regelmässigen Konsums, Konsumfrequenz, -dauer und -intensität, Konsum­
gewohnheiten
• Subjektiv erlebte erwünschte und unerwünschte Substanzwirkungen,
bisher erlebte Entzugssymptomatik
• Reduktion bestehender psychischer Symptome durch Drogenkonsum
• Intensität der Beschäftigung mit dem Substanzkonsum, Vernachlässigung
früherer Freunde und Hobbies zugunsten von Substanzbeschaffung und
-konsum
• Körperliche Entgiftungen und Entwöhnungen, Abstinenzphasen
Die (ggf. unangekündigte) Urinkontrolle ergänzt
diese Massnahmen in vielen Fällen, dient aber weniger der grundsätzlichen Diagnostik, sondern der
Überprüfung des Einhaltens von (partieller) Ab­
stinenz und anderen Therapiezielen. Die Haar-Analyse ist für gerichtliche Zwecke z. T. angezeigt, hat
aber für den praktischen Alltag eine untergeordnete Bedeutung. Ergänzt wird die Anamnese und die
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Schwerpunkt
Tab. 4
Multiaxiales Klassifikationsschema*
Achse 1: Psychiatrische Störung
Achse 2: Teilleistungsstörungen
Achse 3: Intelligenzprofil
Achse 4: Körperliche Erkrankungen
Achse 5: Abnorme psychosoziale Umstände
Achse 6: Schweregrad
* Multiaxiales Klassifikationsschema seelischer Erkrankungen
im Kindes- und Jugendalter
Labordiagnostik in jedem Fall durch eine sorgfältige vollständige körperliche (ggf. fachärztliche)
Untersuchung, da Jugendliche häufig somatische
Symptome verschweigen, nicht regelmässig zum
Kinder- und Jugendarzt oder Hausarzt gehen und
oft erst die Suchtproblematik andere körperliche
Auffälligkeiten erkennen lässt.
Durch die kinder- und jugendpsychiatrische
Mehrebenendiagnostik auf dem Boden des Multiaxialen Klassifikationsschemas für seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter (MAS, Tab. 4) sind
auch die für die Entwicklung wichtigen Themen der
Teilleistungsstörungen und des Intelligenzprofils
sowie der familiären Faktoren abzubilden [7].
Therapieansätze
Grundsätzlich ist das am wenigsten restriktive Setting zu wählen, in dem eine hinreichende Sicherheit
und Effektivität der Behandlung gewährleistet
werden kann [8, 9]. Dies betrifft zunächst die physische Sicherheit des Jugendlichen selbst (akute
körperliche Gefährdung, rauschhaft bedingte
­Eigengefährdung) sowie von Drittpersonen
(Fremdgefährdung durch den Jugendlichen).
Wenn keine Notwendigkeit zu einer akuten stationären Aufnahme aufgrund einer somatischen
oder psychiatrischen Indikation besteht, ist für die
weitere Auswahl des Interventionssettings massgeblich:
• Art und Schweregrad der Substanzabhängigkeit
• Art und Menge der konsumierten Substanzen
• Gefahr einer signifikanten Entzugssymptomatik
• Frühere Behandlungsmisserfolge in einem weniger restriktiven Setting.
Tab. 5
Therapiehierarchie bei Jugendlichen
1.Übergeordnete Behandlungsziele
•Abstinenz
• Adäquate Lösung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben
2.Teilziele
Falls erforderlich, sollte die Entgiftung als stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung durchgeführt
werden, gefolgt von einer Rehabilitation in einer
spezialisierten Einrichtung für Jugendliche mit
Substanzabhängigkeit.
Die Therapieplanung hat auf dem Boden der bisherigen schulischen Vorgeschichte, der aktuellen
Leistungsdiagnostik und der ggf. durch den Drogenkonsum entstandenen intellektuellen Einschränkungen von Anfang an auf schulische und berufliche Rehabilitation und Integration abzuzielen und
sollte nicht Sekundärziele, wie z.B. eine optimale
Passung in eine Therapie-WG oder aufarbeitende
familientherapeutische Gespräche, zu scheinbaren
Hauptzielen erklären.
Die nachhaltige intrinsische Motivation des
­Jugendlichen kann in den wenigsten Fällen vorausgesetzt werden, weswegen der verbindliche Einbezug der sorgeberechtigten Eltern oder eines Beistandes bzw. die Kooperation mit den regional
zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) sowie ggf. der Jugendanwaltschaft essenziell sind. In diesem Zusammenhang sind strafrechtliche Vorwürfe oder laufende Verfahren zu
berücksichtigen sowie Schulden und finanzielle Abhängigkeitssituationen – beides Themenbereiche,
die bei der medizinischen Diagnostik oft vernachlässigt werden und später den Therapieverlauf erheblich beeinflussen. Der Einbezug der Familie oder
wichtiger naher Bezugspersonen ist in fast jedem
Fall anzuraten (umfassend hierzu [10]), zumal neben der Sorgerechtsthematik auch die familiäre
System-­Dynamik für den Verlauf wichtig sein kann.
Spezifische Therapiemethoden wie die Multidimensionale Familientherapie (MDFT, [11]) gehören darüber hinaus zu den Verfahren mit den höchsten
Evidenzgraden.
Die Evidenz pharmakologischer Interventionen
ist de facto nicht gegeben, die Medikation orientiert sich an einzelnen Symptomen bzw. der Komorbidität.
Die grundsätzlichen Therapieziele (Tab. 5) fokussieren – und damit schliesst sich der Kreis – auf
die anstehenden Entwicklungsaufgaben.
Literaturliste beim Verlag
Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch MBA
Modellstation SOMOSA Winterthur
Schweizer Zentrum für Suchtfragen im Kindes- und
Jugendalter (SZSKJ)
Birmensdorferstrasse 1, 8004 Zürich
[email protected]
• Reduzieren des Substanzkonsums als Zwischenziel
• Klären bahnender Mechanismen des Cravings und der Rückfall­gefährdung
• Überwinden des suchtbezogen eingeengten Denkens und Handelns
nach [8]
• Reduzieren der Häufigkeit und Schwere von Rückfällen
• Behandeln der komorbiden psychischen Störungen entlang der Leitlinien
der jeweiligen Diagnosegruppen
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In|FO|Neurologie & Psychiatrie
2013; Vol. 11, Nr. 5
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